"Rumpelstilzchen"

"Mecker' nich!"
(Jahrgangsband 1925/26)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1926

Glossen 19 - 21
21. Januar bis 4. Februar 1926


19

Die Flucht der Barmats - Aufteilung des Hohenzollernvermögens - Aus einem Arbeitergespräch - "Doof" - Die letzte Nacht im Sechstagerennen - Nationaler Masochismus - Cassirer-Nachlese

Die Brüder Barmat sind im Verschwinden. Vorerst in einem Weltbad nahe an der holländischen Grenze. Der Zeitgenosse reibt sich die von den vielen Skandalen etwas überanstrengte Stirn. Wie war es doch ? Richtig, mit dem Hanauer Pionierlager und dem Fall Kutisker - Landsmann der Brüder Barmat - fing es an. Die Preußische Staatsbank verlor ihr gesamtes Grundkapital. Das deutsche Volk wurde um Goldmilliarden zugunsten einer Anzahl von Schieberfirmen geschädigt. Von zwei deutschen Reichsministern verschwand der eine, Bauer, in die Versenkung, beging der andere, Höfle, in der Untersuchungshaft fahrlässigen Selbstmord. Aber da begann der große Tintenfisch seine Verdunklungsarbeit, parlamentarische Untersuchungsausschüsse verhüllten mehr, als sie enthüllten, und schließlich hackten Justizministerium und öffentliche Meinung - auf die Staatsanwälte Kußmann und Caspary los, deren Eifer bei der Aufdeckung des ungeheuerlichen Skandals den Herren der Novemberkoalition auf die Nerven ging. Nun hätte jetzt endlich, nach Jahr und Tag, doch so etwas wie ein Prozeß gegen die großen Plünderer losgehen sollen; aber man vertagt die Sache Barmat, um ein halbes Jahr, um ein ganzes Jahr, kommt Zeit, kommt Rat, - und das Publikum wird mit einer anderen Sensation gefüttert.

In jeder Berliner Kneipe ist sie Gesprächsstoff, denn jede Zeitung an der Wand plakatiert sie mit zollhohen Buchstaben. Raub an deutschem Volksvermögen durch die Hohenzollern! Ungeheure Abfindung des Königshauses durch den verarmten Staat! Hundertprozentige Aufwertung! Ein Milliardengeschenk an die schon so schwerreiche Familie des Kaisers! Schon ist die Volksseele am Kochen, soweit man das leicht zu verdummende Großstadthirn überhaupt eine Seele nennen kann.

Die Wahrheit ist, daß es sich um kein Geschenk und um keine Abfindung handelt, sondern im Gegenteil um eine Teilung. In dem Vergleich verzichten die Hohenzollern zugunsten des Staates auf 83 Prozent dessen, was vor der Revolution unumstritten ihnen gheörte.

In der Tiefe schlummert freilich auch in den Massen noch ein Gefühl, das sich bisweilen leise gegen die Verdummung regt. Ein vorerst noch dumpfes Unterbewußtsein wehrt sich. Man fühlt, daß der internationale Kapitalismus die parteipolitische Internationale gemietet hat, um seinen eigenen Raubzug durch sie verdecken zu lassen. Haben wir es etwa besser als früher ? Ist das Dasein der Masse nicht vielmehr verschlechtert ? Die Sozialdemokratie kämpft gar nicht gegen die Bourgeoisie, sondern - um den Eintritt in sie. Ihre Führer streben nach der gesättigten bürgerlichen Existenz und erreichen sie auch, leben gut, bekommen als Oberbürgermeister und Oberpräsidenten glänzende Gehälter und Pensionen. Was aus den verwalteten Gemeinden und Provinzen unter ihrer nichtfachmännischen Leitung wird, das steht auf einem anderen Blatt. Da haben wir so eine Berliner Kommune, Reinickendorf, die sich den roten Henke als Haupt erkor; sie hat für dieses Jahr 3 Millionen auf der Plusseite, 9 Millionen auf der Minusseite. Allmählich, sehr allmählich dringt so etwas auch durch unsere dicke Kneipenluft und in umnebelte Hirne. Hier und da, wenn auch sehr vereinzelt, macht die Sehnsucht nach dem Vergangenen sich schon öffentlich Luft.

Ecke Margareten- und Potsdamer Straße. Eine Autodroschke ist mit einem Straßenbahnwagen zusammengestoßen. Es gibt keinen großen Schaden, nur großen Aufenthalt. Geduldig stehen die großen gelben Kästen mit ihrer Menschenfracht in langer Reihe hintereinander bis zum Potsdamer Platz. An der Ecke Margaretenstraße sammelt sich philosophierend die übliche Menge. Darunter ein Herr aus Potsdam neben zwei Berliner Arbeitern.

Erster Arbeiter: "Ha' ick doch imma jesaacht, die Lektrische jehört unner die Straße, nich druff!"

Zweiter Arbeiter: "Na, willst du det vielleicht bezahlen ?"

Erster Arbeiter: "Hätten wa Willem noch, wär' se runner von die Straße!"

Der Herr: "Sie haben ganz recht, der Kaiser hätte das sicher durchgedrückt."

Erster Arbeiter: "Siehste, der Herr is ooch janz meine Ansicht!"

Zweiter Arbeiter: "Na meenste vielleicht, wa soll'n den Kaiser wieda holen ?"

Erster Arbeiter: "Du bist ja so doof, du kapierst ja doch nischt, wemman dir wat klar macht!"

Das ist ein Ausschnitt aus dem Leben, für dessen phonographische Treue ich jede Gewähr übernehme. Man könnte eine gewaltige Zahl von Schallplatten mit solchen Originalgesprächen füllen, wenn man nur immer dabei wäre. Leider überwiegen die Berliner, die noch "doof" sind, bei weitem die übrigen. Gut Ding will Weile haben. "Doof" ist übrigens nicht gleichbedeutend mit dumm. Es heißt vielmehr: schwerfällig, unaufgeklärt, begriffsstutzig, nicht "helle" genug. Vor Weihnachten verkauft ein Straßenhändler in der Eichhornstraße aufziehbare Spielsachen und läßt einen kleinen Seehund aus Blech daherstolzieren. Dieser gerät unter ein langsam anfahrendes Auto und wird plattgedrückt. Der Händler schimpft. Der Kutscher aber lacht:

"Mensch, sei nich so doof, vakoof' se doch als Flunder!"

Wer diesen Derben und erfrischenden Humor, der in neun von zehn Fällen aus vergnüglicher Schadenfreude stammt, direkt an der Quelle haben will, der muß bei dem alljährlichen Berliner Sechstagerennen auf die Galerie im Sportpalast gehen. Sechs Nächte hintereinander hält es der Urberliner da aus, verkohlt alles, und geht die sechs Tage über alleweil munter an die Arbeit. Aber auch die Hefe aus dem Großstadtsumpf ist da. Ich weiß nicht, warum, aber es ist so: das ruppigste Publikum geht immer zu den Radrennen. Das gilt übrigens auch von dem auf den 20-Mark-Plätzen in Smoking oder Persianer-Cape. Zwei Jahre lang habe ich dieses Schauspiel gemieden, habe erst jetzt wieder die letzte Sechstagenacht mitgemacht, um vergleichen zu können, und dabei wenigstens das eine festgestellt: man lebt jetzt bescheidener. Wenn etwas knallt, dann ist es ein platzender Kinderballon, keine entkorkte Sektpulle. Die Kellner machen bekümmerte Gesichter. Während ihrer zwölfstündigen Schicht müssen sie sich wehe Füße anstehen, fast zwei Stunden haben sie danach noch mit Abrechnung und Gläser- und Geschirrspülen zu tun, aber die Einnahme ist elend und das im Gedränge zerknitterte Frackhemd ist dahin. Manche Leute gehen in den sechs Nächten freilich nur deshalb in den Sportpalast, weil alles andere in Berlin um 1 Uhr geschlossen sein muß; aber auch sie begnügen sich meist mit einer Tasse Kaffee oder einem Glas Bier oder höchstens einem Cherry-Cobbler. Was das Gros des Publikums sehen will, das sind - Stürze. Die Sechstagefahrer, diese übernächtig grauen zur Maschine gewordenen Menschen, die zuweilen mit der einen Hand sich auf das Rahmengestänge oder die Sattelspitze stützen, um das schmerzende Gesäß für kurze Minuten etwas abheben zu können, sind bezahlte Gladiatoren. Gleichmäßig surren sie um die Holzbahn, bis die blaue oder grüne Laterne aufleuchtet. Das ist die Peitsche. Sie heißt "Prämie" oder "Wertung". Dann beginnt das Rasen, dann müssen auch die Ersatzleute einspringen, die sich vielleicht erst vor drei Minuten zu einem Endchen totenähnlichen Schlafes niedergelegt haben, betreut von ihrem Manager, ihrem Masseur und ihrer "offiziellen Frau". Sonst waren es immer mehrere Huldinnen, die vor der Kabine oder auf dem Dach der Kabine thronten. Es gab welche aus Berlin W, die einige hundert Mark für diese Ehre zahlten. Das gibt es jetzt nicht mehr. Die eine Offizielle bekommt um das Handgelenk ein - plombiertes Kettchen, das nicht abzustreifen ist, und nichtplombierte Damen werden nicht zugelassen. Aber wie sind bei dieser ganzen Präzisionsmaschinerie Stürze überhaupt möglich ? Einen habe ich in dieser Nacht miterlebt. Ein winziges Splitterchen in der Holzbahn, ein Pneu-Knall, der Belgier Debaets, über den noch Persyn stürzt, kollert die hohe Kurve herunter, wird mit Gehirnerschütterung weggetragen.

Der entwürdigende Auftakt zum Sechstagerennen ist durch die Presse schon bekannt geworden. Die Fahrer werden der Menge auf den 2580 Sitzplätzen und der noch kompakteren auf den fast ebenso vielen Stehplätzen vorgestellt. Tusch und Nationalhymne. Bei einem deutschen Paar wird "Deutschland, Deutschland über alles" gespielt - und die Galerie gröhlt, pfeift, skandaliert. Franzosen werden mit der Marseillaise eingeführt - und das alte Revolutionslied begeistert das gleiche Publikum zu frenetischem Beifall.

Wenn Boxer kämpfen, dann schlägt noch manches Herz mit: möge doch der Deutsche gewinnen! Bei diesen Radrennen aber scheidet das Nationale oft ganz aus. Muß ein Fahrer aufgeben, so wählt sein Partner sich irgendeinen anderen Ersatzmann, der ebenfalls freigeworden ist. So heimste diesmal den zweiten Preis eine derartig zufällig zusammengestellte Mannschaft ein, ein Italiener mit einem Deutschen.

Solange die breite Masse in deutschland politisch pervers, dem nationalen Masochismus verfallen ist, kann diesem Volke nicht geholfen werden. Aus den Leiden des Dreißigjährigen Krieges ward das Wort des Großen Kurfürsten geboren: "Gedenke, daß du ein Deutscher bist!" Noch sind wir heute nicht so weit, auch wenn einzelne in der Masse schon nachdenklich zu werden beginnen. Die internationalistisch eingestellte Presse bei uns leistet dem Masochismus noch zu sehr Vorschub; sie begeifert das Deutsche, sie lobhudelt allem Fremden. Das haben wir bei dem Fall Cassirer jüngst wieder gesehen. An anderer Stelle hatte ich den Zusammenbruch dieses Berliner Kunsthändlers, Franzosenfreundes und Salonrevolutionärs und seine ganze Umwelt einschließlich der Circe Durieux geschildert - und alsbald fühlte sich die sozialdemokratische Presse auf den Fuß getreten und belferte los. Es gibt kaum etwas, da mich mit so inniger Genugtuung erfüllt, als Wutausbrüche unserer Roten. Was mögen sie erst für lange Gesichter gemacht haben, als Paul Cassirers "bester Freund", Max Liebermann, am Sarge des Selbstmörders jene mehr als merkwürdige Gednkrede hielt! Eine Rede, in der sogar der Charakter des Hingeschiedenen in nicht gerade günstige Beleuchtung gerückt wurde. Jawohl, sie waren gute Freunde, die beiden; sie haben einander gemacht, sie haben einander gefürchtet. Bis Herrn Cassirer aus Schwientochlowitz nicht mehr zu helfen war. Bis er mit seiner Weltrevolution gescheitert, mit seinen französischen Impressionisten unverkäuflich geblieben, von seiner Frau verlassen war.

Von der Schweiz aus hatte Cassirer während des letzten Kriegsjahres in allerlei Flugblättern defaitistisches Lähmungsgift nach Deutschland eingeschmuggelt. Vier Tage vor dem schwärzesten Novembertag unserer Geschichte erschien er wieder in Berlin, prophezeite den Umsturz auf den Tag genau und rühmte sich dann: "Ich, ich habe die Revolution von der Schweiz aus eingeleitet und vollendet!" Selbstverständlich hätte er auch die Revolution, wenn sie was Rechtes geworden wäre, betrogen; nicht umsonst erschien er auf dem "Revolutionsball" der Sezession, vor langen Jahren, als - Napoleon. Aber im November 1918 sah er in seinen Salons keine Löwen, sondern nur Hanswurste der Revolution; bestenfalls Spießer, die eine bessere Versorgung anstrebten. Und ihn selber nahmen nicht einmal die Königstreuen ernst. Er hätte es nicht nötig gehabt, während der Kapptage zusammen mit der Regierung Bauer aus Berlin zu fliehen, denn die Schwientochlowitzer Beteiligung an der Räterepublik München und die rote Flagge in den Händer Tilla Durieux' hatte man schon vergessen.

In schauriger Vereinsamung hat der Mann zuletzt Hand an sich gelegt.

Die vornehmsten Galeriedirektoren der deutschen Großstädte kauften ihm schon längst nichts mehr ab. Auch die Privatkunden zogen sich von ihm zurück. Nachdem Levin-Breslau sich nichts mehr leisten konnte, blieben als letzte noch der reiche unabhängige Sozialdemokrat Simon und der Dr. Katzenellenbogen, der offiziell geduldete Tröster der Frau Tilla. Gurlitt verbot Herrn Cassirer sein Haus. Bei dem Kollegen Perls in der Bellevuestraße wurde er im Beisein des Publikums im vorigen Frühling hinausgeworfen.

"Noch keinen sah ich glücklich enden", der unsaubere Fäuste gegen unseren alten Staat, gegen unsere deutsche Kultur erhoben hat; auch dieser Fremdling ist elend zusammengebrochen.

Am Heiligen Abend, wenige Tage vor der Abrechnung mit seinem verfehlten Leben, stand Cassirer auf dem Potsdamer Platz, den Kragen hochgeschlagen, und starrte in das Grau. Seine Frau war aus der Familienwohnung schon in das Hotel Bristol übergesiedelt. So traf den einst scheinbar allmächtigen Mann hier in der Dezembernässe ein Berliner Bekannter.

"Nanu, Herr Cassirer, so einsam auf dem Potsdamer Platz ?"

Und aus aschfahlen Lippen kam die Antwort:

"Ich habe keinen einzigen Menschen mehr auf der Welt."
21. Januar 1926 (Donnerstag)


20

Der Flüssige - Droschkenkutscher aus guter Familie gesucht - Mietbare Tänzer für reifere Damen - Mit Karin Michaelis bei den Expressionisten - Die Geisterblasse - Neue Lyrik - Der Shimmy des Prinzen Joachim Albrecht - "Kronprinzessin Luise" - Abendliche Demonstration im Lustgarten

Früher schickte man junge Tunichtgute oder erwachsene Entgleiste nach Amerika. Dort mochten sie als Tellerwäscher ein neues Dasein beginnen. Das macht man nun nicht mehr. Seit der Revolution schämt sich die Familie ihrer Mißratenen öffentlich nicht mehr so, daß sie unbedingt über den großen Teich müßten, und seit der Inflation hat sie meist auch nicht mehr das nötige Geld, um die Überfahrt in die neue Welt zu bezahlen. Wer hat denn überhaupt noch welches ? Noch ärger ist die Not geworden, seit "die Demokraten und unser Schacht an der Rentenmark halten treue Wacht", wie die Wahlpoeten gesungen haben. Zuerst zerstob das Geld wie Spreu und danach wurde es von dem Steuer-"Vampir" weggesaugt. Es gibt schon Kaufleute, die ihren Kunden bei Barzahlung 20 v.H. Rabatt zusagen. Mit einem nassen und einem heiteren Auge lese ich das stammelnde Deutsch einer Anzeige im Lokalanzeiger: "Mark 8000! Gesucht wird flüssiger Geldmann, der sich mit obiger Summe an umgehendem Geschäft beteiligt. Gefl. Offerten unter A.F.2585 Scherlhaus." Es gibt kaum flüssiges Geld, geschweige denn - flüssige Geldleute. Meine Zeitungsfrau, zwei Straßen weiter an der Ecke, hat sich einen kleinen geschlossenen Kiosk errichtet; bisher saß die weißhaarige Alte offen in Wind und Wetter. Ich beglückwünsche sie. Und sie antwortet:

"Aba keen Aas kooft wat! Ick stelle mir unner Jeschäftsaufsicht!"

Also falsche Scham und gutes Geld glänzen durch Abwesenheit, die Spritzfahrt über den Atlantik ist außer Mode, und die jüngeren oder älteren Leute, die ihre Kaste verloren haben, tauchen lieber gleich in Berlin unter. In neun von zehn Fällen findet man sie an irgendeinem Autostand wieder. Auch der Herr von Etzdorff saust jetzt als Chauffeur herum, seit in dem Sensationsprozeß sein Ruf - freilich ist in zweiter Instanz die Freisprechung zu erwarten - etwas ramponiert worden ist. Das hat sich der alte Landrat Etzdorff in Elbing, den der Kaiser einst wegen seiner Verdienste um die Landwirtschaft im Allgemeinen und die Verwaltung der Herrschaft Cadinen im Besonderen adelte, auch nicht träumen lassen, daß aus seiner Familie ein Berliner Droschkenkutscher hervorgehen würde. Man trifft da übrigens nicht nur Entgleiste, sondern auch bloß Verarmte aus den besten Häusern. Zum kleinsten Teil als Droschkenbesitzer; meist nur als Angestellte eines größeren Fuhrunternehmers.

Es sind überhaupt ganz absonderliche Berufe, auf die man in der Großstadtnot verfällt. Der neueste und sozusagen immer noch gesellschaftsfähige Beruf ist der des gemieteten Tänzers. Die Krolldiele im Gebäude der Oper am Königsplatz hat den Anfang mit der Einstellung solcher Herren gemacht.

Eine großartige Idee. Es gibt so viele selbständige Damen in reiferem oder sehr reifem Alter, die gern an der Verjugendlichung unseres ganzes Lebens teilnehmen möchten. Sie fühlen sich noch jung. Sie fühlen sich vielleicht sogar noch jung an. Sie sind auch körperlich und geistig noch vollkommen elastisch, mensendieken morgens, besorgen über Tage tüchtig den Haushalt oder gehen angestrengter Berufstätigkeit nach, halten sich über Kunst und Literatur auf dem Laufenden und - sehnen sich nach der Entspannung im Tanze. Aber vielleicht haben sie schon graues Haar oder allzu viele Sorgenrunen, und wenn sie eine Tanzdiele besuchen oder in einen Geselligkeitsverein eintreten, bleiben sie an den Kaffeetisch genagelt und können nur feststellen, daß alles heute paarweise ausgeht und sie also - überflüssig sind. Herrgott, wo bringt man da bloß sein Temperament unter ? In allem Wohlanstand natürlich; man sucht ja keine Abenteuer, sondern nur rhythmisches Ausleben. Auch manche verheiratete Frau, deren wenig ritterlicher Gemahl das gemeinsame Altern nicht anerkennt, auf sein Herrenrecht pocht und "mit was Jüngerem" in die Barberina geht, besucht nun - es ist eine wahre Erlösung - die Krolldiele. Da sitzen in einem Nebenzimmer, gut angezogen, korrekt, bescheiden und pflichttreu, die gemieteten Tänzer. Im Achtstundentag. Ununterbrochen von nachmittags 5 bis nachts 1 Uhr. Sowie Musik ertönt, kommen sie unauffällig einzeln hervor und nähern sich den Damen, über deren Tanzlust sie diskret von dem Geschäftsführer aufgeklärt sind, verbeugen sich und engagieren. "Die Unterhaltung mit den Damen ist untersagt, es sei denn, daß die Damen selber ein Gespräch wünschen; ebenso haben die Herren nach jedem Tanz, wenn die Dame nicht ausdrücklich anders befiehlt, sofort wieder zu verschwinden." So heißt es in dem Vertrage. Ob die Dame hager oder fett, nett oder greulich, elegant oder schwerfällig, jung oder alt ist, darf gar keine Rolle spielen, sie wird unbesehen geschwenkt. Das ist wahrhaft großstädtisch. Das Beispiel wird Schule machen. Das ist ein größerer Schritt zur Emanzipation der Frau, zur Gleichstellung der Geschlechter, als alles Vorhergegangene einschließlich der Zulassung zum Studium, zum Wahlrecht, zum Schöffenamt, zur Börse. Erst der vermietbare Mann bedeutet auch den Anfang der Beseitigung der - "zweierlei Moral". īVernünftige Überlegung sagt unsereinem, daß die Krolldiele auf dem rechten Weg ist; aber am Ende dieses Weges eröffnen sich doch grauenvolle Perspektiven.

Die alte Art, wonach jeder Herr jede Dame zum Tanz auffordern kann, findet sich in Berlin heute eigentlich nur noch in Künstlerkreisen. Da kommt also wenigstens der ungepaarte Herr noch zu seinem Recht; und fröhlich und dankbar macht er dann auch wohl den älteren Damen das Vergnügen, sie gelegentlich zu einem sanften Blues aufzufordern. Man ist da nicht so egoistisch, man ist kameradschaftlicher als auf dem öffentlichen Lustmarkt. Gestern habe ich auf der regelmäßigen Mittwochs-Veranstaltung der Expressionisten in der Potsdamer Straße 134 nur ein paar Stühle weit weg von - Karin Michaelis gesessen, der großen nordischen Erzählerin, die durch ihr Buch "Das gefährliche Alter" - das gefährliche Alter der Frau - vor Jahren alle Erdteile erschüttert hat. Mit Eugenie Schwarzwald war sie hingekommen, um während des programmatischen Teils des Abends die Rezitation von einigen Geschichtchen Peter Altenbergs sich anzuhören. Als nachher wie üblich getanzt wurde, hat sie nicht mehr mitgemacht. Sie selber ist aus dem gefährlichen Alter ja nun heraus, ist eine alte Frau geworden, aber mit gütigen, weichen Zügen, die etwas reizvoll Rosiges haben, eine unvergängliche Frische; sie ist schöner als Carmen Sylva es in gleichem Alter war. Der Besuch im Zirkel der Expressionisten ist für sie natürlich nur eine freundlich übernommene Ehrenbürde gewesen. Die Doktorin Schwarzwald aus Wien, dieser quicklebendige Hans Dampf in allen Gassen, die Frau, die in schwerster Notzeit in Berlin die Schloßküche für den verarmten gebildeten Mittelstand eingerichtet hat, steht den "ausgefallenen Sachen" in Kunst und Literatur wohl noch näher. Auch noch manche andere Intellektuelle bewegt sich gern in dieser etwas absonderlichen Umgebung. Aber großenteils sind, es, abgesehen von den Künstler und Künstlerinnen, aber auch eingeschlossen die Künstler und Künstlerinnen, doch immer wieder jene Schichten aus Berlin W, die auch für den Salon Cassirer typisch waren. Mot weiten Nüstern wird jeder kulturelle Bolschewismus eingesogen, auch das politisch Revolutionäre übt auf diese Leute einen seltsamen Kitzel aus. Mit unheimlich suggestiver Kraft stampft und hackt und singt ein junger Musiker in expressionistischer Schauermaske das "ça ira", bis auch das Publikum anfängt, "rot zu sehen". Manches, was die Diseuse Resi Langer vorträgt, ist gewagt, ist reiner "Simplizissimus" aus dessen frechster Zeit, aber alles hat doch einen Anstrich von Kultur, ist nicht so platt gemein, wie die Witze in den öffentlichen Berliner Kabaretts. Deutsch ist es freilich auch nicht. Wenn ich die Leutchen da rundum mir so ansehe, komme ich mir doch wie verloren und wie versprengt vor, und dasselbe gilt von Karin Michaelis und noch einem Dutzend Herren und Damen, darunter einem jungen blonden Maler-Wandervogel. Ein Aufwand von künstlerisch sicherem Takt überall - und trotzdem die eine große Geschmacklosigkeit, daß die Menschen hier unsere Gewandung tragen; in orientalischer Tracht sähen sie nicht so fremd, sähen sie tatsächlich viel echter und natürlicher aus.

Eine geisterblasse Dame mit schwarzem Bubikopf und im Herrenanzug fällt besonders auf. Sie trägt nur nicht weiße Wäsche und weißen Kragen, sondern eine schwarzseidene Hemdbluse. Sie ist von einem Herrn kaum zu unterscheiden.

Sie ist auch wirklich - ein Herr!

Das hätte ich nicht gedacht. Aber eine Malschülerin des ehemaligen Bauhauses Weimar sagt es mir. "Och, das ist ein Dichter! Er schreibt über Gott und so'ne Sachen!" Ihre Lippen sind verächtlich geschürzt. Der geisterblasse Weibmann benimmt sich außerdem linkisch.

Merkwürdig, wie normal alle diese beruflich Exaltierten sprechen, tanzen, gesellig sind. Da gibt es nichts Auffallendes. Rechnungsrats und Provisors können nicht vernünftiger und harmloser sein. Fürchterlich sind nur die Bilder an den Wänden und die Gedichte in der ausliegenden Monatsschrift. Ich werde den Eindruck nicht los, daß alles das nur erquälte Mache ist. Das vollkommen irre Lallen von Silben und Interpunktionen will ich gar nicht anführen. Nur ein Stück aus dem scheinbar noch vernünftigsten Gedicht mit der Überschrift: "weißt Du schwarzt Du." Es heißt darin:

am nationalfeiertag bürstet er die bauchfransen aller tiere
behor die mall die ankergalle den text der herdringe
pfeift die mäuse aus den zehen in die speicher
hornt die flaschen alledeme wegen im lau
und liest den nach heiligem brauch in nassen tüchern gewickelten mediovall.

Ein Königreich für einen Nervenarzt! Nicht für diese Dichter und Maler, denn denen ist doch nicht mehr zu helfen, sondern für uns. Man kann fabelhaft geschwind verblöden, wenn man sich in Debatten über solche Dinge einläßt; oder Tobsuchtsanfälle bekommen. Dann doch schon lieber Kokainhöhle. Oder eine ehrenwerte Jazzband, die den neuesten Shimmy des Prinzen Joachim Albrecht von Preußen verquarrt. Dieser ausgefallene Musikus aus dem königlichen Hause, Seitenlinie Albrecht, Bruder des verstorbenen so sachlich ernsten und tüchtigen Landrats Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen, des besten Hohenzollern im Sinne des "alten Systems", ist sozusagen das kleine Malheurchen der Familie. Menschen, Menschen san mir alle, heißt es im Wiener Couplet. Natürlich, begabt ist der Joachim Albrecht, sehr begabt, aber keineswegs ein so strahlendes Genie wie etwa der Prinz Louis Ferdinand von Preußen, der 1806 fiel und "Luderchen" allein ließ auf dieser Welt. Ich habe den Shimmy "Du bist die Frau" von Joachim Albrecht von Preußen mir auf dem Klavier vorgeklimpert; nicht übel. Aber der Text von Harry Waldau ist ganz banales Zeug. "Gestern abend war's, auf einem Maskenfeste, im Schwarm der Gäste, wo Du mir ganz plötzlich in den Weg getreten, voller Erröten; und obwohl ich Dich nicht kannte, holde Kleine, wußt' ich das Eine, daß ein Liebesmärchen wunderhold und mild sich heute erfüllt." Und so weiter bis zu dem Schlager-Kehrreim: "Du bist die Frau, die ich im Traum gesehn, du bist die Frau, die Sinne mir zu verdrehn, - könnt' ich in heißem Küssen mit dir das Glück genießen, Liebste, ach Liebste, das wäre zu schön!" Hm. Ich weiß bessere Gedichte. Ich weiß auch bessere Musik. Und ich wüßte auch Besseres, womit ein Zollernprinz sich heute beschäftigen könnte, wenn er eine musikalische oder literarische Ader hat.

Einstweilen machen noch andere Leute, vielleicht wirklich Ergriffene unter ihnen, aus der Geschichte des Zollernhauses herzlich Ergreifendes für uns. Ludwig Bergers "Kronprinzessin Luise", kein Hurrastück, auch keine Lauffiade oder Wildenbruchiade, erhebt uns im Künstlertheater. Natürlich geht der Berliner hin, weil seine mollig-drollig-kapriziöse Käte Dorsch die junge Luise gibt. Aber wenn der Berliner nachher heimkommt, ist es nicht das Entzücken über diesen noch ganz unpreußisch-unköniglichen Tollkopf, das so nachhaltig wirkt, sondern die erschütternd tiefe Achtung vor dem uranständigen Friedrich Wilhelm III. Er gehört übrigens zu den besten Figuren, die Friedrich Kayßler - wortkarg und im wesentlichen nur mit dem Aufleuchten der Augen - uns je verlebendigt hat. Ludwig Berger hat ein rein menschliches Schauspiel geschaffen, ist gelegentlich darin auch schonungslos offen gegen den Lotterhof des "dicken Wilhelm", des einzigen aus der Art geschlagenen Hohenzollern vieler Geschlechter. Trotzdem erhalten wir ein Privatissimum in Weltgeschichte, das das Beste von dem Mitte Februar folgenden Hauptwerk, der "Königin" Luise, erhoffen läßt; der erste Teil, die Kronprinzessin, ist nur Exposition.

Natürlich gehen keine patentierten Roten dahin, die Gesättigten nicht in die Ranglogen, die Ungesättigten nicht auf die Galerie. Diese sind an Kaisers Geburtstag in den Lustgarten vor dem Schloß gezogen und haben demonstriert. Im Zwielicht der angehenden Laternen und des letzten Tagesglimmens, in dem häufigen Aufblitzen der Photographenpatronen hatte das Ganze etwas Gespenstisches, auch war es lange nicht die "kompakte" Masse von zusamengefabelten angeblich 70 000 Mann, sondern wie im Theater wurde durch Rundum-Marschieren der Gruppen die große Menge bloß vorgetäuscht. Aber der eigentliche Jammer: die vielen Kinder! Diese armen von klein auf verhetzten Wesen sehen karnevalistische Galgen einherschwanken, an denen deutsche Fürsten als Puppen hängen. Die Kinder müssen dazu im Marschtempo singen: "Hoch die Zollern - an den Galgen!" Sie sehen ein Auto voll karikierter feldgrauer Offiziere mit der Inschrift: "Wir kennen keine Parteien mehr, wir nehmen Geld von jedem!" Und sie hören an zwanzig Stellen blutrünstige Schmähreden, darunter die des Kommunisten Eberlein, der die Arbeiterschaft dazu auffordert, an den Fürsten in russischer Manier nachzuholen, was 1918 versäumt worden sei: "Diese Burschen einen Kopf kürzer zu machen, diese Hunde aufzuhängen."

Das ist in aller Form die Aufreizung zum Morden. Für mich wiegt viel schwerer die Vergiftung der Kinderseelen. Immerhin gilt während "frischer Tat", innerhalb 24 Stunden, auch die Immunität kommunistischer Abgeordneter nicht.

Trotzdem wird sicherlich niemand gegen Eberlein Anklage erheben. Satt und selbstzufrieden steht am Rande des Lustgartens in gebügeltem Zylinderhut der sozialdemokratische Polizeigewaltige von Berlin.
28. Januar 1926 (Donnerstag)


21

Eine Zeitkrankheit - Presseball - Raritäten und Antiquitäten - Lovis Corinth - "Die Nacht der Nächte" - Was man nicht kann

Man sollte wirklich etwas dagegen tun. Es ist eine Seuche. Sie wird durch bedrucktes Zeitungspapier verbreitet. Im Palast und in der Hütte ist man vorerst noch wehrlos.

In der Blüte der Jahre werden schon junge Leute infiziert. Du schwärmst für ein frisches, rosiges, scheinbar kerngesundes Mädchen, du ersehnst den Augenblick, wo du dich ihr offenbaren kannst. In diesem sonderbar erregenden Winter, in dem bitterlicher Frost und linde Frühlingslüfte und weißer Schneepelz so häufig wechseln, machst du bei 15 Grad Wärme den ersten Alleinspaziergang mit der jungen Dame. Noch steht das steife "Sie" zwischen euch, aber da, auf der Bank im menschenleeren öffentlichen Park, wo rundum nur die Spatzen fröhlich schilpen, da willst du die Entscheidung herbeiführen. Ganz nah aneinander sitzt ihr. Da rückst du dich zurecht wie der Reiter, der seinen Gaul im Rechtsgalopp anspringen lassen will, da drückst du der Geliebten krampfhaft die Hand, bringst statt feierlicher Rede nur ein halbersticktes "Du! Du! Du!" zuwege und näherst deine fiebernden Lippen den ihrigen.

Schon schließt sie träumerisch die Augen. Schon drängt sich alles in ihr dir entgegen. Da aber bricht jäh die Krankheit aus. Mit ganz fremder Stimme, es klingt dir wie aus weiter Ferne, sagt das Mädchen:

"Ach, ein Gebirge mit neun Buchstaben, in Asien, kannst du mir das sagen ?"

In solchen Augenblicken könnte ein Mann zum Mörder werden. Die Kreuzwortseuche hat schon mehr auf ihrem Kerbholz. Gegen etliches sind wir ja schon immun, denn das weiß aus ewiger Wiederholung schon jedes Dienstmädchen, daß die Oos der "Fluß in Baden" ist, Zar oder Rat der gesuchte "Titel" und Eli - eigentlich ist er freilich Hohepriester - der "Prophet". Das Dienstmädchen weiß es auch nur von einer Freundin; oder von dem jungen Herrn, dem Primaner. Aber der Generaldirektor verliert den Faden des Geschäftsberichts, wenn in seinem Gemüte ihn plötzlich die Frage überfällt, wie ein Held in einem Roman von Sudermann heißen mag. Das Auto und der Omnibus fahren krachend ineinander, weil die Lenker einem chemischen Grundstoff mit drei Buchstaben nachsinnen. Der Reis in der Küche brennt an. Die Katze frißt den Braten auf. Das lateinische Extemporale mißlingt. Der Kanzleirat kommt zum erstenmal in seinem Leben zu spät zum Dienst. Das Ehepaar verzankt sich, denn der Glaube der Frau an die umfassende Bildung des Mannes ist erschüttert. Der Bierkutscher verliert einen Grand mit Vieren. Der Schlager schlägt nicht durch, weil die Soubrette plötzlich ein todernstes Gesicht macht. Der Posaunist setzt nicht rechtzeitig ein. Karlchen muß mal, kann aber nicht, weil der große Bruder mit der Zeitung so lange auf dem Örtchen sitzt. Es ist verheerend. Das Kreuzworträtsel raubt den Korrektesten die Pflichttreue, den Sanftesten die Geduld, den Lebendigsten die Frische.

Vielleicht ist es deshalb, daß alle Welt jetzt so eifrig nach "Ablenkung" sucht. Als gegen Ende des Mittelalters die Pestseuche durch die Lande ging, stürzte sich die Menschheit besinnungslos zum Tanze. Das erscheint auch jetzt als Rettung, wo andere Ablenkung versagt.

Die Berliner Panoptiken sind zum schmerzlichen Bedauern unserer Provinzgäste schon vor Jahren eingegangen; ihre Wachsfiguren werden jetzt vielleicht in Iglau oder Semlin in Zeltbuden gezeigt. Dafür haben wir ein lebendes Raritätenkabinett, das einmal im Jahre geöffnet wird: den Presseball.

Immer hereinspaziert, meine Herrschaften!

Da ist zu sehen der Mann, der den Versailler Schandfrieden unterzeichnete, der Abgeordnete Dr. Bell. Da ist zu sehen das Entzücken aller romanlesenden Lehrmädchen und Laufburschen, "unsere" Hedwig Courths-Mahler. Da ist zu sehen Admiral Graf Platen-Hallermund, der letzte Kommandant der "Hohenzollern". Da ist zu sehen Paul Oskar Höcker, der zwar kein Mörder ist, aber als solcher hinterrücks von den Belgiern verurteilt wurde. Und da der deutsche Tennismeister Regierungsrat Dr. Froitzheim. Und da Clärelore Stinnes, die am Steuer ihres Wagens das Autorennen durch Rußland gemacht hat. Und da in einer mit 50 000 Straßsteinen bestickten Robe (sogar die Ehe, sagt sie, ist leichter als solch ein Kleid) die schelmische Mady Cristians. Und da der Polizeipräsident Grzesinski, der ehemalige Arbeiter- und Soldatenrat. Und da der wegintrigierte Große unserer Oper, Max von Schillings, der Bruder jenes ebenso bekannten Schllings, der "mit Blitzlicht und Büchse" Afrika durchquerte; und eine Loge weiter, so daß die Extreme sich fast berühren, der zu trauriger Berühmtheit gelangte preußische Kultusminister Becker. Und da die Sängerin Elisabeth Cohn-Boehm-van Endert, die Schwester Kathinkas von Oheimb. Und da Emil Jannings, der - letzte Mann unserer femininen Zeit. Und da, an dem Tischchen zwischen Bankettsaal und Kaisersaal des Zoo unter dem Säulenportal, der Prinz Joachim Albrecht von Preußen in Gesellschaft von Leuten aus der Börsenkurier-Schicht. Und da der Locarno-Minister Stresemann, und fünf Schritt abseits sein ihn hütender Leibkriminalkommissar, der in seinem Frack mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse von den übrigen Gentlemen kaum absticht. Und da die imposante Thea von Harbou, die die Nibelungen für das Volk neu entdeckt hat. Und da, und da, und da . . .

Die kleinen Nichten aus der Provinz können sich nicht sattsehen. Die Reise für einen Tag her von Hannover und Leipzig hat sich schon deshalb gelohnt. Man hat freilich nur ein bißchen wenig getanzt. Bei Onkel Paul findet man doch nicht die richtige Hingebung, weil sie durch die nahe Verwandtschaft temperiert wird; außerdem betreibt er leider das Tanzen im wesentlichen als Entfettungskur.

Es sind überhaupt zu viele verheiratete Onkel da. Ich auch, natürlich. Und zu viele zweimal geschiedene und einmal verwitwete Großmütter mit der Juwelenernte aus drei Ehen am Hals, am Busen, am Handgelenk. Das ist schon beinahe nicht mehr Raritätenkabinett. Das ist Antiquitätenkabinett, sagen spöttisch die Jungmädchenblüten. Alte Ehepaare kommen nach wie vor aus Tradition. Junge nur dann, wenn es zu einem exquisiten "großen" Abendkleid langt; und 1926 hapert es daran bei vielen. Auch der Humor in dem gedruckten Ballalmanach sprudelt nicht mehr so frisch wie ehedem. Eine einzige kleine Bosheit, von Julie Elias, ist allerdings nett:

"Die Ziele der Frauen sind nicht so verschieden wie die Mittel, mit denen sie diese Ziel zu erreichen suchen; einige machen es mit der Schönheit, andere mit der Klugheit, die meisten mit seidenen Strümpfen."

Die Säle sind nicht mehr ganz so überfüllt wie im vorigen Jahre. Aber einen Treffpunkt gibt es, der gleich magisch alt und jung, dünn und dick anzieht: die Tombola. Die anständigste Tombola, die ein Berliner Ball überhaupt aufweisen kann. Hier brauchst du keine Butterdose aus Preßglas heimzutragen, sondern kriegst gute Bücher, berühmte Bilder, freie Luft- oder Seereisen, einen achttägigen Aufenthalt mit deinem Schatz in einem Wintersporthotel im Harz, eine Viersitzer-Mannesmann-Limousine, ein Kollier mit Perlen und Saphiren, einen Persianermantel mit Skunks, einen Blüthnerflügel und tausend andere Herrlichkeiten. Wer sich vorgenommen hat, in der Nacht zum letzten Januar schlank zu werden, braucht nur hierher zu kommen. Beim Tanzen hat er vielleicht zwei Pfund verloren. Im Gedränge an der Tombola verliert er sicher vier, denn nicht umsonst ist es eine - Pressetombola. Erst um ½6 Uhr morgens ist die Ausgabe der Gewinne beendet. Stundenlang steht man in der Menschenmauer, kantige Straßsteine der Hauptfrau des Maharadscha kratzen der Nebenfrau den Brokat entzwei, Stilkleider verlieren den Stil, exotische Orden an Frackbrüsten verbiegen sich, Hausschlüssel bohren sich a posteriori schmerzhaft ins Fleisch.

Es gehört zu den sympathischen Zügen des Presseballs, daß den üblichen Flügel fast immer ein blutjunges Ehepaar gewinnt. Diesmal soll ein erst kürzlich verheirateter Diplom-Ingenieur der Glückliche sein. Im übrigen hält sich Dame Fortuna häufig an das Wort: wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe. Also das Kollier bekommt eine Dame der Hochfinanz, die schon zwei Perlenketten ihr eigen nennt. Das Auto ein Stattlicher, dessen Speckwülste im Nacken beweisen, daß er sowieso auch bisher schon nicht zu Fuß zu laufen gewohnt war; wie ich sehe, hat er übrigens auch viel eingesetzt, wohl an die hundert Lose genommen. Die japanischen Teemöbel fallen an einen kleinen Schwärzlichen, der zwar nicht aus Ostasien stammt, aber sichtlich aus dem nahen Orient. Hinter mir steht ein junges Mädchen in dem für Damen sehr empfehlenswerten Alter von etwa 22 Jahren, das trotz seiner Jugend dank seiner Tüchtigkeit in dem größten Bananeneinfuhrhaus eine hervorragende Stelle bekleidet. Es könnte von der Firma jederzeit eine Reise nach den Canarischen Inseln gestiftet bekommen, denn das ist ja der regelmäßige Weg ihrer Frachten. Natürlich gewint die Dame - eine Reise nach den Canarischen Inseln.

Eine weiche Hand legt sich mir auf den Unterarm.

"Haben Sie wieder den Hauptgewinn ?"

"Selbstverständlich!"

"Was denn, was denn ?"

Ich koste den Moment der Spannung aus, ich warte zwei Herzschläge lang, und dann sage ich:

"Es ist ein Frauenlächeln. Der Traum eines Jahres."

Zu den herkömmlichen großen Ballstätten Berlins, von denen jede mehrere tausend Besucher faßt, ist neuerdings noch der Sportpalast getreten. Kein Tanzbein braucht also um Unterbringung zu zittern. Und das straffe Training ist derart, daß man nun nicht etwa in der Reichshauptstadt auf lauter verschlafene Gesichter stößt, sondern daß jeweils tags darauf alles mit hellen Augen wieder im Leben steht. Man sollte meinen, daß das Tanzen während der Saison alle anderen Interessen aufsauge. Aber es scheint doch nicht der Fall zu sein; sogar der Bildungshunger wird nicht erstickt. Die Zahl der Vorträge ist Legion, die Mark oder die anderthalb Mark dafür gibt jeder gern her, und der Besuch der Galerien hebt sich seit einigen Monaten ganz auffallend. Besonders stark ist jetzt der Zustrom zu dem Gesamtwerk Lovis Corinths, von dem in der Sezession Handzeichnungen und in der Nationalgalerie ein halbes Tausend Gemälde, von 1879 an bis 1925, ausgestellt sind; hier füllen sie den ganzen ersten und zweiten Stock des monumentalen Gebäudes. Der Eindruck einer ungeheuren Kraft bannt den Beschauer. Man wird diesen Lovis Corinth einst vielleicht den Peter Paul Rubens unseres Zeitalters nennen. Ostpreußen hat uns eine ganze Reihe titanischer Künstler geschenkt, so der Bühne den starken Paul Wegner, aber der vollsaftigste von allen ist doch der verstorbene Corinth gewesen. Der lachende, klirrende Ritter, als den er sich so gern malt, der das Leben - das Weib - mit unbekümmerten Händen packt, der in froher Sinnlichkeit sieghafte Mensch, der nichts, aber auch gar nichts Dekadentes an sich hat und dessen unerhört kühne, feigenblattlose Malerei daher auch nie schwül wirkt. Dabei in aller Fleischeslust ein Gottsucher. Nächstens wird seine Selbstbiographie im Buchhandel erscheinen. Das äußere Geschick des Gerbermeistersohnes aus Tapiau wird für manchen Leser schon Reiz genug sein. Mir, der ich das Manuskript schon kenne, macht etwas anderes das Herz dabei warm. Das ist Lovis Corinths Bekennerfreude. Im Jahre 1911 wirft schwere Krankheit ihn nieder. Der Professor sagt tröstend, er könne noch Jahrzehnte leben, aber Corinth sucht den Weg zu seinem Gott: "Ich gürte meine Lenden wie ein Mann: ich frage Dich, Herr, lehre mich!" Im Jahre 1923 hat er seine Lebensbeschreibung vollendet, empfiehlt in den Begleitzeilen seinen Erben den Verlag Hirzel-Leipzig zur Herausgabe und schließt mit den Worten: "Wahrheit war mein Prinzip. Adjee!"" Irgendwo in seiner Biographie steht auch der Satz, in dem er seine Verachtung "der kubistischen Malerei und der hottentottenschen Naivität in der Kunst" kundgibt. Aber er selbst ist von dem Wandel der Technik nicht unbeeinflußt gewesen. Vieles aus letzter Zeit, wo er schon hoch in den Sechzigern war, halbgelähmt, geht perspektivisch seltsam in die Irre, ist unruhig mit dem Spachtel hingepatzt und verlangt 20 Meter Entfernung für den Beschauer, läßt aber doch noch die Klaue des Löwen erkennen, auch wenn der zerfallende Körper nicht mehr gehorcht; um so herrlicher sind die Offenbarungen aus seinen früheren Perioden. Von den älteren Bildern mögen solche wie "Der verloren Sohn" (Besitzer: Frau Wolff, Berlin) oder "Susanna und die beiden Alten" (Besitzer: Frau Schurz, Wiebaden; nicht die andere mehr konventionelle Susanna im Besitz von Arthur Lampel, Berlin) wohl Jahrhunderte überdauern. Für die Berliner Kunstmache ist das natürlich nichts. Sie posaunt nur das Irrlichternde der letzten Jahre aus, die nach seinem Schlaganfall entstandenen Werke. Etwas ganz besonderes sind seine Porträts. Im Gegensatz zu Lenbach, der die Köpfe vergeistigte, vermenschlicht Corinth seine Auftraggeber, - bis zu fast humoristischer Wirkung, der man sich beispielsweise angesichts des Bildes des Grafen Keyserling kaum entziehen kann.

Einen Mann wie Lovis Corinth sich als Internationalisten vorzustellen ist unmöglich. Er wurzelt ganz in der deutschen Heimat, nicht nur künstlerisch; wie glühend er sein Vaterland geliebt, wie schwer er unter dessen Zusammenbruch gelitten hat, werden seine Lebenserinnerungen zeigen. Von den drei Großen unserer zeitgenössischen Malerei in der Reichshauptstadt ist er der einzige bodenständige. Der Pfälzer Slevogt französelt. Und der Kurfürstendammer Liebermann ist überhaupt Nachempfinder, ist allenfalls das, was auf dem Brettl der Damenimitator ist.

Das ist schon nicht mehr unsere Welt, sondern jene, die sich mit den "Schöpfungen" des Komponisten Nelson berührt, dessen sehr leichte Musik, so uneigen sie auch ist, dasselbe Publikum entzückt, das in Max Liebermann "seinen" Maler verehrt. Unter diesem Publikum sitzen alle Inflationshyänen. Jetzt ergötzen sie sich an der "Nacht der Nächte" im Theater am Kurfürstendamm, der neuen Revue. Herr "James" Klein, der eingewanderte Analphabet, kann sich mit seinem Revuetheater in der Innenstadt Berlin nicht mehr flott erhalten. Aber die Nelson-Revue im Westen ist täglich ausverkauft. Die Nacht der Nächte. Die Pracht der Prächte. Der neue Fleischbeschaupalast. Sinnberückend. Den Hyänen sträuben sich vor Lust die letzten Borsten. Und es tut mir in der Seele weh, daß ich dich in der Gesellschaft seh': Dich, Mady Christians. Auch hier bleibt sie im Tanzen und Singen und Tollen immer noch die Dame, die einzige vielleicht in der ganzen Exhibition, aber sie tut einem leid, weil sie, statt Besseres vor einem Parterre von Königen zu spielen, diesem schmatzenden Publikum zwischen Schenkelparaden sich servieren lassen muß.

Am Ausgange nach Schluß der Vorstellung, mitten im Gedränge, höre ich, wie eine der Verwöhnten und Geschminkten, die im ersten Parkett gesessen hat, von ihrem Mann etwas erbittet. Offenbar etwas sehr teures, denn er lehnt erstaunt ab. "Das verstehe ich einfach nicht," sagt sie zornig, "dir hat man wohl einen Staubsauger ans Gehirn gesetzt ?" Bedrückt erwidert er: "Aber Kind, bedenke doch die miesen Zeiten, das kann ich jetzt einfach nicht!" Darauf sie:

"Was man will, das kann man! Und was man nicht kann, das schiebt man!"
4. Februar 1926 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts