"Rumpelstilzchen"

"Mecker' nich!"
(Jahrgangsband 1925/26)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1926

Glossen 16 - 18
31. Dezember 1925 bis 14. Januar 1926


16

Die Lichtlein verglimmen - Nur Praktisches - "Trudhan epoi Puhding" - Die billige Gans - Am zweiten Weihnachtstag im Faun - Toni van Eyck als "Kätchen" - Beim Barbier

Die Lichtlein verglimmen. Es waren ihrer 56 an dem mächtigen Christbaum, der in der Halle bis über die Galerie ragt. Nun blinzeln nur noch fünf, nur noch zwei durch die Äste; nun flackert das letzte Stümpfchen. Waldduft und Wachsduft mischen sich, Erinnerungen ziehen herauf, Hoffnungen ranken sich: es ist die alte wunderselig-deutsche Märchenstimmung. Auch wenn diesmal die Gabentische so grausam "praktisch" bepackt waren. Da liegen Strümpfe, dort Unterhosen; Dinge, die man sonst sowieso hätte anschaffen müssen. Auf dem Platze des zweitältesten Sohnes, des Bildhauers, steht sogar höchst prosaisch ein großer Zinkeimer mit Deckel, bestimmt zur Aufbewahrung für nassen Ton. Nur mit dem Baum sind wir nach wie vor verschwenderisch. Dieser Garderiese von über 5 Metern soll ja auch alle Blicke anziehen, soll ja auch Mittelpunkt sein - und nicht die Geschenke und die Teller mit Näscherei. Wir wollen die Christnacht und den Stern von Bethlehem nicht vergessen, nicht am Heiligen Abend selbst und nicht heute zu Silvester, wo alles wieder erlischt. Diesmal hatte sich die Bescherung fast verspätet. Vater mußte tagsüber noch in der Stadt herumrasen, um ein junges Menschenpaar, das in Hunger und Elend geraten war, vor dem verzweifelten Schritt ins ewige Dunkel zu bewahren. Die Not rundum ist so entsetzlich groß. Wer sie noch nicht spürt, der lindert sie draußen natürlich, wo er kann, und richtet drinnen für die Seinigen auch noch alles so an, als lebten wir in der guten alten Zeit. Auf unser neues Bübchen aus Süditalien hat auch dieses Materielle eine großen Eindruck gemacht. In dem Briefe an die Mutter lesen wir:

"Zuerst gab es Truhdhan mit Rosenkohl, epoi Puhding, auf dem Koniak angezündet wurde."

Die Rechtschreibung ist nach den zwei schullosen Jahren verwildert, auch stolpert hie und da ein italienisches Wörtchen dazwischen, so hier "e poi" statt "und dann". Aber das wird sich bald machen. Es ist wohl das letzte Mal, daß der Junge nicht gewußt hat, wie Truthahn geschrieben wird. Der Berliner Durchschnittsjunge kommt kaum in die Lage, Truthahn schreiben zu müssen, weil sein Weihnachtsessen die Gans ist. Auch sie hat ja ihre orthographischen Gefahren, diese Wonneganz des ersten Feiertages, die auf den Karpfen oder den Heringssalat des Heiligen Abends in Berlin zu folgen pflegt. Wer gute Nerven zum Abwarten und Sinn für Konjunkturen und wirtschaftlichen Überblick hat, der konnte den Festbraten diesmal billig erstehen: am 24. Dezember gegen Abend mußten die Läden ihre vielen übriggebliebenen Gänse zu 1 Mark das Pfund weggeben, um sie nicht zum Verderben zu behalten. Selbstverständlich hatte auch unsere alte Waschfrau diesen Festbraten angerichtet. Selbst wenn man sich gar nichts bescheert, so spart sich doch für drei Dinge auch der bescheidenste Berliner das Nötige zusammen: Christbaum, Pfefferkuchen, Gans.

Der erste Weihnachtstag in der Reichshauptstadt gehört seit altersher der Familie. Der zweite ist ebenso seit altersher der des Ausgehens oder Einladens oder Eingeladenwerdens. Da treffen sich auch alte Kriegskameraden und gedenken der von 1914 bis 1917 im Feld erlebten Christfeste. Wißt ihr noch, wie wir in Belgien einen Teich abließen und dann von unserer Beute fast einen Zentner Karpfen allein dem Generalkommando des 23. Reservekorps hinüberschickten ? Oder wie wir später im Unterstand an der Düna in starrendem Frost ein Krippenspiel aufführten, wobei der Kopf des Jesuskindes aus einer Kohlrübe geschnitzt war ? Wißt ihr noch, wie wir im Winter nach dem großen Durchbruchssieg in Oberitalien uns mit Mühen aus dem Gebirge ein Bäumchen besorgten ? Was in Berlin zu den sogenannten kleinen Leuten gehört, deren Leben das Jahr über fast nur Mühe und Arbeit ist, das lädt am zweiten Weihnachtstage freilich nicht Bekannte in die muffigen kleinen Stuben ein, sondern will etwas von dem Glanz der großen Welt erhaschen. Besonders am Nachmittag, wo man sich die Genüsse selbst teurer Lokale mit der Zahlung für ein Gedeck Kaffee und Kuchen erkaufen kann, sind alle Gaststätten pfropfenvoll.

Da gucken wir einmal beispielsweise in den Faun des Westens in der Tauentzienstraße hinein. Sonst ist hier nur der Kurfürstendamm zu finden, auch Polnischer Korridor genannt. Nun ist aber der Faun überschwemmt von Familien kleiner Leute aus bescheidenen Gegenden. Der Vater ist nicht immer dabei, der sitzt in der Kneipe seiner Straße, aber die Mutter, die sonst nie wegkann, weil sie sie Kinder nicht ohne Aufsicht lassen will und kein Dienstmädchen hat, ist da, die Porzellanbrosche mit der Emaillephotographie des Jüngsten am Halse; und die Großmutter mit der Granatbrosche; und der zwölfjährige Lausbub mit eigens geöltem Haar; und die beiden kleinen Mädchen von zehn und neun und auch noch der stupsnäsige vierjährige Verzug. Alle sechs sitzen einträchtig um den Nachbartisch herum, die Alten ein wenig geniert und nicht ganz aufgetaut, die Kinder ein wenig frech und sehr laut fröhlich.

Auf der Bühne hat ein Humorist allerlei Zweideutigkeiten gemeckert. Eine Jazzband müht sich ab. Eine nur um den Äquator herum genügend bekleidete Tänzerin hat ihre Sprünge vollführt.

Ein Moment Stille vor dem Applaus. Und in diese Stille hinein quäkt der Lausbub vom Nebentisch:

"Mutta, wennste sone Beene hättst, denn würde Vata sagen, wa sin jlücklich vaheirat', nich ?"

Es ist leider zu viel Publikum da, sonst bekäme der Lausbub hoffentlich eine ordentliche Tachtel gewischt. So redet die Mutter nur dringlich auf ihn ein. Die arme Frau - ach, sie hat Tausende von Schicksalsgenossinnen - kann einem leid tun. Alle ihre heroischen Anstrengungen, die äußere Dürftigkeit adrett zu machen und die Kinder in Ehrfurcht und Anstand zu erziehen, werden immer wieder erstickt. Auch wenn sie am zweiten Weihnachtstag, einmal im Jahre, etwas Glanz und Licht und strahlende Freude den Ihrigen verschaffen will, gelingt es so vorbei. Gerade steht wieder ein Männerquartett auf dem Podium und singt ein Potpourri, darunter manch schönes Volkslied, aber auch den schnoddrigen Vers:

So lang der Bauch in die Weste paßt,
Wird keine Arbeit angefaßt!

Der Lausbub juchzt. Feine Weihnachten. Wenn er auch nichts von diesem Nachmittag behält, diesen Vers behält er sicher, ebenso die füllige Erscheinung der Tänzerin. Beides wird er Vata'n erzählen. Und Vata wird schmunzeln.

Man darf nicht darauf rechnen, daß unsere leichtfertigen Kabaretts sich für die Weihnachtszeit völlig umstellen; und wenn sie es täten, dann würde es süßlich-sentimental und unwahr sein. Die Theater, für die der Dezember der schlechteste Einnahmemonat ist, legen reichlich Märchenspiele in Nachmittagsvorstellungen ein. Das ist aber meist nur etwas für kleine Kinder, die Bonnen haben, nichts für den halbflüggen Jungen aus den Berliner Arbeitervierteln, der die Märchen für blöden Schwindel erklärt und längst im Kino und auf der Straße sich seine Aufklärung geholt hat. Gewiß, "Peterchens Mondfahrt" ist wunderhübsch, wird immer wieder gegeben, und die erst vierjährige Ruth Witting spielt schon seit Jahr und Tag ihre Hauptrolle darin ganz entzückend. Auch andere Märchen glitzern über unsere Bühnen, sind aber fast durchweg zu pompös aufgemacht, revuemäßig aufgemacht, und lassen die liebe Schlichtheit vermissen, die sie im Munde unserer Mütter einst hatten. Auch kriegt man ganze Familien da doch nicht hinein. Und doch könnte unser Theater gerad um die Weihnachtszeit, wo die Herzen wie aufgepflügter weicher Acker empfänglich für guten Samen sind, aus den Schätzen unserer Klassik und Romantik uns so viel Reichtum spenden. Dazu noch eine Verbilligung der Eintrittspreise, die durch guten Besuch aufgewogen würde, und es wäre außerordentlich viel Seelenarbeit geleistet.

Reinhardts Deutsches Theater ist das einzige, das uns etwas dergleichen diesmal beschert hat, nämlich Kleists zauberhaftes "Kätchen von Heilbronn". Noch immer ist der erste Versuch damit, vor zwei Jahren mit Lucie Mannheim, für uns unvergeßlich, auch wenn diese Darstellerin nicht gerade ein deutsches Kätchen war. Nun haben sie eins: Toni van Eyck. Damit ist eine ewige Sehnsucht gestillt, die immer wieder aufbricht, wenn wir in Oper oder Schauspiel gehen, die Sehnsucht nach vollkommener Übereinstimmung zwischen Rolle und Mensch. Wir wünschen uns die Riesen, Fasolt und Fafner, in Wagners Nibelungenring als wirkliche Riesen, nicht bloß mit dicken Unterlegesohlen, hohen Stiefelabsätzen und emporgekämmtem Haarschopf. Ein Siegfried mit Fettpolstern statt Muskelstahl läßt uns nicht wunschlos. Ein Goldzahn in Gretchens Munde zerstört uns jede Illusion. Parsifals Blumenmädchen müssen wirklich blühende Geschöpfe sein. Und wenn Tells Sohn von einer kleinen Aphrodite Kallipygos dargestellt wird, so ist das Jungenhafte eben nicht zu erreichen. Nun diese Toni van Eyck, die in München von Reinhardt entdeckte junge Darstellerin, fünfzehnjährig, noch versonnen und traumhaft, voll der herben Süße unerschlossener, erst geahnter Weiblichkeit, ein leibhaftiges Märchenkind wie Kleists fünfzehnjähriges Kätchen von Heilbronn! Den Ritter vom Strahl stellt wieder, eine herrliche Siegfriedsgestalt auch in Sprache und Wesen, Kraft und Reinheit und Güte, unser Paul Hartmann. Wenn vor seiner ragenden Gestalt dieses hauchzarte Dingelchen steht, die Toni van Eyck, dann gibt das einen bildhaften Zusammenklang, wie ich ihn ähnlich ergreifend nur noch ein einziges Mal empfunden habe: bei dem Anblick von Kruses "Junger Liebe", dieser unendlich keuschen und innigen Holzskulptur, deren Original sich in Hamburger Privatbesitz befindet, deren Vervielfältigung in Marmor und Bronze und Gips aber in allen deutschen Kunsthandlungen und darüber hinaus in unseren Nachbarländern stehen. Hartmann und die Eyck zusammen auf der Bühne: da schweigt, weil er zu unheilig wäre, sogar der Applaus. Nur Andacht auf allen Mienen. Das Märchen ist in Wahtheit um uns. Man wagt kaum zu atmen.

Oft schon habe ich das Gefühl gehabt, man müsse das Berliner Publikum in die Lüfte sprengen. Diese breitstirnige, beinschleppende Herde Rindvieh, die vom Wiederkäuen von Kritikerphrasen lebt und auf das wohlige Aufstoßen von Pikanterien wartet. Ein wenig hat das Deutsche Theater - Eugen Klöpfer hat diesmal die Regie - auch Rücksicht darauf genommen. Das, was sich in Kleists Zauberspiel zu grotesker Komik ausarbeiten läßt, so die Szene zwischen dem Rheingrafen und dem Gastwirt Jakob Pech, das ist ausgearbeitet, ausgedehnt, ausgezerrt, zu fast unerträglicher Eindringlichkeit verdeutlicht. Sogar eine quietschende Tür muß ganze siebenmal von selbst aufgehen, um durch ihren melancholischen Ton und ihre Eigenwilligkeit Lachen zu erwecken. Es wäre nicht nötig gewesen. Nicht die gelegentliche Komik, sondern die leuchtende Poesie bannt uns; nicht das Derbe, sondern das Zarte; nicht die kuriosen Einschiebsel, sondern die holde Unvergänglichkeit. Eine Streichung aber sei Eugen Klöpfer besonders gedankt. Er hat den ganzen Kaiserschmarren vom Schluß des Kleistschen Spieles gestrichen. Er hat damit die Dichtung von einem ganz falschen Zug erlöst. Kleist glaubte noch, es werde dem Publikum nicht eingehen, selbst im Märchen nicht, daß ein Ritter ein kleines Handwerkerkind heirate. Dazu erfand er also die "illustre" Abkunft seines Kätchens vomn Heilbronn. Aber gerade das ist für uns das Störende, gerade das entblättert uns die Märchenblume: nein, so ist's recht, wie es in dieser Neuaufführung geschieht, zuerst muß der Unhold Kunigund scheitern und dann das reine Kind - nur um seiner reinen Minne willen - zur Grafenbraut gekrönt werden.

Verstohlen drückt hie und da unter den Zusachauern der eine dem andern die Hand. Mann und Frau; Geschwister untereinander; Freunde und Freundinnen. Man fühlt sich beglückt und wie geheiligt.

Draußen erwartet einen wieder das unholde Leben, in dem die Märchen, ach, so selten geworden sind, das reine Magdtum verspottet wird und das Mädchenhafte außer Kurs kommt. Wir sind bald alle über einen Kamm geschoren. Heute am Silvester-Nachmittag sind die Barbiergeschäfte noch überlaufen, weil jedermann mit glatter Haut das neue Jahr empfangen will. In dem Halbdunkel des kleinen Ladens in einer Nebenstraße kann ich Männlein und Weiblein, die beide fast den gleichen Bubikopf tragen, kaum mehr auseinanderhalten.

Beide Sorten Menschenkinder sagen auch gleichmäßig:

"Bitte rasieren!"

Der einzige Unterschied ist dann nur der, daß der eine seinen Kopf im Stuhl hintenüberlegt, die andere ihren Kopf vornüberbeugt; so kann man am Vorabend von 1926 wenigstens das Geschlecht erkennen.
31. Dezember 1925 (Donnerstag)


17

Wie Silvester wirklich war - Das Pleitejahr - Enttäuschte Ganoven - Wenig trinken, viel tanzen - Licht aus im Kaiserhof - Adlon-Roulette - Inventurausverkäufe - Der "Blaue Vogel" - Die Negerrevue am Kurfürstendamm

Kinder, habt euch doch nicht so! Weshalb das pharisäische Naserümpfen ? Jawohl, gelesen habe ich es auch: noch nie sei der Rummel zu Silvester in Berlin so toll gewesen wie in diesem Jahr. Aber das stimmt nicht! Gewiß, es sind ein paar hundert polizeiliche Feststellungen erfolgt; und schließlich hat man ganze 37 Personen im Kittchen behalten. Aber was ist das unter 4 Millionen Einwohnern von Groß-Berlin ? Macht so erstaunte Gesichter, wie ihr wollt, nur glaubt es mir: an gewöhnlichen Sonnabenden im Dezember hat es schon mehr Feststellungen und Verhaftungen gegeben. Aber natürlich, man erschrickt, wenn man liest, daß in 748 Fällen doe Polizei "eingreifen" mußte. Und die ganze erste Neujahrswoche sagte bei jedem Zusammentreffen Bekannter einer dem anderen es gedankenlos nach: Sowas war noch nie da!

Ich möchte wetten, daß diesmal sogar weniger schwere Kater am ersten 1926er Morgen spazieren geführt wurden als 1924 oder gar 1922 oder auch 1914, denn - es ist viel weniger getrunken worden. Ich rede nicht wie der Blinde von der Farbe. Bis Mitternacht habe ich bescheiden bei einem (nein, es waren doch anderthalb!) Gläschen Punsch daheim bei den Meinigen gesessen. Wir ließen das Jahr und die Jahre Revue passieren, Leid und Freud bis in Kindertage zurück traten im Wechselgesang auf, und das fröhlich-ernste "Bis hierher hat uns Gott geholfen" war der Schluß. Dann mußte der Mann hinaus ins feindliche Leben, durch knatterndes Feuerwerk und blödes Prost-Gebrüll auf den Straßen hindurch, hinein in die vielen Festsäle des sonst so redlich arbeitenden Berlins. Sieben Stunden bin ich unterwegs gewesen, an zehn Stellen habe ich mich annähernd je dreiviertel Stündchen aufgehalten. Ich kann also wohl mitreden. Danach kann ich bestätigen, daß die relativ größten Einnahmen diesmal überall die Garderobepächter gehabt haben, denn alle Welt schwirrte zu Fuß oder in Autodroschken umher, fiel in dies oder jenes Lokal ein, gab die Mäntel ab, ging in den Saal, schlenderte hindurch - und machte alsbald wieder kehrt mit dem oft gehörten Stoßseufzer:

"Auch hier ist nischt los. Es ist ja noch keiner besoffen."

Es kommt ein ganz falscher Zug in das kulturgeschichtliche Bild unserer Tage, wenn man ohne Prüfung die stereotypen Behauptungen über das Berliner "Bacchanal" nachbetet. Das Bild ist alle Jahre anders. Die wirtschaftliche Lage hat doch auch etwas mit der Farbenmischung zu tun; und es scheint wirklich, daß der Masse allmählich eine Ahnung davon aufdämmert, daß die über 10 000 Konkurse von 1925 (im Vorjahr waren es nur halb so viel, noch ein Jahr früher nur wenige hundert) nicht gerade geeignet sind, auch bei den noch nicht Falliten eine orgiastische Stimmung auszulösen. Etwas annähernd Ähnliches habe ich nur in einer kleinen Kneipe gesehen, in der Transportarbeiter Silvester feierten, "mit billigem und schnellem Anschluß" durch mehrere Runden Schnaps. Aber selbst in einem Animierlokal für die ehedem "goldene" Jugend in der Jägerstraße, in deren Sonderzimmer die Variante gesungen wird "Unter der Hand, unter dem Tisch, da gibt's koa Sünd'", war noch gegen Morgen alles so forciert nüchtern, daß ein paar Ganoven - so heißen die Langfinger im Rotwelsch - schwer enttäuscht abzogen. Sie hatten sich das Karnevalistische, das in Berlin zu Silvester seinen Kalendertag hat, leicht gemacht, einfach die Kleider umgekehrt und mit dem Futter nach außen angezogen. Aus den Jackenärmeln baumelten ihre rissigen, schmutzigen, tätowierten Fäuste. Sie gingen von Tisch zu Tisch, reichten jedermann die Hand, schauten jedermann prüfend "in't treie Ooge", und bemerkten überall, daß sie nach Art und Herkunft erkannt wurden und keinem einzigen Gast behufs gelegentlicher Taschenrevision liebevoll in ihre Mitte nehmen konnten. Sie hätten lieber draußen Autotüren aufreißen und zuklappen sollen; da hätten sie es vielleicht auf einen Taler und fünf Neugroschen Trinkgeld gebracht. Im äußersten Westen, in der "Bunten Stadt" in den Ausstellungshallen, war es fast leer. In der Innenstadt konzentrierte sich der ganze Trubel. Aber das Weinhaus Rheingold beispielsweise schloß schon um 3 Uhr trotz der polizeilich für alle Lokale gewährten Freinacht. In dem allen Provinzlern von früher her bekannten Café National drückten sich die paar berufsmäßig alltäglichen Besucherinnen verschüchtert und unbeachtet in eine Ecke, denn Herr war diesmal "gutes Familienpublikum", und das tanzte. Überhaupt kann man von dieser Silvesternacht sagen: es wurde fast durchweg weniger als sonst getrunken, aber unentwegt getanzt; im Durchschnitt mögen unsere Berliner jungen und "jüngeren" Damen ihre 25 Kilometer auf den Zehenspitzen gemacht haben. (Wenn man ihnen auch nur ein Fünftel davon am Tage zumutete, so würden sie zusammenbrechen.) Im Pavillon Mascotte in der Behrenstraße, wo das von Inflation und Deflation unbeschädigte Berlin W tanzt und trinkt, sah ich diesmal freilich mehr dickbauchige Flaschen als an Alltagen, sonst aber hier - und auch im Prisma-Casino - das gewohnte Bild. Etwas Besonderes hatte die Philharmonie versprochen, die vor dem Kriege wegen ihrer ausgelassenen Silvesterbälle berüchtigt war, nämlich ein Prunkfest unter dem Titel: Im siebenten Himmel unter Geschäftsaufsicht. Der Titel war der einzige Witz. Papiermützen, Quäkpfeifen, Kinderballons konnte man sich dazu kaufen; überall tanzte in Schweiß und Konfettistaub der Hans mit seiner Grete, die Lilli mit ihrer Freundin, der Chef mit seiner Frau, - und dazwischen schweifte die Direktrice vom Hausvogteiplatz oder die Friseuse aus der Maaßenstraße und suchte mit hungrigen Augen nach einem Zahler für ihre Zigaretten.

Und wenn es draußen im Reich auch niemand glauben will: man hat in diesen Lokalen nirgends wirklich geschlemmt. Etwas anders geht es herkömmlicherweise natürlich in den großen Hotels zu, wo die "Spitzen" Berlins sich zeigen und wo die Geschäftsleute ersten Ranges ihre Freunde hinbringen. Das sind Unkosten, die nicht auf Privatkonto verbucht werden. Die Berliner Silvesternacht ist die Nacht der Kundenumschmeichelung und Krediterweiterung. Zwischen 3 und 4 Uhr morgens wird manche Wechselprolongation erreicht. Die größte Mühe um die Unterhaltung der Gäste hatte sich diesmal der Kaiserhof am Wilhelmsplatz gegeben, dessen künstlerisches Programm die Bühnengenossenschaft bestritt. Aber - niemand hörte hin. In dem Geschwirr und Gelärm schlugen sich manche Vortragende einfach seitwärts in die Büsche und verzichteten. Ein schöner Einfall war es, das neue Jahr, während alle Lampen für diese Zeit erloschen, von einem Bläserkorps mit "Nun danket alle Gott" begrüßen zu lassen. Da war tiefes, andächtiges Schweigen. Da saß manches Paar still Hand in Hand und richtete seine Gedanken aufwärts.

Dann erstrahlten die Säle lautlos und plötzlich wieder in vollem Licht.

Das hätte man vorher ansagen müssen. Das Brautpaar rechts an meinem Nachbartisch merkte nichts. Bis die Schwiegereltern es heftig zupften. Das Brautpaar hatte die Augen geschlossen und war Lippe an Lippe in Seligkeit versunken.

Dazwischen habe ich noch ein bißchen im Hotel Adlon getanzt. Dort hatten sich die meisten Prominenten eingefunden, die Leute, von denen man liest, von denen man spricht. In hätte gern - Roulette getanzt; aber der Saal, wo solches geschieht, zweimal in der Woche geschieht, war diesmal von Standhaften überfüllt. Was das ist, Roulette tanzen ? O, eine feine Sache. Für Berlin "neu creiert" einzig und allein vom Hause Adlon. Die Parkettquadrate in der Mitte haben Nummern. Da wird gefoxt und gewalzt, da schieben und drehen sich langsam die Paare, da - schubsen sie sich wohl auch manchmal, natürlich nicht unhöflich, denn man ist doch gute Gesellschaft. Die Musik spielt etwa: "Für dich - für dich - hab' ich . . ."

Schrumm. Aus. Mitten drin.

Die Paare sind plötzlich erstarrt. Niemand bewegt sich. Nur der Tanzmeister bringt auf einem kleinen - "echt Monte!" - Roulette-Apparat die Kugel ins Rollen. Sie saust in dem Becken wie wild. Sie wird langsamer. Sie torkelt in ein Nummernfach.

Nun wird die Nummer ausgerufen, das Paar, das auf der gleichen Parkettnummer steht, meldet sich beglückt und erhält einen Gewinn. Zuweilen ganz allerliebste Sächelchen aus der staatlichen Porzellanmanufaktur, nicht irgendeinen Schund aus dem Fünfzig-Pfennig-Basar. Gewinnen kann also immer nur ein Paar. Die meisten merken im letzten Augenblick, daß sie überhaupt auf keiner Nummer stehen, sondern irgendwo dazwischen, leicht und elegant abgedrängt. Auch hier gibt es "Systemspieler", wollte sagen Systemtänzer. Aber das Ding hat eine fabelhafte Anziehungskraft: die ältesten Jeuratten fangen an mitzutanzen.

Der letzte Beweis dafür, daß zu Silvester trotz allem diesmal verhältnismäßig wenig verjubelt worden ist, ist der starke Andrang nachher, jetzt in der ersten Neujahrswoche, zu den Inventurausverkäufen. Hoffentlich kommt keine meiner Leserinnen dazu nach Berlin, sondern bleibt ihren heimischen Lieferanten treu, die den Stammkunden gegenüber eine Verantwortung haben. In Berlin - strömt der Pofel von ganz Deutschland zusammen, den einzelne Geschäfte aus ganz Deutschland sich zu dieser "Inventur" holen. Ich habe da, zu allerdings lächerlich billigem Preise, streifig und fleckig gewordenen Taft gesehen, den keine Dame wirklich tragen kann; und im übrigen meist auch die minderwertigsten Ladenhüter. Natürlich ist es nicht zu bestreiten, daß manche Berliner Häuser auch auf einige gangbare Ware - aber es sind nur wenige Artikel - bis zu 30 Prozent nachlassen. Das können sie schon. Ich habe die Direktrice vom Hausvogteiplatz, die ich in der Philharmonie in der Neujahrsnacht kennen lernte, ein bißchen ausgefragt. Sie war glücklich, daß ich nicht ein philosophisches Gespräch über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde anhob oder unzweideutig berlinisch wurde, sondern liebevoll auf ihre Facharbeit einging, und sie gab mir - "direkt aufblühend" - Bescheid. Also die Damenkleider, die in unseren Warenhäusern mit 29,50 Mark ausgezeichnet sind, werden ihnen zu 14 Mark von der Großkonfektion geliefert; und die allerbilligsten Kostümröcke, die dem Kunden 6 Mark kosten, zu 1,50 Mark.

"Und was bekommt die Arbeiterin für solch einen Rock ?"

"Der Arbeitslohn für jeden Rock beträgt 20 Pfennig!"

Da ist mir für eine Weile die Silvesterfröhlichkeit vergangen, denn dem Untier Großstadt sah ich in den mahlenden Rachen. Die vielgerühmte Arbeitsteilung im Großbetriebe ist oft doch weiter nichts als eine Aussaugung der Schwächsten und unnütze Einschaltung vieler Zwischengewinnler. Man bekommt Sehnsucht nach seiner Kinderzeit. Damals wurde noch zu Hause gesponnen, gewebt, genäht, es war alles nicht sehr elegant, aber haltbar und gut und billig - und jedermann in diesem Produktionsprozeß hatte sein behäbiges Auskommen . . .

Nun ist das neue Jahr da, nun sind wir mitten in der Saison, nun sollte sich auch, meint man, der Besuch der Theater wieder heben, die doch nun einmal, so oder so, Volksbildungsstätten sind. Aber die wenigen guten Dinge haben keine Bleibe in Berlin. Der "Blaue Vogel" des Russen Jushnyi, der wieder einmal bei uns eingekehrt ist, wird seine Schwingen wohl bald wieder ostwärts wenden. Es ist dies das künstlerisch vollkommenste, farbenfreudigste, musikalischste Kabarett, das ich kenne, voll süßer Romantik, herbfrischer Volklichkeit, behaglichen Humors - und ganz, ganz frei von jeder sittlichen Fäulnis, deren Geruch anderswo als Lockmittel gilt. Die vollen Häuser in Berlin erzielt aber augenblicklich nicht Jushnyi, sondern Nelson, Nelson am Kurfürstendamm, in dessen Theater - eine Negerrevue aus Paris eingekehrt ist. Die Farben der Darsteller so zwischen verbrannter Milch und schwarzem Kaffe in allen Nuancen. Die Tanzakrobatik, namentlich bei dem weiblichen Star Josefine Baker, noch toller als bei den Chocolate Kiddies des Vorjahres. Ich habe mich schon an manchen Teichen gewundert, wie lebhaft die sonst so phlegmatischen Enten mit ihrem Steiß wackeln können. Diese Nigger aber können noch viel mehr. Fest im Raume hängt nur das Gesicht, das fletschende Gesicht mit dem tierischen Grinsen, alle Glieder aber sind detachierte Filialen. Die Füße trillern wie verrückt. Der Bauch zuckt im Vierundsechzigsteltempo und schnappt nach den Hüften. Der federgeschmückte Steiß hat sich selbständig gemacht und rotiert rasend wie Feuerwerk. Die Knie spielen derweil nach einem anderen Instrument. Dazu trommelt und blökt die Jazzmusik der Nigger stundenlang auf unsere Nerven.

Ich begreife den Maler Professor Orlik nicht, daß er - in der Parterreloge nebenan - so ruhig dieses ganze Höllengelichter aus dem Urwald in seiner Mappe skizzieren kann. Die Baker mit ihrem lackierten Aztekenkopf setzt sich nach der Vorstellung noch zu ihm. Der eine oder andere Gent vom Kurfürstendamm holt sie dazwischen zum Tanzen ab. Iregndein männlicher Nigger foxtrottet gleichzeitig mit weißen Mädchen, die Farben verschwimmen, das Gemisch macht einen widerlich perversen Eindruck.

In Paris spielt die Farbige auf dem Begierdenmarkt schon eine Hauptrolle. Jetzt versuchen die Lustunternehmer auch Berlin in den braunen Pfuhl zu stoßen.
7. Januar 1926 (Donnerstag)


18

Das Stadtbild zerrinnt - Neutempelhof - Das Kapitol - Licht-Überfall überall - Was ist knorke ? - Auf dem Sturmball - Die 54 Damen der Bode-Schule - Der liegende Akt - Aus einem Sextaner-Aufsatz

Mitunter zerrinnt einem das Stadtbild unter den Händen. Man hat kaum darauf geachtet, daß irgendwo ein Bauzaun sich erhob, eines Tages fällt er dann, wir reiben uns die Augen - und die Umwelt hat sich wesentlich verändert. Und das trotz des allgemeinen Darniederliegens der Bautätigkeit. So ist die große Wohnkolonie Neutempelhof entstanden, luftig, hell, freundlich, in ihrer ganzen an die Biedermeierzeit erinnernden Architektonik so sauber, daß man aufatmet. Es sind trotz Rasen und Gartenlandes keine "Villen" im heutigen Sinne, aber erst recht keine himmelhohen "Mietskasernen", sondern solche Mehrfamilienhäuser, in denen wir uns unsere Großväter und Großmütter als kleine Kinder glücklich spielend vorstellen können. Ein Idyll in dem rasenden Groß-Berlin. An anderen Stellen der Stadt aber beginnt umgekehrt das Amerikanische die altväterliche Nachbarschaft zu überschreien. Als die Geschmacklosigkeit der Neureichen von 1890 den Kurfürstendamm uns hingesetzt hatte, wollte der Kaiser zwischen dieser Talmi-Eleganz und dem alten Berliner Westen einen architektonischen Ruhepunkt schaffen, wo Auge und Sinn sich wieder erholen konnten. So entstanden die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche und um sie herum ebenfalls in rein romanischem Stile große Profanhäuser auf seine Anregung hin. Sogar die "Ausstellungshallen" weiterhin, dieser niedrige langgestreckte Industriebau, erinnerten noch an die Goslarer Kaiserpfalz. Frei blieb nur eine Seite des großen Fünfecks: da gleißten in der Sonne die dichten Baumkronen des Zoologischen Gartens.

Nun sind sie auf einmal verbaut. Es steht da ein nüchterner, langer, gelbgetünchter Kasten, der sich "Kapitol" nennt, zu ebener Erde große Kaufläden enthält und darüber ein Riesenkino in einem besonderen gelben Kubus. Früher streckte die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche ihre mächtigen Quadern abends geheimnisvoll in das Dunkel empor. Jetzt ist ihre ganze dem Kapitol zugewandte Seite lohend - fast schmerzhaft - überflammt. Von drüben her, von den Feuerrädern der gelben Reklame, die abwechselnd rot und violett durchzuckt wird, und von der meterhohen Glühbirneninschrift: Der Dieb von Bagdad. Einst war in Berlin der Lichtüberfall auf harmlose Passanten nur am Potsdamer Platz Mode, im letzten Jahr aber haben wir überall in den Laufgegenden brodelnden Broadway bekommen, sticht uns überall die grelle eilende Wanderschrift ins Auge.

So wird die ganze Stadt, abgesehen von den reinen Wohnvierteln, zu einem Rummelplatz. Der Mensch, der nach seiner Bureauzeit auf die Straße tritt, soll, unter Lichtgebrüll überfallen, ins Taumeln geraten und besinnungslos in die nächste Vergnügungs- oder Gaststätte einfallen. Welchen Verlust an Kultur das bedeutet, das merkt der Großstädter vorerst noch nicht. Er ist stolz und glücklich, daß die mageren Jahre des Lichtsparens und der Lichtstreiks vorüber sind, er weist den Besucher aus der Kleinstadt noch darauf hin und sagt: "Knorke, nich ?" Dieser Berliner Anerkennungs-Superlativ, der vor drei Jahren von der Straßenjungen-Etymologie geboren wurde, ist allmählich wie ein Tintenfleck auf Löschpapier von halb Deutschland aufgesogen worden. Fragst du aber einen Berliner, was er bedeute, so sieht er dich zuerst fassungslos an und antwortet dann etwa: "Ganz einfach, knorke ist eben noch schnafter als dufte!" Nun weißt du Bescheid. Oder nich ? Jedenfalls lohnt es nicht, daß du selber nun zu berlinern versuchst, denn du wirst doch alsbald als "kleiner Provinzler" - selbst wenn du aus München oder Hamburg oder Frankfurt bist - über die Achseln angesehen und bekommst, ähnlich wie der Versailler vom Pariser, die verächtliche Frage an den Kopf: "Mensch, Se sin woll aus Potsdam ?"

Bemühe dich nicht, im Wortgefecht Sieger zu bleiben. Der Berliner ist dir doch über. Ich habe einen "weitläufigen" Neffen, der aus Elberfeld stammt, am Kurfürstendamm wohnen, der mit seinen 197 Zentimetern der längste Berliner Unterprimaner ist. Aber selbst das imponiert dem richtigen Berliner nicht. Steht da neulich auf der Trambahn ein Dreikäsehoch neben diesen 197 Zentimetern, guckt empor und sagt bloß: "Mensch, dir ham se woll Hefe unner de Sohlen jepappt ?"

Es ist merkwürdig: so witzig unsere Berliner im Alltagstreiben sein können, so stumpfsinnig sind sie auf Festen, die als besonders humorvoll plakatiert werden. Wer immer zu Witzen aufgelegt ist, der will abends seine Ruhe haben; da sollen die anderen, die Festunternehmer, ihm Witze vormachen. Daran kranken nach wie vor auch die buntesten Abende. Nach rheinischer oder Münchener Faschingslust (die übrigens auch in ihrer west- und süddeutschen Heimat sehr flau geworden sein soll) sucht man hier vergebens. Es hat da eine gewisse Arbeitsteilung stattgefunden. Zu Humor "verpflichtet" sind die Künstler. Auf ihren Maskenfesten toben sie sich also gelegentlich in grotesken Dekorationen aus. Aber - kein Mensch sieht sie sich an. Wand ist Wand. Etwas so Feenhaftes, wie es der Düsseldorfer Malkasten zu Zeiten des alten Kaisers fertigbrachte, gibt es hier natürlich nicht, auch nichts so reizend Intimes, wie man es etwa in der Cronberger Künstlerkolonie im dortigen Kasino gelegentlich erleben konnte; es ist alles auf billige Massenwirkung etatmäßig eingestellt. Woche um Woche gibt es in jedem Winter diese großen Kostümbälle der Reklamezeichner, der Sezession, der Sturmgesellschaft, der Schule Reimann, der Kunstgewerbler, der Juryfreien, der bildenden Künstlerinnen, der Novembergruppe, der Karikaturisten und all der anderen Kunstgilden, und es ist immer dasselbe, und auch das Publikum wechselt kaum. Pfropfenvoll ist es immer. Und recht "frei" meist auch. Und verhältnismäßig billig allemal. Auf dem Sturmball am vorigen Sonnabend saß ich an einem Tisch mit einem bekannten Architekten und seiner Frau, die früher Ärztin gewesen ist, zwei Studenten, einer Radiererin, einer unabhängigen "Dame aus prima jüdischer Familie", einer Sekretärin des Reichspressechefs Ministerialdirektors Dr. Kiep. Am Nebentisch eine junge Berufstänzerin mit einem Kometenscheif von zum Teil exotischen Bildhauern und zwei ebenfalls "prima" Ehepaaren. Auf der anderen Seite an einem Tisch Knäblein und Mägdelein von der städtischen Kunstschule, ein Sportarzt, ein Boxer, eine Theater-Novize. Nirgends wurden gängereiche Soupers geschlungen, wie sonst wohl auf Zoo-Bällen, sondern allenfalls ein italienischer Salat oder ein Becher Eisfrüchte, Sekt war ein seltenes Ereignis - und das Korybantische beschränkte sich auf das übliche Knutschen in den Ecken. Im übrigen wurde, wie immer, ernsthaft getanzt, ausdauernd getanzt, arbeitswütig getanzt. Zum Sturmball gibt es nur Namenskarten auf Einführung oder Einladung hin oder zum mindesten nach genügender Legitimation, also so wüst, wie die Bilder dieser Stürmer in ihrem Ausstellungslokal in der Potsdamer Straße aussehen, kann es nie werden. Angenehm fällt es einem auf allen diesen Kunstbällen auf, daß hier nicht "Spanierin", "Peri", "Sternkönigin" aus der Leihgarderobe auftauchen, sondern daß die Damen echte fremdländische Gewänder oder solche eigener Erfindung und Arbeit tragen. Das denkbar einfachste hatte ein Mädchen aus Reinhards Pantomime: feuerrotes im Stoff sehr sparsames Hemdhöschen und Tanzschuhe, sonst nichts. Buchstäblich nichts, nicht einmal Monokel. Aber wer achtet überhaupt auf derlei ? Man ist - nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Hauptstädten - darüber doch längst hinaus, das Entblößte ist kein Reiz mehr, und wenn der Foxtrott mit dem Reim "Baden gehn, Waden sehn" anhebt, dann denkt man, wie komisch altmodisch dieser Text doch sei.

Wir haben es früher nie begriffen, daß ein so urgermanisches und sittlich hochstehendes Volk, wie die Schweden es sind, beim gemeinsamen Baden in der See sogar auf Kleidungsstücke verzichtet, die uns noch als Mindestforderung der guten Sitte erscheinen. Umgekehrt haben die Schweden unsere Prüderie nicht begriffen. Daß dem Reinen alles rein ist und daß der Künstler oder der Sportjünger unbefangener ist als wir Durchschnittsspießer, das ringt sich nur allmählich durch - und selbst ich als Lobredner des vergangenen guten Alten muß zugestehen, daß entmuffte Luft etwas sehr Schönes sein kann. Noch unsere Mütter wären wahrscheinlich empört gewesen, wenn sie vorgestern im Sportpalast die Aufführung der Bode-Schule gesehen hätten, und doch war es ästhetisch wundervoll. Der Verein Sportpresse hatte wie alljährlich zu einer "allround"-Schau geladen, wo es Radfahren und Wettlaufen und Hundespringen und Turnen und Boxen und Schulreiten und allerlei sonst noch gab, aber nichts, nichts davon hat einen so nachhaltigen Eindruck hinterlassen, wie diese beschwingte rhythmische Gymnastik von 54 Damen der Bode-Schule, die nur einen Badeanzug anhatten und keineswegs ausgesucht waren. Aussuchen, etwa nach Alter und Figur, hätte doch die zurückgewiesenen Teilnehmerinnen des Kursus verschnupfen können. Also nahm Dr. Bode, der große Theoretiker und Praktiker der Körpererziehung und Ausdrucksgymnastik, eben alle. Manchen der Damen sieht man an, daß sie wirklich erst "auf dem Wege" zu Kraft und Schönheit sind; es sind neben etlichen jüngeren auch Vierzigjährige, Fünfzigjährige darunter, eine hat einen grauen Haarschopf, etliche sind dick, etliche hager, aber das Gesamtbild in der Bewegung ist hinreißend schön - und bei jeder Einzelnen erkennt man, dank der Schulung bei Bode, das große Aufatmen, das Losgelöstsein von der sonstigen Schwerfälligkeit der reiferen Frau, das Federnde in allen Gliedern, die neugewonnene Musikalität der ganzen Erscheinung.

Natürlich klingt auch in dem ganzen Wesen solcher rhythmisch Geübten die Harmonie wider. Man wird "ein anderer Mensch", wenn man die körperliche Kultur nicht vernachlässigt. Ich erhoffe noch weitere Wirkungen. Ich erhoffe eine Befreiung unserer Künstlerschaft von Unnatur, wenn der Mensch in der Schönheit der Bewegung so allgemein bekannt wird. In der Tombola des Sturmballs habe ich noch einen signierten Holzschnitt des verstorbenen Hanns Bolz gewonnen, der mir mit dem Etikett "Liegender Akt" überreicht worden ist. Ich sehe aber keinen Akt. Ich sehe nur verklexte spitze Dreiecke und sonstige Spritzer, überhaupt nichts Menschenähnliches. Keiner der emsig von mir befragten Künstler konnte mir den Sinn enträtseln. Nur den stereotypen Satz bekam ich zu hören, daß der Raum auf dem Blatt sehr gut ausgefüllt sei. Das habe ich schon bis zum Überdruß gehört; es ist eine lahme Entschuldigung der wirren l'art-pour-l'art-Malerei.

Daheim wurde jedenfalls über mein Mitbringsel furchtbar gelacht. Wir haben alsbald auch einen liegenden Akt fabriziert, nämlich Tintenklexe auf ein Papier gemacht, das Papier dann frisch zusammengefaltet, und siehe da, es war etwas ganz fabelhaft Expressionistisches geworden. Diese stammelnde Kunst, die übrigens ihren Höhepunkt schon hinter sich zu haben scheint, hat ihre Berechtigung, wenn der Künstler weiter nichts will, als einen Denkvorgnag in seinem Hirn auf irgendeinen Reiz hin zu symbolisieren. Aber wir übrigen Menschen sind nicht dazu da, solche Rätsel zu lösen. Schade, daß ich den gewonnenen liegenden Akt nicht in der Sexta des Gymnasiums dozieren kann - vielleicht ahnt in Einfalt ein kindlich Gemüt, was kein Verstand der Verständigen sieht. Ich habe zum Experimentieren sogar einen ganz bestimmten, völlig unverbildeten Sextaner im Auge. In der Klasse wurde als Vorbereitung auf Kleists Hermannsschlacht, die die Buben im Schülertheater sehen sollten, ihnen einiges von den Cheruskern und den Römern erzählt. Sie sollten dann ganz kurz des Gehörte niederschreiben. Und dieser typische Sextaner schrieb folgende Sätze:

"So war es bei den alten Germanen. Herrmann Scheruska ging zu allen und fragte: Willst du dein Weib töten ? Willst du dein Vieh schlachten ? Willst du dein Getreide verbrennen ? Sie sagten ja. Und so besiegten sie die Römer."
14. Januar 1926 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts