"Rumpelstilzchen"

"Mecker' nich!"
(Jahrgangsband 1925/26)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1926

Glossen 10 - 12
19. November bis 3. Dezember 1925


10

Was gefunden - Stellenlosigkeit und Ballbesuch - Das Stecknadelkleid - Schlager in aller Welt - Fahneneinmarsch - Von Seckendorff bis Weiß - Am Bußtage bei Booth - Gloria, Gloria, Gloria - Das Fremde

Eine Geduld müssen unsere Berliner Schutzleute haben, eine Geduld, die schon himmlisch ist. Das, was in Wien Frozzeln genannt wird, sollte einem angesichts der Ordnungshüter vergehen. Der Berliner aber nennt es Veräppeln und betrteibt es mit Lust. Ihm ist nicht einmal der Grüne heilig, und keck spricht er ihn auf der Straße an:

"Herr Wachtmeester, wemman wat jefunn' hat, muß man et denn abjeem ?"

"Selbstredend müssen Sie es abgeben. Klar."

"Herr Wachtmeester, ick ha' Arbeet jefunn', wo kann ick die wieda abjeem ?"

Der Schutzmann blinzelt nur mit einem Auge und sagt kein Wort. Er weiß, daß das Veräppeln nicht böse gemeint ist, daß überhaupt nicht die Absicht einer Beamtenbeleidigung vorliegt, sondern nur die Freude am Scherz. Wahrscheinlich ist der Mann, der ihn da fragt, ein wenig "beschnickert". Vielleicht hat er seinen Fund - wenigstens den des Wortspiels - gerade eben in seiner Stammtischrunde gemacht, wo dergleichen ausgeheckt zu werden pflegt. Man hat dort wohl anfangs sogar ganz ernst über die Arbeitslosigkeit gesprochen, über das Gedränge von Stellensuchern in der Hauptstadt. Es wird nachgerade wirklich beängstigend. So wie mir geht es wohl auch ungezählten anderen: kein Tag vergeht, wo wir nicht von Angehörigen auch gebildeter Stände aufgesucht werden, die händeringend nach Beschäftigung ausschauen; von Abgebauten, die durch jüngere billigere Kräfte ersetzt werden. Das drückt auch auf die Lebenshaltung derer, die noch ihr sicheres Brot haben. Weh' dir, daß du ein Onkel bist, könnte man ein Goethewort variieren, - es gibt bald keine Familie mehr, die nicht mindestens einen erwerbslosen Neffen zu unterstützen hätte. Da versagt man sich denn auch manchen Genuß. Die ersten großen Berliner Bälle sind in dieser Saison schwach besucht. Nicht als ob man die Lust am Tanzen verloren hätte, o nein, ich habe noch an diesem Montag im Weidenhof-Kasino eine Dame auf dem Parektt geschwenkt, die in ihrem Zivilberuf Mutter von acht lebendigen Kindern und Frau eines hervorragenden Parlamentariers ist, aber - man hat den Mut zur Anschaffung neuer Kleider verloren. Wenigstens vorerst, wo wir noch in den Anfängen der Saison stecken.

Es gibt ja schon Mäntel, die man auf beiden Seiten tragen kann. In Weimar trug Graf Posadowsky Röllchen, die sogar dreimaligen Frontwechsel zu erleben pflegten. Aber für Balltoiletten hat man das noch nicht heraus. Eine leise Hoffnung tauchte in uns Männern und Vätern auf, als vor einigen Jahren zum erstenmal ein Künstler des Stecknadelkleides sich in Berlin produzierte. Er bedurfte bloß einer Dame im Negligé, eines Wölkchens von Seidenstoff und einer Handvoll Stecknadeln. Dann wickelte er, drapierte er, steckte er: und siehe da, in wundervollem Abendkleid stand die Balldame vor uns. Nun wieder herunter mit dem Stecknadelkleid. Neues Wickeln, neues Drapieren, neues Stecken, und im Handumdrehen ist eine völlig andere Toilette vor uns entstanden. Das wäre! Also neulich mache ich einer beneidenswert jungen Dame, die erst in später Zukunft ihre 8 Kinder haben wird, ernsthaft den Vorschlag, es mit einem solchen Universalkleid zu versuchen. Wir könnten dann jeden Ball besuchen, sie werde immer anders, immer reizvoll aussehen, und es handele sich doch nur um die einmalige Ausgabe für das Stecknadelkleid. Dieser Vorschlag sähe mir ähnlich, erwidert sie bloß; die Damen im Stecknadelkleid und die Herren dann wohl - mit einem Magneten in der Tasche . . .

Nicht nur die großen Bälle, sondern auch die kleinen Tanzgelegenheiten werden zurzeit nur mäßig ausgenutzt. Vergeblich quäken die Saxophone, vergeblich hampelt der Stehgeiger, vergeblich quietscht der Trommler, ja selbst die von der ganzen Jazz-Band mitgesungenen beliebtesten Schlager bleiben ohne sonderliche Wirkung:

"Ich spiel' auf der Harmonika
Die schönste Melodie
Und meine Braut Veronika
Die sitzt auf meinem Knie."

Wenn man statt der Harmonika die Braut auf seinen Knieen hat, kann man nicht Harmonika spielen, denke ich mir, aber der vollendete Blödsinn ist ja nun mal Methode. Es ist kein spezifischer Berliner Blödsinn, wenn er auch zum großen Teil in Berlin zuerst an den Tag kommt.Man singt ihn genau so in Stuttgart, St. Paulo, Heliopolis, Chikago, Elbing, Athen, Taschkent; und unser "Wenn du meine Tante siehst" wurde schon vierzehn Tage nach der Berliner Première in Paris französisch geträllert. Die Urheimat der Germanen wird neuerdings nicht nach dem fernen Osten, sondern nach Skandinavien verlegt. Die Urheimat des Schlagers aber scheint Galizien zu sein.

Das deutsche Volkslied, der deutsche Walzer, der deutsche Militärmarsch haben sich in der Großstadt trotzig auf die Zitadelle der vaterländisch-politischen Zirkel zurückgezogen. Hier glühen alte Narben auf, wenn so gespielt wird, hier schlagen die Herzen höher. Wenn das Kalbfell brummt, wenn die Querpfeifen locken, dann ballt der Knabe die Fäuste, dann werden dem Mädchen die Augen feucht, dann fahren auch die Alten empor von dne Sitzen. Fahneneinmarsch! Ohne den ist eine solche Veranstaltung schon undenkbar; und sogar die echtesten Schwarzrotgelben, die Republikaner, die Pazifisten, die "Nie-wieder-Gewitter!"-Leute haben ihn übernommen, weil er so auf die Gemüter wirkt. Es sind nicht die alten in Schlachtenwettern zerfetzten Fahnen, nicht die, auf die wir als junge Soldaten vereidigt wurden, die symbolisch den obersten Kriegsherrn vertraten, der ja nicht persönlich bei jeder Truppe sein kann; auch haben diese Fahnen in modernen Feldzügen schon längst keine Stätte mehr, sind schon längst Museumsstück oder Gruftschmuck oder Kirchenreliquie geworden. Nein, es sind nur Vereinsbanner, die da einmarschieren, wenn auch nach militärischem Kommando; und die ganze fromme Täuschung soll uns auch nur Erinnerungsbilder wachrufen und sozusagen Begleitmusik zu dem innerlichen Schwur jedes Festteilnnehmers sein. Fahneneinmarsch! Nicht so, wie wir es uns einst gedacht haben: zum Brandenburger Tor herein, hinter dem Kaiser her, vor dem siegreichen Heere. Sie marschieren zum "Clou" in der Mauerstraße ein, zu dem größten Konzert-, Café- und Tanzlokal Berlins, das ehedem eine Markthalle war und wo diesmal die Delegierten vom deutschnationalen Parteitage mit ihren Angehörigen zur Schlußfeier in dem Riesenraume sich versammeln. Fern bleibe uns an dieser Stelle die Politik. Nur das Organisatorische an diesem mehr familiären Fest reizt den Feuilletonisten, das fabelhaft genaue Klappen aller Vorbereitungen, das fast militärische Aufziehen der ganzen Sache.

Die alten Konservativen waren eine Notabelnpartei. Als sie ihren ersten wirklichen Volksparteitag abhielten, den vom Tivoli 1892 in Berlin, da waren sie hilflos und wurden von den Jungen überrannt. Ihr angestellter Geschäftsführer war damals der Freiherr von Seckendorff, der seinen Tag im wesentlichen damit ausfüllte, die Geschichte derer von Seckendorff zu schreiben und dazwischen allenfalls ein paar Briefe zu unterzeichnen. Er hätte angesichts der diesmaligen Aufgabe, alles für die 2300 Delegierten im Kriegervereinshaus oder die 4800 Festteilnehmer im Clou vorzubereiten, sicher den Kopf verloren. Die deutschnationale ist eine Massenpartei geworden; da gehören ganz andere Fähigkeiten dazu. In kaum mehr als acht Tagen hat der Hauptgeschäftsführer Dr. Weiß lautlos den ganzen Apparat aufgebaut. Er ist ehemaliger Offizier, der als Oberleutnant zum erstenmal mit dem Herzog Adolf Friedrich von Mecklenburg Afrika ganz durchquerte; er leistete die topographische Vermessungsarbeit für die Expedition. Nachher studierte er und wurde auf Grund einer gewichtigen und doch leichtflüssigen wissenschaftlichen Arbeit über die Völkerstämme Zentralafrikas schon nach zwei Semestern zum Doktor promoviert. Der Parteitag von 1925 ist ebenso wie die Wahlen vorher eine Doktorarbeit - oder, wenn man so will: ein Husarenstückchen - von ihm. Man versteht sich heute auf Massenwirkungen ganz anders als in den seligen Seckendorff-Zeiten. Die Gemütlichkeit des früheren Betriebes ist freilich dahin. Es wird bis zum Zusammenbrechen gearbeitet; wie nach dem Mobilmachungskalender.

Die Deutschen sind es, die der Welt den großen Gedanken der Organisation geschenkt haben, hat Carlyle einst gesagt. Nennt es meinetwegen auch - Militarismus. Heute sind darin die Amerikaner obenauf, von dem System Ford angefangen bis zu der Jugenderziehung. Nachgeäfft aber haben es schon lange unsere europäischen Vettern.

Die Übertraung militärischer Ordnung und Methodik, aber auch des militärischen Tschingtaras auf andere Gebiete haben sie schon vor Jahrzehnten versucht. Und zwar - in der Religion. Fürst Bismarck sagte mir einmal kurz vor seinem Tode, die einzige leitungsfähige Armee der Engländer sei ihre Heilsarmee. Damals hatte ich schon in England selbst einige Aufmärsche und Versammlungen gesehen, auch in Deutschland einmal mit ihrem Begründer, dem "General" Booth, gesprochen, dem Alten mit der Hakennase und dem Erzvaterbart. Zufällig war ich dem eisernen Kanzler gegenüber auf diese Begegnung gekommen.

In den letzten Jahren haben die Salutisten sich auch in Deutschland sehr verbreitet und sind hier gesetzlich anerkannte Religionsgemeinschaft, also gegen die früher so häufige Störung und Anpöbelung geschützt. Wir sind allmählich gegen das Komische in ihrer Erscheinung auch abgebrüht; auf den Straßen wird kaum mehr gelächelt, wenn man eines der Hallelujah-Mädchen sieht, der Leutnantinnen der Heilsarmee. Eine ganz große Schau veranstaltet sie bei uns immer am alljährlichen Bußtag. Dazu erscheint der General aus London höchstselbst.

Also sozusagen Felddienstübung gegen markierten Teufel. Machen wir mit.

Um 7 Uhr abends bin ich in dem Hallenbau des Zirkus Busch, der schon bis zur letzten Galerie gefüllt ist. Beim Kauf des Logenplatzes hatte ich mich überwinden müssen. Wie der Peterspfennig aus allen Ländern nach Rom wandert, Rom stärkt, Rom prächtig macht, so ist es mit den Einnahmen der Heilsarmee, die zu großem Teil von London aufgesogen werden. Die Dynastie Booth - der nun auch schon weißhaarige Sohn des verstorbenen Alten ist jetzt General und dessen Enkel wächst als Nachfolger heran - die Dynastie Booth also hat über die Verwendung zu bestimmen, und ich bin sicher, daß aus Heils-Deutschland mehr hinausgeht als hereinkommt. Die Booths selbst leben gut, nicht in Apostel-Einfachheit. Schon vor langen Jahren trafen wir sie in dem besten Hotel der vornehmen englischen Sommerfrische Leamington mit reichlicher Bedienung und sogar einer deutschen Governeß. Ich sage nichts dagegen. Schon in der Bibel steht, daß, wer dem Altar dient, auch vom Altar leben soll. Aber ich habe, obwohl die Heilsarmee zu ihrer Reklame auch allerhand soziales Liebeswerk an den Elendesten und Verkommensten in Deutschland anführen kann, keine Freude daran, daß die Heilsarmee etwa mit deutschen Notgroschen eine Baracke für javanische Aussätzige auf Sumatra erbaut oder ein Asyl für englische Trinker in Cardiff.

Im Zirkus Busch lösen Reden, Gebete, Gesänge, Orchestermusik in schnellem Wechsel einander ab. Es ist eine Art religiösen Variétés. Immer schneller die Ablösung, immer eindringlicher der Zuspruch. Die englischen Herren, an der Spitze Booth Vater und Sohn, dieser noch größere Meister in lebendigem Vortrag als der etwas weinerlich sprechende Vater, reden von dem Teufel in uns und dem Herrn "Dschises", wie Jesus auf englisch heißt, über uns. Jeder Satz wird gleich übersetzt. Die deutschen Heilsarmisten, aber auch ein Teil des Publikums sind ganz im Banne der werbenden Worte. Der Herr Jesus ist unter uns, er sieht von der Kuppel des Zirkus herunter, er sieht bis auf den letzten Galerieplatz! Heute noch, heute noch wirf dich ihm zu Füßen und komm' zur Bußbank! Welche Sünde bringt die meisten Menschen in die Hölle ? Die des Aufschiebens! Also heute noch, heute noch sage dem Teufel ab und mache deinen Frieden mit Gott!

Gemurmel bei den Salutisten: Gloria, Gloria, Gloria.

Das Ergriffensein wächst. Von der Bühne dröhnt in hundert Variationen immer wieder das: heute noch, heute noch, ehe es zu spät ist! Der Sängerchor in roten Blusen singt immer inbrünstiger. Dazwischen jauchzen die Posaunen der armen Seele Mut zu. Wieder betet einer laut: Heute noch, heute noch! Wo ist die erste Seele, die zur Bußbank kommt ? Noch keine ? Also singen wir noch einmal gemeinsam. Auch die Musik spielt noch eins. Dazwischen beten, beten, beten: Herr, ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn! Heute noch, heute noch! Die elektrischen Bogenlampen stechen einem ins Gehirn. Die Luft flimmert. Die Musik vibriert in den Nerven.

Da, da - das Wunder.

Gloria, Gloria, Gloria.

Ein junges Mädchen, Typ Kontoristin, schreitet mit verweinten Augen durch die Arena nach vorn. Es gehört ungeheurer Mut oder - ungeheure Benommenheit dazu, so vor dem ganzen Zirkuspublikum - sicher sind auch Bekannte darunter - zur Bußbank zu gehen. Tausende von Augen bohren sich in das an der Bank zusammensinkende Geschöpf. Eine Schwesterseele von der Heislarmee kniet sofort daneben hin, legt der Bußfertigen sanft den Arm um den Hals, hört ihr allen Kummer ab, betet mit ihr, schürt das Bekehrungsfeuer.

Gloria, Gloria, Gloria. Immer wieder das Gemurmel der Ergriffenheit.

Da: ein Mann. Er mag irgendwo Hausbursche sein. Kommt mit rotem Kopfe nach vorn. Ein brüderlicher Arm umfaßt auch ihn. Da: ein feiner Herr. In modischem Rockpaletot. Gloria, Gloria, Gloria. Nun drei, vier, fünf Frauen und junge Mädchen. Ein Kind. Eine Greisin. Ein Ehepaar. Gloria, Gloria, Gloria. Die Massensuggestion ist da. Einer nach dem anderen kommt von der Bußbank weg in das Registrierzimmer, wird als Soldat der Heilsarmee Jesu Christi auf ihre "Kriegsartikel" verpflichtet, geht als "neuer Mensch" zurück. Gloria, Gloria, Gloria. Es ist der alte Methodismus in militärischer Aufmachung.

Und auch mit der heute so wirksamen Internationalität im Hintergrunde. Leute aus aller Herren Ländern sitzen oben auf der Tribüne. Darunter ein brauner bebrillter Inder in buntseidener Tracht und Turban. Das Bläserkorps trägt die Friedensuniform der englichen Infanteriehoboisten, den Scharlachrock mit breiten weißen Tressen über der Brust. Das Pfadfinderkorps hat genau die Tracht der englischen Boy-Scouts des Generals Baden-Powell. Alles das wirkt auf unsere kleinen Leute mit ihren schwachen Nerven.

Ich streiche mir energisch über die Stirn und gehe endlich, während es immer noch zur Bußbank strömt. Draueßn Unter den Linden regen sich ein paar Leute auf, weil eine Gesellschaft im Café nebenan französisch spräche. Das ist die andere Sorte Deutscher, die ebenso über das Ziel hinausschießt und bei ihrer Franzosensuche oft auf Türken oder Argentinier stößt. Da fällt mir eine kleine Geschichte aus dem Urtewalder Grund vor dem Aufstieg zur Bastei ein. Auf deren Rücklehen - es sitzen da oft auch Fremde - hatte einer mit Bleistift gekritzelt: "I love you!"

Und am nächsten Tage stand darunter: "Schreib' deutsch, tschechischer Hund!"
19. November 1925 (Donnerstag)


11

Tante Malchen - Berncastler Doktor aus Apothekerhefen - Revuetheater-Dämmerung - Auf dem Ball des baltischen Roten Kreuzes - "Kapelle Etté!" - Balalaika-Konzerte - "Neuer Tunnel unter der Spree" - Der gut angezogene Herr

Tante Malchen aus Stallupönen war auf der Durchreise wieder einen Tag bei uns. Sehr pressiert, sehr echauffiert. Die gute Flasche Nebiolo, die wir ihr vorsetzten, lehnte sie ab; sie sei mit einer Flasche Selters oder einer Brauselimonade zufrieden. Also goß ich ihr in ein Dreizehntelglas etwas Sodawasser und füllte den Rest ungesehen mit Rotkäppchensekt. Sie wurde, nachdem ich noch zweimal nachgefüllt hatte, sehr aufgeräumt, die gute Tante. Wie schön man doch den teuren Alkohol entbehren könne, sagte sie und gluckste.

Außerdem mache sie jetzt selber Wein. Mit den berühmten Hefekulturen des bekannten Apothekers aus Gotha. Alle Bekannten von ihr in Stallupönen machten es ebenso. Nur wir Berliner schienen noch rückständig zu sein. Aber ein Probekistchen an uns Verschwender sei schon unterwegs.

Nun ist die Kiste auch da.

Schon vor Tante Malchen haben mir alle möglichen Leute dieses neumodische Hochzeitswunder von Kana empfohlen: der Pfarrer aus Zehdenick, der Kapitänleutnant aus Werder, der Studienrat aus Pankow, zuletzt noch der Schriftsteller aus Weimar. Dieser Hefewein sei vom echten nicht nur nicht zu unterscheiden, sondern er sei echter Wein. Bitte sehr! Die faserigen Teile der Traube, die Zellulose, brauche man doch sowieso nicht. Das übrige aber sei Wasser, alkoholisch vergorenes Fruchtwasser, dazu natürlich noch gewisse Duftstoffe und anderes, die von der speziellen Hefe wunschgemäß herbeigezaubert würden. Man könne aus Schlehen, aus Getreide, aus Hagebutten, aus allen möglichen Dingen so Wein machen. Ich wagte zunächst nicht zu zweifeln. Ich weiß zwar, daß man in Berlin noch nicht einmal Münchener Bier oder Gervaiskäse "richtig" nachzumachen vermag, die auch zu den Erzeugnissen gehören, die der liebe Gott just nur einem Ort in der Welt als Patengeschenk verehrt und an diesen Ort gebunden hat. Aber man soll ja nichts für unmöglich erklären. Werden doch sogar unzweifelhaft "echte" Edelsteine heute synthetisch hergestellt. Also dem Pfarrer, dem Kapitänleutnant, dem Studienrat, dem Schriftsteller und einem Dutzend anderer Begeisterter, die inzwischen mit mir gesprochen haben, gebe ich zu, daß sie vielleicht theoretisch Recht hätten; nur fehle mir noch der praktische Nachweis. Ich habe noch so meine leisen Zweifel. Rubinen und Diemanten sind chemisch sehr einfache Sächelchen, nämlich reine Tonerde und reiner Kohlenstoff; aber es gibt auf der ganzen Erde chemisch kaum so kompliziertes als die drei: Blut, Milch, Wein.

Wir machen die Kiste auf. Eine Flasche ist zerbrochen und ausgelaufen. Im Hause verbreitet sich der intensive Duft von Berncastler Doktor. Ganz unzweifelhaft. Ich kenne mich da aus. Ich vermag oft sogar die Grenzlagen zwischen Pfalz und Rheingau topographisch richtig zu erschnuppern. Man starrt mich triumphierend an. Ich muß den Berncastler Duft zugeben. Tante Malchen steigt in der Achtung der Familie, meine hausväterliche Unfehlbarkeit bekommt ein Loch.

Dann aber wird eine Flasche "Malaga" entkorkt und gekostet. Pfui Teufel. Ich taxiere: Blaubeerensaft mit Essig und Zucker. Auch hier ist der Duft unstreitig vorhanden. Aber wer da "Malaga" herausschmeckt, der hat an Stelle der Zunge ganz bestimmt ein Stück Sohlleder im Munde.

Ähnliches gilt von Tante Malchens "Rüdesheimer" und "Madeira", gilt von allen den zehn Flaschen in der Kiste. Kinder, macht meinetwegen falsche Weinsuppe daraus. Oder gießt es in einen Topf Stiltonkäse. Oder würzt damit einen Maronenauflauf. Da kann man das Zeug vielleicht vertragen. Aber maßt euch nicht an, die schöne Gottesgabe des goldenen oder roten Rebensaftes nachzufälschen; auch unser Heiland hat zu Kana sicherlich nicht mit Gothaer Hefekulturen gepantscht. Wenn ihr euer Produkt als chemischen Kunstwein etikettiert, bin ich schon zufrieden, es gibt ja auch Leute, die Möbelspiritus trinken, - aber daß Tante Malchen auf die Zettelchen, die an den Flaschen kleben, mit ihrer schon etwas zitterigen zierlichen Handschrift "Rüdesheimer" und "Madeira" geschrieben hat, das ist Sünde.

Natürlich kann man nichts dagegen sagen, daß Menschen, die auf Echtes verzichten müssen, sich Ersatz zu beschaffen versuchen. Selbstverständlich sind die Selbstbinder unserer Primaner aus Kunstseide. Und wer sein heimlich angebetetes Mädel nicht in stiller Zweisamkeit ans Herz drücken kann, der tut es wenigstens weltvergessen im Trubel eines öffentlichen Balles. Da "muß" er es auf jeden Fall; denn sonst kann er seine Tänzerin durch die drängende Enge doch nicht bugsieren. Umgekehrt sind die Schaustätten, wo man nicht tanzt, sonern nur tanzen sieht, erschreckend leer. Selbst der Revuekönig James Klein ist in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Nach altem Rezept (wo Menschen schweigen, werden Beine reden) hat er in seinem Revuetheater auf den blühenden Unsinn des kargen Textes immer viel weniger gegeben, als auf die Wohlgeformtheit der im Tanze sich lösenden Glieder seiner Darstellerinnen. Damit konnte man einst Geschäfte machen. Noch Otto Reutter pflegte zu sagen: wenn man das Theater auf die Beine bringen will, muß man Beine auf das Theater bringen. Aber damit ist es nun nichts mehr. Man hat sich an dem ganzen Kram übersatt gesehen. Man geht lieber selber auf die Bühne, die für das große Publikum Ballsaal heißt, schwenkt aktiv die eigenen Beine und vergißt alle ausgebliebenen Rückwirkungen des Locarno-Vertrages, wenn nur die Rückenwirkungen der Dame des Herzens nicht ausbleiben.

Gestern im Esplanadehotel der Baltenball. Wieder Prinz August Wilhelm von Preußen und andere Mitglieder des königlichen Hauses dabei. Im allgemeinen das gleiche gute Publikum wie im vorigen Jahre. Einige neue Erscheinungen darunter, so die ungemein schlichte, fast altmodische junge Schwiegertochter Hindenburgs. Zum erstenmal in diesem Jahre auch ein bißchen Kurfürstendamm; das dringt schließlich wie Gelbkreuzgas doch durch alle Ritzen. Schon in dem unterhaltenden Teil setzt sich dieser Geschmack durch: Marcell Salzer. In dem "wohltätigen" Damenausschuß scheint, wenn auch prozentual noch sehr gering, der Kurfüstendamm auch schon Einzug gefunden zu haben. Der eine oder andere junge baltische "Baron" hat auch wohl irgendeine brillantenstrotzende Bekannte aus Berlin WW mitgebracht. Kurz und gut, der Farbenton ist um eine Nuance dunkler geworden. Nur ein lichtes Wunder erregt Sensation. Eine blutjunge Schwedin, rosig und weizenblond, überragt jegliches Volk. Es ist die Tochter des Oberbürgermeisters von Nyköbing, gute Gesellschaft. Diese Nordlandsmädchen werden ja seit jeher sehr frei erzogen und , wie anderswo junge Männer, nach Abschluß ihrer Schulbildung allein in die weite Welt geschickt, damit ihr Urteil reife und ihre Weltgewandtheit völlig werde. Mit einre anderen Schwedin, einer an einen Reichsdeutschen verheirateten Frau, sitze ich in kleinem Kreise zusammen. Sie ist stolz auf den Triumph der jungen Landsmännin. Und sie sagt: es ist das Reinrassige, das solchen Eindruck macht; in Schweden selbst liefen solche lichten Walküren doch zu Hunderten herum und fielen dort mit ihren 180 Zentimetern Größe und ihrem Goldhaar gar nicht auf. Also jedenfalls: es wird auch schwedisch in den Sälen des Esplanade an diesem Abend gesprochen. Und mehr als in den Vorjahren - russisch. Da tanzt und trinkt, ganz entspannt und losgelassen, der schlanke Träger eines alten deutschen Adelsnamens, der einst Gardeoffizier in Petersburg war und jetzt als Emigrant nach dem Zusammenbruch froh sein kann, daß er einen kaufmännischen Posten im Belgischen Kongostaat in Afrika gefunden hat; er fühlt, wie er sagt, noch heute als Russe. Vor einem Jahre hörte man so etwas hier noch nicht. Da war alles noch auf den einen leidenschaftlichen Ton gestimmt: heim zum Mutterlande, heim zu Deutschland! Es ist auch immer noch der vorherrschende Ton, aber er erschallt nicht mehr fortissimo. Man hat zu Severings Deutschland nicht mehr dieses voraussetzungslose Vertrauen. Man kommt nicht ins Esplanade, um für das hilfreiche Deutschland zu demonstrieren, sondern weil unten auf dem Programm steht:

- Kapelle Etté! -

So steht diese Kapelle immer verzeichnet; immer mit Ausrufungszeichen. Es ist ein Jauchzen darin. Es steckt darin etwas von dem Ruf, den ehedem "auf den Inseln" so manche Zigeunerkapelle hatte: die Gewähr für Entfachung höchster Lebenslust. Das sind nicht verdrossene Musiker, die auf das Da-capo-Klatschen der Tanzenden hin eben noch einmal fiedeln und dann als brave Gewerkschaftler pausieren. Nein, fünfmal, sechsmal hintereinander spielen sie auf. Sie sind unermüdlich. Und sie elektrisieren, weil sie selber elektrisiert sich geben. Die tiefste Wirkung, der Menge unbewußt, geht aber natürlich von dem echt Musikalischen aus. Es gibt kaum eine andere Band in Berlin, die sich so fein einfühlt, solches Feuer in die Adern gießt, nicht bloß krachenden Rhythmus in die Hüften und Knöchel hämmert.

So etwas weiß man doch sogar bei Tanzmusik wieder zu schätzen. Es gibt erneut schon Leute, die wirklich an die Kapelle denken, wenn sie ihre abendliche Entspannung aufsuchen. Nicht mehr das Saxophon, sondern die Balalaika zieht am stärksten. Die vielen russischen Restaurants in Charlottenburg und Umgegend haben durchweg diese zart verträumt Zupfmusik, die freilich auch ganz unvermittelt grell und stark werden kann. Meist sind es Studenten, gebildete junge Leute, die vormittags ihr Kolleg besuchen und abends von 9 bis 1, oft nur gegen eine ordentliche warme Mahlzeit zum Entgelt, hier die heimische Balalaika spielen, dabei immer wieder die sanfte und dann laut schwellende und schließlich verebbende Klage "Ej uchnjem", das Lied der Schiffstreidler an der Wolga, das auch unser deutsches Publikum instinktiv als die russischeste aller russischen Musikäußerungen empfindet und daher so häufig von den Balalaikaspielern verlangt. Leider mordet der Synkopenrhythmus moderner Tänze auch an diesen Stätten der schönen Unterhaltung vielfach die gute Musik. Man will doch tanzen, sagt das Berliner Mädel, und tanzt in kaum meterbreitem Gange zwischen den Tischen, zwischen Kaukasuswein und Wodka, zwishen Anchovis und Boeuf à la Stroganoff.

Nun haben aber die meisten Restaurants keine Konzession zur Tanzduldung. Man kann da böse beim Finanzamt hineinschlittern, wenn man nicht etwa seine Räume - für eine private, geschlossene Gesellschaft hergibt, der dann ein Tänzchen nicht verwehrt werden darf. Man muß als öffentliches Tanzlokal bannig viel Steuern bezahlen.

Also schließen wir uns lieber zu einer privaten Gesellschaft zusammen. Kaum habe ich mir die Sakuska bestellt, so kommt schon der Wirt und nimmt mich in den Verein auf. Die Sache kostet 50 Pfennig im Monat. Ich habe schon die ganze Brusttasche voll von derartigen Mitgliedskarten. Es kostet nachgerade Mühe, neue Namen für diese Vereine zu erfinden. Der letzte Klub, dem ich so beigetreten bin, heißt: Neuer Tunnel unter der Spree. Das klingt so nach Bohème und Montmartre, aber es ist nichts in Wirklichkeit Extravagantes dabei. Hierher kommt nach Fertigstellung des Abendblattes die Redaktionssekretärin und nach Ladenschluß der Rayonchef des Warenhauses. Hier klagen gepflegte Leute einander ihr Leid über die Flaute im Geschäftsleben. Die Literaturzigeuner aus dem ehemaligen Café Größenwahn haben keine 50 Pfennig.

Es sind durchweg solide gekleidete Menschen, die da ihren Abendimbiß nehmen, um nachher sofort durch ein bißchen Tanz den Stoffwechsel zu fördern. Allmählich haben wir ja sogar in Deutschland es heraus, wie man Figur macht. Wenigstens unsere Damen. In der Herrenwelt freilich ist der Bureaurock auch nach Feierabend beherrschend. Da ist es ein wahrer Segen, daß neuerdings an hoher Stelle Geschmacksbilder zu erstehen scheinen, die, wie einst König Eduard in London, die nötige Anregung dazu geben, wie der gut angezogene Herr aussehen muß. In Amerika hat man in den letzten Wochen noch darüber gespöttelt, wie sonderbar manche zu der interparlamentarischen Union hinübergereiste deutsche Abgeordnete aussähen. Das muß anders werden. Also im Schlafwagen-Korridor auf der Fahrt von Königsberg nach Berlin hält ein Kultivierter Cercle ab. Er steht abends um 11 Uhr nicht im Pyjama oder im Straßenanzug da, sondern immer noch im Frack von dem Jubiläumsessen her. An dem Frack, der - unserem Außenminister so gut und so prall sitzt, prangt nämlich ein mächtiger, diamantenglitzernder Orden.

Man kann ihn bei dem Gerüttel nicht gleich klassifizieren. Es ist der Stern von Äthiopien, behaupten Kenner. Von Seiner Majestät dem Negus von Abessynien, von wo auch die neue Sendung Affen in unserem Zoologischen Garten stammt.
26. November 1925 (Donnerstag)


12

Molto freddo - Das deutsche Bübchen aus Neapel - Unser sauberes Deutschland - Der Honigspucker - Klabunds Junger Aar - "Biribi" und "Aiglon" - Locarno auf dem Lehrter Bahnhof - Frenken - "Ich hab' mein Herz in Heidelberg verloren" - In der Eisarena - Chrysanthemum-Fest im Adlon - Tombola mit Umtausch

Auf dem großen Platz am Ende unserer Straße klappern zwei offenbar südländische Herren mit den Füßen; es sieht aus, als stepten sie einen Charleston. Sie frieren. "Molto freddo, molto freddo!" Das hört, während er mit seinem Rodel zum Kreuzberg vorbeitrabt, unser neuer Hausgenosse, das deutsche Bübchen aus Neapel, und lacht hell auf. O diese dummen Italiener, sagt er; Schnee ist doch so wunder-, wunderschön!

Alles ist für ihn in Deutschland schön und der Wunder voll. Nicht nur Jocko und Jim, das neue Geschichtenbuch von Tieren, Puppen und Blumen, erzählt und illustriert von Ilse Schultze. Schon da geht ihm freilich die ganze Märchenwelt des deutschen Gemütes auf, während er bisher die gefühllosen Neapolitaner auf die Tiere nur losdreschen sah. Jeder fröhlich bellende Hund in Berlin ist für den Jungen schon eine Offenbarung. In Italien, sagt er, seien sie alle scheu und still. Und als wir einen neuen Besen, im Blindenheim hergestellt, kaufen, staunt er wieder. In Italien, sagt er, arbeiten die Blinden nicht, sondern betteln vor den Kirchen. Er selber kriegt Lust zu Lesebuch und Schreibheft, weil er in Berlin jedermann arbeiten sieht, obwohl er die letzten zwei Jahre unterrichtslos als Wildling gelebt hat Er guckt mir am Schreibtisch über die Schulter, so daß ich eben die Hand vorhalten muß, und wundert sich. Kurz zuvor ist er nach hinten gesprungen und hat die Hände zusammengeschlagen, weil er die Hausfrau emsig hantieren sieht. "Du stehst ja wieder in der Küche!" In Italien, sagt er, ist Schwatzen die Hauptbeschäftigung der Frauen. In Deutschland werde noch weniger getan, hat er geglaubt, wenn er uns oder andere Deutsche dort unten auf der Ferienreise erblickte: Deutsche seien Leute, die immer Eiskaffee tränken und immer spazieren führen. Die Mutter hat ihm freilich immer und immer wieder von der Heimat erzählt, hat ihm auch gelegentlich, wenn sie eine Minute frei hatte, ein Sätzchen über das herrliche Deutschland ins Heft diktiert, aber es blieb doch eine fremde Welt. Vor allem hat er sie sich nicht so blitzsauber vorgestellt, wie er sie jetzt in Berlin in den Häusern und auf den Straßen sieht. In Italien, sagt er, ist der Schmutz ein guter Freund. Zuletzt sei er, der kleine Viktor, ein paar Wochen auf Capri bei einer Bäuerin gewesen, die habe einen 50 Jahre alten Tisch gehabt, und in den Ritzen sei noch der Dreck von den ganzen 50 Jahren gewesen.

Man wird ordentlich froh, wenn man das so hört. Deshalb lese ich ja auch so gern auslandsdeutsche Zeitungen aus Chicago, aus Sao Paulo, aus Valparaiso, weil da überallher verhaltener Jubel ertönt, wenn von Deutschland die Rede ist. Natürlich vom alten schwarzweißroten Deutschland. Mehr als 21 Millionen Deutsche sind in der Fremde, die einen geachtet, die anderen geächtet, je nachdem, ob sie seit Jahrhunderten Gastfreunde sind oder seit sieben Jahren Unterworfene. Sie alle schauen mit gläubigen Augen herüber zur Heimat. Man wird selber wieder hoffnungsstark, wenn man diese Augen sieht. Wir hier in der täglichen Berührung mit dem Durchschnittsdeutschen und dem Durchschnittsberliner bekommen allerdings ein anderes Bild, uns fällt die äußere und innere Sauberkeit, die nicht einmal immer vorhanden ist, weniger auf als die sogenannte dreckige Schnauze. Da schnorchelt gestern - Gott sei Dank war das deutsche Bübchen aus Neapel nicht dabei - im Vorübergehen ein Berliner Laufbursche vernehmlich und qualstert in weitem Bogen. Der Wind peitscht mir das Zeug auf den Pelz. Da verliere auch ich, was wirklich kaum je geschieht, die Fassung und schnauze berlinisch den Bengel an, warum er mich so "vollrotze". Man muß hier schon deutlich reden. Er aber erwidert in voller Gemütsruhe:

"Na ick kann ja nächstens Honig spucken!"

Solche Wurstigkeit und Frechheit ist typisch für Fixköter. Auch der Berliner ist ja ein Bastard, nicht so stark mit slawischem Blute versetzt, wie die Süddeutschen irrtümlich annehmen, als mit französischem, dem von Refugiés und von Emigrés, aber auch besonders mit dem von französischen Handwerkern und sonstigen kleinen Leuten, die zur Belebung unseres Gewerbefleißes in früheren Jahrhunderten in die Preußenstadt gezogen wurden. Die Berliner Redensart "Abjemacht, Seefe!" stammt daher. Das "Seefe" ist nämlich weiter nichts als das französische "C'est fait", also: das ist abgemacht. Die Bastardierung mit Entwurzelten, Staatenlosen, hat den Berliner auch so fühllos in nationalen Dingen gemacht. Nicht unsere fremdrassigen Kurfürstendammer allein sind daran schuld, daß wir ganz stumpfsinnig sogar französisch-nationalistische Stücke über uns ergehen lassen. Auch der zurzeit meistgespielte deutsche Autor, Klabund, hat uns jetzt einen solchen Reißer übersetzt, Rostands "L'Aiglon", der als junger Aar - allerdings mit etwas pazifistisch beschnittenen Schwingen - volle Häuser macht. Erster und letzter Akt sind fanatisch napoleonisch geblieben. Nur in der Mitte - wer Geschäfte machen will, predigt zeitgemäß nie wieder Krieg - geistern ganz unvermittelt die Abgeschiedenen der Schlachtfelder herum und verlangen mit Grabesstimme ihre Arme, ihren Leib, ihren Kopf zurück. Ich glaube nicht, daß in Paris die "Hermannsschlacht" Kleists oder auch nur Lessings "Minna von Barnhelm" aufgeführt werden könnte, geschweige denn irgendein Wildenbruch oder Lauff, und dabei reichen sie alle an diesen glühenden Rostand in ihrem Nationalismus nicht heran. In Paris aber wurde am 11. Dezember 1910 unter ungeheurem Beifall des Publikums das koloniale Schauspiel "Biribi" zum erstenmal aufgeführt, in dem die Marterung und Erschießung deutscher Fremdenlegionäre auf offener Bühne dargestellt wird. Und als am 20. januar 1913 Sarah Bernhard in Paris die Hosenrolle des "Aiglon", des Napoleon-Sohnes, gab und in dem Stück, das jetzt die Berliner im Lessingtheater wohlgefällig beklatschen, an die Stelle kam, wo die Siegesbeute der Schlacht von Austerlitz aufgezählt wird, da gerieten die Pariser in natonale Raserei, unterbrachen die Vorstellung und sangen stehend in wilder Begeisterung das Nationallied: "Auf, Kinder Frankreichs, zu den Waffen, der Tag des Ruhms ist wieder da!"

Das noch nie dagewesene Weltgeschehen der letzten Tage, daß ein Volk freiwillig sein urewiges Menschenrecht begräbt, Geraubtes zurückzufordern und losgerissene Volksgenossen heimzuholen, wäre in Frankreich undenkbar gewesen. In Berlin aber ist der Schlußakt von Locarno viel weniger erregend gewesen als der Boxkampf Breitensträter-Paolino oder die Automobilausstellung oder der frühzeitige Wintereinbruch. Ein Lokalereignis für Feuilletonistenfedern. Ein Spätabendblatt bringt die Bilder des Kellners, der die deutschen Delegierten im Londoner Ritzhotel bedient, und des Stubenmädchens, das dort dem Minister Stresemann sein Bett macht. Die Abreise unserer Herren vom Lehrter Bahnhof war schon fast als Schützenfest vor den vielen Photographenapparaten aufgezogen. Geßler wurde lachend aus dem Dunkel hervorgezerrt. Und zum Staatsekretär Schubert sagte Stresemann: "Nun geben Sie Ihrer Frau noch einen Kuß, dann freuen sich die Berliner morgen im Kino!"

Derweil saß ein alter Mann von altem Schlage einsam zu Hause und rang in vaterländischer Not die Hände. Kein Deutschnationaler. Der Zentrumsmann Frenken, der bisherige Justizminister. Auch er hat sein Amt als aufrechter deutscher Mann aufgegeben, um nicht mitschuldig an dem Gang in die ewige Knechtschaft zu werden. Als er im Januar seinen Platz auf der Ministerbank einnahm, klein, schlohweiß, etwas zusammengesunken, da spottete man, wen das neue Kabinett da "exhumiert" habe. In den Ausschüssen verging den Herren alsbald der Spott. Frenken erwies sich als knorrig, bog sich nicht vor törichten sozialistischen Anträgen, auch wo das Zentrum gern Nachgiebigkeit gesehen hätte. Immer ging ihm das Recht über alles, das deutsche Recht. Und bei der Jahrtausendfeier des Rheinlandes, da las er zuerst freilich ab, was seine Räte, wie das bei solchen Gelegenheiten immer zu geschehen pflegt, ihm aufgeschrieben hatten; dann aber legte er den Bogen weg und sprach als "Kölsche Jong" frei aus sich heraus. Und das war keine Verbeugung vor dem Franzosentum. Frenken, der siebzehn Jahre lang als Oberlandesgerichtspräsident am Rheine gelebt hat, hat von 1918 bis 1925 aus nächster Nähe studieren können, wie - um einen neumodischen Ausdruck zu gebrauchen - die Mentalität der Franzosen und ihrer Ententebrüder beschaffen ist. Er hat auch im voraus gewußt, daß selbst aus London nach Unterzeichnung der Verträge unsere Delegierten mit so gut wie leeren Händen heimkehren würden.

Was ist aber dem Berliner sein Rhein ?

Eine Reiseerinnerung bestenfalls. Er denkt an irgendeinen köstlichen Herbstmorgen, wenn der Nebel im Flußtal sich hebt und die Sonne die Reben und die Burgen vergoldet. Oder er denkt an einen Trunk in der "Krone" in Aßmannshausen. Oder gar nur an das Bühnenbild von "Altheidelberg" auf irgendeinem Berliner Theater. Zu allerletzt oder gar nicht denkt er an die Geschichte dieses gepeinigten, von deutschem Blut und französischen Mordbrennereien immer wieder rotgefärbten deutschen Stromes. Es wird ihm ein bißchen sentimental zu Mut, wenn ein schmalziger Sänger in der Barberina vorträgt:

Ich hab' mein Herz in Heidelberg verloren
In einer lauen Sommernacht,
Ich war verliebt bis über beide Ohren,
Der Mond, der hat dazu gelacht.

Gleich darauf verlangt derselbe Berliner aber stürmisch von der Jazz-Band, daß sie "Lady be good" aufspiele, damit man beim Tanzen des englischen Schlagers die bedrängte deutsche Heimat und die ganze dumme Politik möglichst schnell wieder vergessen kann. Es ist immer noch voll in der Barberina in der Hardenbergstraße in Berlin W. Und die Stammgäste dieses Tanzlokals fragen den Neuling schmunzelnd, ob er den Unterschied zwischen einem Lackschuh, der Hardenbergstraße und einem Gentleman kenne. Nicht ? Nun, das sei doch klar! Der Lackschuh geht bis zum Knöchel; die Hardenbergstraße geht bis zum "Knie" in Charlottenburg; und der Gentleman - muß von allein wissen, wie weit er gehen darf.

Auch die neue Eisarena im Sportpalast in der Potsdamer Straße, die größte Halle für Schlittschuhläufer in ganz Europa, glaubt "nicht umhin" zu können, hinter dem ersten Rang eine Tanzdiele einzurichten. Da aber schwenken sich höchstens von 12 bis 1 Uhr nachts noch einige Paare. Den ganzen Tag über, von 10 Uhr morgens bis Mitternacht, wimmelt es auf der Bahn von Läufern. Daß das arme Deutschland das jetzt noch fertig gebracht hat, ist schier ein Wunder. Für die Zuschauer, die rundum beim Glase Wein oder Bier, bei der Tasse Kaffee oder Tee, mitunter auch bei einem kleinen Schlemmerdiner sitzen, das hier überraschend schnell und gut serviert wird, gibt es von 9 bis ½10 und von ½11 bis ½12 farbenprächtige Eisballetts und Kunstdarbietungen von Berufsläufern und -Läuferinnen, gelegentlich auch Hockeyspiele der Klubs und anderes. Der Pariser Eispalast ist dagegen eine schmierige Halbweltscheune. Auch in London, in Mailand und anderswo gibt es nichts so Lichtes, Freudiges, Reines, Gesundes, Imposantes. Man hört gute Musik und tummelt sich in köstlicher Frische. Wenn man gebildet tun will, zitiert man Goethe und Klopstock und andere Freunde des Eislaufs oder geht gar in prähistorische Zeiten zurück, wo die Schlittschuhe allerdings nicht aus stählernen Läufen, sondern aus Knochen erlegter ´Tiere bestanden.

Hier auf der Eisarena ist alles Sport und Training. Neben vielem gertenschlanken Jungvolk kommt auch manche breithüftige Dame regelmäßig hierher, nicht zum Flirten, sondern - um in Form zu bleiben. Die kleinstädtische Poesie des baumumstandenen Weihers sucht man hier allerdings vergeblich. Da haben wir uns einst als Jungen die ersten Rittersporen in Frauendienst und artiger Rede geholt. Die Girls von heute bedürfen des Jünglings nicht mehr so sehr. Im Handumdrehen haben sie die Schlittschuhe selber an den Füßen, schneiden dann, unbehindert durch die früher langen Röcke, ihre weiten Bogen in das Eis, gleiten im Walzertakt einher, pirouettieren und - haben es auch nicht mehr nötig, sich absichtlich fallen zu lassen, um aufgehoben zu werden.

Es ist alles so frisch und so natürlich. Wem die Eisluft das Gesicht rötet, der braucht kein Schminktäschchen. Nur selten verirrt sich ein hypermodernes Exemplar der anderswo im Aussterben befindlichen Gattung Weib hierher, wie es in den Ballsälen verblüfft. Auf dem Chrysanthemumfest des Vereins Ausländische Presse im Adlon gab es noch so eine Französin, die nicht mit Bubikopf, nein, schon mit Stiftekopf, Quartanerschnitt, erschienen war und außer Höschen und Hängerchen, Strümpfen und Schuhen nur noch ein Monocle trug. Dazu wegrasierte Augenbrauen, statt dessen dünnen Tuschestrich bis an die Schläfen. Ein buntes Gewühl aus aller Herren Länder um sie herum. Gesandtschaft hier, Gesandtschaft da. Philipp Scheidemann beim Sekt im Kreise schöner Frauen. Alfred Kerr am Tische des Pariser Matin. Else Heims, Tilla Durieux, Mady Christians. Viele kostbare Stilkleider, alte Spitzen, bemalte Spitzen, völlig entblößte Rücken, aber die Büste bis zum Schlüsselbein verdeckt; man will eben heute nichts Weibliches mehr zeigen. Die Umgangssprache, selbst bei Esten, Japanern, Venezolanern, Bucharen, Polen, Siamesen, Belgiern, allgemein deutsch; nur alle Engländer sprechen selbstverständlich englisch. An der Tombola steht eine Pariserin, die wie eine Berlinerin spricht. Bei diesen Festen der ausländischen Presse ist es mit der Tombola nicht so etwas Reelles wie bei dem deutschen Presseball. Meine Tischdame hat eine Butterdose aus Preßglas gewonnen und rümpft die Nase. "Tauschen Sie doch die Nummer um und suchen Sie sich etwas Besseres aus!", sagt die Hüterin der Schätze. Donnerwetter. Nein, das machen wir nicht, "corriger la fortune" ist nicht deutsch. Es kommt aber hier vor. Ein Kollege gewinnt einen Hauptpreis, freut sich also schon auf das kostbare Abendkleid oder die Mittelmeerreise oder das Stilleben von zwanzigpfündigem Truthahn mit allerlei Delikatessen. Statt dessen bekommt er ein Kinderspielzeug aus Pappe mit frisch aufgeklebter Nummer. Ich äußere mein leises Befremden. Da aber sagt mir die Französin ganz gleichmütig:

"Mein lieber Herr, meckern Sie wo anders lang!"
3. Dezember 1925 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts