"Rumpelstilzchen"

Klamauk muß sein !
(Jahrgangsband 1927/28)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1928

Glossen 16 - 18
29. Dezember 1927 bis 12. Januar 1928


16

Anderthalb Millionen Gänse - Zur Naturgeschichte des Weihnachtsbaums - Gegen die Weihnachtsfeier - Die Ministersekretärin - Der Geleitbrief für die Barmats - Drum geh' ich zu der Frieda - Mercier in Berlin.

Fast 1½ Millionen Gänse sind diesmal der Reichshauptstadt zu Weihnachten geboten worden. Das ist ein Rekord, das ist noch nie dagewesen, auch vor dem Kriege nicht. Wir sind nun nicht etwa allesamt über Nacht wohlhabend geworden, aber wir haben uns eben mit einem Fingerschnippen an die aufmunternde Frage gewöhnt: "Was soll das schlechte Leben ?" Einmal im Jahre muß man schon, auch wenn der wollene Unterziehstrumpf unter dem seidenen so viele Löcher hat wie ein Schweizerkäse, etwas draufgehen lassen, "denn det macht Laune", und die gute Laune in den schlechten Zeiten brauchen wir notwendiger denn je. Man hat also überall am Familientisch behaglich geschmatzt; nur in wenigen Häusern bleckte die Not auch am Heiligen Abend offen die Zähne. Man hat sie wenigstens mit Flitter für ein paar Tage cachiert. Und nach der Gans, so erzählt der kleine Steppke aus der Kellerwohnung schräg gegenüber, habe es sogar eine süße Speise gegeben. Nur von der Ohrfeige spricht der Berliner Dreikäsehoch nicht, die er dabei von Vatern bekam. Als nämlich der gelbe Eierblubber mit der roten Himbeertunke auf dem Tische erschien, bemerkte unser Steppke in seiner schnoddrigen Art unter Grinsen: "Nanu, Mutta hat woll Nasenbluten jehatt ?"

Im übrigen erwies sich überkommene deutsche Sitte wieder einmal stärker als Parteigebot. Seit Jahren bemüht sich das Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei um die Ächtung des Christbaumes und um seinen Ersatz durch einen rotbebänderten Tannenkranz. Es ist vergeblich geblieben. In der Kinderbeilage des Vorwärts war auch diesmal wieder Seite um Seite, in Vers und Prosa und Bild, für die rote Fahne (also nicht für das Reichsbanner Schwarzrotgold) und für die rote Republik geworben worden. Auch das vergeblich. "Mutta, een Boom, een Boom!" Es gibt arme Leute auf dem Lande, die gönnen ihn sich nicht, denen duftet doch wenigsten alle Tage die Erde und der Wald, aber in der Großstadt ist die Sehnsuch übermächtig. Vielleicht unbewußt die Sehnsucht nach dem Symbol. Dem der deutschen Einigkeit. Rund um den Erdball, in allen Weltteilen, erstrahlt am 24. Dezember der Christbaum, und wenn es nur eine Stechpalme sein kann, überall in deutschen Häusern; es ist der einzige Tag, der ein wenig Gemeinsamkeit bringt, ein Erinnern an das Vaterhaus, an das Vaterland, an die Urheimat auf deutscher Scholle. Von dem in Jahrhunderten heißt umkämpften Oberrhein, vom Elsaß, hat der Christbaum einst seinen Ausgang genommen und allmählich die "Weihnachtspyramide" völlig verdrängt, das nach oben sich verjüngende Fächergestell mit den daraufgelegten Gaben. Diesmal sind in Berlin die Bäumchen glatt abgegangen, waren auch nicht übermäßig teuer. Mitunter brauchte man sie nicht einmal bar zu bezahlen. An der Ecke Wilsnacker- und Birkenstraße in Berlin-Moabit war an einem Stande ein Plakat mit der Inschrift angebracht: "Gebe Christbäume gegen Hauslumpen!" Hei, wurden da rundum die Flickenkörbe durchwühlt! Ganz zerrissene alte Strümpfe, abgetragene Kinderkittel und Höschen, Reste von verbrauchten Bettdecken wanderten in Haufen zu der Händlerin und wurden gegen Christbäume eingetauscht. Und die Leute standen herum und ulkten sich fröhlich an: "Warten Se man, bis erst die Schulzen kommt, der ihr Mann ist der größte Lump in unserer Straße, den tauscht se jerne um!" Nein, ein Heiliger Abend ohne Christbaum und ohne Weihnachtslied ist nichts. Der rote Stadtrat Schminke hat zwar den ihm unterstellten Krankenhäusern in Berlin-Neukölln den Erlaß zugestellt, daß die Weihnachtsfeier keinen religiösen Charakter tragen dürfe, aber die hergebrachte Sitte ist stärker als er; auch mit seinem Verbot des Tischgebets an die Schwesternschaft ist dieser intolerante neue Christenverfolger nicht durchgedrungen, nur daß jetzt - bei Strafe der Entlassung - nicht mehr laut gebetet werden darf.

In den klaren, trockenen, nach dem Wettersturz bald wieder frostklaren Tagen nach Weihnachten stolziert wie seit altersher alles wieder mit der neuen Puppe, dem neuen Pullover, dem neuen Kürassierhelm, der neuen Pelzjacke einher. Ein Grüßen, ein Winken, ein Freuen, ein Neiden; die alte Geschichte. Beim Milcheinholen des Morgens erzählen sich die Dienstboten von ihren Geschenken. Da zeigt eine glücklich ihre Armbanduhr, da spricht die andere geringschätzig von ihren zwei Schürzen; ach, von Herzen gern gegeben wurde beides, nur daß die eine "Herrschaft" es eben reichlich hat, die andere aber oft nicht weiß, wie sie den Lohn des Mädchens sich am Munde absparen kann. Nicht jeder kann durch einen bloßen Federstrich ein solches Weihnachtsgeschenk machen wie der rote preußische Innenminister Grzesinski, der seiner Edeltipse, Fräulein Rosenhain, am 24. Dezember das Dekret ihrer Beförderung - zum Regierungsrat auf den Gabentisch legte.

Natürlich hat Fräulein Rosenhain, die übrigens im amtlichen Protokoll jetzt Rosenheim heißt, womit aber keine äußere Veränderung ihrer Gesichtszüge verbunden ist, sich um ihre wechselnden Herrschaften sehr verdient gemacht. Schon während des Krieges hatte sie als Wohlfahrtspflegerin ihren Mann gestanden. Der Sozialdemokrat Heine, der nach der Revolution preußischer Innenminister wurde, brachte sie als seine Privatsekretärin mit. Sie begriff schnell, sie wurde bald "das" Faktotum im Amt und sie lernte dann auch die sozialdemokratischen Nachfolger des Herrn Heine an, die es dankbar empfanden, daß sie sich nicht auch die täglichen Dienstformalien von den Ministerialdirektoren soufflieren lassen mußten. Während des demokratischen Interregnums wurde Fräulein Rosenhain vom Minister Dominicus, der als ehemaliger Oberbürgermeister selber alter Verwaltungsfachmann war, zwar entlassen, zumal da sie unter den ergrauten Beamten des Ministeriums grenzenlos unbeliebt war, aber Severing holte sie dann sofort wieder und mit ihr den ganzen Unterstützungstrupp ihrer Sippe. Fräulein Rosenhain lud mit eigener Unterschrift die Ministerialdirektoren zum Vortrag, was von einzelnen zurückgewiesen wurde, aber durchaus nicht immer; denn ihre Sippe, im Ministerium inoffiziell "Chutzbe" genannt, war schon zu stark. Von den mittleren und unteren Beamten liefen Beschwerden über Beschwerden ein, da sie von Fräulein Rosenhain hochfahrend behandelt wurden, ohne daß ihre Stellung als Ministertipse sie dienstlich dazu berechtigte. Aber diese dummen alten Beamten ahnten natürlich nicht, wie wertvoll die Dame der Partei und ihren Freunden war. Eine Notiz aus dem Privatbureau des Ministers, datiert vom 23. November 1920, gerichtet an den zuständigen Referenten, lautet:

"Der Minister wird von dem Reichskanzler Bauer gebeten, sich dafür zu interessieren, daß der Familie Barmat, die der holländischen Gesandtschaft angehört, auf ihrer Durchreise von Rußland durch preußisches Gebiet nach Holland keine Schwierigkeiten bereitet werden."

Das waren die goldenen Zeiten, wo der sozialdemokratische Reichskanzler Bauer außer verschiedenen Geschenken ein stattliches Barkonto von Barmat bekommen hatte, der sozialdemokratische Polizeipräsident Richter außer Geschenken 5000 Mark, während die sozialdemokratischen Herren Heilmann, Scheidemann usw. mit anderen "Gefälligkeiten" bedacht wurden. In dieser Zeit genügte die Notiz im Privatbureau des Ministers. Niemand fragte bei der holländischen Gesandtschaft an, ob es stimme, daß die Familie Barmat zu ihr gehöre, niemand fragte, warum nicht die Gesandtschaft selber für ihre Mitglieder sorge. Schon am 24. November 1920 ging ein Ministerialerlaß an die Regierungspräsidien in Osnabrück und Münster und Düsseldorf hinaus, in dem für die Familie Barmat, vier Erwachsene und drei Kinder, die Verständigung der Grenzübergangsstellen verlangt wurde, daß sie unbehelligt gelassen würde. Als Urheberin der ministeriellen Privatnotiz, die diese in den Dienstgang gebracht habe - der Minister Severing, o nein, der habe damit nichts zu tun -, bekannte sich vor dem Barmat-Untersuchungsausschuß tapfer Fräulein Rosenhain. Auch Bauer kam unangefochten aus der Affäre. Das mit der "holländischen Gesandtschaft", das stamme nicht von ihm, das sei - ein Hörfehler von ihr, von Fräulein Rosenhain, gewesen. Nach dieser schlichten aktenmäßigen Darstellung ist es nun wohl uns allen klar, daß die Dame mit dem Hörfehler jetzt endlich Regierungsrat werden mußte. Während sonst alle geplanten Ernennungen vorher durchsickern, ist diese völlig geheimgehalten worden, so daß das ganze Ministerium am 24. Dezember die gelungene Weihnachtsüberraschung hatte. Eine Überraschung für die höheren Beamten, für die die Edeltipse nun zur "Kollegin" geworden ist, die auch nach etwaigem Regierungswechsel in geeigneter Weise als Regierungsrat zu beschäftigen ist, eine Überraschung für die mittleren Beamten, von denen alte verdiente Männer eine solche Ernennung vielleicht für sich selber als Krönung einer langen Lebensarbeit erwartet haben, eine Überraschung auch für die unteren Bematen, deren hohe Vorgesetzte nun Fräulein Rosenhain geworden ist. Aber warum ist man eigentlich üebrrascht ? Lange studieren, seinen Referendar machen, seinen Assessor machen, dann nach ewigen Vorbereitungsjahren Regierungsrat werden, das ist doch ganz altmodisch. Dem Tüchtigen freie Bahn, lautet seit 1918 die Parole. Und daß Fräulein Rosenhain tüchtig ist, das hat die Partei doch feststellen können.

Nur sehr besinnliche Zeitgenossen denken länger als 24 Stunden darüber nach und benutzen dergleichen zur Aufklärung anderer. Die große Masse tanzt "zwischen den Jahren" genau so wie vorher in den Tag hinein und rüstet sich nebenbei auf den Silvestertrubel. Der Dachgarten des Edenhotels, auf dem sonst die kniefreien Großmamas vom Kurfürstendamm ihren Foxtrott stolpern, ist im Winter freilich geschlossen, aber andere Gelegenheiten haben dafür stark zugenommen. Überall fiedelt es:

"Drum geh' ich zu der Frieda,
Imma wieda, imma wieda . . .
Sie hat so was, sie hat so was,
Und das, das macht mir Spaß."

Und überall wird in diesem Jahre, das unter der Regierung des verruchten Bürgerblocks uns wirtschaftlich ein kleines Aufatmen gebracht hat, fleißig für den 31. Dezember eingekauft, nicht nur Äpfel, die mit Leberwurst gefüllt sind, Berliner Pfannkuchen, in denen man auf Senf beißt, und ähnliche Scherze mehr, sondern auch gute Pünsche und guter Wein. Meyers behaupten, sie hätten einen Drink zusammengestellt, nach dem sogar eine tote Leiche Black bottom tanzen würde; und Müllers leisten sich seit Jahren zum ersten Male - die Mieze soll zu Silvester verlobt werden - eine Flasche französischen Schaumweins. Sein Verbrauch ist dank gutem deutschem Ersatz bei uns außerordentlich zurückgegangen. Die Firma Mercier allein hat beispielsweise vor dem Kriege 1½ Millionen Flaschen jährlich bei uns umgesetzt; heute sind es nur 400 000 Flaschen. Da helfe, was helfen mag: der junge Mercier, 21 Jahre alt, Erbe des Stammhauses in Epernay in der Champagne, ist seit dem Oktober in Berlin, in Pension bei einem alten Rittmeister a.D., soll noch bis zum nächsten Sommer hier bleiben und - Deutsch lernen. Er vergißt nebenbei das Geschäft nicht und wird von seinem Generalvertreter bei allen Kunden herumgeschleppt. Herr Mercier höchstselbst. Welche Ehre! Die ältesten Kneipwirtinnen werden erregt und machen einen Hofknix. In den Reisebureaus überall in der Stadt aber kleben Anschläge: "4 Tage in Paris! Gesellschaftsreisen zu Silvester nach Paris! Nur 155 Mark die Reise nach Paris!" Es kann einem übel werden. Dabei ist Berlin um die Jahreswende viel lustiger als Paris mit seinem Fremdennepp. Noch keinen sah ich fröhlich enden, - der in der Hoffnung, mit 155 Mark in Paris etwas erleben zu können, der Lockung gefolgt ist. Bechere zu Hause! Gedenke des armen Vaterlandes! Gehe mit frischen Sinnen ins neue Jahr!
29. Dezember 1927 (Donnerstag)


17

Solider Jahreswechsel - Am Neujahrstage im Rheingold - Skandal bei Jeßner - Die Kabarett-Verwilderung - Steinach und Woronow - Filmkonkurrenz - Otto Gebühr als Alter Fritz - Republikanischer Eifer - Vom Staatsgestüt Beberbeck - Die drei Renommisten.

"Ich bin ein kleines Aas auf der Baßgeige, nüch ?", flötet die Barmaid und mischt zwei neue Cocktails. Der junge Mann vor ihr auf dem Hochschemel, dem die Werbung gilt, verzieht kaum die Lippen. Es ist etwas Nüchtern-Sachliches in diesen "Betrieb" gekommen, seit die Herren, auch die vom Kontorbock, im Winter den Sport nicht einschlafen lassen, und seit bei den Bardamen der Schnittkopf allgemein geworden ist und sie typisiert hat. "Der Cocktail ist gut, das Mädchen ist mies!", konstatiert der junge Mann sehr ruhig; und er denkt nicht daran, eine alkoholische Orgie zu beginnen, sondern hat nach dem zweiten Glas genug. Der Umsatz in unseren Berliner Bars und Likördielen hebt sich ganz und gar nicht, in der Silvesternacht gab es nur noch halb so viel Betrunkene und Sistierte als im Vorjahr, vermutlich sogar weniger als im "trockenen" Newyork und Chicago, und obwohl jedermann sein Schöpplein hatte, wurde auch diesmal die Völlerei früherer Zeiten nicht erreicht. Den Beweis dafür erbrachte der Neujahrstag. Da prangten schon am Nachmittag vor vielen Tanzlokalen die Schilder: "Wegen Überfüllung vorübergehend geschlossen!", und so etwas wäre doch undenkbar, wenn die Hälfte der Berliner Menschheit verkatert gewesen wäre. Nein, mit frischen Sinnen sprang man ins Neue Jahr. Unsere beiden Jüngsten - Verzeihung: unsere beiden jungen Herren - wollten am Abend auch gern wieder einmal die dem einen beim Kommiß, dem anderen bei der Fliegerei eingerosteten Tanzbeine schwingen. Daheim ging es nicht; denn alle bekannten Mädel waren in den Schnee gefahren. Gut, führen wir die Jungen also aus. In ein gutes Hotel. Überfüllt! Weiter. In einen Tanzpalast. Kein Einlaß mehr! Schließlich landen wir an dem noch einzigen freien unter den vielen Hunderten von Tischen im Kaisersaal des "Rheingold", der noch den phantastischen Schmuck vom Vorabend trägt, wo die japanische Kolonie Berlins hier feierte. Man kann nicht mehr sagen, daß der Norddeutsche ganz exklusiv sei, während in der Schwemme des Hofbräuhauses in München sich alle Stände mischen. Das ist in Berlin jetzt genau so. Nur daß nicht das Bier, sondern der Tanz alle eint. Wir mustern zuerst das Weibliche. Wir stellen fest, daß die da oder jene da wohl eine "höhere Tochter" sein oder gewesen sein könne, der da oder jener da ein Studiker oder Regierungsrat. Gut gekleidet ist alles, gesittet benimmt sich alles, getrunken wird wenig, getanzt mit Lust. Eine lange Schlanke bottomt gerade an uns vorüber und sagt fröhlich: "Heute schwof' ick, morgen schäl' ick wieder Kartoffeln!"

Am Silvesterabend hat es an einer Stelle in Berlin, dem so harmlos-fröhlichen um diese Zeit, doch einen ungeheuren Skandal gegeben. Nämlich - im Staatstheater. Genosse Jeßner hat wieder einmal ein ganz altes Stück neu frisiert; wie gewöhnlich mit ein paar Rüpeleien gegen die Monarchie, gegen das alte System. Er bringt fritzische Grenadiere im Stechschritt in den trojanischen Krieg und albert allerlei zusammen, was die deutschen Abonnenten des Staatstheaters sich wie gewöhnlich gefallen lassen. Aber dann treten in dem Stück - in dem Original, also nicht von ihm hinzuerfunden - zwei mauschelnde Trödeljuden auf, und da empört sich der Berliner Kurfürstendamm, schreit, tobt - "Gemeinheit!", "Unverschämtheit!" - brüllt, kreischt und erzwingt das Abbrechen der Vorstellung. Das Stück ist jetzt endgültig vom Spielplan abgesetzt; mit dem Gelde der Steuerzahler kann man ja wüsten. Wenn die nationalgesinnten Deutschen nur halb so viel Energie besäßen als der Kurfürstendamm, könnten sie natürlich ihrerseits erzwingen, daß Genosse Jeßner die Begeiferung dessen unterließe, was ihnen heilig ist. Aber daruaf kann man wohl noch lange warten. Nötig wäre ein solches Einschreiten des Publikums vor allem in den Kabaretts, die längst von allem Humor verlassen sind und, wie ich auf einem Rundgang wieder zu meinem Bedauern habe erfahren müssen, in der Hauptsache von Unflätigkeiten leben. Man kann sich Derbes, Frivoles, Leichtfertiges gefallen lassen, wenn es witzig ist, man braucht wirklich nicht prüder zu sein als etwa Goethes Zeitgenossen, aber es wird einem übel, wenn nur noch mit Anspielungen auf Promiskuität und Homosexualität und Bestialität gearbeitet wird.

Auch die ewigen Verjüngungswitze stehen einem schon bis an den Hals; von dem Tattergreis, der, mit neuen Affendrüsen versehen, in ein Mädchenpensionat einbricht, und von seinen Erlebnissen allda. Zumal da dies alles, von Steinach bis Woronow, ein einziger großer Schwindel ist. Woronow ist dadurch ein gemachter Mann geworden, er hat erst vor wenigen Tagen auf einer Pariser Kunstauktion ohne Wimperzucken anderthalb Millionen Franken für ein Salonmobiliar ausgeben können. Aber seine Patienten, genau so wie vorher die des Professors Steinach, klappen nach einem kurzen Reizzustand völlig wieder zusammen. Vom Schimpansen läßt sich nichts auf den Menschen "überpflanzen"; die Substanz zerfällt. Die ungeheure Reklame, die für die beiden aus dem Osten gekommenen Professoren gemacht worden ist, übertroffen nur noch durch die Reklame für Einstein und seine Relativitätstheorie, ist sehr leichtfertig gewesen. Auch der Laie weiß doch heute, daß schon für die Blutübertragung von Mensch zu Mensch nur bestimmte verwandte Blutgruppen in Betracht kommen. Und nun gar ein Okulieren von tierischen Organen auf Menschen, das ist doch handgreiflicher Unsinn. Aber ein Bombengeschäft ist es gewesen.

Geschäft ist alles, auch wenn Schlagworte wie Demokratie oder Fortschritt oder Republik davor stehen. Wir haben drei Jahre lang in der Presse der Linken die entrüsteten Artikel über die so "unzeitgemäßen" historischen und militärischen, besonders Hohenzollernfilme lesen müssen, die die Republik sich nicht gefallen zu lassen brauche. Aber mit Mady Christians (Frau v.Müller), der schönen und schalkhaften Tochter des schönsten und vornehmsten Mannes der Vorkriegszeit in Berlin und Newyork, des Theaterdirektors Christians, läßt sich ein großes Geschäft machen, wenn sie als Königin Luise mimt. Also dreht die Terra des demokratischen Ullstein-Konzerns einen Luise-Film, und das ist, trotz aller preußischen Uniformen darin, natürlich eine lobenswerte Sache, und alle Ullstein-Blätter empfehlen begeistert den Film. Acht Tage später bringt die National im Ufa-Palast ihren Alte-Fritz-Film heraus. Haut ihn, haut ihn, den verdammten Konkurrenten! Schreibt: die Republik sei in Gefahr! Es ist geradezu erheiternd, zu lesen, wie Moritz Goldstein in der Tante Voß unter der Überschrift "Nun auch noch der Alte Fritz!" am Anfang von nationalistischem Rummel redet, in der Mitte widerwillig einige Anerkennung spendet, denn man kann nicht wissen, vielleicht braucht auch die Terra einmal Herrn Otto Gebühr als Darsteller, und zum Schluß erklärt: "Es ist ein historischer Bilderbogen für Quintaner, aber ungefährlich und weit hinter der Zeit, die erstens ganz andere Bilderbogen und zweitens überhaupt keine Bilderbogen verlangt." Als die Ufa, nachdem - wehe, wehe, dreimal wehe - Hugenberg und Klitzsch Einfluß auf sie gewonnen hatten, mit dem ersten Teil des Weltkriegsfilms herausgekommen war, dieser unbedingten Notwendigkeit für unser geschichtsloses Geschlecht, da befanden sich die Herrschaften "drüben" in einer ähnlichen Lage. Was tut man gegen diese nationaldeutsche Konkurrenz ? Totschweigen ? Verreißen ? Was wirkt mehr ? Die beiden an sich verfeindeten Häuser Ullstein und Mosse hielten damals, am Morgen nach der Première, sogar eine gemeinsame Redaktionskonferenz ab, um diese politisch wie geschäftlich gleich wichtige Frage zu entscheiden; und sie einigten sich auf belanglose kurze Notizen. Nun ist also "Der alte Fritz" da, der erste Teil des letzten Kapitels, die Zeit von 1763 bis 1769, in der der große König nicht mehr Kriegsheld ist, sondern daheim im Frieden der Wiederaufbauer. Er hat eine harte Hand und doch innere Güte. Aber persönlich vereinsamt dieser kantische Pflichtmensch, der nur noch für sein Land und sein Volk lebt, immer mehr; Freunde gehen, nur die Windspiele bleiben, und in ihrer Gesellschaft schreibt der gichtgekrümmte, schmerzgeplagte alte König die Nacht hindurch sein Testament, das Testament für sein Land und sein Volk. Nicht ohne innere Erschütterung sieht man die Bilderfolge, ganz gleich, wie man politisch steht, diese Bilderfolge, die durch Episodisches und Idyllisches aus der jungen nachfritzischen Welt, u.a. die ersten Amouren des "dicken Willem", unterhaltsam unterbrochen wird. Der preußische Freistaat hat alles getan, was er konnte, um der National das Werk zu verderben. Er hat ihr die Aufnahmen in Sanssouci selbst verboten, so daß sie zu Ersatz- und Trickbauten genötigt wurde, die aber ganz wunderbar original geworden sind. Was man nicht verbieten konnte, das war der Herold der Fritzen-Idee im 20. Jahrhundert, das war Otto Gebühr, von dessen strahlendem Königsauge der Film mehr lebt als von dem ganzen übrigen Drum und Dran. Er braucht nicht viel zu tun. Es ist gar nicht so viel Dramatisches in dem Stück. Er braucht nur durch und durch durch uns zu sehen, dann umschauert uns schon die Majestät der Geschichte. Man sagt von alten Eheleuten, die sich sehr lieb haben, daß sie einander immer ähnlicher werden. Man mag darüber spotten, soviel man will: eine solche Seelenwanderung, die das Äußere formt, hat auch Otto Gebühr hinter sich; er hat sich so in das Wesen des großen Königs eingelebt, daß er der Alte Fritz geworden ist. Ich liebe ihn noch mehr als Hauptmann in den "Sporckschen Jägern", dieser schönsten Urkunde unseres früheren Offizierkorps mit dessen ganzer Menschlichkeit, aber die Fridericus-Filme bringen diesen Mimen für die Nachwelt in das Konversationslexikon. Er hat schon ein ziemliches großes Töchterchen. Mit dessen Zorn drohte er mir einmal scherzhaft, als ich von seinen fritzisch kurzen Säbelbeinen geschrieben hatte. Ja, jetzt im "Alten Fritz", da ist auch der Rücken krumm, das Gesicht mager, die schmale Hand fast geisterhaft; aber das leuchtende Auge überstrahlt doch alles, und "Fridericus Rex, unser König und Held!" erbraust es in den Herzen aller Zuschauer.

Dagegen muß natürlich etwas geschehen. Es geschieht auch viel, man ist fieberhaft tätig, auf allen Gebieten. Man gründet eine Republikanische Vereinigung bei den Polizeibeamten und kontrolliert, wer ihr beitritt, wer nicht. Man gründet eine Republikanische Bürger-Konzerte-Vereinigung unter dem Protektorat Loebes zur Verschönerung republikanischer Feste, von deren Musik freilich der kaisertreue Mozart, ferner Bach, der dem Alten Fritz vorspielte, und Beethoven, der seine Missa solemnis einem Erzherzog gewidmet hat, ausgeschlossen sein müßten. Man gründet eine Havel-Aktionsgruppe Schwarzrotgold, die dafür sorgen will, daß die schwarzweißrote Flagge von unseren Binnengewässern verschwindet; zunächst freilich - kündigten nur fast alle anderen Bootsbesitzer, als diese Gruppe auf dem von ihr gemieteten Bootshause ihre Flagge hißte.

Es gibt nämlich immer noch aufrechte und knorrige Menschen. Auch draußen im Reich. Als der Berliner frühere Polizeipräsident, jetzige Regierungspräsident Friedensburg, neulich den Kreis revidierte, in dem das Staatsgestüt Beberbeck liegt, wünschte er, daß der Landstallmeister v.Nagel ihm zu dieser Bereisung ein gut gerittenes Pferd stelle. Der ließ ihm antworten: wenn der Herr Regierungspräsident ihn privatim besuche und einen Spazierritt wünsche, dann gerne, aber nicht zu einer amtlichen Kreisrevision; denn das Staatsgestüt sei kein Tattersall.

Wahrhaftig, alle Ehrfurcht gerät da ins Wanken. Und was für Geschichten man sich erst erzählt! Sitzen da drei Buben zusammen. Erzählt der eine: "Mein Onkel ist Generalleutnant a.D., wenn der in den Kriegerverein kommt, sagen alle: Euer Exzellenz!" Erzählt der zweite: "Pöh, mein Onkel ist aber Kardinal, wenn der in ein Kloster kommt, verbeugen sich die Mönche tief und sagen: Euer Eminenz!" Erzählt der dritte: "Das ist noch gar nichts, mein Onkel heißt Stresemann und ist Minister, und wenn der ins Auswärtige Amt kommt, sagen alle: Ach du lieber Gott!"
5. Januar 1928 (Donnerstag)


18

Wie die Franzosen uns lieben - Weihnachtsvorschuß und Januargehalt - Mitten in der Saison - Gesellschaft bei Krestinskij - Die Don-Kosaken - Werner Krauß als Peer Gynt - Die Inventurausverkäufe.

Die Welt ist voll von Talmi-Hutten, die da erklären, es sei eine Lust, in unserem Jahrhundert zu leben. Nicht, weil, wie Ulrich v.Hutten sagte, "die Studien blühen", also der Humanismus, sondern weil angeblich die Humanität über das Mittelalter siegte, die Völker sich verbrüdern. Das glaubt ihr nicht ? Bitte, hört mir zu! Also im Moulin Rouge in Paris wird auf der Bühne allabendlich alles Deutsche vor einem im wesentlichen amerikanischen und balkanischen Publikum begeifert, und zum Schluß ordnen sich zwölf mit Riesenbuchstaben plakatierte Tänzerinnen zu dem Aufruf: "Il faut s'armer!", man muß sich bewaffnen. Eine Aufforderung zum weiteren Rüsten, um Deutschland darniederzuhalten. Nun sind aber neulich 140 Variétédirektoren aus Deutschland nach Paris gefahren, auch ins Moulin Rouge, und diesen Besuchern zu Ehren kriegte die Balleteuse Nr. 9 statt des r ein i vor den Bauch, so daß es nun hieß: "Il faut s'aimer!", man muß sich lieben. O Jahrhundert, es ist wirklich eine Lust, in dir zu leben: die Humanität marschiert. Vorerst freilich nur auf Balleteusenbeinen vor zahlenden deutschen Gästen.

Immerhin, das ist schon etwas. Das weitere redet man sich vor. Das weitere werde schon kommen. Jedenfalls kann man sich beruhigt in den Trubel der Saison stürzen und Feste feiern. Berlin ist doch nicht besetztes Gebiet. In Berlin hört man auch auf der Straße keinen Notschrei vergewaltigter Oberschlesier oder Elsässer. Im übrigen haben wir ja durch den Vertrag von Locarno einen Strich unter alles gemacht. Also hinein in den Frack, hinein in die Saison. Im Januar kann man alltäglich von einem Vergnügen zum anderen.

Ganz so einfach ist es natürlich nicht für jedermann, denn nicht jedermann hat Geld. Am Dezember-Ultimo, dem Tage der Gehaltszahlung, habe ich in der juristischen Abteilung eines großen Unternehmens eine Besprechung mit dem Leiter. Ein wertvoller Angestellter, mir befreundet, soll von der Firma "saniert" werden, und ich bin Bürge für einen Teil seiner Schulden. Es scheint einem manchmal, daß es überhaupt keine schuldenfreien Leute in Deutschland mehr gibt. Ganz Erschütterndes über die Zunahme dieses Elends habe ich um Neujahr wieder von den lieben Leuten auf dem Lande gehört. Die Steuern, die wir um der Entente willen tragen müssen, sind vielfach nicht mehr erschwingbar. Und während ich auf den Leiter der juristischen Abteilung warte, der gleich erscheinen soll, kommt eine seiner Sekretärinnen herein und sagt zur anderen: "Prost die Mahlzeit, den ganzen Vorschuß wollen sie mir auf einmal abziehen, das wäre gelacht!" Sie sagt es erbittert, sie fühlt sich ungerecht behandelt, denn das stellt doch das neue Kleid für den nächsten Ball in Frage; und leben will man außerdem auch noch. Ja, der Januar hat's in sich, vor seinem rauschenden Vergnügen steht immer die Bilanz; und so wie diese Kleine haben sicher Tausende und Abertausende in Deutschland gesprochen.

Neben den großen öffentlichen Veranstaltungen nimmt auch die private Geselligkeit allmählich wieder zu und wird, obwohl sie die Vorkriegshöhe noch nicht erreicht hat, namentlich für die Familien höherer Beamter, die sich ihr "nicht entziehen dürfen", zur drückenden Bürde. Es ist gut und brav, daß das Reichskabinett erklärt hat, mit Aschermittwoch müsse dann diesmal Schluß sein. Für die Welt der Politiker, Literaten, Finanzleute gibt es trotzdem hier in der Zentrale der Diplomatie noch genug Feste, die auf Kosten irgendeines Staates veranlaßt werden und die man nicht zu erwidern braucht. Das ist in anderen Hauptstädten natürlich genau so wie in Berlin; manchmal glaubt man die leichtfertige Zeit des Wiener Kongresses wieder heraufziehen zu sehen. Sie ist nicht mehr ganz so bunt. Das zweckhafte, schmucklose, unauffällig und schnell dahergleitende Auto hat die seidenen Sänften und schabrackenbehängten Staatskarossen ersetzt. Dafür gibt es in den Botschaften und Gesandtschaften mitten im Winter eine auserlesene Pracht frischer und seltener Blumen, die immer noch ein Blitzzugswagen von der Riviera herbringt, wenn auch unsere deutschen Gewächshäuser schon erfolgreich sich einschieben. Und man sorgt für künstlerische und kulinarische Genüsse, wie sie ein Privatmann sich auch kaum leisten kann. Eine ganz absonderliche Art ist, gerade weil sie sich so europäisch-kapitalistisch gibt, die Geselligkeit in der Sowjetbotschaft Unter den Linden. Noch vor zwei Jahren verschrieb man sich hier eine Moskauer Tänzerin, die der hiesigen Bourgeoisie in dem Botschaftspalais ein Revolutionsmenuett mimen mußte, mit Schlangenzüngeln der Arme und Angriffslust der Beine bei unbewegtem Körper. Heute macht man das nicht mehr, man ist ganz westeuropäisch, und man lacht nur in teuflischem Hohn in sich hinein, wenn der Berliner Polizeipräsident in Gala zum Kaviar-Essen herkommt, dieser sozialdemokratische "Menschewist", von dessen Beamten schon manch einer mit Waffen ermordet worden ist, die aus Moskau stammten; oder wenn ein Abgeordneter aus dem deutschen Reichstage, ein ordensgeschmückter Mann vieler Grade, den als "Burshui" an die Wand zu stellen man für später erhofft, behaglich hier seinen Cognac von 1846 schlürft; oder wenn eine schlesische Dame, deren Diadem einer ganzen Geschlechterfolge des Hochadels gedient hat, im Walzer sich an einen Russen schmiegt, von dem sie wohl kaum weiß, daß er daheim Henker der Tscheka gewesen ist. Dazu Köpfe der Wirtschaft, Köpfe der Intelligenz, Köpfe der Wissenschaft, die in dem Strahlenkranz der Kristallkronen und des Silbers und der Tafelaufsätze so seltsam wacklig erscheinen; die Köpfe sind über die Bestecke gebeugt, und sie merken es kaum, daß die Gabeln noch das kaiserlich russische Wappen tragen, die Messer aber den Sowjetstern mit Hammer und Sichel. Der Botschafter Krestinskij scheint ja noch fest im Sattel zu sitzen. Zwei Kollegen von ihm in anderen Hauptstädten sind schon der roten Feme verfallen, die mächtig unter den ersten und ältesten Trabanten Lenins aufräumt, sie um einen Kopf kürzer macht oder - so Braunstein-Trotzki, Sobelsohn-Radek, Apfelbaum-Sinowjew - sie als Sträflinge nach Sibirien schickt. Das ist eine Art Gegenrevolution des russischen Russentums gegen seine artfremden Henker von 1917 und den folgenden Jahren. Es ist ein Progrom von Staats wegen. Jene Weltherrschaft, die die jetzt Gerichteten erträumten, als sie als erstes bolschewistisches Denkmal ein solches für - Judas Ischarioth errichteten, scheint zerschlagen zu werden. Was nachbleibt, ist eine russisch-tatarische Angelegenheit. Das ist auch nur Zerstörung europäischer Kultur und Zivilisation, ist Bewaffnung von Bettlermillionen gegen den "reichen und verfaulten" Westen, der sich hüten mag, auch wenn er heute noch so hingebungsvoll in den Sowjetbotschaften ißt und trinkt und tanzt. Aber es ist wieder russisch. Es ist wieder kosakisch.

Für das kosakische Rußland, das einst gemeinsam mit uns Napoleon niederschlug, haben wir noch alte Sympathien, soweit es sich nicht die Jakobinermütze der sowjetischen "Weltrevolution" aufstülpt. Der Chor der sogenannten Don-Kosaken, der unter seinem Dirigenten Sharow immer wieder zu uns kommt, alle Erdteile durchmißt, aber nie nach Sowjetrußland geht, ist ein gerngesehener Gast. Seine orchestrale Untermalung des Gesanges, sein Geigengesumme zwischen gespitzten Lippen, sein Glocken-Bimbam der gewaltig hallenden Bässe, seine naive Naturhaftigkeit im Pfeifen mögen vielleicht nicht Kunst, sondern Artistik sein, aber sie bezaubern. Man ist ganz im Bann. Und da jede gesteigerte Kunst national ist, verübelt man es den Don-Kosaken auch nicht, daß sie unbekümmert ihre echten Texte singen, so das "Wir wollen über die Grenzen brechen, wir wollen des Feindes Land zerstören" nach den Motiven aller russischen Armeesignale. Für sie ist das jetzt nur Erinnerung, nicht mehr Antrieb. Daß Europa, was Napoleon einst fürchtete, nicht kosakisch geworden ist, das verdanken wir Hindenburg; und die Mehrzahl der Lieder, die Sharow vortragen läßt, ist nicht Angriff, sondern Schwermut, ist Sehnsucht nach der Heimat, deren frühere fröhliche Ausgelassenheit zuweilen aufklingt, und Ergebung in den Willen Gottes, dem manches altslawische Kirchenlied gilt. Diese Don-Kosaken sind heimatlos zwischen Berlin und San Francisco. Sie sind der ewige Passagier. Es ist nicht leicht, wie es bei ihnen vorgekommen ist, an dem einen Abend in Nauheim aufzutreten, dann eine Nacht und einen Tag auf Holzbänken durchzufahren, um am nächsten Abend in Zoppot zu singen, in der gewohnten Bravour, in der gewohnten Disziplin des kaum hörbaren Pianissimo, das im nächsten Augenblick durch ein Forte von unerhörter Wucht abgebrochen wird und dann in leichtem Pizzicato weiterhüpft.

Man kann uns Deutschen auf musikalischem Gebiete nicht so leicht imponieren, wenn wir unsere eigenen Leistungen nur wirklich kennen. Es müssen schon "Spezialitäten" nach Art dieser Kosaken sein, die unsere empfindsamen Nerven in einen Aufruhr des Entzückens versetzen. Noch weniger brauchen wir in der darstellenden Kunst ein deutsches Manko einzugestehen, auch wenn gelegentlich die Duse oder das Moskauer künstlerische Theater uns begeistert haben. Dieser Tage hat Reinhardts Deutsches Theater eine Neueinstudierung von Ibsens Drama des norwegischen verlorenen Sohnes herausgebracht, des liebenswerten und doch haltlosen Haderlumpen Peer Gynt, die zu den Großtaten unserer Theatergeschichte gehört. Wer wird jetzt noch zu der gekürzten und, ach, so stimmungslosen Peer-Gynt-Aufführung des Staatstheaters unter Jeßner pilgern ? Aber zu dieser Darstellung durch Werner Krauß im Deutschen Thetaer lohnt eine Reise nach Berlin selbst aus den entferntesten Ecken des Reiches; für mich - und ich habe doch wahrhaftig viel gesehen - war es eine der stärksten Erschütterungen meines Lebens. Auch bei Reinhardt, wo das Stück schon volle drei Stunden in Anspruch nimmt, ist man nicht ohne Abstriche ausgekommen, hat man vor allem die Szenen mit dem "großen Krummen" fallen lassen, ist man also Ibsen nicht ganz gerecht geworden, aber die Szenenmalerei auf der Bühne des Romantikers Reinhardt ist von einer fabelhaften Eindringlichkeit, das Zusammenspiel der ungemein "echten" Komparserie von einer die Meininger übertreffenden Lebendigkeit. Und dann: Werner Krauß. Dieser Dämon, der in jede Rolle fährt und sie alsbald, anfangs vielleicht unter schweren Delirien, umschöpft, dieser Feuergeist, der in allen Farben lohen kann, ob er nun Strindbergs Luther gibt oder den Goetzschen Gneisenau, ob er den Schigolch Wedekinds verkörpert oder Charleys Tante aus der englischen Posse. Krauß ist wirklich immer "außer sich", ist in die neue Person eingefahren und ist sie selbst geworden; fast möchte ich sagen, so, wie es selbst der Dichter kaum geahnt haben mag. Krauß ist heute unser Größter. Allenfalls nur noch Paul Wegener wäre neben ihm zu nennen. Wo es um das Höchste der Menschendarstellung geht, wo Seelen vor uns aufgeschlagen werden, da kann man sich mit fremden Artisten selbst eminenter Begabung, wie Kainz einer war, wie Moissi einer ist, nicht mehr behelfen, da muß germanische Einfalt her, da muß das große Herz her, da muß ein Mann wie Werner Krauß uns die Menschenrätsel lösen. Warum lieben wir diesen Peer Gynt so, wenn er ihn darstellt ? Bleibt er nicht ein Tagedieb, ein nur gelegentlich empfindsamer Lump ? Gewiß, gewiß. Aber er ist so sonnig durchleuchtet, daß immer wieder ein Wiking, ein Jung-Siegfried hindurchscheint, beglückendes Wunder Wirklichkeit wird, man seine Solveig für jede Guttat an dem verlorenen Sohn schier segnen möchte. Es gibt ein vortreffliches Buch über das Phänomen Krauß, "Die Welt des Schauspielers Werner Krauß", von Alfred Mühr, mit viel schönen Bildern versehen; aber es gibt Wunder, die man leibhaftig gesehen, nicht nur gelesen haben muß.

Noch ist das Theater nicht jeden Tag ganz ausverkauft.Noch sind unsere Damen zu müde, weil sie vom Morgen bis zum Abend in den Inventurausverkäufen herumrennen und wühlen und wählen; und dazwischen noch draußen an jedem Schaufenster stehen bleiben. Vor der blanken Spiegelscheibe des Mokka Efti, Ecke Leipziger und Friedrichstraße, ist das Gedränge kaum noch passierbar. Der Zeitungshändler dort wird fast erdrückt. Ingrimmig ruft er: "Ja, natürlich, da kann man sehen, wie Kaffeewasser anbrennt!" Niemand kümmert sich um ihn. Paketbehangene Damen quetschen einander. Ein Blindenhund fängt an zu heulen, er kriegt seinen Herrn nicht mehr durch, bleibt stehen. Und der Blinde, die glanzlosen Augen zum Himmel gerichtet, sagt: "Bitte, ich möchte zur Untergrundbahn!" Sagt es noch einmal. Und fügt hinzu: "Ist hier ein Unglück geschehen ? Ich möchte heraus!"

Unsere Damen sind noch blinder als der Blinde; und vor allem viel tauber. Nur kaufen, kaufen, kaufen! Treffpunkt nachher zum Kaffee bei Kempinski. Da erzählen sie von ihren Erfolgen in den Läden. Da renommieren sie mit ihrer Hellhörigkeit und ihrem guten Blick. Nur eine spricht wie traumverloren vor sich hin: "Ich möchte wissen, was mein Mann zu Hause sagen wird; ich habe die Miete noch nicht bezahlt."
12. Januar 1928 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts