"Rumpelstilzchen"

"Mecker' nich!"
(Jahrgangsband 1925/26)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1926

Glossen 13 - 15
10. bis 23. Dezember 1925


13

Angstträume - Wie man Frauen beim Tanzen registriert - Die gute alte Zeit - Hedwigs Haarschmuck - Großmama läuft Schlittschuh - Im deutschen Theaterverein - Das Zeppelin-Eckener-Fest

Irgendeinen sozusagen bevorzugten Angsttraum hat wohl schon jedermann wiederholt gehabt. Man fällt ins zunächst Bodenlose, es ist ein entsetzlicher Schwebezustand, und endlich unmittelbar vor dem Aufschlagen erwacht man mit dumpfem Schreckenslaut. Oder man ist zu Hindenburg eingeladen, geht hin, und merkt erst in der Wilhelmstraße, daß man noch in Makko-Unterhosen ist; die sind zudem an der linken Hüfte - ma sieht es im Traum ganz deutlich - mit Wollfäden getsopft, und vorne fehlt ein Knopf. Oder man muß noch einmal das Abiturientenexamen machen, kann keine Logarithmen mehr lesen, kann sich auf den Namen des Papstes Bonifaz nicht mehr besinnen, und weiß doch ganz genau, daß man eigentlich die Prüfung schon einmal bestanden hat, also sinnlos gequält wird.

Neuerdings träume ich typisch großstädtische Ängste. Eine junge Dame hat einmal einer Freundin über mich gesagt: "Du, das ist eine dolle Betriebsnummer, den mußt du dir warm halten!" Das ist natürlich stark übertrieben. Immerhin, es ist richtig, daß ich sehr viel Betrieb mitmachen muß, der mich dann auch im Schlafe nicht losläßt.

Also ich träume, daß die erzene Berolina auf dem Alexanderplatz von ihrem Postament herunterwuchtet und mich dann - es ist gerade Damenwahl - heranwinkt, während ich mich vergeblich zu verbergen versuche. Es hilft nichts, ich muß heran; wie eine kleine Stahlfeder an den Riesenmagneten. Höhnisch ermunternd krächzt irgendwo Galilei: "Und sie bewegt sich doch!" Das ist nicht wahr, - Arme und Beine und Zunge sind mir wie gelähmt, ich stehe hilflos vor der Fünfmetertaille. Dabei weiß ich ganz genau, daß die Dame unter anderen Verhältnissen vielleicht wie ein Brummkreisel loslegte. Nur ich, ich, ich finde den motorischen Antrieb nicht. Wäre ich Karlchen Mießnick, so setzte ich mich alsbald hin und schriebe folgenden Aufsatz:

"Die Frau. Die Frau zerfällt in zwei Abteilungen. Die einen Frauen tanzen. Die anderen werden getanzt. Diese lassen den Mann kalt, auch wenn er dabei schwitzt. Eine Umdrehung kostet drei Pferdekräfte. Die einen Frauen kosten noch teurer, nämlich Brillanten. Sie können noch so schwer sein, aber sie tanzen leicht wie eine Schneeflocke. Beide Abteilungen von der Frau sind ganz durcheinandergemischt. Ein Mann muß daher alle Frauen erst probieren. Das geht über Studieren. Wie schon der Dichter sagt. Karlchen."

Die Auswahl ist heute jedenfalls weit größer als vor einem Menschenalter, das Warenlager an tanzbaren Damen nach Stand, Alter, Figur außerordentlich assortiert, zwischen Dienstmädchen und Weltdame, zwischen 7 und 70 Jahren, zwischen 50 und 250 Pfund alles greifbar. Ich glaube nur nicht, daß diese Entfesselung der Frau die Höhe - oder der Abgrund, wie andere meinen - ist, der nie vorher dagewesene Zustand, den nur wir erreicht hätten. Es ist alles schon dagewesen. Es vollzieht sich alles in Wellenbewegungen. Im Berliner Museum steht das köstliche Köpfchen einer ägyptischen Prinzessin, die vor vielen tausend Jahren gelebt hat; und das Köpfchen - hat Bubifrisur. So hat es auch im deutschen Mittelalter Perioden der Tanzwut gegeben, in denen junge Mädchen und weißhaarige Frauen das Äußerste im Wackeln und Schieben leisteten. Die Behörden griffen schließlich ein, es wurde verlangt, daß auf jedem Ball ein amtliches Vortänzerpaar aufzutreten hätte, dem die Grenzen der guten Sitte eingedrillt waren. Keiner durfte anders tanzen als diese Vereidigten. Aber da bestach man eben die Vortänzer, und die ließen sich dann tüchtig gehen. Es hat auch kein Zeitalter gegeben, in dem nicht der jungen Generation vergehalten worden wäre, wieviel gefestigter man früher gewesen sei. Schon Mozart hat ein Lied komponiert, in dem "die Alte" singt:

Zu meiner Zeit, zu meiner Zeit
Ward Pflicht und Ordnung nicht entweiht!

- und der Text des Liedes ist noch älter, den hat der Hamburger Dichter Friedrich von Hagedorn schon 1729 veröffentlicht. Nicht einmal unsere heutige Mode, die zur gegenwärtigen Emanzipation der Frau mehr beigetragen hat, als das politische Wahlrecht, ist ohne Vorgang und Anlehnung. Wer die großen Trachtenwerke durchblättert, der sieht, daß alles schon irgendwann vorher durchgedacht worden ist. Nur hat die Obrigkeit immer verzögernd einzuwirken versucht. Noch vor 30 Jahren gab es in Berlin eine polizeiliche Verordnung, wonach die Kleider der Kellnerinnen eine bestimmte Länge haben mußten, und die Schutzleute liefen mit der Elle in alle Animierkneipen, um festzustellen, ob wirklich kein Rocksaum die gestatteten 10 Zentimeter über dem Absatz überschritte; dabei trugen die Bauernmädchen in Oberhessen seit Jahrhunderten den kniefreien Rock. Im Kampfe gegen das Herkommen und für das Neue sind unseren listigen Evas freilich alle Mittel recht. Da ertönt am vorigen Sonnabend in unserer Küche ein Theaterschrei, ein richtiger dramatischer Wolter-Schrei. Wir stürzen hin, um nachzusehen, was Hedwig, unserer Küchenfee, zugestoßen sein mag. Oder uns. Denn erst tags zuvor hat Hedwig ein ganzes Tablett voll Porzellan hingeschmissen.

Hedwig steht mit kunstvoll aufgerissenen Augen, in Erwartung unserer Ankunft, mitten in der Küche.

Und Hedwig schreit:

"Ich glaube, ich habe Läuse! Ich muß mir noch heute einen Bubikopf schneiden lassen!"

Wir haben schon mancherlei Begründung für das Hinopfern des schönen Haarschmucks bei Verwandten und Bekannten gehört, aber diese Begründung unseres Dienstmädchens war entschieden neu. Zu Hedwigs Kummer zog sie auch gar nicht. Wir verordneten ihr nach Prüfung des Tatbestandes, der nur das Vorhandensein von Schuppen ergab, tüchtiges Abschrubben mit schwarzer Seife, liehen ihr zum Haartrocknen unseren Föhn und deuteten ihr zart an, daß sie bei Wiederholung des Theaters hinausflöge. Ein Mädchen auch mit nur angeblichen Läusen könnten wir nicht brauchen; und nicht durch ein Netz zurückgehaltene Bubihaare seien uns in der Suppe auch nicht willkommen. Bei der Gelegenheit fiel auch wohl ein Wort über die kniefreien Kleidchen dieser unserer Hausgehilfin. Eines schickt sich nicht für alle, das galt es, ihr schonend klarzumachen. Wir haben nichts dagegen, wenn der Schwung edler Linien gezeigt wird, wir sind ja als Weltstädter unendlich vorurteilslos. Aber Hedwig hatte bis vor kurzem noch Waden von dem Umfang eines guten Landschinkens.

Jedes weibliche Wesen bis zu dem schlichtesten herunter sollte wissen, was ihre Linie verlangt oder erlaubt. Innerhalb dieser ästhetischen Grenzen sei jede Freiheit begrüßt. Mit der angeblich notwendigen Rücksichtnahme auf die eigene Jugend oder das eigene Alter wollen wir niemand schrecken.

Im Gegenteil, man freut sich, wenn Frauen - soweit es ihnen steht - sich davon emanzipieren. Ein Bekannter von uns, ein Verleger und Politiker, der in Zehlendorf wohnt, selber schon ein weißbärtiger Mann, hat eine Schwiegermutter von 69 Jahren, die in einem Berliner Damenstift "ihre Tage beschließt", wie man früher zu sagen pflegte. Man verstand darunter ehedem Häkeln, Klatschen, Patience legen und den Konsum von zehn bis zwölf Tassen Kaffee täglich. Ja, das war einmal! Ist es vielleicht auch noch in irgendeiner kleinen Stadt. Hier aber setzt sich eines Tages die alte Dame resolut hin und schreibt der Tochter in Zehlendorf: "Schick' mir doch bitte sofort meine Schlittschuhe!" Die Familie ist bestürzt. Man kennt ja die Mutter, die heute noch bolzengerade ist und noch vor fünf Jahren sich auf der Eisbahn getummelt hat, aber nun rät man ihr doch ab und schreibt ihr, man könne die Verantwortung nicht tragen; wenn eine Dame von 69 Jahren hinfiele und sich das Bein bräche, das heile doch nicht mehr gut. Eine Zeitlang bleibt es still. Dann, am Ende der schönen Frostwoche, kommt wieder ein geharnischter Brief: "Nun schickt mir endlich meine eigenen Schlittschuhe! Seit vier Tagen holländere ich auf gepumpten. Das macht wirklich keinen Spaß. Glaubt Ihr, daß ich mir auf meinen eigenen eher das Bein breche ?" Großartig. Selbstverständlich bekam die alte Dame nun das Gewünschte, - und am liebsten schickte ich sie als Wanderpredigerin durch alle deutschen Gaue, um den Damen durch sie begreiflich machen zu lassen, daß man ohne persönliche Zustimmung nicht alt zu werden braucht.

Nur in der Bilanz unseres gesamten Daseins gleicht sich freilich alles wieder aus. Was der eine hinzugewinnt, das wird dem anderen abgeknappt. Ich habe schon früher festgestellt, daß die Tante ausstirbt, in deren Pompadour sich immer für Nichten und Neffen etwas zum Naschen vorfand; sie sind fast alle "berufstätig" geworden, die Tanten, und haben zugunsten des neuen ihren Tantenberuf aufgegeben. Und je besser es heute unseren Großmüttern geht, desto schlechter den Enkeln. Keine Amama, wenigstens in der Großstadt, erzählt ihnen noch Märchen oder lehrt sie "Häslein, hüpf!" zu spielen. Dazu ist ja der Kindergarten da, für den man monatlich bezahlt; daß der Tropfen Gemüt, den früher das eigene Heim gab, im Abonnement nur selten einbegriffen ist, macht man sich nicht klar.

Alles wird in größerem Kreise organisiert. Das schalkhafte Singspiel ist aus den Familien verschwunden. "Noch ein Täßchen, Frau Direktern, noch ein Täßchen, Frau Inspektern!" Wie schmunzelten wir als Buben, wenn Schwestern und Nachbarmädchen auf der improvisierten Bühne in der guten Stube das so drollig herausbrachten! Heute ist für alles der Verein da. "Man" ist es ja zufrieden, wenn man mit seinen Sorgen und seinen Freuden allein bleibt und die heranwachsenden Kinder irgendwo anders ihre "Beschäftigung" haben. Auch da scheidet sich übrigens alles schon nach Weltanschauung und Partei. Die eine Gruppe spielt voll Hingebung in einem Mysterium in der Kirche. Die andere führt ein leichtfertiges Schlagerstück in einem Kneipzimmer auf. Die dritte macht in einem Tanzsaal in politischer Tendenz; von der völkischen bis zur kommunistischen gibt es alle beliebigen Gruppen. Im deutschen Theaterverein unseres Stadtviertels war ich am Sonntag eingeladen. Ein Ruhrstück in drei Akten wurde gegeben, ein Ruhrstück und ein Rührstück, mit einem schuftigen Franzosenleutnant Etienne und einem braven deutschen Vater Fehringer, ein mäßiges Stück mit der geduckten Frage der Gequälten: "Wann wird kommen der Tag ?", schlecht gebaut, sehr patriotisch natürlich, ober ohne jedes wirkliche Feuer. Nur die Begeisterung der Spieler war groß. Und im Publikum sagte man einander nicht Guten Tag, sondern: Treudeutsch! Und der Krüppel, der an der Straßenecke vom Handwagen Besen und Bürsten verkauft, und unser Schuster mit Sohn und Schwiegertochter, und die kleine Kontoristin aus der nationalen Zeitung, und der Untersekundaner aus dem Nachbargymnasium - bitte: Vorstandsmitglied - und noch fünfzig, sechzig bekannte Gesichter waren da und erglühten vor Freude.

Auch die Großen tun derweil etwas fürs Vaterland. In sämtlichen Festräumen des Hotels Kaiserhof. Für die Zeppelin-Eckener-Spende überzahlt man das Souper, kauft man sich Abzeichen und Tombolalose, tanzt man voll Inbrunst im Bekanntenkreise, plaudert mit den aus dem Kriege übrig gebliebenen Kameraden der Luftschiffwaffe und hört sich allerlei musikalische Vorträge bedeutender Künstler und Künstlerinnen an. Nach Mitternacht wird es etwas gemischter, da haben Brettlsänger das Feld frei, die wohl kaum zum deutschen Volke gehören und mit Schlagern wie

Warst du schon in Elberfeld,
Wo jede Maid von selber fällt ?
Wenn sie dir in den Armen liegt,
Weißt du gleich, wo Barmen liegt!

das Zwerchfell zu kitzeln versuchen. An einem Tisch im Hauptsaal sitzen Dr. Eckener und der Intendant von Schillings nebeneinander. Vielleicht unterhalten sie sich über ihren gemeinsamen Freund, den demokratischen Kultusminister Preußens, Becker. Der hat nicht nur den einzigartigen großen Künstler Schillings brüsk vor die Tür gesetzt, sondern auch an alle Regierungspräsidenten einen Erlaß gerichtet, wonach ihm diejenigen Gymnasialdirektoren, die unter ihrer Schuljugend eine Zeppelin-Sammlung angeregt hätten, - zur Bestrafung zu melden seien.
10. Dezember 1925 (Donnerstag)


14

Das Pfefferkuchenhäuschen - Kärgliche Weihnachten - Hedwig hat's gelesen - Frau Margarete Brühl - Auf der Produktenbörse - "Königin" Sonja

Die Junx schnuppern.

Wenn sie nach der Schule ins Haus poltern, lassen sie sich Weihnachten durch die Nase ziehen. Mm, Pfefferkuchen! Mm, Spekulatius! Mm, Makronen! Das eine oder andere "Rezensionsexemplar" kommt dabei auch wohl vorzeitig in hungrige Mäuler. Das neue Nesthäkchen darf sich sogar noch selber was ausstechen und eigenhändig backen: irgend solche kleinen Traditionen hat wohl jede deutsche Familie.

Nur eins ist immer ein Geheimnis: ob es "diesmal noch" ein Pfefferkuchenhäuschen gibt. Nun seien die Junx doch wirklich zu groß für so etwas, heißt es immer. Sie sehen es auch immer ein und sind dann am Heiligen Abend immer wieder freudig überrascht. Sonst ist man schon junger Herr. Sonst ist der Hauptwunsch diesmal ein eleganter weicher Filzhut, damit man nicht ständig in der Schülermütze die Gattung Junx repräsentiert. Aber zum Christfest ist man gern wieder Kind und knabbert an dem lustigen Häuschen. Es ist selbstverständlich kein gekauftes. Sie sind so ohne Liebe gemacht und schmecken fade. Nein, "unser" Häuschen ist architektonisch und dem Material nach immer etwas ganz besonders feines, obwohl es von vornherein auf Abbruch gebaut wird. Aus Zeitungspapier schneide ich mir die Muster; je niedriger die Seitenwände werden und je steiler das überhängende Dach, desto traulicher sieht der Bau nachher aus. Ein kleiner Stall wird ebenfalls nach Muster aus dem plattgerollten Teig geschnitten; ein Marzipanschweinchen kommt nachher hinein. Aus den übrigbleibenden Schnitzeln des Pfefferkuchens wird neben dem Stall ein Vorrat von Scheitholz markiert, damit die Hexe, die da vor der Tür steht, doch tüchtig was zum Heizen hat. Das Allerschönste aber ist immer das Dach, so dicht kleben da auf dem schneeigen Zuckerguß die Mandeln und die Drops und die Plätzchen. Die Fenster sind aus roter Gelatine. Sind am Heiligen Abend die Lichter des Christbaums heruntergebrannt, so fängt das Häuschen an zu strahlen, denn durch ein Loch im Pfefferkuchenboden haben wir eine elektrische Lampe hineinbugsiert. Dann schauen wir noch eine Weile träumerisch auf das liebe Hutzelhäuschen, die Großstadt um uns ist im Dunkel versunken, und Erinnerungen an die Kinderzeit, die noch keinen Autolärm, kein Telephongebimmel, keine Mietskasernen kannte, pochen uns leise ans Herz.

Aber auch in Berlin selbst wird die Adventstimmung nicht ganz übertäubt. Kleinkinderhände üben hie und da "Stille Nacht, Heilige Nacht" auf dem Klavier. In friedlichen Straßen, gegen Abend bei Verkehrsebbe, hört man es aus den Häusern. Und wo kein Klavier da ist, findet sich doch wohl eine Mundharmonika. Dieses Christfest in der Deflation wird vielfach kärglicher als die Christfeste während der Inflation sein, jedermann fast hat abgebaute oder erwerbslose Angehörige, und gestopfte Jackenärmel werden so vorlaut, daß luxuriöse Wäsche kaum zu Wort kommt. Auch unsere unentwegten Linkser fangen an zu ahnen, was Versailles-Vertrag und Dawes-Pakt für uns bedeuten, - fangen auch an zu ahnen, daß ihre Führer das doch im voraus gewußt haben müssen; denn selbst ein Scheidemann erklärte schon 1917 in Dresden, wenn wir einen Frieden um jeden Preis schlössen, dann liege "unter den Trümmren Deutschlands zu tiefst die deutsche Arbeiterklasse begraben". Wir haben unter der Führung der Sozialdemokraten trotzdem diesen Frieden geschlossen, auch das Londoner Diktat, den Dawes-Pakt, den Locarno-Vertrag angenommen, und nun beginnt das Elend sich auszuwirken. Den tiefsten Punkt wird es 1928 erreichen. Ein wahres Glück, daß die deutschen Kinder, die in der einjährigen Atempause der Helfferich-Mark wieder zu Kräften gekommen sind, sich das nicht so klar machen wie wir Alten. Für sie ist die "Stille Nacht, Heilige Nacht" immer wieder paradiesische Hoffnung; und wenn das Paradies diesmal bescheiden ist, so mag das zur inneren Läuterung der Großen beitragen.

Noch entzünden sich freilich Luxuswünsche immer an - dem Luxus der anderen. Aber man täuscht sich oft. Jetzt endlich habe ich prüfen können, ob wirklich "fast alle Junx" schon einen Smoking zum Tanzen haben und nicht, wie die unserigen, den dunkelblauen Anzug. Also hin in die Schlaraffia zum Tanzstundenball. Bitte, ich solle mal zählen: unter rund 60 jungen Tänzern seien höchsten 6 noch so "tertianerhaft" gekleidet. Stimmt. Aber wer trägt wirklich einen Smoking ? Auch höchstens sechs! Die übrigen haben nur ein gewöhnliches, allerdings schwarzes Jackett; in vielen Fällen ist es noch - der Konfirmandenanzug. Nun sind die Junx wieder still. Auch unsere Nichten brauchen nicht neidisch zu sein, wenn sie zu Weihnachten Tante Kätes "neues" Abendkleid sehen werden. Die Hausschneiderin hat's gemacht, und ich brauchte dazu nicht etwa tief in den Beutel zu greifen, sondern nur in die Truhe, wo sich noch aus besseren Zeiten alte Brabanter Nadelspitzen fanden.

O, es wird überall wieder viel so zurechtgebastelt. Selbst der abgehetzteste Großstadtmensch leimt abends alte Schaukelpferde. Und mein Verleger und ich sind froh, wenn außer dem neuen auch recht viele alte Rumpelstilzchen-Bände noch gekauft werden. Immer bekommt mir das Rumpeln freilich nicht gut. Ich erzähle nur von Dingen, die ich selbst erlebe, ich hätte gar nicht die Phantasie, mir alles "auszudenken", was rundum in Berlin in engeren und weiteren Kreisen passiert, also meine Modelle vom kleinen Freund Franz bis zu Tante Malchen existieren alle. Sie dürfen nur beileibe ihr Konterfei nicht in die Hände kriegen. Aber nun - Gott helfe mir armen Sünder - hat unser Mädchen Hedwig heimlich die Bände geschmökert. Hedwig, von der wir nicht ahnten, daß sie überhaupt literarische Interessen hat! Alles hat sie gelesen, von ihren Vorgängerinnen Minna und Ottilie und von sich selber, von ihrem ersten Bummel in den Lunapark, ja sogar in der Zeitung die letzte Geschichte von ihrem Bubikopf und - nein, das böse Wort darf ich nicht noch einmal niederschreiben. Und alles von Gerd und Hellmut und der Waschfrau und dem Portier und all den mehr oder weniger lieben und komischen Leutchen, und sie fühlt sich auf einmal so entblättert und sie heult, daß wir zwar eine vortreffliche Herrschaft seien und daß sie einen so guten Lohn kriege und daß wir auch immer anständig zu ihr seien, aber nee, sowas, nein, das hätte sie sich nicht träumen lassen, was einem passieren könne, wenn man bei einem Schriftsteller im Hause sei. Kurz, es ist eine Tragödie. Dabei hat sich die Hedwig den vorigen Band, "Haste Worte", für bare 7½ Mark sogar selber im Brunnenverlag gekauft, nachdem sie, siehst du wohl, 10 Mark Vorschuß genommen hatte. Ich bin erschüttert. Aber ich weiß, was sich einer Kundin gegenüber schickt. Also nötige ich sie trotz ihrer Weigerung auf das Sofa an meinem Schreibtisch und halte ihr einen Vortrag über Kulturgeschichte im allgemeinen und besonderen und erzähle ihr, daß ich doch immer nur Vornamen nenne und daß die Zehntausende von Lesern auf diese Steckbriefe hin die "Hedwig" ebensowenig zu fassen kriegten wie das Rumpelstilzchen selber. Und wenn sie erst einmal verheiratet sei und nach 20 Jahren ihren Kindern den Rumpelstilzchen-Band von 1925 zeige, dann würden diese sicherlich stolz darauf sein, daß ihre Mutter darinstünde. Nun schluchzt und schluckt Hedwig nur noch ganz leise. Es gibt kein besseres Linderungsmittel für junge Mädchen, als wenn man von ihrer einstigen Hochzeit zu sprechen anfängt.

Einem anderen weiblichen Wesen habe ich es vorsichtshalber lieber gleich gesagt, daß ich es skizzieren würde. Bitte sehr, ganz seriöse Sache. Es ist eine, so oben rum, sehr, sehr stattliche Dame, aber mit so zartem, schlankem Fesselgelenk, daß es zu der sonstigen energischen Erscheinung gar nicht zu passen scheint. Eine elegante Dame. Eine kunstverständige Dame. Während einer öffentlichen geselligen Veranstaltung in einem großen Hotel hat der Zufall uns zu Tischnachbarn gemacht. Gertrud Bindernagel singt gerade. Die und die anderen Herrschaften von der Staatsoper sind meiner Dame persönlich gut bekannt, von Max Bruch schwärmen wir bald darauf gemeinsam, kurz und gut, Frau Margarete Brühl - diesmal darf ich den vollen Namen nennen, denn es handelt sich sozusagen um eine offizielle Persönlichkeit, die sicherlich einmal ins Konversationlexikon kommt - ist lange Jahre eine bekannte Oratoriensängerin gewesen, ist heute Großmutter (sagen wir, sie habe mit 16 Jahren geheiratet und ebenso mit 16 Jahren ihre Tochter), tanzt leidenschaftlich gern, betreibt im Hauptberuf - Achtung, festhalten - selbständig ein Getreide- und Fouragegeschäft und ist die einzige Frau in Berlin, nein, in Deutschland, nein, in Europa, nein, in der ganzen Welt, die persönlich zum Börsenhandel zugelassen ist. Fabelhaft, ganz fabelhaft. Ja, die Brühl, sagt mir tags farauf ein Bankdirektor, die war als junge Witwe so appetitlich, daß man sich alle fünf Finger nach ihr leckte.

Also dieses Unikum in der Welt, angeschwärmtes Idol aller Frauenrechtlerinnen, diese praktische Frau, die trotzdem so gar nichts Emanzipiertes an sich hat, muß ich mal bei der Arbeit sehen.

Gegen den furchtbaren Höllenbreughel vor noch nicht drei Jahren ist die Börse heute sehr friedlich und still; was man so friedlich und still nennt. Wie ich von der Garderobe durch die Drehtür zur Fondsbörse hereinkomme, haut's mich aber doch hin, als das Gebrüll: "Dreieinhalb Brief! Dreieinhalb Brief!" aus der Phönix-Gruppe mich überfällt und gleich darauf: "Dreieinachtel Brief! Dreieinachtel Brief!" Wo man hinhört: Brief, Brief, Brief. Also Angebot. Kaum einer bietet so und so viel "Geld", will also Papiere kaufen; Geld ist rar. Auch wo Schiffahrtswerte gehandelt werden, ist noch Geschrei zu hören, sonst aber laufen die Leute - auch die vielen abgehalfterten Bankbeamten, die jetzt als freie Makler etwas verdienen wollen - meist stumm und verbissen durcheinander. Nun hinüber zur Produktenbörse, wo es kein Parkett mehr gibt, sondern Steinfußboden, von dem sich die Körnerproben leichter wegfegen lassen. Ein zeitgemäßer gedruckter Anschlag erzählt, daß in letzter Zeit vielfach in den vermieteten Fernsprechzellen der Börse Hörer gestohlen worden sind. Herr, die Not ist groß. Aber hier an der Produktenbörse ist wenigstens des reelle Lieferungsgeschäft noch lebhaft.

Ha, da steht sie. Pelzjacke, Hände in den Taschen, breitbeinig, fest. Um Margarete Brühl herum das Gewühl der Vertreter von Martin L.Kohn, Neustadt, Josef junior, Pommersche Hauptgenossenschaft, Abrahamsohn, Gebrüder Rawack und wie sie alle heißen. Ich streife seitwärts an Frau Brühl, die einkaufen will, vorüber, um den Dialog zu erhaschen, aber gerade in dem Augenblick brüllt einer hart an meinem linken Ohr: "Jakob Meyer! Wo ist Jakob Meyer ?" und mein rechtes Trommelfell erdröhnt unter: "Lazarus! Lazarus!" und mit dem Hinterhaupt fange ich die Worte auf: "Wo soll das hinführen ? Wir verdienen so schon nischt!" Einer schreit nach Melasse, ein anderer nach Kleie, ein dritter bietet einen Waggon Eier an, Körnerproben rieseln in prüfende Hände aus den Warenprobendüten, Aufträge werden notiert, Beteuerungen erschallen.

Nun hat Frau Brühl sich auf die Bank zu einem Lieferanten gesetzt. Sie riecht am Hafer und markiert einen Schwächeanfall. "Stinkt!" sagt sie, als der Großhändler ihr den Preis mit 10 Mark pro Doppelzentner nennt. Er nimmt den burschikosen Ton auf, wedelt ihr mit dem Taschentuch Parfüm zu und sagt: "Mit Wohlgeruch 9 Mark 90!" Man einigt sich auf 9 Mark 80. Wieviel Waggons ? Ach was, Waggons. Jetzt vor dem Fest, damit sie dann fünf Tage lang Standgeld kosten; so schlecht disponiert die Brühl nicht, mein Lieber. Also 300 Zentner. Gemacht. Frau Brühl ist für ein paar Tausender gut und prima, es geht Zug um Zug, sie ist keinem Menschen was schuldig. Dann noch 80 Zentner zum Quetschen für alte Pferde. Und je 100 Zentner Futtergerste und Taubenerbsen. Noch etwas Mais bei dem Nachbarlieferanten. Fertig. Man macht gern seine Geschäfte mit dieser Frau, die einst ihr Geld, das sie als Sängerin und Gesangslehrerin erworben, in dem Fouragegeschäft von Mertens angelegt und dann, als es zum Krachen kam, gerettet und vermehrt hat, indem sie alleinige Inhaberin der Firma wurde. Unter ihrer Büste pocht ein festes Herz. Aber leichtfüßig geht sie einher, fraulich ist sie geblieben, ein erfreulicher Ruhepunkt für das Auge in der ganzen schlenkrigen Unrast der Börse.

Die gleich Unrast habe ich kurz zuvor bei der Konfektion gefunden. Berlin ist Großexportstadt der Konfektion. Nun hat die Konfektion für ihr Riesenreich auch die Königin sich gekürt.

In den Räumen des Sportpalastes quirlen die Tausende und bewegen sich sehr lebhaft. Das haben die modernen Herrscher der Welt doch nicht mehr nötig, sollte man meinen. Rathenau sagt in seinen Reflexionen: "Das Schulterzucken und das Gestikulieren mit Ellenbogen und Handflächen sind alte Furchtreflexe, die der Abwehr des Schlages dienten." Hier ist es wohl nur die Erregung, welche Firma wohl die Siegerin bei der Wahl der Königin der Mode stellen mag. Nicht weniger als 89 Mannequins - Vorführdamen - passieren in 2½stündigem Wahlakt den Richterstuhl der Prüfer. Taxiert wird nicht Schönheit, sondern Anmut, also der Gesamteindruck in der Bewegung. Die meisten der Mädels, man verzeihe mir das harte Wort, haben Gassenbubengesichter. Das Gaminhafte ist eben modern. In manchen Gesichtern steht auch schon zu viel Wissen um Berliner Taumel. Jede angelt mit Hüftengewackel und siegheischendem Fleheblick nach den Preisrichtern, denn mit Toilettenglanz ist nichts zu machen: nur im Arbeitshemdchen erscheinen sie alle.

Das Publikum beteiligt sich durch Beifall und Zurufe. Das Publikum ist grausam. Es klatscht ersichtlich ironisch in die Hände, wenn so eine Ausgekochte, Ausgemergelte kommt. Niemand urteilt sls Fachmann, der vor allem Schlankheit wählen müßte, sondern jeder urteilt als Mann. Schließlich schreit alles: Nummer  10, Nummer 10! Nummer 10 ist nicht etwa der "Idealtyp" der Modeblätter, jenes blonde Ding, das so oft schon für die Zeitschrift "Die Dame" photographiert worden ist, sondern eine "vollschlanke" junge Dame mit rundem, fraulichem Gesicht und von ruhigen, fast lässigen Bewegungen.

Es ist Sonja Jowanowitsch, die denn auch gekrönt wird. Sie ist serbischer Abstammung, geboren ist sie in Semlin in Ungarn, ihr Vater war zuletzt Hofapotheker in Petersburg, das Gymnasium hat sie in Gatschina besucht. Für die 1000 Mark Krönungsgeschenk will sie sich einen Persianermantel kaufen. Ihre Firma wird mit Urlaubsgesuchen für die Königin bestürmt. Heute Abend tritt Sonja Jowanowitsch zum erstenmal in einer Revue auf.

Sie braucht um ihren Lebensunterhalt nicht mehr zu bangen.
17. Dezember 1925 (Donnerstag)


15

Was schenkt der Onkel? - Der Duft der Damen - Bücher statt Hemdhöschen - Die neuen Grammophonplatten - Verkehrsordnung - Maxe am Straßenrand - Assessor und Schutzmann - Fuldas "Durchgängerin" - Erika von Thellmann

Im kleinen Plötz ist unter die unsterblichen Übungssätze einer nicht aufgenommen, der doch zu den landläufigsten gehört: "Was schenkt der Onkel ? Der Onkel schenkt Parfüm!" Wenn die Nichten - und zwar so lange, bis sie schon selber grauhaarig sind - Geburtstag haben oder Weihnachten feiern, läuft der alte Onkel ratlos und entschlußlos an den Schaufenstern entlang, atmet dann vor einer Drogerie befreit auf und kauft, natürlich, ein Fläschchen Veilchen oder Flieder oder Mille Fleurs oder irgendeinen der ganz neuen unaussprechlichen Düfte. Gott sei Dank, es ist geschafft. Gerda und Mariechen und Ruth werden sich freuen.

Heuer scheint aber der Onkel ausgestorben zu sein. Wenigstens in Berlin versichern mir in bleichem Entsetzen alle Duftverkäufer, daß das Geschäft noch nie so elend war. Ich muß dabei - "anch io sono zio" - natürlich ein mitfühlendes bedauerndes Gesícht machen, aber heimlich lacht mein grausames Herz. Lange schon habe ich unseren deutschen Damen sparsameren Verbrauch von Parfüms gewünscht. In die Zeit Ludwigs XIV., wo man sich kaum wusch, passen sie gut, auch heute noch in südliche Länder, wo man den Schweiß häufiger als die Hemden erneuert, aber bei uns im deutschen Norden, wo schon die Sauberkeit allein duftet, muß der Gebrauch dieser Flacons eine Seltenheit sein. Mir geht es wie dem Falter, der kilometerweit hinter dem Buben dreinflattert, in dessen Botanisiertrommel sich ein Schmetterlingsweibchen befindet. Ich atme Frauenblüte. Aber ich ersticke im Parfüm. Eigentlich sollte man meinen, daß Kettenraucher, wie ich es bin, ihre Geruchsnerven vergröbern, aber es kommt wohl sehr auf das Kraut an, das man raucht: noch heute könnte ich nach dem dem natürlichen und so unendlich verschiedenen Duft ihres Haares eine ganze Anzahl von bekannten Damen klassifizieren. Ich will doch genießen, nicht betäubt werden. Wenn in einer griechischen Kirche oder in dem Alkoven einer "femme galante" Weihrauchnebel die Nerven lähmen, so mag das seine Berechtigung haben, sonst aber halte ich mich an den Altmeister Adolph von Menzel, der seinen Nichten einfach erklärte:

"Wer nicht stinkt, braucht nicht zu riechen!"

Ja, was schenkt man denn aber zu Weihnachten ?

Ihr lieben Onkel alle, laßt euch durch mich nicht vergrämen! Es ist ganz richtig, daß ihr doch noch Parfüms gekauft habt, nur nicht so viel wie sonst. Für die Winterbälle ist so nach Mitternacht ein bißchen künstliche Luftauffrischung nicht vom Übel. Die Römerinnen des Altertums kauten massenhaft frische Pinien-Schößlinge (das Trinken von Terpentin hat übrigens dieselbe Wirkung noch intensiver), worauf alle Körperausscheidungen, buchstäblich alle, einen starken Veilchengeruch annehmen. Also meinetwegen schenkt Parfüms! Nur vergeßt darüber das nächste Mal - heute kommt mein Rat doch zu spät - das Nützlichere nicht. Ich meine nicht seidene Hemdhöschen zu 19,95 Mark für eure Nichten, sondern vor allem gute Bücher. Dann werden umgekehrt auch eure Nichten euch nicht mehr mit Schlummerrollen bombardieren, die sich sowieso schon zu Bergen häufen, sondern euch vielleicht Günthers Rassenkunde des deutschen Volkes oder Einharts Deutsche Geschichte spendieren. Davon habt ihr was. Ich weiß, ich weiß schon, was ihr sagen wollt! Ihr alten Sünder wolltet auch mal was anderes lesen. Nun ja. Aber daß die Nichten euch etwa Kuprins "Sulamith" aus dem Berliner Glagol-Verlag kaufen sollen, könnt ihr doch nicht gut verlangen. Die Zeit kommt immer näher, wo wir alle, auch wir, denen es noch so leidlich geht, die Kräfte des Gemütes brauchen werden, um nicht den Lebensmut und die Hoffnung auf das Weiterbestehen unseres Volkes zu verlieren. Dazu müssen wir uns in unsere Bücher versenken. Und in unsere Lieder. Vergeßt die schlichte deutsche Musik mir nicht. Als nach dem Dreißigjährigen Kriege Deutschland in rauchenden Trümmern lag, selbst die Erinnerung an vergangene Herrlichkeiten im Schwinden war, da rankten wir an Choral und Volkslied uns wieder empor. Der "Schlager" hilft uns nicht. Der einzige Weihnachtswunsch, den ich meinen Kindern diesmal ganz bewußt nicht erfüllt habe, ist der nach den "modernsten" Grammophon-Platten zum Foxtrotten.

Die meisten Berliner sind wohl wie wir diesmal sehr schnell mit dem Einkaufen fertig geworden. Früher kaufte man in wenigen Läden viel, heute in vielen wenig. Man trabt sich gehörig ab und ist im Handumdrehen mit dem verfügbaren Gelde fertig. Wer aber etwa von außerhalb kam und an den beiden letzten Sonntagen diese Hunderttausende von Menschen in Bewegung sah, der konnte sich ein glänzendes Weihnachtsgeschäft vorstellen. Stellenweise waren die Einnahmen auch überraschend groß. So zum Beispiel durch - polizeiliche Strafmandate.

Wir haben in Berlin seit Jahr und Tag einen sehr starken Verkehr. Wo Verkehr ist, muß Ordnung sein. Die Berliner Verkehrsordnung ist aber noch so gut wie unbekannt. Man tut alles, um diesem Mangel abzuhelfen. So werden in Berlin in den Volksschulen Vorträge über die Verkehrsordnung durch Polizeibeamte gehalten. "Immer nur an den Knotenpunkten die Straße überqueren!"   "Bis zur Mitte Augen links, dann Augen rechts!"   "Nie ohne freien Ausblick, etwa hinter einem haltenden Wagen her, vom Bürgersteig auf die Straße!"   "Nicht rennen, nicht halten, sondern gleichmäßig weiter!"   Am Sinai gab es 10 Gebote. Der Rat der Stadt Bern in der Schweiz - er brät jetzt dafür zu meiner Genugtuung schon 300 Jahre in der Hölle - fügte als elftes hinzu: "Du sollst nicht rauchen!", und plazierte diese Sünde zwischen Ehebrechen und Stehlen. Aber die Berliner Verkehrsordnung hat sicherlich an die hundert Verbote. Also die Jungens in der Volksschule passen auf wie die Schießhunde, wackeln mit den Ohren vor Vergnügen, merken sich jedes einzelne Verbot und sagen: "Au fein! Det machen wa!"

Gesagt, getan. "Du sollst nicht an einer Straßenecke mit den Fußspitzen über den Bürgersteig hinaus in die Straße stehen!" Maxe probiert es sofort. Schon rumpelt das Hinterrad eines Lastwagens über die Trottoirkante. Heute liegt Maxe mit gebrochenem Fuß jämmerlich in der Charité.

Aber auch Gereiftere stolpern über die Verkehrsordnung. Aus Unkenntnis natürlich. Von den Wagenlenkern kann man es freilich verlangen, daß sie Bescheid wissen. Es gibt Verkehrsstraßen erster, zweiter und dritter Ordnung. Es gibt Einbahnstraßen, die nur in einer Richtung befahren werden dürfen, es gibt Straßen, in denen man seinen Wagen nicht warten lassen darf, Straßen, in denen das Wenden verboten ist. Nun gut. Aber auch die Fußgänger haben ihr Reglement und müssen bei Verstößen tüchtig berappen oder werden gar mit Freiheitsstrafen belegt. Da sind kürzlich zwei Regierungsassessoren, der eine aus Pommern, der andere aus Bayern, nach Berlin versetzt worden. Sie bummeln gegen Mittag gemeinsam in der Leipziger Straße. Von einem Wertheim-Schaufenster schlendern sie, während die Straße gerade wagenfrei ist, hinüber zum alten Herrenhause. Schon ist ein Grüner ihnen gefolgt und bedeutet sie, daß das verboten sei. Sie protestieren. Sie seien selber Regierungsbeamte und könnten sich nicht vorstellen, daß es verboten sein könne, eine nicht abgesperrte und zurzeit verkehrslose Straße zu passieren. "Doch!", sagt der Schutzmann. Die beiden unterhalten sich über den sonderbaren Fall (den man übrigens in Newyork oder Chicago längst nicht mehr sonderbar findet) und steuern am Leipziger Platz (das ist doch eine Ecke!) wieder hinüber, um im Automobilklub zu essen. Schon ist derselbe Grüne ihnen wieder auf den Fersen, die Hand des Gesetzes legt sich schwer auf ihre Schultern. Sie seien eben erst verwarnt worden, nun hätten sie sich wieder vergangen, er ersuche die Herren, sich zu legitimieren. Da braust der eine auf: er habe seinen Paß nicht bei sich, er habe gedacht, doch zum mindesten in einem befreundeten Staate zu wandeln. "Schon faul!", sagt der Schutzmann und schleppt sie zur Wache in die Voßstraße, wo durch telephonische Rückfrage in den Wohnungen und bei den Revierämtern in 40 Minuten angestrengter amtlicher Arbeit ihre Personalien festgestellt werden. "Das weiter wird sich finden!" O Jerum.

Zieh nicht an die Spree, mein Sohn, ich rate dir gut . . .

Aber wenn du nicht zu Fuß läufst, sondern dich nach Berlin O in die Blumenstraße zum Residenztheater fahren läßt, dieser kleinen Vorstadtscheune, in der früher die Herren aus Berlin W ihren Freundinnen französische Gewagtheiten zeigten, kannst du dort dein blaues Wunder erleben.

Es wird ein reichsdeutscher Autor gespielt!

Nein, nicht Klabund. Ein neuer Ludwig Fulda. Keine liebenswürdige Verskomödie, nicht "Talisman" oder "Cyrano", sondern ein Lustspiel; eigentlich schon mehr Schwank. Das Stück heißt: "Die Durchgängerin". Eine Art toller Komteß, ein Unband, der alles auf den Kopf stellt und dem die Herzen zufliegen, ein Mädel, das gegen Zwang und Konvention revoltiert, tollt über die Bühne. Bis auf den hohen Kleiderschrank bei Papa Oberregierungsrat. "Komm' sofort herunter!"   "Kommt ihr doch herauf!" Die bubiköpfige Kleine bummelt sogar eine ganze Nacht durch. "Aber was Sie denken, is nich!", - ach nein, Ludwig Fulda ist doch schon ein gesetzter Herr in allen Ehren, er zwinkert wohl mal mit den Augen, aber er "macht keine Sachen"; nein, diese Ilsebill ist ein wildes, aber reines Ding. Nur ihre Stiefmutter, Frau Oberregierungsrat, hat's mit einem Psychopathen, sagen wir: einem Otto Otto. Der soll Ilsebill zu einer etwas geregelteren Lebensführung hypnotisieren. Wie das mißlingt, ist zum Wälzen. Im zweiten Akt sehen wir Ilsebill in womöglich noch drolligeren, zwerchfellerschütternden Situationen im Zwangserziehungsheim, dessen Leiterin freilich gräßlich karikiert ist, fast so gräßlich, wie vorher der Studienrat, den Ilsebill heiraten soll und dem sie ritze-ratze mit der Schere den halben "Es ist erreicht"-Schnurrbart abschneidet. Je nun, es ist ein Schwank, ein Volksstück, da trägt man eben grell auf. Selbstverständlich brennt das Mädel auch hier durch und kommt nach vier Jahren - aus Amerika rechtzeitig zum dritten Akt zurück, als Millionärin in das inzwischen in der Inflationszeit verarmte Elternhaus, und siegt auf der ganzen Linie, denn ein "goldenes Herz" hat sie allemal; umsonst heißt ihr geistiger Papa natürlich nicht Ludwig Fulda.

Unsere großen Mädels, die zu den Weihnachtsferien heimgekommen sind, schicke ich alsbald hin. Die lachen sich da sicher so gesund, daß ich bis zu den Osterferien keine Arztrechnung zum Nachhelfen bekomme.

Ich gehe auch noch mal hin. Schon um Ilsebills willen. Das ist Erika von Thellmann.

Ihr Vater war österreichischer Oberst. Nach dem Kriege erschoß er sich. Motiv: alles verloren. Nun stand die Erika ganz allein, denn, Gott behüte, auch einen Freund hatte sie, damals wenigstens, noch nicht, aber tapfer nahm sie den Lebenskampf auf. Gute Familie, nicht auffallend hübsch, viel Temperament: also Theater. Sie trug sich puritanisch einfach, sie wohnte in einem winzigen möblierten Stübchen. Der erste große Erfolg vor zwei Jahren in einem Tanzduo in einer Operette des Großen Schauspielhauses. Mit schier verwunderten, aber glücklichen Augen sah Erika in den Jubel ringsum, in das beifalltosende Parkett. Von da ab wurde sie "herumgereicht", hatte so etwas wie einen Namen, bekam sie Aufforderungen zum Arrangieren eines Teetisches auf der Spitzenausstellung und dergleichen mehr. Heute schlagen hundert Herzen mit im Takt, wenn sie oben auf dem Schrank ihre schlanken Beine schlenkert. Morgen gehört sie zu den Prominenten; denn von jetzt ab ist sie Kassenfüller. Weihnachten 1925 ist für dieses Soldatenkind die große Durchbruchsschlacht gewesen.
23. Dezember 1925 (Mittwoch)



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© Karlheinz Everts