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Ausflug in den Schnee - In der Tanzbar zur Modeschau - Das Schönheitsköfferchen - Tutti Fertig - Auf Arbeitssuche - Der grantige Berliner - Vom Lachen - In der Reichsdruckerei - Maschinenmenschen - Der vergnügte Bombenoffizier.
Wem Gott will rechte Gunst erweisen, dem gibt er, wenn es ein Großstädter ist, auch einmal im Winter vier Tage Urlaub und bläst ihm reine süße Schneeluft in die Lungen.
Die beiden jungenTerrier purzeln durch die weiße Pracht daher und blaffen am Gartenzaun. Sie heißen Calorius und Vitamine. Sicherlich hat Tante Agathe sie so getauft; das sähe ihr ähnlich. Wer Tante Agathe ist ? Vor ein paar Jahren habe ich von ihr und ihrer Schwester, den beiden Damen du Bois in Oberschreiberhau, erzählt. [5. Band/Glosse 17] Jetzt ist die Pension du Bois umgezogen, in eine Villa, die Hindenburgs Neffen gehört. Wem das Glück gut ist, der bekommt hier wohl gar das Zimmer angewiesen, in dem der Feldmarschall selbst, wenn er die Verwandten besuchte, zu hausen pflegte. Ob diesmal wohl Berliner da sind, am Ende Bekannte, von denen man nicht loskommt ? Gott sei Dank, nein. Verschiedene nette Leutchen aus Schlesien; eine glühend nationale Studienreferendarin aus Ostpreußen; ein Oberstleutnant a.D. aus Jena; eine Dame aus Chemnitz von fabelhaftem Gesichtsschnitt und fabelhaftem Kleiderschnitt, eine wohltuend sympathische Erscheinung. Also alles da, vom guten gebildeten Mittelstand bis an die Grenze der oberen Fünfhundert, aber alles lieb und unaufdringlich, nichts aus Berlin.
Wer Berliner zu Hauf sehen will, der kann dies am Spätnachmittag um neuen Café Tilly haben, wo natürlich getanzt wird. Lauter Knickerbockerpaare, wie überall in deutschen Wintersportplätzen. Damen in Höschen können entzückend wirken, auch im modernsten Teagown, genannt Pyjama; Damen in Hosen aber gehören nicht in den Tanzsaal, sondern auf den Sportplatz oder ins Bergwerk. Es ist keine sehr ästhetische Angelegenheit. Die Damen überschätzen meist den Reiz ihrer Konturen.
Wieder einmal habe ich feststellen können, daß man sich durch die telegraphische Wettermeldung, in Oberschreiberhau taue es, nicht beirren zu lassen braucht. Nun ja, es stimmt, es ist Matsch. Aber ein paar hundert Meter höher ist die Winterfrische schon köstlich. Und man kann je nach Bedarf seinen Tagesaufenthalt, ehe man vor Dunkelwerden zu Tal saust, immer wieder um etliche hundert Meter vorverlegen. Das Riesengebirge ist ja hoch genug. So in 1400, 1500 ist das große Aufatmen da und die jauchzende Lust. Das haben auch Leute erkannt, denen man es früher nie zugetraut hätte. Die Witze über gewisse Leute, die nur vor dem Kurhotel ihre Sportdreß mit Bügelfalte zeigen, sind einigermaßen veraltet: auch Fräulein Rosenblüth und Frau Mandelbaum tummeln sich hoch oben auf Ski und Rodel, während mancher teutonische Bierbauch, nachdem er in Berlin den Trockenkursus mitgemacht hat, in Schreiberhau nur der inneren Befeuchtung obliegt, und zwar nicht nur mit dem sogenannten Skiwasser, der bekömmlichen Mischung von Himbeer und Zitrone, sondern auch mit schärferen Getränken. Wenn der Brave doch nur wüßte! Wenn er wüßte, wie unbeschreiblich schön es ist, auf blütenweißem Schnee sich trunken zu sehen statt trunken zu trinken, mit dem Wolkenmeer unter sich und dem leuchtenden Grün und Orange des Späthimmels über sich. Da kann man schon vor Begeisterung ins Taumeln geraten. Hui! saust eine Dame auf ihren Skiern von der Schneegrubenbaude herunter und pariert vor uns in scharfem Telemark. "Haben Sie nicht einen Herrn in Norwegerdreß gesehen ? Ich habe meinen Herrn verloren!" Bedaure; ich habe viele gesehen, aber kaum einen unbeweibten. "Schön, aber wenn mich einer sucht, ich fahre ab ins Böhmische über die Wossekerbaude!" Hui und Pardauz: da liegt sie im weichen weißen Gestäube. Rappelt sich aber lachend wieder auf und entgleitet in windschneller Fahrt. Am selben Abend schicke ich ein Knittelalphabet über alles Gesehene an liebe Leute in Berlin und notiere unter P:
"Im Pulverschnee liegt kunterbunt, |
Noch vollgeschneit frühmorgens in die Eisenbahn. Fenster auf! Ich ersticke! Bis zum letzten Augenblick, solange noch Bergluft da ist, will ich sie einsaugen. Görlitz, Kottbus, Berlin. Au verflucht. Morgen sitze ich schon wieder bei der gewohnten Schreibtischarbeit. Heute akklimatisiere ich mich in der "Königin" auf dem Kurfürstendamm. Nachmittagstee. Vier Tage lang habe ich keine getünchten Lippen mehr gesehen, nur von Schneewind rosige Wangen. Da kriege ich es nun reichlich. Muskelkater ? Nein! Aber es ist zum Übelwerden, wie die kleine Amerikanerin vor mir den Zeigefinger in ihr BüchschenRot taucht und sich dann den Cupidobogen der Oberlippe neu betupft. Ihr Putzlappen - Verzeihung: ihr Taschentuch - sieht wie eine Krebsserviette aus. Sie wirft das Tüchlein auf den Tisch, es streift die Schlagsahne auf dem Teller. Pfui Teifi. Und drüben in der Ecke produzieren zwei deutsche Frauen sich ähnlich. Es ist wirklich höchste Zeit, daß da auch wir Männer zeitgemäß werden, ein Schönheitsköfferchen bei uns tragen und sofort auf dem Tisch auspacken und gebrauchen: Nagelreiniger, Rasierseife, Haarwasser. Gründen wir einen Verein "auf dem Wege zu Kraft und Schönheit". Ehrenmitglieder werden ältere Herren, die über ein Muttermal auf der Backe verfügen, dann im Restaurant oder Tanzsaal ein Spiegelchen hervorholen und mit der Pinzette sich die sieben Haare auszupfen.
Die Tasse Kaffee und die beiden kleinen Kuchen kosten 5 Mark. Aber man kriegt noch eine Losnummer dazu. Einer kann ein Damenkleid für 200 Mark gewinnen. Es ist gerade, wie an jedem Mittwoch, in der "Königin" Modeschau; eine Sache, der man nachgerade nirgends in Berlin mehr entgehen kann. Aber das Kleid für 200 Mark ist bestimmt nicht darunter. Paß auf, man dreht dir morgen in der Firma, wenn du mit deiner Gewinnummer kommst, eins für 500 Mark an, und den "Rest" kannst du zuzahlen. Die präraphaelitisch schlanken Vorführdamen, die Mannequins, deren Formen, wenn sie welche hätten, durch die hauchzarten Gewänder sich abzeichnen würden, werden noch mehr beäugt, als ihre Toiletten. Am Ende ist die nächstjährige "Modekönigin" heute in der "Königin". Die diesjährige, Tutti Fertig aus Torgelow in Pommern, hatte bei der Wahl eine starke Gegnerschaft, aber ihre Firma, Gerson, schaffte es doch. Ich bin immer gegen das Wahlkönigtum gewesen, denn das ist immer eine parteiische Sache.
Womit nichts gegen Tutti gesagt sei, denn Tutti ist zwar lange nicht das schönste Mädel in ihrem Stande, aber sicherlich eines der zielbewußtesten. Ihre Eltern sind achtbare Leute, hatten früher in Pasewalk ein Restaurant, dann in Torgelow einen Gasthof, zu dem auch die Badeanstalt gehört, in der Tutti sozusagen großgeworden ist, und sind jetzt Mitbesitzer einer Eisengießerei, ohne aber irgendwo auf einen richtig goldenen Zweig gekommen zu sein. Ob es deshalb ist, weil der Vater ein Original ist, plattdeutscher Heimatdichter ? Manches nette und humoristische Geschichtchen oder Gedicht aus seiner Feder ist schon veröffentlicht worden. Die Fertigs haben einen Sohn im Felde verloren, der zweite kam, auch mit 19 Jahren, bei einem Kopfsprung in der Badeanstalt hart auf den Grund und starb ein paar Tage später an Gehirnentzündung. Da freuen sich die Eltern nun doppelt über den Erfolg der Tochter und sind mit ihrem Mannequin-Berufe auch endlich ausgesöhnt. Die gekrönte Tochter! Schon daheim als Kind war sie immer vorneweg, und unter ihren Freundinnen hieß es: "Wenn Tutti nicht dabei ist, dann ist auch garnichts los!" Immer lebhaft, immer lustig, immer anregend, halbe Nachmittage wie ein Fisch im Wasser, an dem Abend flink bei der Nadel, nie ganz zufrieden mit ihrem Werk und stets erfindungsreich, oft mit einer Backpfeife von der hübschen und statiösen Mutter bedacht, wenn Tutti immer noch schönere Sachen haben wollte. Also Tutti Fertig lernte schneidern, kam auf ein Gut, wurde Stütze in einem Hotel in Heringsdorf, dann Haustochter in Berlin, schließlich nahm sie eine Bureaustellung an: aus dem frischen Landkind, das noch heute gern Platt spricht, war allmählich eine junge Dame beinahe von Welt geworden, die vor einem Teller Artischoken oder Austern nicht mehr rot wird und in Gesellschaft schlagfertig zu antworten und ihre Position zu wahren weiß. Ihre eigentliche Begabung, den Schick eines Kleidungsstückes zu unterstreichen und begreiflich zu machen, konnte sich dann beim Übergang in einen Modesalon auswirken. Und wiederum war diese strebsame Tutti Fertig abends nicht faul, sondern lernte Englisch und Französisch mit wütender Energie, um auch ausländischen Kundinnen gegenüber nicht auf den Dolmetscher angewiesen zu sein. Nun hat sie sich durchgesetzt. Nicht das Frätzchen, nicht das Lärvchen macht's, obwohl auch das dazugehört, sondern der Wille. Bisher haben noch alle Modeköniginnen "ihr Glück gemacht", auch der von 1928 wird es wohl kaum fehlen. Vielleicht kann sie einmal - ihr Mienenspiel scheint ja beweglich genug zu sein - ihr eigenes Leben filmen und dadurch auf der Flimmerleinwand jüngeren und noch nicht erfolgreichen armen Mädchen zeigen, welche Wege zum Aufstieg es noch immer gibt, wenn man sich regt und wenn man schafft. Bei der Wahl hat ein großer Teil des nicht firmagebundenen Publikums sich für eine Konkurrentin entschieden, eine zarte poetische Erscheinung, während Tutti Fertig eine sogenannte königliche Figur hat, aber die Preisrichter verliehen der Majestät die Majestät und haben schließlich keinen schlechten Griff getan, denn als Vorführdame ist Fräulein Fertig wirklich ein Talent, und ihrem Streben ist die übliche 1000-Mark-Prämie und die Krönung, die fast immer Karriere bedeutet, wohl zu gönnen. Ihr erster Gedanke dabei galt den Eltern. "Die haben so viel Kummer wegen der beiden Jungens gehabt, nun macht ihr Mädel ihnen eine große Freude!"
Nicht jedes Mädchen, nicht jeder junge Mann ringt sich durch in Berlin. Hier, wo alles zusammenströmt, sind die Erwerbsmöglichkeiten meist noch geringer, als draußen im Lande. Die Arbeitslosigkeit in der Hauptstadt hat jetzt wieder stark zugenommen. Der Daseinskampf ist härter, erbitterter als anderswo. Wenn, früher als die Gesamtausgabe einer Berliner Zeitung, ihr Stellenmarkt herauskommt, dann sieht man Hunderte blasser Menschen vor den Verlagshäusern, die nach dem Blatte haschen, es eilends überfliegen und dann davonflitzen, davonstürzen, irgendwohin zur nächsten Adresse, wo Arbeit winkt. Das ist nicht mehr die Jagd nach dem Glück, sondern nach dem kärgsten täglichen Brot. Wer sich unter diese Stellensucher mischt, der liest aus ihren Mienen, der hört aus ihren Gesprächen ganz andere Schicksale heraus, als es das der sieghaften Modekönigin war. Und man ist in Berlin so gräßlich allein. Die Gutherzigkeit ist auch hier vorhanden, aber nicht so breit und behaglich wie in der Kleinstadt. Schneller als anderswo fliegen einem in Berlin die Türen vor der Nase zu; und wenn man als Arbeitsuchender kommt, atemlos angerannt kommt, ist meist das Treppenhaus schon voll von Artgenossen. Das zermürbt, das macht nervös. Auch wer zu den endlich Arrivierten gehört, sich seinen Platz im hauptstädtischen Erwerbsleben erkämpft hat, der hat es gewöhnlich mit seiner inneren Ruhe und Ausgeglichenheit bezahlt: er ist "grantig" geworden. Wenn dem Berliner, oft nicht mit Unrecht, die Gemütlichkeit abgesprochen wird, die andere Deutsche haben, so liegt das großenteils an dieser Unrast, die ihn vorzeitig aufgerieben hat. Dann ist er auch draußen unleidlich, mäkelt an allem, giftet sich. "Ober, um 8 Uhr 10 wecken!", sagt er drohend, wenn er am Abend irgendwo in einem Hotel einer gemütlichen deutschen Gegend angekommen ist. Nun wacht er schon um 7 Uhr 30 von alleine auf. Er erhebt sich nun nicht etwa, um nachher, wenn es klopft, freundlich zu rufen: "Danke, bin schon wach!" Nein, er bleibt bissig liegen und stiert auf die Uhr, gereizt und angriffsbereit. Er ärgert sich schon im voraus über die sicher erwartete "provinzielle" Unzuverlässigkeit. 8 Uhr 10! Ha! Niemand kommt. 8 Uhr 11! Da schlage einer lang hin. 8 Uhr 12! Jetzt zählt dieser für eine gewisse Sorte typische Berliner schon die Sekunden. 8 Uhr 13! Jetzt klopft es. Der nervöse Hotelgast tut, als platze er vor Wut, er schimpft über Schlamperei, er kommt mit finsterer Miene zum Frühstück und verlangt den Geschäftsführer oder das Beschwerdebuch. Es sei denn, daß unterwegs auf der Treppe das frische Stubenmädchen ihn fröhlich anlächelt. Ein Lächeln kann viel. Dann hat auch er manchmal "Sonne im Herzen".
Das Lachen ist seltener in Berlin, als diejenigen annehmen, die Berliner Witze erzählt bekommen. Draußen im Lande blüht es bei jedem "Grüß Gott!" auf allen Wegen auf. Berlin ist eilig, Berlin ist ernst, solange gewerkt wird, und erst nach Feierabend tauen seine Bewohner etwas auf. Ich bin dieser Tage in der Reichsdruckerei gewesen, um mir ein dort vervielfältigtes, bis vor kurzem unbekanntes Bild Bismarcks von 1847 anzusehen, und habe dabei auch einen Blick in einige Arbeitsräume werfen können. Auf die Maschine, die täglich 1 600 000 Postkarten herstellt. Auf die Maschine, die in jeder Minute 16 000 Briefmarken ausspeit. Da gibt es allerlei technische Wunder, die manche Menschen "erhebend" nennen. Aber oben an jeder Maschine steht ein menschliches Wesen, selber zur Maschine geworden, das nach jeweils nicht ganz 3 Sekunden immer wieder einen neuen unbedruckten Bogen einlegen muß. Das sind rund 10 000 völlig gleiche Armbewegungen an jedem Arbeitstag. Da kann man nicht scherzen und lachen. Da hat es jeder besinnliche Handwerker, der etwas fertig werden sieht, der Glasbläser, der Schuhmacher, der Schneider, der Töpfer, der Tischler, doch tausendmal besser. Da ist der Bauer, der von der Aussaat bis zur Ernte das Werden und Wachsen erlebt, trotz aller harten Arbeit und heute materiellen Not doch glücklich zu preisen. Und der geistige Arbeiter aller Berufe, der Gedanken formt, kann seinem Schicksal dankbar sein. Er kann lächeln, er kann lachen; darunter leidet nicht das Werk. Aber wer am Tage an der Maschine 10 000 mal in gespannter Aufmerksamkeit die gleiche Bewegung gemacht hat, der braucht dann nach Feierabend auch wohl eine stärkere Auslösung: er möchte nicht lachen, er möchte wiehern, um alles zu vergessen.
Im Kriege sind wir sicherlich ernst gewesen. Aber wir haben auch herzhaft gelacht. Es gab selbst Theologen als Frontkämpfer, die unbesieglich die Sonne im Herzen trugen. Da war der Pastor v.Nathusius, Bombenoffizier auf einem Marineluftschiff, der ist mit seligem Lächeln gestorben. Er war immer froh. Und solange er noch lebte und oben bäuchlings an seiner Bombenklaviatur lag, sang er, wenn er auf eine Taste drückte und eine Bombe abwarf, immer laut und fröhlich: "Was kommt dort von der Höh'".
19. Januar 1928 (Donnerstag)
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Onkel Konrad - Vom trockenen Amerika ins feuchte Berlin - 1923 und 1928 - Berlin gefällt den Ausländern - Die Konkurrenz im Vergnügungsbetrieb - Piscator - Moderne Stammbuchverse - Wäsche-Inventur, Gänse-Inventur - In der Hilfsschule.
>Onkel Konrad aus Amerika ist wieder da.
Aber, was Sie denken, ist nicht. Er ist weder Schweinefleisch-Millionär noch Inhaber des Weltrekords im Kaugummi-Weitspucken. Er ist ein richtiger deutscher Onkel, und unsere inzwischen herangewachsenen Kinder sollen nicht einmal Onkel zu ihm sagen, denn so alt, meint er, sei er denn doch noch nicht. Es ist ein diebisches Vergnügen, im Münchener Hofbräu am Askanischen Platz einfach "Prost, Konrad!" zu sagen, statt abzuwarten, bis der Onkel einem zutrinkt. Und er hebt recht gern den Schoppen. Im trockenen Amerika muß man, um die Behörde nicht zu ärgern, geistige Getränke, die man überall bekommt, aus Tassen schlürfen; man nennt das "weißen Kaffee" in dem großen Laden des Hokuspokus. Natürlich hat das vollkommene Alkoholverbot in den Vereinigten Staaten Erfolg gehabt, wenigstens eine Änderung hervorgebracht: früher war Trinken dort ein Laster, heute ist es dort ein Sport, dem auch junge Mädchen spitzbübisch aus Widerspruchsgeist frönen. Nach der abendlichen Billardpartie im Speisezimmer bei uns trinkt Onkel Konrad auch wohl gern ein Glas Wein, aber er ist mäßig wie wir; nur die Freiheit im alten Vaterlande freut ihn. Er hat kurz vor Weihnachten eine angenehme Überfahrt in nur 6 Tagen auf der "Berengaria" - unserem früheren deutschen "Imperator" - gehabt. An der Heizung in den Kabinen steht noch "auf" und "zu", und die Unter- und Ober-Betten sind noch mit "U" und "O" bezeichnet. Die Amerikaner und die Engländer fühlen sich fabelhaft wohl auf den geklauten Riesenschiffen, auch auf Leviathan-Vaterland und Majestic-Bismarck, werden aber wohl bald merken, daß die unter deutscher Flagge fahrenden ganz neuen Nachkriegsschiffe - noch komfortabler sind. In Newyork stieg ein Kabinengenosse aus Chicago mit Onkel Konrad an Bord, ein wildfremder Amerikaner, der ihm trotzdem sofort sein Alles zur Verfügung stellte. Früher pflegte man bei uns zu sagen, drei Dinge dürfe der Gentleman, wenn er einer sei, nicht verpumpen, nämlich seine Zahnbürste, seine Flinte, seine Frau. Darum handelte es sich hier aber nicht. Der Amerikaner zog nur sofort seine "hip flask" hervor, die Hüftflasche, die Whiskyflasche aus der Gesäßtasche, von dort her, wo wir deutschen Männer unser Geld zu tragen pflegen, und widerlegte so noch im letzten Augenblick das Gerede von der Trockenheit Amerikas.
Onkel Konrad, der hagere liebe Junggesell, schlank und elegant, hat die längsten Beine in der Familie. Das ist uns 1923 sehr zustatten gekommen, als er das vorige Mal ein paar Monate bei uns war. Damals, als es alle paar Tage einen Korb voll Millionen Papiermark gab, mußten alle Hausgenossen sofort auseinanderspritzen, um dafür einzukaufen, ehe die Millionen, schon einige Stunden später, ihren Wert verloren hatten. Auch die Kinder rasten nach Margarine, nach Zucker, nach Eiern, nach Wurst, nach Mehl. Von dem verfluchten Papier konnte man doch nicht leben. Damals brannte in unseren Straßen nur jede fünfte Laterne, fiel der ganze Hausputz ab, streikte immer wieder die Müllabfuhr.
Der lange Onkel findet jetzt Berlin einfach herrlich.
Der Kurfürstendamm und andere Straßen, sagt er, seien schöner und breiter als die fünfte Avenue in Newyork. Die Beleuchtung der ganzen Stadt besser als die Londons, wo er die ersten Januarwochen verbracht hat. Auch sei Berlin sauberer und freundlicher als die amerikanischen Städte; das versichern uns ja übrigens auch Bürgermeister von drüben. Der Berliner Flughafen aber habe überhaupt nicht seinesgleichen in der Welt. So etwas hört man gern, und ganz besonders die Anerkennung, die den Menschen dieser Stadt gilt: die Männer arbeiteten wieder mit der alten deutschen Zähigkeit, die Frauen bestünden gut neben den elegantesten des Erdballs. Wer aus dem langweiligen London käme, der wundere sich vor allem über das "Saure Wochen, frohe Feste", über diese fabelhaften Amüsiermöglichkeiten in Berlin.
Das mag schon alles stimmen, nur merkt das der fremde Besucher natürlich nicht gleich, daß auch der Vergnügungsbetrieb etwas Fieberhaftes hat, Kampf ums Dasein ist. So alte Stätten des Sichauslebens wie Palais de danse und Pavillon Mascotte haben in diesen Tagen ihre Pforten für immer schließen müssen. Der Faun des Westens taufte sich in Pierrot um, um mit dem neuen Namen besser zu ziehen, heißt seit zwei Wochen Krummer Spiegel und im Februar vielleicht wieder anders. Das Charlott-Casino kann sich ebenso wie das Kabarett der sogenannten Komiker im wesentlichen nur noch durch den Nepp am Leben erhalten: für einen angeblichen Champagner-Cobbler, richtig ein Glas Zuckerwasser mit Eisstückchen, Zitrone und ein paar Süßkirschen, zahlt man mit Bedienungsaufschlag im Casino 6,05 Mark. Die Konkurrenz ist riesengroß; wir haben zu viele Amüsierlokale, und das Publikum will keine Zeche machen. Den Lokalinhabern graut vor dem Unkostenkonto. In der Tanzdiele über den Wilhelmshallen liegt auf jedem Platz ein gedrucktes Kärtchen, wonach derjenige Gast, der - etwa durch eine achtlos hingelegte Zigarette - ein Loch in das Tischtuch brenne, das ganze Tischtuch zu bezahlen habe. Mit Riesenreklame schießen neue Unternehmungen empor, sinken aber alsbald wieder zusammen. Die Olympia-Bar in der Tauentzienstraße verkündet noch, daß sie die größte des Kontinents sei, daß 50 "internationale" Bardamen da bedienten. Es ist nur noch ein Dutzend da. Und daß der Stehgeiger der Jazzkapelle, der übrigens ebensogut das Banjo schlägt und, sogar zu einem bayrischen Ländler, die Flöte bläst, ein Japaner von, wie es heißt, den Hawai-Inseln ist, macht auf die Besucher, die hier zur Entfettung tanzen, auch keinen sonderlichen Eindruck mehr. Alles sucht nach neuen Attraktionen, um sich in der allgemeinen Pleite zu behaupten. Schon wird nachmittags in den meisten Dielen - umsonst Tanzunterricht erteilt. Kostenpunkt: eine Tasse Mokka.
Was der Besucher ferner nicht gleich merkt, das ist der zähe Kampf starker Mächte des Abgrundes gegen unsere Gesundung, das zähe Ziehen des roten Sumpfes, damit wir nicht wieder das alte saubere Deutschland werden, sondern mindestens so korrumpiert bleiben wie in der ersten Nachrevolutions- und der Inflationszeit.
Die geistige Nahrung, die von Berlin aus der "Provinz" als Neuestes aufoktroyiert wird, wird immer schlechter. Vor ein paar Jahren hatten wir doch noch keine kommunistische Piscator-Bühne, die heute von einem Multimillionär finanziert ist und nicht durch proletarische Besucher, sondern durch die vom Kurfürstendamm am Leben und bei Kasse erhalten wird. Sie ist zu einer snobistischen Propagandastätte der Moskauer III. Internationale geworden und zu einer technisch-maschinellen, nicht künstlerischen Versuchsanstalt. Das Allerletzte, nach Film und Globus, nach Trotzki - der sofort nach seiner Verurteilung durch den Sowjet übrigens von der Szene gestrichen wurde - und Lenin ist jetzt das rollende Trottoir, das fließende Band der Piscator-Bühne , auf dem Pallenberg als "Braver Soldat Schwejk" endlos marschiert, während die Gegend vorüberflimmert, und in endloser Wort-Equilibristik den Weltkrieg vom tschechischen Standpunkt der passiven Resistenz lächerlich zu machen versucht. Piscator hat nie die Seele eines Künstlers gehabt, nur das Hirn des Technikers, des Formzertrümmerers, des Revolutionärs; nie die Liebe des Künstlers, sondern nur den Haß des kleinen Mannes. Sein Großvater, der noch Pischer hieß, handelte am Mühlendamm mit alten Hosen, schreibt eine Berliner Zeitung. Das ist nur symbolisch zu verstehen. Den Weg vom Mühlendamm zum Kurfürstendamm haben jedenfalls im letzten Menschenalter manche Berliner Familien zurückgelegt, ohne daß der Klimawechsel sie wesentlich geändert hätte.
Draußen im Lande bekommen die Dummgemachten durch diese Entwicklung Auftrieb. Die dreiste Verhöhnung alles dessen, was uns als unantastbar galt, wird große Mode. Man dokumentiert seine vermeintliche Bildung durch blöde Frechheiten.
Wer es noch nicht weiß, warum die Rechte im Berliner Reichstag so großen Wert darauf legt, unsere Schulen, soweit sie noch christlich sind, in diesem Sinne zu sichern, der wird es begreifen, wenn er liest, was mir von befreundeter Seite aus einem Ort in der Lausitz geschrieben wird. Da besteht noch die Sitte, daß schulentlassene Konder den Herrn Lehrer und die Frau Lehrerin aufsuchen und sie um eine Eintragung in das Stammbuch bitten. Und da ist denn dieser Tage ein Kind mit folgenden beiden Inschriften heimgekommen: "Die Kirchen sind der Dummheit stärkste Festung" und "Es wird nicht besser trotz Gendarm und heiligem Sakrament - Als bis am letzten Pfaffendarm der letzte König hängt." Mit dieser zweiten Eintragung hat sich die sanfte Frau Lehrerin verewigt. Mein Korrespondent möchte nun wissen, was sich gegen dieses Attentat des Musterpädagogen auf die Kindesseele tun ließe. Natürlich kann man sich bei seiner vorgesetzten Behörde über ihn beschweren, und noch besteht heute eine schwache Aussicht, daß ihm dann das Handwerk gelegt wird. Aber wirklich helfen kann nur eine Reichstagswahl, die einen neuen Kurs festlegt, den nach rechts. Solange es Leute gibt, die nicht ihre ganze Kraft daran setzen, daß wir eine geballte große Rechte bekommen, ist alles vergebens, verschlingt uns schlielich der rote Sumpf.
Der Durschnittsbürger der Reichshauptstadt denkt daran noch nicht. Seine Boulevardblätter, meint er, werden ihm schon rechtzeitig den Tip einhämmern. Wer wird im Januar sich schon um Politik kümmern ? Da geht man - in allen Ständen, in allen Schichten - auf alle Bälle, da geht man vor allem, "um sich billig einzudecken", auf Inventurausverkäufe. Vor einem Schaufenster bleibt die Gattin stehen: o Gott, welche berauschenden seidenen Kombinations, würdig einer eleganten Filmdiva! Die Anspielungen sind deutlich. Zu Hause werden sie fortgesetzt. Am nächsten Tage geht der Gatte denn auch hin und sagt dem Ladenfräulein: "Hamse kunstseidene Schlüpfer ? Womöglich mit Webfehler ? Hauptsache recht billig ?" Es gibt schon Tragödien im Alltagsleben. Vielleicht hatte die Gattin schon von einem richtig frechen Künstler-Maskenball geträumt. Erkennungszeichen: lachsfarbene Strumpfbandrosette. Aber Schlüpfer mit Webfehler, nein, das geht doch nicht.
Inzwischen hat die paradiesische Zeit der Kleider-, Wäsche-, Stoffausverkäufe geendet, aber nun wird wieder mit dem Überschuß an Lebensmitteln von Weihnachten her geräumt. Im Dezember sind zwar 1½ Millionen Gänse nach Berlin gekommen, aber nicht bis zur letzten gekauft und gegessen worden. Auch Warenhäuser haben noch so einige 10 000 Stück davon liegen, die nun, ehe sie verderben, abgestoßen werden müssen. Morgens um 9 sind sie zu, sage und schreibe, 58 Pfennigen das Pfund zu haben. Um 10 kosten sie schon mehr. Für die feine Kundschaft um 11 gibt es dann fast normale Preise. Also stürzt alles schon vor 9 hin und faßt vor den Gänsestapeln Posto. Wer sich sichern will, faßt ein Gänsebein an und wartet dann geduldig, bis die Abfertigung beginnt. Aber wehe, wenn zwei verscheidene Frauenhände ein Gänsebein umfassen wollen!
"Sie, det is mein Been!" "Nanu, ick denke, det is doch 'ne Jans, een Jänsebeen, nich det Ihrichte, oder sinse 'ne Jans ?" "Wer'n Se man nich ausverschämt!" "Wat denn, wat denn, ick will bloß mein Recht, Sie olle Zicke!" "Olle Zicke hat se jesaacht!" "Jawollja, et is ja ejal, von wat eenen schlecht wird, da brauch' ick bloß Ihnen anzukucken!" "Herr Abteilungsvorsteher, Herr Abteilungsvorsteher!" "Meckern Se nich, sehn Se lieber uff Ihre Beene, wo de Maschen von die Strimpe platzen, zwee janze Flohleitern neben einanner!"
Nun kichert alles. Die Besiegte läßt das Gänsebein los und stellt sich kleinlaut hinten an. Diesmal scheint es mit den 58 Pfennigen für das Pfund nichts werden zu wollen. Die Gans sollte beim Familienrat präsidieren. Es handelt sich um das Schicksal des ältesten Jungen, der zu Ostern die Hilfsschule für Minderbegabte verläßt.
Heute müssen ja schon fast alle Lehrer, die vorwärtskommen wollen, noch irgendein heilpädagogisches Extraexamen machen, denn man gibt sich ungeheure Mühe mit den infolge zerebraler Kinderlähmung oder anderer Mängel Benachteiligten. Es gehört eine ganz besondere wissenschaftlich pädagogische Schulung und auch ein Herz voll Liebe dazu. Nun kommt also die Frau zum Lehrer, um über den künftigen Beruf ihres Jungen sich Auskunft zu holen und sagt treuherzig: "Ick meine, der Junge soll mal Lehrer wer'n!" Entsetzt wird ihr geanwortet: "Um Gottes willen, haben Sie denn das bedacht, Ihr Junge, und da gehört doch Gymnasialbildung und allerlei sonst noch dazu!" Worauf sie begütigend erwidert: "Ach, ick meine ja och keen richtijen Lehrer, bloß so eenen, wie Sie sind!"
26. Januar 1928 (Donnerstag)
21
Zu Kroll - Der diesjährige Presseball - Vierzeiler - Denksportaufgabe - Bei den Tausend Tausendkünstlern - Geselliges Beisammensein mit Gropius - Modernes Bauen - Ausstellungspläne für 1930 und 1932 - Von Darmstadt bis Stuttgart - Englisch-amerikanischer Ballstreik.
Man sagt dem Kutscher immer noch: "Zu Kroll!" Dann weiß er schon Bescheid. Es ist nicht nötig, daß man "Zur Staatsoper auf dem Platz der Republik" gefahren zu werden wünscht. Die hergebrachte Bezeichnung erhält sich genau so wie der Name "Gendarmenmarkt" für jenen Platz in Berlin, auf dem einst das alte Regiment Gens d'armes exerzierte, wenn nicht gerade Wochenmarkt war, und wo heute zwei Kirchen, ein Schauspielhaus und das Schillerdenkmal stehen. Zu Kroll: das bedeutet nicht nur die staatliche Opernfiliale, sondern das ganze "Etablissement", wie man früher zu sagen pflegte, die Festsäle und das Gartenlokal am Tiergarten. Da hat der Staat jetz um- und angebaut und dadurch Räumlichkeiten geschaffen, in denen ein Festabend 10 000 Personen zu Tanz und Schmaus vereinen kann, während in den Sälen und Veranden des Zoo "nur" 7000 Gäste gleichzeitig Platz finden. Aber der Betrieb selbst ist nicht staatlich, sondern natürlich verpachtet; man wird also nicht etwa den preußischen Kultusminister Becker an der Saalkasse sitzen oder den Innenminister Grzesinski die Köche kommandieren sehen, auch ist "Kroll" nicht etwa das geworden, was die Reichsregierung mit dem ihr nicht genehmigten Ankauf des Hotels Kaiserhof plante, ein repräsentatives Heim für Feste der Republik. Wer zahlt, der hat. Auch jede nichts weniger als republikanische private Vereinigung kann "den janzen Kroll" für einen Abend mieten. Die neuen Räume sind gerade soeben eröffnet, und in diesem ersten Monat Februar finden da schon neun große Bälle statt.
Am letzten Sonnabend das Januars aber hat nicht nur Berlin, nein, Deutschland den traditionellen Presseball im Zoo gefeiert. Agrarier aus dem Osten und Industrielle aus dem Westen kamen noch spät abends direkt von der Bahn mit ihrem Koffer her. Die glückliche Werbeparole "Jeder einmal in Berlin!" scheint fast schon durch das "Jeder einmal auf dem Presseball!" ergänzt zu werden. Er ist wirklich "das" repräsentative Fest des kaiserlosen Deutschlands geworden, seit es keine Couren und Empfänge und Bälle im Schloß mehr gibt. Er ist nicht so exklusiv wie sie, sondern läßt jedermann zu, der mit einer Empfehlung durch ein Mitglied des Vereins Berliner Presse kommt, 30 Mark bezahlt und Frack oder Abendkleid anhat; aber er ist auch nicht so allgemein wie etwa früher das alljährliche Ordensfest im königlichen Schlosse, wo der Minister und der Schornsteinfeger, der General und der Briefträger in bunter Reihe nebeneinander saßen, zwischen Schwarzem Adlerorden und Allgemeinem Ehrenzeichen kein Unterschied gemacht wurde. Die Hauptsache auf dem Presseball: man sieht und man wird gesehen. Es ist eine Auswahl aller führenden Männer aus Literatur und Kunst, Wirtschaft und Staatsdienst da und eine nahezu vollständige Revue der Frauen, "von denen man spricht", die deshalb also nicht die besten zu sein brauchen, jedenfalls aber die elegantesten und vielfach die verlockendsten sind, von der Filmdiva bis zur orchideenhaften jungen Gattin irgend eines Generaldirektors. Weniger als sonst waren nur diesmal die Neureichen und die Neurepublikaner vertreten; fast ganz fehlte der Haufen der sozialdemokratischen Würdenträger, die im vorigen Jahre hier schmausten und schmatzten. Außer den tiefen Logen zu beiden Langseiten war jetzt noch ein flaches Podium, sozusagen ein Tablett, in den Marmorsaal hineingebaut, auf dem die Ehrengäste den Blicken präsentiert wurden. Zu Beginn des Festes - sehr lange blieb er nicht da - konnte man da in Front auch den Vertreter des Heeres sehen, den General v.Tschischwitz. Wie doch die Zeit dahinfliegt! Im ersten Kriegsjahre, als er noch Oberstleutnant und Chef des Stabes des 23. Reservekorps war, habe ich in Wynendale in Flandern einige Wochen lang allabendlich bei Tisch ihm gegenübergesessen, bewahre auch noch ein paar liebe Briefe von ihm aus 1917 und 1918 auf: er ist nahezu unverändert geblieben, als könnten die Jahre ihm nichts anhaben. Auch andere, die einem je den Lebensweg gekreuzt haben, trifft man hier. Man kennt die Gesichter, man sucht die Namen. An den Kriegsorden auch am Zivilfrack kann man sich manchmal orientieren. Das bulgarische Tapferkeitskreuz oder die lippische Rose oder das türkische Fliegerabzeichen oder der bayrische Max-Joseph erhellen plötzlich das Gedächtnis. Unter den damen ist am "gefragtesten" die schlanke und elegante Frau Stresemann, aber sie ist nicht da, weilt gerade in England zum Besuch ihres in Cambridge studierenden zweiten Sohnes. Aber Frau Kathinka v.Oheimb-Kardorff ist doch sicher da ? Auf die Suche! Nachdem sie kürzlich ihren vierten Mann geheiratet hat, den langen Kardorff, den seltenen, aber staatsmännischen Redner der Deutschen Volkspartei, sagt sich alle Welt, der werde nun wohl durch große Karriere den Ehrgeiz der Gattin befriedigen. Hätte er nicht Reichswehrminister werden können ? Man scherzt: bei der Nennung dieses Namens habe Hindenburg lächelnd erklärt, er wolle das junge Eheglück nicht stören. Und man wandert weiter an den Logenbrüstungen entlang, an denen zum Aussuchen die schönsten Bühnensterne sitzen, die wir in Deutschland haben, und eine greuliche aufgetakelte Pariserin, der Revuestar Mistinguette.
Der Presseball reißt in den Kleideretat aller Prominenten ein gewaltiges Loch. Gänzlich unbekannte Damen können natürlich auch hier mit einem Abendkleidchen "von der Stange" für 79.50 Mark erscheinen, aber wer "es sich schuldig" ist, der muß durch Kostbarkeit oder Eigenart auffallen. Wirklich Bizarres sieht man fast gar nicht mehr. Wir sind seit den tollen Zeiten um 1922 herum gesetzter geworden; wir haben wieder Kultur in der Mode. Das Vorherrschende ist diesmal das Tüllgewoge oder vielmehr, da der Tüll meist in unzählige kleine Blättchen zerlegt ist, das Tüllgefieder: jede dritte Dame ein sterbender Schwan.
Also man flaniert, man begrüßt sich, man hält Cercle ab, man ißt und trinkt, man zieht Nieten oder Gewinne in der Tombola, man plaudert, man tanzt sogar mitunter. Man knabbert an den kleinen Geschwollenheiten oder kleinen Bosheiten der literarischen Damen- und Herrenspende. Fünfundzwanzig Dichter, von Gerhart Hauptmann bis zu Klabund, von Rudolf Presber bis zu Zuckmayer, haben auf Büttenpapier in faksimilierter Handschrift je einen Vierzeiler beigetragen. Das verständnisinnigste Schmunzeln erregen Ludwig Fuldas Verse:
Bedächtig zu rechnen mit Geldesausgaben, |
So recht ausgelassen geht es auf dem Presseball eigentlich nie zu, er ist und bleibt vornehm, auch wenn namentlich unten im Gartensaal, wo es Bier gibt, gegen Morgen die Stimmung ganz fidel ist. Er ist ja angeblich nicht nur eine Schaustellung von Persönlichkeiten und Toiletten, sondern auch von Geist, und es gibt da manchmal ganz unerträglich geistvolle Damen. Nur durch Verblüffen kann man ihrer Herr werden. Ich habe für solche Fälle immer ein paar Denksportaufgaben in Bereitschaft, deren logischer Trug nicht gleich durchschaut wird, und da kriegen die angriffslustigsten Damen von Geist leicht die Maulsperre. Zum Beispiel, auf Anhieb, bitte um Antwort:
"Warum nennen Sie die Frauen schlecht, die zu den Männern gut sind ?" |
Wirklich getanzt wurde an diesem Sonnabend natürlich viel mehr an allen sonstigen Feststätten. Philipp Scheidemann wirbelte unermüdlich im Frack mit riesiger Papierchrysantheme auf dem Ball der Tausend Tausendkünstler. Unter den Artisten fühlt der Wortjongleur sich anscheinend besonders wohl, aber auch sonst ist er im Vergnügungs-Berlin ja kein Kostverächter. Unsereins hat nicht mehr diesen Genußhunger; am allerschönsten ist es doch daheim in der Familie, bei den Büchern, und von dem Großstadtbetrieb entnimmt man nur noch Proben, soweit der Beruf ihre Verarbeitung verlangt. Gestern bin ich zu einem "geselligen Beisammensein mit Tanz" im Verein Deutsche Kunstgemeinschaft gewesen, weil dem Beisammensein ein Vortrag des Professors Walter Gropius, des Direktors des Bauhauses in Dessau, über modernes Bauen voraufging. Als ich während der Nationalversammlung in Weimar war, fielen mir in dieser gepflegten alten Residenz die kommunistisch-verwilderten, sehr nachlässig gekleideten Jünglein und Mägdlein der Bauhausschule auf, die damals noch dort ihr Heim hatte. Sie sollen in Dessau inzwischen manierlicher geworden sein, wird mir erzählt. Daß ihr Führer Gropius ein großes Talent im Erfühlen des Zeitgemäßen ist, in der Kunst und im Leben revolutionär, das war schon immer bekannt. Was ich aber noch nicht wußte, ist, daß sich infolgedessen die Roten genau so um ihn scharen wie um Piscator und ihn als Vorkämpfer betrachten, auch wenn sie seines künstlerischen Geistes nicht einen Hauch verspüren. Jedenfalls stoße ich im großen Saal des Brüdervereinshauses in der Kurfürstenstraße sofort auf Rosenfeld, Toni Sender, Wolfgang Heine, Gradnauer und andere sozialistische Koryphäen. Den Rosenfeld und die Sender walzen zu sehen, ist allein schon die 4 Mark Eintrittsgeld wert. Es ist eine merkwürdige Welt, in die ich da hineingeraten bin. Eine Salonkommunistin in teurem Juwelenschmuck sitzt da neben ihrem dicken Gatten. Dazwischen ein paar Mannweiber der Kunst. Dann ein Häuflein politischer Agitatoren. In meiner Ecke aber ein rührendes Pärchen: er, mit abgewetzten Arbeiterhänden, aber einem geistigen Kopf, in alter, zu kurzer Frackhose mit hellbraunem Jakett darüber, bringt ihr, dem Mädchen, als Abendbrot vom Büffett einen Rollmops, den die beiden in feine Scheibchen zerteilen und essen. Nachher leisten sie sich auch noch eine Schnitte trockenen Brotes für 5 Pfennige gemeinsam. Dann gehen sie in einen abgelegenen Korridor, und da bringt die Kleine ihrem Bären die ersten Tanzschritte bei, während die Jazzmusik gedämpft herüberklingt. Während des Gropiusschen Vortrages haben sie mit brennenden Augen dagesessen. Ich glaube, das sind die einzigen wirklich vollkommenen Idealisten im Saale gewesen. Zwei Tische weiter wird Rotwein zu Koteletts mit Spargel serviert. Das schiert sie nicht; sie haben genug an ihrem Rollmops, an einander, an der Kunst, an der Weltumschöpfung. Sonst ist das revolutionärste im Saal ein junges Mädel, bei dem es nur zu einer Art Baby-Tanzkleid gelangt hat; beim Schlenkertanz sind die dünnen Oberschenkel bloß, während doch sonst höchstens Kniekehlenfreiheit proklamiert wird. Unter dem männlichen Teil der Besucher ist, soweit er Würde markieren muß, der Schniepel allgemein, den wir (nicht die Engländer) Cutaway zu nennen pflegen, während die Jüngeren zumeist in Jacke erschienen sind. Der größte Teil der Besucher hat sich freilich gleich nach dem Vortrag entfernt. Der Name Gropius hat gezogen, nicht das "gesellige Beisammensein mit Tanz". Von dem Vortrag ist man aber trotz der schönen Lichtbilder dazu etwas enttäuscht. Er ist ja sehr populär, führt namentlich sehr geschickt in das Wesen der optischen Wirkung und optischen Täuschung im Bauwesen - von der Säulenanordnung des Parthenon bis zur gelben oder blauen Wandfläche des modernen Wohnzimmers - die Hörer ein, spricht auch von Licht und Luft und Material und Technik, gibt aber alles in allem uns doch kein so klares Progarmm von dem Einst und Jetzt, daß es jeder Laie in den Hauptzügen wiederholen könnte; und die politische Schlußfanfare über das Genossentum in der Arbeit macht sich in dem Vortrag sehr angeklebt.
Natürlich gehört Gropius trotz aller Einspännerei zu den Einfallreichen und Bildnerischen, um die man nicht herumkann. Er wird auch immer angehört, wo es sich um Pläne zu etwas Großem auf seinem Gebiete handelt. Zwei Projekte werden gerade in unseren Tagen besprochen. Das eine geht um die zehnjährige permanente Bauausstellung, die 1930 in Berlin in nahezu Weltausstellungsmaß beginnen soll. Das andere heißt "Goethe und der Rhein" und soll in des Dichters hundertstem Todesjahr, 1932, von Krefeld bis Mainz, von Köln bis Frankfurt am Main als eine Art deutscher Kulturausstellung verwirklicht werden.
Bei allen solchen Plänen wird zunächst gefragt, ob es sich um sofortigen Warenabsatz oder nur um ein Bild unserer Leistungsfähigkeit handele, ob man also das Fertigprodukt hinstellen oder die Leistung, den Werdegang, das Problem zeigen solle. Das Wundervollste dieser letzteren Art war die Berliner Werkstoffschau im vorigen Jahre, die nur "deutsch" und ganz unpersönlich war, nicht einmal die Namen der Aussteller nannte. Permanente Bauausstellungen, nur in kleinem Umfange, haben wir schon früher an verschiedenen Stellen gehabt; aus der Ausstellung wurde dann eine Siedelung. So hat in der Zeit des grassierenden "Jugendstils" die Darmstädter Künstlerkolonie die dortige Mathildenhöhe bebaut. Heute kommt uns manches davon schon wie ein Zerrbild des Ungeschmacks vor. Ganz "zeitgemäß" fast in Gropiusschem Sinne ist dagegen die von etwa 30 Architekten verschiedener Länder errichtete Stuttgarter Wohnsiedelung, reizvoll am Bergabhang gelegen, leuchtend und kubisch wie für die algerische Sonne geschaffen. Parole: möglichst viel Luft, möglichst wenig Staub! Also Teppichlosigkeit, Gardinenlosigkeit, Metallrohrmöbel, Glas, Fliesen, glatte Wandflächen. Ich kann mir nicht helfen, wenn ich in einer solchen Stube bin, denke ich immer, ich sitze in einem hygienisch einwandfreien Zahnatelier; aber ich habe ja kein maßgebendes Urteil und sehe ein, daß das, was mir behaglich dünkt, umgekehrt anderen ein Gruel sein mag.
Verführerisch klingen nur die Zahlenangaben, die Gropius über seine modernen Reihenhäuser macht. Bloß 1000 Mark Anzahlung und dann 34,50 Mark monatlich Miete einschließlich Amortisation, dafür kriegst du ein 5-Zmmer-Haus zu eigen! Ich fürchte freilich, daß man jeweils die Tür wird aufmachen müssen, um in einem solchen Zimmer sich umdrehen zu können.
Aber es sei, wie es sei, unsere Wohnungsnot ist so entsetzlich, daß jeder Helfer willkommen sein muß. Ich sagte ja schon, daß der Großstädter nur deshalb so viel "ausgeht", weil er so sehr nach Licht und Luft und Raum Verlangen hat. Auch die vielen Ballfeste gehören in diese Rubrik. Sie haben in diesem Jahre wieder zugenommen. Nur ein traditioneller fällt weg, der des Vereins der Ausländischen Presse, auf dem man sonst die gesamte Diplomatie sehen konnte. Den Überschuß für die Kasse des Vereins brachte auf diesem luxuriös aufgemachten Fest immer die Tombola, aber auf den Einspruch der angelsächsischen Kollegen hin, die andernfalls mit Austritt drohten, mußte von ihr Abstand genommen werden: "Tombola sein ein Lotterie und ein Lotterie sein unmoralisch!"
2. Februar 1928 (Donnerstag)
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