"Rumpelstilzchen"

"Mecker' nich!"
(Jahrgangsband 1925/26)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1926

Glossen 7 - 9
29. Oktober bis 12. November 1925


7

Bei Morando - "Echter Kistenlöwe" - Überfremdung von Bühne und Film - Klabund - Der "Kreidekreis" im Deutschen Theater - Im Restaurant Tai Tsien Hen - Reinhardt will heiraten - Sogenannte Renaissancemenschen - In der Ressource - Der Allbeliebte von 40 Jahren

Wenn jemand nur noch sehr wenig auf dem Leibe hat, kann man ihn um so leichter ganz ausziehen. Auf Grund dieser alten Erfahrung machen jetzt wieder die Ausländer bei uns Geschäfte. In einer Zeit, in der sogar der Stinnes-Konzern nach Luft ringt, in einer Zeit, in der die Kreditsperre selbst die solidesten alten Geschäfte erwürgt, können die Fremden sich ausbreiten. Unter den Linden, dort, wo das sündige Berlin sich früher an der Bar Riche zu treffen pflegte, hat jetzt der Signor Morando ein weltstädtisches Unternehmen eröffnet, läßt einen italienischen Tenor, dem leider ein Spaghettiknäul in der Kehle zu stecken scheint, schmalzig "La Donna e mobile" singen, einen deutschen Humoristen internationale Witze erzählen und von Mannequins, die in seidenen Hemdchen im Publikum umherwandeln, die Schuhe und Strümpfe der italienischen Bottina-Werke vorführen, die schon sechs große Filialen in Berlin unterhalten; dazu gibt es nachmittags einen Mokka, abends italienische Gerichte und zu jeder Zeit an der Bar à la Biffi das übliche Mischgift von Getränken. Wir haben also wieder - bis er wegen der Geldknappheit der Berliner eingeht - einen sogenannten internationalen Treffpunkt, wo die Fremden das, was sie einem deutschen Geschäftsmann ausgezogen haben, zum Teil bei irgendeinem gefälligen Mädchen wieder unterbringen können. Wir selber können uns höchstens durch Selbstverspottung über die Lage hinweghelfen; und wir wundern uns gar nicht mehr, wenn irgendein Großkaufmann hysterisch lacht und sagt: "So dreckig geht es uns doch noch nicht, daß wir uns die Finger in der Nase zu wärmen brauchen; und wenn man sich ein Motorboot kauft, kann man sich auf alle Fällle über Wasser halten!"

Nur die Fassade darf nicht verfallen, das ist die Hauptsache. Also auf gute Toilette gibt man etwas, noch bis zu dem letzten Moment. Daher werden noch so viele Pelze gekauft, wenn auch nicht gerade Zobel. Man kann schon einen recht anständigen Eindruck machen, wenn man über "echten Kistenlöwen" verfügt, wie das brave Kaninchen in Berlin genannt wird. Die rotgewordenen Stellen werden mit der Schuhwichsbürste ein wenig aufgearbeitet. Das ergibt wieder fabelhaft stattliche Berliner.

Während die großen werbenden Unternehmungen des Reiches, an der Spitze die deutschen Eisenbahnen, schon längst für das Ausland verbucht sind, während vom Ladengeschäft bis zum Bananenkarren überall auch private Tributstellen sich auftun, sollte doch wenigstens nach alter Überlieferung das Dichten und Denken unser sein, sollten wir wenigstens an deutschem Theater uns erbauen können. Aber da ist alles nun ganz verrückt. Vor ein paar Tagen habe ich einmal festgestellt, daß an dem Abend von 23 Berliner Bühnen 19 Bühnen fremde Autoren spielten, von Shaw über Pirandello bis zu Verneuil; und daß nicht nur in Berlin, sondern in ganz Deutschland zurzeit 65 Prozent sämtlicher aufgeführten Filme amerikanischer Herkunft sind, während wir Deutschen innerhalb dreier Jahre nur 2 - sage und schreibe zwei - deutsche Filme in Amerika anbringen konnten, nämlich den "Letzten Mann" und "Die Nibelungen", das sollten wir doch auch wissen. Ein Volk, das in unserer Lage so hingebungsvoll alles Fremde schluckt, wird selbstverständlich auch Locarno schlucken, sagen sich die Psychologen in den Kabinetten von London und Paris.

Gelegentlich kommt auf unseren Theatern freilich auch noch ein Deutscher zu Wort. Dann aber meist ein "ausgefallener", das versteht sich am Rande. Klabund ist einer von ihnen. Es gibt Gedichte von ihm, die den Erdgeruch der märkischen Heimat atmen, neben genialischen Morgenstern-Phantasien, die seine eigenen Eltern, draußen in dem Apothekerhäuschen in Crossen an der Oder, nicht verstehen; aber im ganzen ist er doch wohl nicht deutscher Dichter männlicher Observanz, sondern eine in ihrer Art weibliche, empfängnisbereite, tief empfindende Seele. Nur wenige Westeuropäer haben so wie er Li Tai Pes Lyrik in sich aufnehmen können. Keiner hat so wie er den furchtbaren Wolfssohn "Pjotr", Peter den Großen, uns hinreißend nahebringen können. Und ich wüßte niemand, der die sanfte Melancholie des Hinscheidens des chinesischen Kaisertums in einer kleinen Novelle so hätte flöten können wie er. Manchmal schreibt er auch etwas Politisches, in dem radikalen Spätabendblatt eines Berliner Angstrepublikaners. Das ist manchmal dummes Zeug. Der übliche Schwulst der Linken, den man Klabund, dem eifrigen Geschichtslerner, eigentlich nicht zutrauen sollte. Und doch liebe ich ihn; denn er ist eine seltsame Begabung. Viele lieben ihn. Kommt da neulich vor der Apotheke in Crossen ein Auto vorgefahren, ein Graf und eine Gräfin sitzen darin, steigen aus, kaufen sich verlegen ein paar Hustenbonbons: ja, sie gestehen es, sie brauchen die Bonbons nicht, sie wollten nur, ach, einmal "Klabunds" Vater sehen, Herrn Apotheker Henschke in Crossen, den prächtigen Menschen mit den lachenden Augen und dem Zucken um den weißen Schnurrbart, von dessen Feuer der Sohn so viel geerbt hat wie von der Güte der Mutter. Ja, viele lieben ihn. Wie die alten Athener ihre großen Denker ehrten, indem sie ihnen freie Verpflegung auf dem Prytaneion gaben, so hat Louis Adlon in Berlin längere Zeit hindurch Klabund als Freigast im Hotel Adlon beherbergt, auch mit den nötigen Flaschen Wein für seine Besucher nicht gekargt. Und als Klabund, der als bescheidener Alfred Henschke ein möbliertes Zimmerchen in der Halleschen Straße in Berlin bewohnte, an einem tuberkulösen Kehlkopfleiden erkrankte, schafften ihn gute Menschen auf ihre Kosten in den großen Heilort in der Schweiz. Aus Davos hat der junge Klabund sich seine erste Frau geholt. Nach kaum einem Jahre starb sie an dem tückischen Leiden, und ihr Kindchen folgte ihr nach. So haben die Schatten sein Leben umdüstert. Aber immer wieder huschten Sonnenstrahlen herein, wurden auch wohl Glut, - und am Lobetheater in Breslau, wo eine phänomenale junge Begabung, Fräulein Neher, für den Dichter erglühte, fand er kürzlich sein zweites tiefes Eheglück.

Aus seinem Versenken in chinesische Lyrik und chinesisches Märchen ist sein "Kreidekreis" geboren, der jetzt endlich auch in Berlin auf die Bühne gekommen ist. Klabund kann nicht chinesisch, er bezieht seine Kenntnis aus zweiter Hand, er liest viel, namentlich französische Übersetzungen, aber die leise Wehmut, die gehauchte Zartheit ergreift ihn. Die Geschichte des sechzehnjährigen Teehausmädchens Tschang Haitang ist ja wohl kein Märchen für europäische Kinder. Unsere Märchenprinzessinnen fangen nicht in einem Freudenhause an, sondern als Gänsehirtin oder Aschenbrödel. Aber der Gelbe im fernen Osten ist anders als wir. Was selbst in gewöhnlichen chinesischen Bauernhütten an obszönen Bildern sich findet, das ist schon mehr als naiv. Also der "Kreidekreis" ist nicht gerade etwas zur Erbauung für unsere höheren Töchter, klingt aber dann, wo ganz unchinesisches Mitleiden dem Dichter die Feder führt, so rührend aus, daß wir von dem Zauber ganz befangen sind.

Noch einmal: so wie Klabund kann kaum einer sich einfühlen. Was uns bisher über Ostasien vorgesetzt wurde, Mikado, Geisha, Butterfly, das ist greuliche Karikatur. Sie beleidigt die Söhne des Ostens, die bezopften wie die unbezopften. Ich hätte nur gern gewußt, was sie zum "Kreidekreis" sagen. Da höre ich aber durch Dr. Chiang von der chinesischen Gesandtschaft, daß dort keiner der Herren sich das Stück angesehen hat. Dann habe ich bei Tai Tsien Hen in der Kantstraße zu Mittag gegessen, von dem Reis und den Chicken Chops mit chinesischen Gemüsen angefangen bis zu der süßen, etwas weichlichen Frucht Li Tschi, aber von den gelben Tischnachbarn war niemand im Deutschen Theater gewesen. Schließlich habe ich noch den Klub der chinesischen Studenten in Berlin - es sind ihrer 82 - aufgesucht, aber auch diese Leute gehen lieber in Variétés und Revuen. Vielleicht lächeln sie, wenn sie den "Kreidekreis" sehen, darüber, wie wir ein chinesisches Märchen empfinden, über das sie selber am Ende längst hinaus sind. Aber doch müßten auch sie von Wort und Bild der Darstellung ergriffen werden, wenn sie solcher Gemütswallung überhaupt fähig sind. Reinhardt hat - diesmal in Gemeinschaft mit Lotte Pritzel, der Puppenschöpferin, die die Kostüme entworfen hat - alles getan, was ein Mann wie er für einen Dichter tun kann. Auch die Begleitmusik von Pantscho Wladigerow läßt die Nerven vibrieren. Und vor allem ist Elisabeth Bergner wie geschaffen für die Figur der Tschang Haitang. So ein verwehtes rührendes Nichts. Das Hinfällige ist ihre Stärke, ihre Schwäche ist ihr Erfolg. Sie hat nur einen Ton in der Kehle, den der Tonlosigkeit; das leise dumpfe Klirren gesprungenen Glases. Aber dieser Wehlaut aus stets belegten Stimmbändern eines dürftigen Geschöpfchens, das nur eine Anmut hat, die der Demut, das gerade macht dem Publikum die Tränendrüsen locker und führt nach dem letzten Fallen des Vorhanges zu dem ekstatischen Gebrüll: "Bergner! Bergner! Bergner!" Ihre Heilige Johanna war ein perverses Experiment und trotzdem von Wirkung auf die Masse, aber im "Kreidekreis" ist sie an der richtigen Stelle, - wenigstens für uns; der handfestere chinesische Geschmack wird wohl kaum seine Teehäuser mit solchen Zerbrechlichkeiten füllen.

Man braucht nicht erst zu versichern, daß auch die übrigen Darsteller zu den ausgesuchtesten Berlins gehören. Der Mandarin Ma, der die bis dahin unberührte kleine Tschang Haitang am ersten Abend ihres Daseins im Teehause für tausend Taels dem Besitzer abkauft, ist eine virtuose Leistung Eugen Klöpfers. Und der jugendschöne deus ex machina, der Kaisersohn Prinz Pao, der die unschuldige kleine Tschang Haitang schließlich aus Halseisen und Galgen errettet und zum Throne erhebt, wird selbstverständlich von Hans Thimig gegeben. Er ist seiner Schwester, Helene Thimig, wie aus den Augen geschnitten. Reinhardt will sie heiraten. Er beschäftigt vorerst die ganze Familie Thimig, Eltern und Kinder. Und er beschäftigt immer noch das Preßburger Gericht mit seinem Ehescheidungsprozeß. Der schmähliche Versuch, seine bisherige Gattin, Else Heims, der Untreue zu bezichtigen, ist mißlungen. Kein Engel ist so rein. Die Frau kämpft um ihren Mann. Und sie kämpft um ein anständiges Unterhaltsgeld für ihre Kinder von Reinhardt, das dieser Talermillionär ihr verweigert hat. Er spielt den Renaissancemenschen. Er hat in einem seiner Schriftsätze die despotische Forderung aufgestellt: "Ich habe der Welt noch so viel zu geben, daß man mich von einer Frau befreien soll, die ich nicht mehr mag!" Erlaubt ist, was gefällt; und wer Macht und Geld hat, der kann sich alles erlauben. So weit sind wir gekommen, daß in einem revolutionierten und republikanisierten Europa solche Grundsätze kanonisch werden, auch wenn sie noch nicht im Strafgesetzbuch stehen. Wie lächerlich klein erscheint uns doch alles, was früher der "herrschenden Gesellschaft" vorgeworfen wurde! Die da heute herrscht, die herrscht weit schrankenloser. Als der rote Schieber und Wüstling Parvus-Helphand starb, pries der ehedem von ihm mit 600 Mark Monatsgehalt angestellte sozialdemokratische preußische Kultusminister Hänisch ihn als Renaissancemenschen, dessen prächtige Wildnatur man verstehen und nicht, wie nun vielleicht ein Konsistorialrat es täte, veruteilen müsse.

Nur wenige Berliner tun zuweilen einen Blick in diese Welt. Man kann ja so abgeschlossen bleiben. Die Großstadt ist vielfach weiter nichts als ein Konglomerat von vielen Kleinstädten, deren gesellschaftlicher Kern mit allem bekannten Drum und Dran die Ressource ist. Ein Geselligkeitsverein. Ein Kasino für das gute Bürgertum. In der Nähe des Schlosses Monbijou, dicht an der Verkehrsbrandung des Bahnhofs Börse, existiert so noch heute die Ressource von 1784, die nur einmal, während der napoleonischen Besetzung, aus ihren althistorischen Räumen verbannt war und auf dem Hof im Stallgebäude sich versammeln mußte. Es gibt eine Menge derartiger Klubs und Logen mit festem Mitgliederstamm noch aus Urgroßväterzeit. Man bleibt sozusagen erblich in seiner Kleinstadt.

Da erscheinen natürlich an jedem Sonnabend im Winter die jungen Mädchen der Kleinstadt in ihrem Tanzkleidchen. Es gibt Vorträge, es gibt Konzerte, es gibt Liebhabertheater, es gibt gemeinsame Essen, es gibt Kränzchen. Es gibt Freundschaften und Liebe, es gibt Klatsch und Intrigen. Und es gibt an dieser vielleicht einzigen Stelle der Großstadt auch noch Tanten mit Riechfläschchen und Migränestift im Handbeutel.

Und es gibt meist einen sehr anregenden Menschen, der alle belebt und alles macht und alles kann. Er ist meist Junggeselle, so um die 40 herum, hat eine eigene gut eingerichtete Wohnung und sein reichliches Auskommen. Nicht so ein windiger junger Kerl mit nischt, sagen die Mütter in der Ressource und sehen ihn gern an ihrem Tisch. Ausdauernd und lebhaft widmet er sich 14 Tage lang einem der jungen Mädchen, schon setzt die Mutter mit klopfendem Herzen und krachendem Korsett sich in Positur, - da sind die zwei Wochen herum und der Wohlsituierte beginnt ein neues Gastspiel bei den Nachbarn. Dieser allbeliebte anregende Mensch von rund 40 Jahren, der Vergnügungskommissar, der vom Schwank "Monsieur Herkules" über Tombola, Schlittenpartie, Kotillon, Mondscheinfahrt hinweg bis zum Vortrag über "Modernen Okkultismus" alles arrangiert, ist für die Kleinstadt und für die Kleinstadt innerhalb der Großstadt typisch.

In Berlin nennt man ihn den Familientäuscher.
29. Oktober 1925 (Donnerstag)


8

Mein Gespräch mit Gotama Buddha - Himansu Rai als "Leuchte Asiens" - Wie Seeta Devis gewonnen wurde - Bismarck als junger Republikaner - Tendenziöser Jugendunterricht - Der korrigierte Götz von Berlichingen - Foxtrott und Florida - Alle sieben Tage Tanz - Frau Fechners Freikarte

Im Hotel Kaiserhof in Berlin sitzt mir der um 480 vor Christo an zu fettem Schweinefleisch verstorbene Gotama Buddha gegenüber. Es ist sehr angenehm, daß seine neueste Inkarnation so wenig den indischen oder gar den japanischen Buddha-Statuen gleicht. Dieser schlanke Mensch in europäischem Gesellschaftsanzug, der ein so elegantes Englisch spricht, etwas langsam, aber akzentfrei, unterscheidet sich wirklich nur durch seine gebräunte Farbe von uns. Die Inder sind Arier: immer wieder kommt uns ihre Zugehörigkeit zum Uradel der Menschheit erschütternd zum Bewußtsein. Manchmal heiratet ein vornehmer Engländer eine Tochter des Landes. Kinder aus solchen Ehen gehören oft zu den berückendsten Erscheinungen unserer Welt, sind von einer so ruhevollen von leiser Schwermut überschatteten Schönheit, daß uns schier bange wird. Dieser Gotama Buddha aber, der mir gegenübersitzt und seinerseits manche Dame von Welt bei uns entflammen könnte, ist nur - auf der Flimmerleinewand der große Religionsstifter aus dem 6. Jahrhundert vor Christi Geburt.

Er ist "Die Leuchte Asiens", die die Münchener Lichtspielkunst-Aktiengesellschaft jetzt zum erstenmal vor uns hat erstrahlen lassen. Im Frühsommer dieses Jahres ist der Film, der die alte Buddha-Legende mit einigen Prunkzutaten erzählt, in Indien selbst gedreht worden, nicht etwa in Neubabelsberg bei Potsdam vor indischen Scheingebäuden aus Pappe und Rabitzputz. Ein deutscher Regisseur und deutsche Photographen der Müncherner Firma haben die Wandelbilder gestellt und aufgenommen, aber sonst ist alles indisch: Dichtung, Kostüme, Darsteller, Szenerie, Elefanten, Musikmotive, ja sogar das Geld für diesen ersten wirklichen India-Film haben zum größten Teil unsere braunen Freunde drüben aufgebracht.

Meinen Buddha im Kaiserhof, Herrn Himansu Rai, habe ich zuerst im neuen Piccadilly-Kino in Charlottenburg bei der Eröffnungsvorstellung gesehen, in der Première auf der Leinewand und dann dankend vor dem Vorhang; dankend und umjubelt. Es ist eine ganz eigenartige Leistung. Das unendlich Ruhevolle auch im Affekt ist ergreifend, so frei von Film-Allüren und Mätzchen sehen wir sonst nicht spielen, und Buddhas junge Gattin Gopa, Seeta Devis, ist eine Verkörperung keuschen Mädchentums, wie sie für uns wirklich fast legendarisch ist. Dazu die Würde der übrigen Darsteller in diesem wahrhaft königlichen Film; der bizarre Reiz der fremden Architektur; die majestätische Gelassenheit der heiligen Elefanten; und das herzergreifende Elend der ausgemergelten Bettler- und Fakirgestalten im Gegensatz zu der im übrigen märchenhaften Pracht, ein Gegensatz, der allein schon den Zuschauer auch aus der Schicht der geistig Unmündigen ahnen läßt, daß auf diesem Boden just der Gotama Buddha erstehen mußte, der seine Majestät hinwarf und zum Tröster der Mühseligen und Beladenen wurde. Nur das Ewig-Unvermeidlich-Filmische stört: die gelegentliche Hast. Was wir da an Reiterspielen und Tierkämpfen sehen, das ist zappliges Europa, denn es hat ein falsches Tempo; mir wird jeder Film durch das erste heranbrausende Pferd verekelt, dessen Beine nicht galoppieren, sondern wie Trommelschlägel wirbeln, und wenn gar Kamele mit Autogeschwindigkeit laufen, tun mir die Augen weh. Aber die Menschen in diesem Film, in diesem indischen Märchen, die sind es, in die wir uns immer wieder versenken können.

Ich kann mir nicht vorstellen, daß es Berufschauspieler sein könnten. Nein, sagt Himansu Rai auf meine Frage, sie sind es nicht. Wirkliche Schauspieler sind in Indien Gaukler, sind "degenerated cast", heruntergekommene Kaste. In der Leuchte Asiens gehören die Hauptdarsteller alle zur ersten Gesellschaft Indiens, haben fast durchweg in Oxford oder Cambridge studiert. Am schwersten war es, die weiblichen Mitspieler aufzutreiben, obwohl man überall verbreitete, daß es sich um ein vaterländisches Werk handele. In mehr als 300 vornehmen Familen hat Himansu Rai angeklopft, bis er für 19 junge Damen die Genehmigung erhielt; und die fünfzehnjährige Seeta Devis wurde von Vater und Mutter ständig begleitet und in keiner Stadt und in keiner Szene aus den Augen gelassen.

Der heutige Buddhismus ist fratzenhaft geworden, ist vielgötteriges Heidentum, finstere Dämonenangst. lächerliches Zeremoniell bis zur Gebetsmühle herunter. Er ist das schon seit zweitausend Jahren. Ich habe in Asien selbst, auf einer Reise vor nun bald zwanzig Jahren, genug davon gesehen, um zu erkennen, daß diese Fratze niemals die klaren Linien des Christentums übermögen wird. Was bei uns in Europa in der Form des "Buddhistischen Katechismus" und anderer Schriften dafür wirbt, das ist gedankliche Abstraktion, hindurchgegangen durch das christliche Klärbecken; nur wissen das die meisten nicht, die in ihrer Seelennot in das Nirwana flüchten. Der Film aber ist keines von beiden, sondern nur schlichte Legende und daher in seiner Einfalt und Schönheit für jedes unverdorbene Gemüt eine solche Erquickung, ein Film, der demnächst ebenso zu den Notwendigkeiten der allgemeinen Bildung auch unserer Gymnasialjugend gehören mag wie die Nibelungen Thea von Harbous.

Wir Älteren schauen nur manchmal etwas verwirrt darein, wenn wir von der nächsten Generation hören, was heute alles zur allgemeinen Bildung gehört. Fast scheint es, als hätten die Hirne jetzt ein von Jahr zu Jahr größeres Fassungsvermögen; oder müßten es wenigstens haben. Leider wird an den Lehrplänen nur immer noch so viel herumexperimentiert, seit den paar Jahren Republik viel mehr, als jemals vorher seit 1892, seit der vom Kaiser angeregten Schulreform, die das Deutsche in den Mittelpunkt nicht nur des Lernens, sondern auch des Erlebens stellen wollte. Der Grundsatz ist ja geblieben. Es wird auch, das fühlt und das sieht man, in unserer Lehrerschaft ganz ungeheuer gearbeitet, nicht zum wenigsten - das sei ehrlich anerkannt - von den demokratischen Elementen in ihr. Aber es scheint, daß uns dabei viel von der vornehmen alten Ruhe verloren geht, von der Objektivität und der Duldung. Wir haben Fanatiker im Lehrkörper, die weniger an ihre humanitäre als an irgendeine politisch-republikanische Aufgabe denken. Obwohl das Gegenteil von den Politikern behauptet wird, waren unsere höheren Schulen früher nie einseitig und unduldsam. Das unwiderleglichste Zeugnis stammt von Bismarck selbst. Seine Gedanken und Erinnerungen beginnt er mit dem Satze:

"Als normales Produkt unseres staatlichen Unterrichts verließ ich Ostern 1932 die Schule als Pantheist, und wenn nicht als Republikaner, doch mit der Überzeugung, daß die Republik die vernünftigste Staatsform sei."

Ja, so war unsere alte Schule bis in die Zeiten des neuen Reiches hinein. Sie war tendenzlos. Nur Urteilsvermögen versuchte sie dem Schüler mitzugeben. Heute will sie ihn tendenziös beeinflussen, soweit Neudeutsche auf ihren Kathedern sitzen. In einem Berliner Gymnasium wird 1813 erwähnt. Und der Herr Studienrat schürzt die Lippen und sagt:

"Der König schlief, und alle, alle kamen!"

Der Giftpfeil sitzt, der Giftpfeil brennt. Die historische Tatsache, daß Friedrich Wilhelms III. "Aufruf an Mein Volk" es war, der die Schleusen öffnete, wird verwischt. Daß der König sonst - sonst - ein Zauderer und Unschlüssiger war, ist natürlich ebenso richtig. Gedankenträge Schüler mögen dadurch verwirrt werden. Die hellen Köpfe aber glühen. Nicht gegen das Königtum, sondern gegen solch einen Lehrer und gegen das neue System überhaupt. Der Haß wird groß. Die wenigsten unserer Schwarzrotgelben ahnen, was für eine Männersaat hier heranwächst. Man will Republikaner formen. Man züchtet aber Faschisten.

Äußerlich ist unseren jungen Leuten von dieser Gärung ja nichts anzumerken. Dank doppeltem Zureden, in der Schule und im Elternhause, haben sie ja auch endlich fast überall die politischen Abzeichen abgelegt. Sie brüten nicht mehr in jeder freien Minute über irgendeiner Feme, sondern gehen äußerlich gleichmütig zu Tanz und zu Bier und ins Theater. Aber auch da stoßen sie immer wieder auf feche Umformung alles uns Altvertrauten. Erneut gärt der Haß. Da wurde in diesen Wochen beispielsweise Goethes Götz von Berlichingen mit Paul Wegener und Lucie Höflich aufgeführt, die gute alte Gesellschaft des gebildeten Mittelstandes strömte hin, Eltern und Kinder einträchtig zu der großen Erhebung. Aber da brennen einem die Wangen vor Scham. Das Goethesche Drama ist stellenweise bis zur Unkenntlichkeit zusammengestrichen, und nicht nur das, sondern der Bearbeiter, nennen wir ihn Herrn Rosenthal, hat sogar neu hinzugedichtet, vor allem eine Bettszene mit Weislingen bei seiner Geliebten. Das ist das Schlimmste, diese Verfälschung überall. Es fehlt jede Ehrfurcht vor vergangener deutscher Größe. Wenn unsere heimgegangenen Geistesheroen sich jedesmal im Grabe herumdrehen wollten, müßten sie nachgerade wie der Propeller eines Flugzeuges rotieren. Mir sanken neulich mitten im Tanzen die Arme schlaff herab, und ich ließ meine baß erstaunte Dame stehen: zum Foxtrott spielte die Kapelle in der Barberina - den Choral "Tochter Zion, freue dich" herunter.

Noch immer beherrscht der Foxtrott das Feld. Alles muß ihm dienen, selbst der Polka-Rhythmus des "Du bist verrückt, mein Kind, du mußt nach Berlin, wo die Verrückten sind, da gehörst du hin". Es gibt zu Beginn jeder Saison neue Tänze, aber sie setzen sich nicht durch. In Berlin wird jetzt der Florida in Tanzstunden exekutiert. Er ist sozusagen Tango-Ersatz für Leute mit schlechtem Gedächtnis, die sich nicht mehr als vier Hauptfiguren merken können. Sonst wird überall im wesentlichen gefoxt. Seit kurzem endlich wieder an allen Tagen der Woche. Berlin hat diese "Revolution" leidlich überstanden, aber nun klagt die Kunst mehr als je, daß ihre Hallen veröden, weil die Tanzfidel lockt. Selbst ein Wesen wie Niddy Impekoven, das nur alle hundert Jahre einmal geschaffen wird, vermag kein Theater mehr zu füllen. Zweimal hat dieses Elfenkind mit den umschatteten großen Augen sich uns wieder geschenkt. Beide Male gähnten große Lücken im Metropol. Die öffentlichen Tanzlokale aber müssen ihren Wettbewerb verstärken, weil die Tanzgelegenheit sich so vermehrt hat. Die jenigen, die früher ein Eintrittsgeld erhoben haben, verzichten jetzt darauf. Und die Folge ? Vor Jahr und Tag konnte ich erzählen [Band 5/Glosse 24 Anm.d.Hrsgb.], daß die beste Gesellschaft bis zu preußischen Prinzen herauf gelegentlich in das Prisma-Kasino gehe. Jetzt hat das Lokal seinen Charakter völlig verändert; es ist überfüllt mit stellenlosen Barmädchen und sonstigen Besucherinnen, die eines Abendbrotes dringend bedürftig sind und nach "Provinzonkeln" Ausguck halten. Ein junger Bankbeamter nickt mir melancholisch zu: Dalles verstehen heißt Dalles verzeihen!

Aber selbst in dieser Zeit der Knappheit gibt es noch gütige, verstehende Herzen. In Schreiberhau lebt, erblindet und kärglich, der Professor Fechner, der einst so bekannte Maler. In Berlin lebt, taub und kärglich, seine zweite geschiedene Frau. Cecilie Fechner, geborene Reuleaux, ist eine bekannte Schriftstellerin, die außer ihrem Tierbuch "Allerlei Rauh" auch verschiedene entzückende Novellen verfaßt hat. Im Theater kann sie kein Wort mehr verstehen; hätte ja wohl auch kaum das Geld dazu. Das erfährt ein Kinobesitzer am Kurfürstendamm - und stiftet ihr eine lebenslängliche Freikarte für seine Flimmerbühne.
5. November 1925 (Donnerstag)


9

Sari Fedak als Antonia - Ofenpester Erinnerungen - Das Wesentliche an der Frau - Ausstellung Rieß - Was verdienen Tanzmädchen? - Pleite überall - Der Gastwirt und die Straßenbahner - Bettler beim Zollernprinzen

Ganz Berlin ist verrückt nach ihr. Sari Fedak heißt sie. Sari Fedak ist die geschiedene Frau - die sechste, glaube ich, oder die siebente - des Schriftstellers Franz Molnar. Die Hauptdarstellerinnen in seinen Dramen hatten immer das Pech, von ihm lichterloh geliebt und dann geheiratet zu werden. Das dauerte alleweil bis zum nächsten erfolgreichen Stück. Sari Fedak war eine brave und temperamentvolle Gattin und hielt noch am längsten stand. Als es zur Scheidung kam, wurde ausdrücklich festgestellt, daß nur ihm Untreue vorzuwerfen war, nicht ihr. Franz Molnar zahlt ihr denn auch eine Abfindung von 30 000 Dollars. Er und sie blieben Lieblinge des ungarischen Publikums. Auf einer Rundreise durch Amerika voll rauschender und auch klingender Erfolge machte Sari Fedak trotzdem ein Minus, weil ihre gerissenen Agenten ihr alles für Propaganda und dergleichen wieder aufrechneten. Sie hat es aber schnell wieder eingebracht. Sari Fedak ist nicht tot zu kriegen. Melchior Lengyels Lustspiel "Antonia" hat sie im Deutschen Volkstheater in Wien 185mal vor ausverkauftem Hause gegeben, während die übrigen Wiener Bühnen gegen den Bankerott kämpften. Und nun ist Sari Fedak die Antonia für Berlin.

Antonia ist die ganz in der Wirtschaft aufgehende Frau eines ungarischen Gutsbesitzers, eine Stunde von Ofenpest, hausbacken und sehr energisch; nicht nur das gesamte Personal, sondern auch der lange Schlingel von Eleve hat einen Heidendampf vor ihr. Nichts erinnert mehr an ihre lustige Vergangenheit vor dem Kriege, wo sie die Gefeierte in den Tanzbars war. Da schneit ein kleiner Backfisch aus Ofenpest plötzlich ins Gutshaus und erbittet Tante Antonias Rat und Hilfe: die Kleine schwärmt für einen vornehmen englischen Überwachungsoffizier und möchte ihn gern aus den Händen einer Lebedame erlösen. Gemacht! Die alte Lust am Siege über die Männer erwacht in Antonia, der warme Herbstabend geht ihr ins Blut, sie wiegt sich in den Hüften und saust für eine Nacht ab nach Ofenpest. Dort macht sie in fabelhafter Aufmachung Furore, singt entzückend französische und englische Chansons und sieht alsbald den interessanten Engländer unterworfen. Unterworfen von der Frau von Geist. Im letzten Akt, wieder draußen, ist Antonia dann erneut - und unbeschmutzt - die treffliche Hausfrau in Bluse und hinten mit Sicherheitsnadel zugestecktem Rock. Alles löst sich ehrbar und zur Zufriedenheit von jedermann. Das ist kurz der Inhalt des Stückes, in dem noch eine Vorkriegsexzellenz, ein gut karikiertes Paar Neureich und andere Figuren die Szene beleben; eine schmissige Sache. Und wie Sari Fedak das macht, dieses unverwüstliche Theaterblut, die schon mit sechzehn Jahren das väterliche Heim, das des Kreisarztes und Gutsbesitzers irgendwo dahinten, verließ und sich das Leben auf der Bühne ertrotzte, das ist fast einzigartig. Allen unseren Damen in herbstlichen Jahren pocht das Herz im Takte mit; und die Männer möchten ihr am liebsten Kußhände zuwerfen.

Natürlich nicht der mit der Reitpeitsche kommandierenden, kolossales Landbrot aufschneidenden, in derben Schuhen einherstampfenden Antonia des ersten Aktes. Auch nicht der ein bißchen wehmütig und weich entsagenden Antonia des letzten Aktes. Sondern der von Lebenslust und Siegerwillen sprühenden, rundum entzückenden Antonia im Hotel Ritz in Ofenpest.

Da ist Sari Fedak in einr ganz unwahrscheinlich berückenden Toilette in Silberlamé. Sozusagen eine strotzende Juno in Stanniol gewickelt. Nicht alles, versteht sich, ist gewickelt. Sari Fedak galt einst als die Inhaberin der schönsten Beine von Ofenpest; und der Schalk sitzt ihr in den Grübchen auf den Schulterblättern und in dem Leberfleck auf der linken Hüfte, wenn er nicht gerade in ihren Händen spielt. Heute sind natürlich auch in Ofenpest die Botticelli-Figuren Mode, aber Sari Fedak ist nicht solch schlankes Dingelchen, sondern eine glutend reife Frau. So wie sie vor dem Kriege drüben als Schönheitsideal galten. Für die ungarischen Frauen in ihrer Vollsaftigkeit war ja damals alle Welt begeistert. Ich machte mal bei steifem Nordwest eine Freiballonfahrt, deren Ziel auszusuchen ich meinen Mitfahrern anheimgestellt hatte; nach der verschiedenen Windrichtung in verschiedenen Höhen und nach der ganzen Wetterlage könnten wir in dem Winkel Berlin-Moskau und Berlin-Korfu jeden beliebigen Ort wählen. "Balkan!" sagten die Herren; eine Dame war, entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, nicht im Korbe. Aber als wir dann am nächsten Vormittag, mit 120 Stundenkilometern Geschwindigkeit in 4000 Metern Höhe, über Ofenpest dahinglitten, traumhaft still und stetig, da kam einem der Mitfahrer das Wasser der Sehnsucht in die Augen. Nix Balkan! Wir wollen nach Ofenpest und zu seinen Frauen und zu seiner Zigeunermusik! Und in das große Hallenbad mit seinen nicht weniger als 40 angestellten Fußverschönerern und dem ganzen berauschenden Luxus, den selbst die altrömischen Thermen der Kaiser Diocletian und Caracalla nicht erreicht haben! Hie Balkan, hie Ofenpest! Heiß ging die Debatte, stundenlang. Wir sprachen über die beiden großen Ausfalltore zum Orient, über Petersburg und Budapest, wo die aufgespeicherte und aufeinanderprallende Lebenslust zweier Hemisphären sich elektrisch entlädt, hier wie dort befeuert von schluchzendem Geigenklang; und am Abend gingen wir im Komitat Temesvar, noch vor der serbischen Grenze, nieder, packten unser Krämchen und fuhren stracks mit dem Schnellzug zurück nach Ofenpest! Reichsdeutsche waren dort immer wohlgelitten, Österreicher weniger. Ein ungarischer Zahnarzt, der gerade von einem Berliner Fortbildungskursus heimgekehrt war und uns auf der Straße zunächst nur flüchtig Bescheid gab, machte den liebenswürdigen Führer - und wir tauchten in Ofenpests lockender Pracht so unter, wie Antonia im zweiten Akt. Wir haben nicht mit vollen Champagnerflaschen nach Pfeilerspiegeln geworfen, was in Petersburg wie in Ofenpest den Höhepunkt bacchantischer Lust bedeutet, aber in tiefen Zügen doch das ganze Parfüm dieser Welt des Genusses eingesogen. Damals war Sari Fedak noch Operettensängerin, nicht Schauspielerin. Damals verliebte sich jedermann in sie als Pagen. Damals konnte Sari Fedak auch noch kaum ein Wort Deutsch. Erst kürzlich hat sie Tag und Nacht ihre Rolle in unserer Sprache studiert; für Wien, für Berlin, vielleicht noch für die eine oder andere deutsche Großstadt, in die sie demnächst mit ihrem Wiener Ensemble wohl kommt.

Sie ist kein junges Mädchen mehr. In der jugendlichen Rosigkeit läßt sie sich gern von der Tänzerin (Ria Thiele) oder von der kleine Pirl (Margarete Koeppke) ausstechen. Aber ihr reifes Spiel macht ihr eben keiner nach und so leicht auch nicht das vollendete Ebenmaß der Figur.

Über das Faszinierende an den Frauen haben jeweils drei Männer natürlich drei verschiedene Meinungen. Was hierzulande oder in Amerika aus Schönheitskonkurrenzen preisgekrönt hervorgeht, das ist doch fast durchweg tote Puppe, gut nur zum Ansehen in dem Bilderblatt. Sprecht zehn Minuten mit diesen Schönheiten oder seht sie auch nur einmal essen oder sich bewegen, so seid ihr gewöhnlich schnell geheilt. Das Wesen einer Frau liegt nie in ihrem Bilde, sondern immer erst in ihrer Bewegung; sonst hätte Eleonora Duse auch nicht mit ihrem grauen Haarschopf so hinreißend die Cameliendame spielen können. Der Maler, der aus vielen langen Sitzungen den Querschnitt zieht, kann wenigstens versuchen, eine Frau in ihrem Innersten zu erfassen. Dem Photographen, der auf eine zufällige Sekunde angewiesen ist, gelingt es fast nie. Er beschränkt sich daher meist, da er meist dafür bezahlt wird, auf das Verjüngen, und so bekommen wir völlig charakterlose geleckte Bilder. Auch da läßt sich noch einiger Geschmack zur Not entwickeln. Jahrelang ist das Atelier Bieber, in dem die Hofgesellschaft ihre Bestellungen zu machen pflegte, in Berlin bevorzugt gewesen, jahrelang ist auch das Atelier Sandau, dem eine gewisse hauchartige Eleganz der Aufnahmen nachgerühmt wurde, von den obersten Fünftausend viel benutzt worden. Jetzt hat mit keckem Zugreifen, durch eine Ausstellung im Gemäldesalon Flechtheim, die Photographin des Kurfürstendamms, Frau Rieß, den Nachweis versucht, daß ihr Handwerk doch eine Kunst sei. Sie ist die Bildnerin des bedeutenden Kopfes, sie stürzt sich mit geblähten Nüstern auf jedes Opfer, das ihr lohnend erscheint, - und in der Tat, sie erhascht manchmal, wie ein Blitz, das Wesen eines Menschen, dem sie mit ganz raffinierten Schattenwirkungen naherückt. Da sehen wir Staatsmänner, Gelehrte, Finanzaristokraten, Künstler und Frauen, Frauen, Frauen. Aber bei den meisten kommt doch der heimliche Spießer heraus; und wo Bedeutung erscheint, so bei einem an Professor Mommsen erinnernden Denkerhaupte, da ist sie gewaltsam gemeißelt. Über zwei nichtssagenden Köpfen der Tilla Durieux sieht man zwei andere Aufnahmen, zwei weibliche Ganzakte, ohne Namen, nur als "Studie" bezeichnet, in phantastischer Verrenkung, dunkel huschend wie ein Nachtmahr. Ich möchte fast wetten, daß auch das - Tilla Durieux ist. Das ist, sei es, wer es sei, das Weib ohne Maske. Aber nicht jedes Weib kann und will sie abwerfen; und daran scheitert der Photograph.

Sein Bestes darf er vielleicht auch gar nicht ausstellen. Das Beste ist keusch und verbietet die Preisgabe an profanierende Blicke. Was man in den unzähligen Tanzkabaretts von 9 bis 1 zuerst als Pieretten, Holländerinnen, Hawaians und zuletzt meist als "Marmorplastiken" hüllenlos sieht, das ist doch armselige Marktware, ganz aufgehend in der Hatz um das tägliche Brot, dankbar schon für jedes gespendete Kalbskotelett. Solch ein Hascherl hat nur erlogenen Glanz in den Augen; und muß sich nachher wohl noch allabendlich an der Bar den Magen an Alkohol verderben, weil der Wirt das Animieren der Gäste verlangt. Dieses ganze Volk, das allmonatlich die Tanzstätte wechselt, seine Kostüme und die Reisen bezahlen muß, lebt nie in Hotels, sondern zu Hauf in bescheidensten Privatquartieren. Gewiß, an vornehmen Variétés gibt es für gute Kräfte auch gelegentlich hohe Honorare. Aber die kleinen Amüsiermädchen bekommen im Durchschnitt nicht viel mehr als 8 Mark täglich, in besonders schäbigen Kabaretts auch wohl gar nichts, so daß unter der Schminke das heulende Elend kämpft. Das meiste müssen sie bei der Vermieterin lassen, die ständig derartige Gäste beherbergt: in dem einen Monat in zwei Stübchen die sechs Tanzgirls, im nächsten die vier japanischen Jongleure, dann in denselben Zimmern zur Abwechslung dressierte Schweine und Kakadus. In Berlin sind die Friedrichstadt und noch mehr der Norden voll von solchen Quartieren.

"Was wollen Sie," sagt der Kabarettwirt, "wir sind ja sowieso alle pleite!" Und seufzend geben die Tanzmädchen das zu. Sogar der Schwarze Kater, der den witzigsten Konferencier Berlins besaß, hat nun endgültig vor den Gerichtsvollziehern kapituliert.

Auch der "solide" Geschäftsmann schwebt von einem Tage zum anderen in Ängsten. Der Wirbel ist rasend, Geschäfte entstehen und vergehen. Wo gestern noch in der Königgrätzer Straße die "Bücherstube der nationalen Jugend" stand, da werden heute Räucherfische verkauft; und ist doch schon drei Häuser weiter eine Räucherfischhandlung da. Einer pfropft sich immer auf den anderen, an die Bedürfnisfrage denkt kein Mensch, die Zahl der handelsgerichtlich eingetragenen Firmen verdoppelt sich in Berlin alle 5 Jahre, während die Bevölkerung fast stationär bleibt.

Besonders allüberall die kleinen Kneipen, Cafés, Konditoreien, Gastwirtschaften sind fruchtbar und vergehen auch wieder wie die Eintagsfliegen. Jeder kleine Mann mit ein bißchen gerettetem oder gepumptem Geld glaubt das Zeug dazu zu haben. "Wer nichts wird, wird Wirt!" pflegte man früher zu sagen. Da siedelt sich in der "guten" Gegend eines Trambahndepots am Kreuzberg solch ein Mensch im Vertrauen auf das Neue und auf die Kochkunst seiner Frau wieder an. Am ersten Tage geht es glänzend. Jeder Nachbar will die Leute kennenlernen. Das Bier strömt, das letzte Hackfleisch wird verzehrt, Eisbein muß beim Schlächter nachbestellt werden. Am zweiten Tage ist es ebenso.; man ist im ganzen Viertel barmherzig und will den neuen jungen Leuten "Mut machen".

Dann wandert alles allmählich wieder zu den alten Wirten ab. Nach vierzehn Tagen grimmer Sorge stolpert aber doch auf einmal eine Anzahl von Straßenbahnschaffnern herein. Ein Helles. Einen Kognak. Noch einen. Zwei Helle. "Was haben Sie denn zu essen ?" Geringschätzig wird der karg besetzte Ladentisch gemustert. "Ist der Hering auch frisch ?" Jawohl, versichert der Wirt eilfertig, ganz frisch.

Da hebt einer der Gäste den Hering empor und zeigt ihn herum:

"Guckt emal, janz frisch, saacht a, un da im Schwanz da is noch det Loch zu sehn, wat ick vor zehn Dage heimlich mit de Zange ringeknipst habe!"

Brüllendes Gelächter. Die Gäste stolpern wieder hinaus, für lange Zeit die letzten. Die Geschichte spricht sich schnell herum im Viertel. Nun ist man ebenso grausam, wie vorher mitfühlend. Wochenlang kommt kaum ein Mensch. Und heute hat der Wirt sein letztes Geld verloren und geht buchstäblich betteln.

Die Scham, mit der das früher wohl geschah, ist verlorengegangen. Die Zudringlichkeit der Bettler wächst. Am meisten werden, brieflich und persönlich, alle Männer des "alten Systems" heimgesucht, der ehemalige Kriegsleutnant und Kompagnieführer, der alte Justizrat, der frühere Rektor, der Prinz aus dem Hohenzollernhause. Wer da ein so gebefreudiges Herz hat wie beispielsweise Prinz Oskar von Preußen, der ist verloren. Der Prinz, der mit seiner glücklichen Familie eine nette kleine Villa in Potsdam bewohnt, in geregelten Verhältnissen lebt und auch genügend Bedienung hat, obwohl er täglich auf dem Fahrrade im gestickten Pompadour die Frühstückssemmeln selber vom Bäcker holt, wird vielleicht am meisten überlaufen. Da kommt neulich ein schäbig gekleidetes Ehepaar an und möchte den Prinzen sprechen. Nein, die Herrschaften seien gerade beim Mittagbrot. Mm, mm! Die Beiden ziehen den Duft durch die Nase, bleiben stehen, obwohl der Prinz ihnen auf den Bericht des Mädchens hin 5 Mark heruntergeschickt hat, und sagen, na, ein bißchen präpeln könne man ja wohl, nich ? Sie futtern für dreie. Nachher sagt der Mann, nachdem Suppe, Fleisch und Gemüse, Kompott verzehrt sind: "Na, Fräulein, warum so popelig, ich denke, bei feinen Leuten gibt's nachher noch Mokka ?", und bedankt sich bei dem Prinzen Oskar, der nun selber den skurrilen Kauz sich ansehen will, nur flüchtig für die 5 Mark. Ob der Prinz nicht noch ein paar alte Stutzen für ihn habe. Nein, es seien nur neue da. "Na, dann können es ja auch neue sein!" Überwältigt von der Dreistigkeit stiftet Prinz Oskar auch noch die baumwollenen Stutzen und freut sich wenigstens, als das Ehepaar nun erklärt, sie seien Scherenschleifer, draußen stehe ihr Apparat, und sie wollten gerne alle Messer und Scheren im Hause, die stumpf geworden seien, wieder schleifen. Solche Erkenntlichkeit ist doch nett. Man gibt den Leuten die Sachen und sieht ihrem schnurrenden Rädchen und den sprühenden Funken zu.

Als alles fertig ist, kommt der Mann wieder herein und sagt:

"Die Rechnung macht elf Mark!"
12. November 1925 (Donnerstag)


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