"Rumpelstilzchen"

Klamauk muß sein !
(Jahrgangsband 1927/28)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1928

Glossen 4 - 6
6. bis 20. Oktober 1927


4

Der Kindersonntag Deutschlands - "Janz ehrlich" - Hindenburg und Bismarck - Revue-Witzelei - "Und der Willem kehrt nicht wieder" - Im Heim für Heimatlose - Zirkus Wolfson.

"Mutti, Du hast immer gesagt, wenn man was Großes erlebt, dann schlägt einem das Herz. Ich habe nie gewußt, was das ist: das Herz schlägt. Aber heute, als wir Hindenburg sahen, da hat mir das Herz ganz doll geschlagen!"

Ein kleiner Quartaner ist es, der dies noch ganz atemlos herausstößt. Hindenburg! Hindenburg! Und ein Untersekundaner erzählt am selben Sonntag vor dem Stadion: "Wenn man Hindenburg ins Auge gesehen hat, kann man nie mehr lügen!" Es ist die beste Jugendweihe. Uns Alten fällt dabei Goethes Wort wieder ein, das Schönste an der Weltgeschichte sei der Enthusiasmus, den sie errege. Er wirkt weit über die Berliner Kinder hinaus, denn unter den rund 50 000 waren auch viele Versprengte aus dem Reich: hier ein Volksschüler aus Mainz, da zwei Primaner aus dem trefflichen Internat in Misdroy, dort ein Präparand aus Schlesien; auch etliche Buben und Mädel von jenseits der Versaillesgrenzen. Hindenburg! Hindenburg! Wir sind ein geschichtsloses Volk geworden, alles, was vor 1918 war, wird gestrichen, abgekratzt, übermalt, totgeschwiegen, sogar die ruhmreiche Fahne der Väter und Vorväter boykottiert. Aber nun steht die Geschichte lebendig vor uns, in dieser einen ragenden Gestalt, und alle Ehrfurcht und alle Sehnsucht drängt sich vor ihr zusammen. Es gibt Menschen - ich denke da in meine Jugendzeit an den alten Superintendenten Rübesamen in Krekow bei Stettin zurück -, denen leuchtet die Gotteskindschaft so aus den Augen, daß jeder Spötter vor ihnen still wird. Und es gibt Männer, in deren Gegenwart man sich gelobt, ein Neuer zu werden, alles Kleinliche abzutun. Zu diesen Männer gehört Hindenburg. Ein Herr v.Trotha - wenn ich nicht irre, war er Rittmeister bei den Stendaler Husaren - wurde 1913 nach Hannover kommandiert und machte mit seiner Frau Besuch bei Hindenburg, seinem früheren - von Magdeburg her - kommandierenden General, der jetzt in Hannover im Ruhestande lebte. Einladung, Wiedereinladung: Hindenburgs kommen! Frau v.Trotha hat die Tafel sorgfältig geschmückt. Hindenburg fragt, wo sie die schönen Blumen herhabe. "Von dem Gärtner Mühlenbruch an der Eilenriede, Exzellenz!"   "Was, von meinem alten Freunde Mühlenbruch ?"   "Jawohl, Exzellenz, er hat immer große Auswahl . . ." Ein warmer, tiefer Blick Hindenburgs, ein solcher Blick, vor dem man die Augen niederschlagen muß, und Hindenburg sagt leise und gütig in seinem tiefen Brummbaß: "Und wenn man janz ehrlich sein will, gnädige Frau, er ist auch billiger als die anderen!" Frau v.Trotha wird dunkelrot. Am liebsten möchte sie Hindenburg die Hand küssen; und sie schwört innerlich, nie mehr konventionelle Phrasen vorschieben zu wollen.

Aus ganz jungen Jahren taucht das Bild eines anderen Achtzigjährigen vor mir auf. Kurze Zeit vor dem Geburtstag bin ich drei Tage lang im Hause Bismarck gewesen. Auch mir "schlug das Herz", als ich dem Gewaltigen gegenüberstand. Seine Kopfweite war zweiundsechzig Zentimeter, so daß er im Laden keine passenden Hüte bekam, sondern seine Calabreser sich auf Bestellung machen lassen mußte. Aber auf dieser Riesenfigur erschien der Kopf ganz klein; nur die Augen, die Augen, die waren so groß und so lodernd, daß man sich darin verfing. "Darf ich fragen, wie es Eurer Durchlaucht geht ?" Das war das erste banale Wort, das ich, der junge Dachs, hervorbringen konnte. Dem Fürsten zuckte das Gesicht und er sagte: "Der alte böse Feind, die Neuralgie. Er läßt mich nicht schlafen. Dann aber ist der Zorn mein guter Gesellschafter." Bismarck war eben der Kämpfer bis zum letzten Tage, geistig von ungeheurer Leidenschaft durchpulst, körperlich von dem Streit eines ganzen Lebens zermürbt: er stand aufrecht vor mir, aber sein linker Arm schlang sich um den Eisenpfeiler der Veranda und die Hand krampfte sich an die oberen Rockknöpfe, um dem Körper Halt zu geben. Ich dachte an den geblendeten Simson im Tempel der Philister. Dieser Mann war bereit, mit einer Welt zusammenzustürzen, ein Riese und Held noch im Untergang.

Bismarck Leidenschaft steckte an. Vor Hindenburg werden die Leidenschaften still.

Dort der fortreißende Dämon mit stählernen Augen, die wie ein Senklot in die Seele tauchten. Hier die ehrliche Treue, die warm aus kleinen Sehschlitzen einen überrieselt. Bismarck türmte den Ossa auf den Pelion, und noch bis zuletzt erscholl sein "Her zu mir!" im Kampf. Hindenburg aber spricht mit dem alten Attinghausen: Seid einig, einig, einig! Jener brodelte wie ein Vulkan und war zerrissen von gewaltigen Eruptionen. Dieser steht wie ein Fels der Ewigkeit und ist die Ruhe und Zuversicht selbst unter einem zerflatternden Geschlecht.

Während an seinem bloßen Dasein von Jahr zu Jahr immer weitere Tausende Deutscher innerlich gesunden, steht doch eine große Schar verbissen abseits; und eine kleine, aber einflußreiche Gruppe wirft derweil dem feindlichen Ausland die Bälle zu. Erster Akt: die Verbissenen beschließen, sich nicht an der Hindenburgfeier in Berlin zu beteiligen. Zweiter Akt: sie melden dem Ausland, daß nur schwarzweißrote Nationalisten sich beteiligt hätten. Dritter Akt: sie melden aus dem Auslande, daß es durch den deutschen Nationalismus beunruhigt sei. So wirds gemacht. Die kleine, aber einflußreiche Gruppe der fremdstämmigen Berliner Intellektuellen benutzt derweil die Feier zum Bewitzeln; sie braucht für ihr Geschäft ein Volk, das keine Ehrfurcht vor Größe kennt, auch nicht vor der eigenen Größe in der Vergangenheit, und so veralbert sie die Vergangenheit.

Mit der Revue alter Art ist in Berlin kein rechtes Geschäft mehr zu machen. Wir stehen erst im Anfang Oktober, und schon sind einige Revuen, die sonst monatelang vorhielten, abgespielt und müssen durch Premièren ersetzt werden. Daß irgend ein anderthalb Meter hoher Riesenkopfputz aus Federn oder Straß oder Perlen mit einer ausgezogenen Frau darunter über die Bühne wandelt, hat man sich nachgerade über gesehen. Alle diese Pariser, Londoner, Newyorker Nuditäten muten einen schon verstaubt an. Sie finden kein Berliner Stammpublikum mehr, auch ziehen nicht mehr die Anzeigen, daß diese oder jene Tänzerin oder Truppe aus den Folies oder der Alhambra in Buenos Aires oder San Francisco stamme. Also soll die Revue des Kopfputzes durch die Revue des Kopfes abgelöst werden. Nicht mehr teure Augenblender, sondern Witz, Satire, Ironie! Das klingt nicht übel, doch sind diese dürftigen Revuechen dann meist nur eine kleine Schmutzerei, die im Grunde dem Geschmack des nordischen Menschen, auch des arbeitsamen und tüchtigen Berliners, garnicht entspricht. Es ist nicht Geist von unserem Geist. Natürlich weiß ich, daß es in London eine deutsche Opernsaison, in Newyork drei jiddische Theater, in Bukarest französische Gastspiele gibt. Dagegen ist nichts zu sagen. Auch diese neuartigen Berliner Revuen, die sogar über Pervertierung, Blutschande, Fetischismus nur witzeln, mögen für die Eingewanderten der Grenadierstraße, die wie in einem Wanzennest zusammenleben, am Platze sein. Aber man soll nur nicht den Anspruch erheben, daß es sich um deutsche Theater oder europäische Kultur dabei dreht. Da ist ein Bühnchen am Kurfürstendamm, luxuriös und kokett, mit einer kleinen chambre aparte ("Sehpareh", sagt der Berliner) hinter jeder Parterreloge, wo vor Jahr und Tag noch Hummern zum Champagner serviert wurden, während Goldonis "Diener zweier Herren" in der sprudelnd-schalkhaften Inszenierung Reinhardts vorüberwirbelte. Jetzt: Revue. Auf der Bühne sitzt Holländer am Klavier, ein Namensvetter des Kritikers. Er ist nicht Holländer, er heißt nur Holländer. Ein musikalischer Scherzbold von wirklichem Talent. Wenn er eine Paraphrase über "O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blät . . ." gibt und dabei das ". . . ter" nicht findet, mit immer erneuten Anläufen nach der Fermate sucht, so ist das sehr ergötzlich. Auch die Über-Jazzband destilliert ihr Parodistisches nur aus vollendetem Können. Aber wenn die Szenchen wechseln und einer oder mehrere Vortragende in dürftiger Aufmachung an die Rampe hüpfen, faßt uns der Menschheit ganzer Jammer an. Das Neue - und wenn es eine Art Zuhälterei ist - wird beschnalzt. Das Alte - und wenn es sich nur um den Dutt oder "Willem" handelt, den unter die Frisur früherer Art gestopften Haarwulst - wird verspottet. Da tritt ein "Potsdamer Edelfasan" auf, die Karrikatur einer Dame der ehemaligen Hofgesellschaft, und kräht den Refrain:

"Und der Willem kehrt nicht wieder,
Und den Willem gibts nicht mehr",

wozu alle uniformen Kurzhaarköpfe - sie haben den Trost nötig - natürlich lachen müssen. Aber man wird gleich noch deutlicher. Der alte Zopf sei abgeschnitten und - nach Holland exportiert. "Und der Willem kehrt nicht wieder, und den Willem gibts nicht mehr." Verständnisinniges Gewieher aller Revolutionsgewinnler; wenn morgen "der Willem" wiederkehrte, würden sie freilich alle wieder die Rücken krumm machen und die Hoflieferantenschilder neu hervorholen, denn Geschäft ist Geschäft. Bei dem zweiten Refrain des Liedes erhebt sich dieser Tage im Parkett ein deutsches Ehepaar und geht still hinaus. Brüllendes Gelächter und Händeklatschen: Gott sei Dank, nun ist man ganz unter sich.

Vielfach sagt man, das sei die Welt, die sich nicht langweile. Welch' ein Irrtum! Gerade das sind die Menschen, die sich unter der Öde winden. Sie müssen sich amüsieren lassen, sie müssen über die Toiletten der anderen sprechen, sie müssen zum Tanztee und abends ins Restaurant, denn sonst stürben sie vor Langeweile. Sie haben nichts in sich, sie haben auch für Geist nicht das geringste Verständnis, sie werden nur durch Geistreichelei gekitzelt. Aber die Modehäuser und die Luxusgeschäfte und schließlich auch so und so viele Arbeiter leben von ihnen - und richten sich nach ihnen und lassen sich in Geschmack und Politik von ihnen beeinflussen. Derweil sinken immer mehr wirklich Geistige ins Proletariat, weil auf der Bühne des Lebens nur noch die Holländer und Genossen vorgeschoben und bezahlt werden. Die Sinkenden kommen nicht immer gleich in das Asyl für Obdachlose und von dort allenfalls in eine Bodelschwinghsche Kolonie, es gibt auch noch Zwischenstufen, auf denen sie verzweifelt gegen das Versinken ankämpfen, und eine von ihnen heißt "Heim für Heimatlose", ein allerdings puritanisch einfach hergerichtetes Heim in der Großstadt, von denen ich neben vielen evangelischen auch drei katholische in Berlin kenne. Da ist das ehemalige Kloster in der Oberwallstraße im Zentrum Berlins. In den früheren Nonnenzellen, die je einer frommen Schwester als Schlafraum dienten, stehen jetzt je 4 Feldbetten, außerdem gibt es zwei große Schlafsäle für je 30 Mann und im Erdgeschoß das ehemalige Refektorium, mit Tischen und Schemeln, als Tagesaufenthalt für 96 Insassen. Etwa ein Drittel von ihnen sind Intellektuelle, Ingenieure, frühere Offiziere, Akademiker. Die Arbeitslosenunterstützung reicht gerade aus, um sie für Schlafstätte und einfachstes Volksküchenessen bezahlen zu lassen. Einen von dort, einen Altphilologen mit Doktortitel, haben wir uns gerade herausgefischt. Er hat verschiedenes von der Garderobe unseres gleichgroßen Jüngsten bekommen, des Mulus, die dieser doch nicht mehr braucht, wenn er im nächsten Frühling die Uniform anzieht. Der Doktor kriegt sein extra gutes Mittagessen am Familientisch, nachher die Zigarette, und kann dann noch ein ungestörtes Nickerchen drüben im bequemen Sessel machen. So ist er für ein paar Tagesstunden nicht mehr Proletarier, er hat wieder ein wenig Auftrieb, er bemüht sich mit neuer Hoffnung um Stellung und Arbeit. Bis zum Kriege war er jahrelang in Paris Berichterstatter großer Zeitungen in Deutschland. Im "Heim für Heimatlose" liegt neben ihm ein ehedem königlich preußischer Kammersänger, ein früher sehr wohlhabender Mann, der durch eine Theaterpleite buchstäblich alles verloren hat. Einst hat er den österreichischen Hilfsverein in Berlin mit ins Leben gerufen und ihm viel gespendet; jetzt hat er selber nichts mehr außer dem einen Anzug auf dem Leibe. Aus derselben "Branche" ist noch ein Schauspieler da, der im vorigen Jahre noch in Chemnitz engagiert war. Dem hängt der Himmel noch voll Geigen, der ist noch nicht "untergebuttert", der erzählt noch allen, er nähme keine Stellung unter 250 Mark monatlich an, denn als Darsteller müsse man so viel für seine äußere Fassade ausgeben, daß er sich hier mit 50 Mark monatlich Arbeitslosengeld besser stünde. Und da ist mir noch ein Idealist in den Weg gelaufen, Sohn eines hessischen Pfarrers, Kriegsleutnant, später wie so viele in der Presse untergekommen, dann stellenlos; er keilt alle Heiminsassen begeistert für den Stahlhelm. Gerade eben hat er wieder Arbeit bekommen: als Kabelschneider in den Siemenswerken, wo er 71 Pfennig für die Stunde erhält.

In diese Dinge kann man nur hineinsehen, wenn man persönlich hingeht. Für Bühne und Film ist das stille Elend, der graue Alltag, die müde Hoffnungslosigkeit nicht sensationell genug. Und wenn wirklich einmal Sensationen geboten werden, wie etwa die sogenannten Todessprünge von Harry Piel, dann will es keiner glauben, und es gibt Prozesse um die Wahrheit. Eine von den demnächst kommenden Sensationen kann ich diesmal selber beglaubigen. Das Stück, von der Regina-Filmgesellschaft Leipzig in Berlin-Johannisthal gedreht, heißt "Die letzten Tage des Zirkus Wolfson". Der Held wird von einem Italiener, D. Gambino, gegeben. Heute mittag sprang Gambino vor geladenem Publikum mit dem Kopf voran durch eine riesige drei Millimeter dicke Schaufensterscheibe. Das wurde gefilmt. Er zog sich nur eine kleine Schmarre am Kinn und eine an der Stirn zu; zwei Pflästerchen genügten. Erst als alles vorbei war und er wieder erschien, nur mit einem Blutspritzer am Hemd, da fing die dicke Frau Gambino, die unter den Gästen saß, plötzlich an zu heulen. Als sie sich beruhigt hatte, konnte die ganze Festversammlung photographiert werden. Neben mir auf dem Tisch im Vordergrunde saß ein entzückendes Persönchen, eine blutjunge kleine Engländerin (den Namen habe ich vergessen), eine für den Film soeben Entdeckte, die die weibliche Hauptrolle in dem Stücke spielt. Sie kuschelte sich näher an mich heran und erzählte: "Ja, schrecklich, schrecklich, was der alles macht! Aus einem rasenden Auto ist er auf ein Pferd gesprungen! Und mit einem Motorboot hat er unser Canoe überfahren müssen und ist hinausgesprungen und hat uns gerettet! Schrecklich, ganz schrecklich! Wir waren so aufgeregt und legten uns nachher gleich ins Bett und mußten furchtbar viel Cognac trinken!"
6. Oktober 1927 (Donnerstag)


5

Lache, Bajazzo! - Familie Gambino - Das Bedürfnis nach Helden - Der Napoleon-Film - Wer spricht noch von Könnecke ? - Box-Meisterschaften - Galerie und Parkett - Kreneks neue Oper.

Die alte Bajazzo-Tragödie wird vom Leben stets wiedergeboren. Letzthin habe ich vom Schluchzen der Frau Gambino erzählt. Aber den eigentlichen Grund habe ich nicht erzählen dürfen. Damals noch nicht. Das ist nämlich die Tragödie dieses Sensationsfilmers Gambino aus Modena. Vor ihm selber mußte sie jedenfalls acht Tage lang verborgen bleiben.

Gott sei Dank, sagte sich die Direktion der Regina-Filmgesellschaft, er ist noch ganz harmlos. Gott sei Dank, Gott sei Dank, echote seine Frau. Denn wenn er wüßte . . . Ja, wenn er wüßte, dann würde er nicht so strahlend und erfolgsicher mit dem Kopf voran durchs Schaufenster springen, sondern vielleicht zögernd, und würde sich dabei den Hals aufschlitzen. Oder irgendein anderer Sprung - die Sensationsaufnahmen dauern noch acht Tage - würde für ihn zum Todessprung. Also, Herrschaften, fröhlich sein, krampfhaft fröhlich sein! "Lache, Bajazzo!", auch wenn du eine Frau bist. So wurde denn Gambino am vorigen Donnerstag draußen in Berlin-Johannisthal fast übermäßig gefeiert, weil jeder Wissende sich bemühte, über die Minuten, die Stunden, die Tage hinwegzuscherzen. Die Blutstropfen von Stirn und Kinn wurden in einer Tasse aufgefangen und mit etwas Wasser gestreckt, weil es zu wenige waren, und dann durfte jeder Anwesende den Zeigefinger hineintauchen und sich selber den Kopf "mit dem Blute des Helden" benetzen. Dazu die entsprechenden hysterischen Reden über den Mut dieses Zirkus-Artisten und die "fratellanza italo-germanica", die italienisch-deutsche Freundschaft. Gambino strahlte und war glücklich, begriff auch gar nicht das Weinen seiner guten, kleinen Frau. Gott sei Dank, Gott sei Dank.

Am Tage zuvor war nämlich - sein Vater in Modena gestorben.

Die Depesche hatte seine Frau in seiner Abwesenheit empfangen und vor ihm verborgen. Sollte wegen des Todesfalls das Spiel abgebrochen, die Existenz auf das Spiel gesetzt werden ? Lache, Bajazzo! Auf jeden Fall müssen "Die letzten Tage des Zirkus Wolfson" vorher fertiggedreht werden.

Eine zweite Depesche am selben Tage: die Bitte um Geld für die Beerdigungskosten; die alte Mutter hat nichts. Also schickt Frau Gambino telegraphisch die 500 Mark, die sie tags zuvor von ihrem Mann zur Bestreitung des Lebensunterhaltes im Oktober in Berlin bekommen hat, nach Modena. Zum ersten Mal hat sie etwas hinter dem Rücken ihres Gambino getan. Wie nun, wenn er morgen sagt: "Gib mir doch mal 20 Mark!", was soll sie dann erfinden ? Wie soll sie es motivieren, daß das ganze Geld weg ist ? Die Geschichten aus tausend Romanen zucken durch ihr gemartertes Hirn, sie sieht ein vor Eifersucht entstelltes Gesicht und einen blitzenden Dolch vor sich und hört eine schreckliche Stimme: "Ha, Elende, sprich!" Da verläßt sie die mühsam aufrecht erhaltene Fassung, da fängt sie wie ein Schloßhund an zu heulen. Und Gambino, ihr Held und ihr Sieger, der soeben mit dem Kopf voran durch das Schaufenster gesprungen ist, dessen Splitter als Reliquie verteilt werden, streichelt ihr ahnungslos die Backen . . .

Wenn man als Publikum vor der Leinwand sitzt, über die die lebenden Bilder huschen, gibt man sich keine Rechenschaft darüber, welche kleinen oder großen Dramen die Herstellung begleiteten. Man hat sein Eintrittsgeld bezahlt, man genießt das Ergebnis der Artistenarbeit, man hat seine paar Augenblicke wohliger Erregung. Liegen zertrümmerte Menschen auf dem Wege bis zur Vollendung des Werkes ? Niemand fragt mehr danach. Einst wird der Wochenend-Ausflug von Europa nach Amerika oder umgekehrt etwas so einfaches sein, wie es heute eine Bahnfahrt von München nach Garmisch ist, und dann wird kein Mensch mehr von den vielen Todesopfern sprechen, die noch um 1927 herum die Versuchsflüge über den Ozean erforderten. Die Hauptsache ist der ertrotzte Sieg. Wirkung geht vor Deckung, sagt schon die alte Felddienstordnung der Armee. Wir können ohne das Heldische nicht leben, und in einer kleinen und alltäglichen Welt, in der das Heldische fehlt, muß eben das Artistentum uns Ersatz bieten. Von oben herab wird uns Pazifismus gepredigt, aber wenigstens auf der Flimmerleinwand wollen wir Kampf erleben. Und selbst wenn er gegen uns selber geht, unseren größten Peiniger verherrlicht. Der stärkste nationale Film, den die Franzosen haben, der Napoleonfilm, erregt zur Zeit in Berlin Begeisterung. Der erste Teil. Das Werden des jungen Napoleon, wie er, trotzig und verbissen, schon als Knabe sich zum künftigen Heros härtet, dann als Offizier der Revolution vor dem Konvent seine Sache verficht, überall die Leute in seinen dämonischen Bann zwingt, schließlich als 26-jähriger General seinen Soldaten den lockenden Raubzug nach Italien bietet. Als Zwischentexte flammen Worte von ihm selber auf. Seine "mots sonores" sind ja hinreißend gewesen. Aber hier werden sie durch zweckhafte Auslassungen und Zusammenziehungen zur politischen Lüge. Mir ist als historisch natürlich Napoleons Ausspruch bekannt, in hundert Jahren werde Europa republikanisch oder kosakisch sein. Das berühmte Entweder-Oder; und jedes Kind weiß aus der Geschichte, daß Napoleon weder das eine noch das andere wollte, sondern den napoleonischen Imperialismus Frankreichs als Panier aufpflanzte, Länder und Völker fraß, von dem ausgesogenen und vergewaltigten deutschen Volke für den Antichrist gehalten wurde, bis es sich erhob und ihn niederschlug. Auch unter der Maske der Republik sind noch die heutigen Franzosen dieselben Imperialisten geblieben. Das Berliner Premièrenpublikum aber brüllt in Ekstasen Beifall, wenn auf der Leinwand als angeblich historischer Satz Napoleons der Text erscheint: "Ein einiges Europa ohne Grenzen, in dem jedes Volk seine Heimat hat, die europäische Republik!" In dieser Form, in dieser Zusammenziehung finden sich die Worte, wenn ich recht unterrichtet bin, nicht einmal im französischen Original. Deutsche Dummheit oder deutsche innenpolitische Liebedienerei scheint ihn geklebt zu haben. Wo gab es denn unter napoleonischen Schergen für uns ein heimatliches Europa ? Wo kann denn heute unter dem französischen Würgegriff die Freiheit noch atmen ? Der Napoleonfilm ist technisch meisterhaft, in der Tendenz ein Appell an den Wehrsinn der Jugend und an den Ehrgeiz des französischen Volkes, also auch für uns in jeder Hinsicht lehrreich. Ich habe gar nichts gegen den Austausch solcher Filme unter den Völkern. Nur möchte ich wissen, ob in Paris etwa unser Bismarckfilm gegeben werden und ebenfalls frenetischen Beifall finden könnte. Ich glaube, beim Versuch der Uraufführung würde das Theater demoliert.

Wir jubeln fremden Kriegshelden zu. Unsere eigenen werden beschimpft. Aber die Sporthelden sind dafür unser Ersatz.

Sie sorgen für die nötige Erregung eines Abends, einiger Tage, bestenfalls einer Woche. Als Könnecke zum Weltflug nach Osten startete, hatten die Telegramme zahllose Buchstaben. Die halbe erste Seite der Berliner Zeitungen war voll davon. Jetzt stehen auf der linken Seite zwei Petitzeilen: Könnecke sei, von Basra kommend, in Bender Abbas gelandet. Und das Publikum fragt sich: Könnecke, Könnecke, wer war doch gleich dieser Könnecke ? Etwas besser behält man noch die Namen der Faustkämpfer; denn die "Meisterschaft" von Deutschland unter dieser Sorte Sporthelden wechselt nicht alle Tage. Am Dienstag fieberte wieder einmal ganz Berlin im und vor dem Sportpalast, ganz Deutschland am Rundfunk. Wer von den Schwergewichtlern wird siegen, Wagener oder Diener ? Wenn der Rundfunk getreulich das wiedergegeben hat, was ich im Sportpalast hörte, dann hat es in ganz Deutschland ein greuliches Zisch-, Pfeif- und Heulkonzert gegeben. Wagener und Diener fochten nicht, sondern deckten sich. Marke Sicher. Auf jeden Fall stehen 30 000 Mark Honorar für beide fest. Sache. Immerhin mitzunehmen. Sogar die Zuschauer auf den ersten Plätzen, der Sitz zu 35 Mark, pfiffen schließlich mit, nachdem die Galerie angefangen hatte, pfiffen auch den mit verquollenen Augen dastehenden "Sieger" Diener aus, als er nachher mit der blauen Schärpe um den Leib photographiert wurde.

Die Erregung ober war vorher groß. Die "Fachmänner" in Schiebermütze ereiferten sich, die "Spießer" mit schweißiger Glatze redeten darein.

"Wat sagense, mit seine Reichweite muß et Rudi Wagener schaffen, sagense ? Er hat doch nicht die Reichweite von Ihr Maul! Sie können woll Bananen quer fressen ?"

"Mensch, ham Sie 'ne Ahnung! Wenn der Rudi mit sein Feichten nur rausjeht, denn kann er Dienern mit'n Daumen uff eene Stulle schmieren, vastehnse!"

"Redense keen Mülleimer voll! Bloß een Leberhaken, denn atme ick Ihnen ein, Ihnen mit Ihr janzet Fachverständnis, un jleich hinnerher nehm' ick Rhizinus!"

Es ist schon gut, daß oben überall Schutzleute im Hintergrunde stehen. Das wirkt besänftigend. Und schließlich ist man bei der 15. Runde sowieso einig. Nämlich in der Überzeugung, daß beide Kämpfer die Zuschauer sozusagen betrogen hätten. Nur immer das ewige Tänzeln und Sichducken! Kein Niederschlag, kein Blut, kein herausgefeuerter Backzahn, pfui Deibel! Und beim letzten Kampf des Abends, dem der Fliegengewichtler um die Meisterschaft, erneut sich das Pfeifen und Heulen. Da aber richtet es sich nicht gegen die Fechter, diese schlanken und angriffslustigen Buben von 100 und von 96 Pfund, die beide wirkungslos, aber "mit besten Absichten" sich ohrfeigen und in die Seiten hämmern, sondern gegen den Ringrichter. Der Richter im Ring, Pippow, hat bei den Umsitzenden schon von vornherein Befremden erregt, weil er, der Unparteiische, den einen der Kämpfer, Harry Stein, besonders herzlich mit "Also, go on, Harry!" begrüßt hat. Dessen Gegner, den kleinen blonden Kohler, das fixe Kerlchen, behandelt er dagegen ganz anders, reißt ihn einmal sogar scheinbar roh zurück. Und rügt nicht Steins unkommentmäßige Nachhiebe. Kompliziert wird die Angelegenheit dadurch, daß der bisherige Inhaber des Meisterschaftstitels im Fliegengewicht, Harry Stein, ein Makkabäer ist, und da wittert die Galerie Unrat. "Wieviel Prozente bekommt der Ringrichter von Stein ?", schallt es von oben herunter. Pippow wird blaß, wird noch nervöser; eine derartige Verdächtigung aus dem namenlosen und unfaßbaren Publikum heraus ist allenfalls bei Ringkämpfen oder Radrennen gelegentlich lautgeworden, aber noch kaum je beim Boxkampf. Nun verliert auch Kohler, dem der Sieg nach Punkten sicher ist, seine Fassung, als Stein einen verbotenen Genickschlag anbringt und wieder nicht verwarnt wird: in der dreizehnten Runde wirft Kohler voll Knabentrotz den Kopf zurück, erklärt, er fechte unter diesem Ringrichter nicht weiter, und wird deswegen disqualifiziert.

Ein mißvergnügter, ein quälender, ein verlorener Abend, sagen sich auch die Damen in kostbaren Pelzen auf den 35-Mark-Plätzen. Nur einen einzigen Moment der Erregung hat es gegeben. Auch der Kampf um die dritte hier ausgefochtene deutsche Boxmeisterschaft wird vorzeitig abgebrochen. Der Titelinhaber Grimm hat dem Herausforderer Sahm einen Tiefschlag versetzt, einen Fauststoß in die Hoden. Grimm wird seines Titels für verlustig erklärt, der vor Schmerz zusammengesunkene Sahm weggetragen. Nun vibrieren den Damen die Nüstern.

Dieser Schaupöbel ist ja doch nur auf die Sensation aus. Wer das weiß und ausnutzt, der ist ein gemachter Mann, auch auf der Bühne und in der Malerei und in der Musik. Kreneks neue Jazz-Revue-Kientopp-Oper "Johnny spielt auf" - schon von 60 deutschen Theatern angenommen, heißt es - spekuliert nur darauf. Dieser junge, 1900 geborene Tscheche, Mahlers Schwiegersohn, Schrekers Schüler, mußte nach Hindemith und Strawinsky unbedingt kommen, wie die Spartakisten nach den Sozialdemokraten. Nicht der innere musikalische Dämon, sondern klangtauber Intellekt diktiert die Partitur. "Was zieht ?" Das ist die einzige Frage. Und wenn das nicht zieht, zieht gar nichts mehr: gleich am Anfang der Notzuchtsversuch des Niggers an einer Dame in offener Hotelhalle und zum Schluß eine in Lebensgröße auf die Szene fauchende Schnellzugslokomotive. Deus ex machina. Sie überfährt den weißen Konkurrenzhelden; Johnny als Lebenssieger spielt auf; ganz Europa ist sein. Natürlich hat Krenek nicht alles selbst erfunden (nicht einmal die zum Teil mörderisch kreischende, zum Teil immerhin noch hübsch tonale Musik), nur hat er das Dagewesene noch übertrumpft. Im Drury-Lane-Theater in London wurde schon vor etwa fünfzehn Jahren ein Stück gegeben, in dem der Zusammenstoß einer Lokomotive mit einem Auto gemimt wurde. Ganz London rannte hin. Frauen kreischten hysterisch, Frühgeburten wurden fällig. Neu ist auch nicht die Verbindung mit Grammophon und Film auf der Bühne. Neu ist nur die ungeheure Frechheit, mit der der Sieg des Bluffs über die Kultur gefeiert und dem Niggertier der Siegeslorbeer gereicht wird. Der junge Herr Krenek, sprich Kschenek, ist mit allen Wassern gewaschen, mit allen Salben gesalbt, ist ein musikalischer Barmixer von großem Talent und kann - wie sein Johnny - über Europa hohnlachen, wenn er die erste Million Goldmark mit seiner Spekulation auf die Sensationsgier und Perversität des neudeutschen Publikums gemacht hat. Früher waren junge Künstler lodernde Romantiker. Heute sind sie kalt rechnende Geschäftsleute. Die Johnny-Oper ist wirklich nur ein Verstandes-Destillat. Das Wesentliche an ihr ist nicht die Musik, sondern die Inszenierung. Da gibt es Verblüffendes von der Hotelhalle bis zum Hochgebirge und dem Zentralbahnhof. Dank den allmählich sich öffnenden Irisblenden sieht man "im fernen Dunkel" - tatsächlich steht die Lokomotive schon da - zuerst nur zwei kleine Lichtpünktchen, sie werden erschreckend schnell größer, nun faucht und zischt und rattert es, nun steht das Ungetüm plötzlich vor uns im hellen Licht und hat knirschend den Menschen überfahren.

Wir sind alle "ein bißchen übergefahren", wie der Berliner sagt. Die Johnny-Vorstellungen in der städtischen Oper sind ausverkauft. Und das häufigste kurze Gespräch unserer heutigen Mondänen lautet:

"Dagewesen ?"

"Ehrensache!"
13. Oktober 1927 (Donnerstag)


6

Kleists 150. Geburtstag in Berlin - Gothein im Esplanade - Republikanisches Albdrücken - Neue Rekorde - Erinnerungen an die Barrisons - Wir sind international - Kempinski-Betrieb - Oktoberfest in der Reichshauptstadt.

Ein literarischer Geschäftsmann in Rom wollte Dante aus dem Hochitalienischen in Dialekt übertragen lassen, aber durch das neue faschistische Urheberrechtsgesetz wurde der saubere Plan vereitelt; nach diesem Gesetz ist jedes Werk eines Künstlers auch gegen Umformung und Verballhornung geschützt. Leider sind wir in Deutschland noch nicht so weit. Schillers Glocke wird verschnadahüpfelt, Richard Wagners Pilgerchor aus dem Tannhäuser als Foxtrott zum Tanze aufgespielt, im Staatstheater zu Berlin Spiegelberg als Hauptheld der Räuber herausgearbeitet, Shakespeares Hamlet im Dinnerjacket mit Monokel gegeben. Da braucht man sich nicht zu wundern, daß Fürst Bismarck, der für seine Grabstätte die Inschrift "Ein treuer Diener seines kaiserlichen Herrn" selber gewählt hatte, von Herrn Emil Ludwig-Cohn als Republikaner abgestempelt wird; oder daß Heinrich v.Kleist, dieser lodernde nationale Feuerstrahl, jetzt bei der Feier seines 150. Geburtstages in der Darstellung Wilhelm v.Scholz, des Präsidenten der Dichtersektion der preußisch-republikanischen Akademie der Künste, als sanfter Kosmopolit und Paneuropäer erscheint. Wir leben nur noch von der Verschandelung unserer Großen. Kleists Hermannsschlacht, die in der eisernen Forderung gipfelt, für die Freiheit des Vaterlandes müsse der Deutsche seinen Besitz und Weib und Kind zu opfern bereit sein, wird ja nicht mehr gegeben. Keine große Berliner Bühne hat sich zu einem Erinnerungsfest an dieses größte deutsche Dramatikertemperament aufgerafft. Wir haben ja so viele lebende Genies! So konnte am Kleisttage Herr Kerr, der Kritiker des Berliner Tageblatts, der der deutschen Sprache das impressionistische Stammeln beigebracht hat, als Sechzigjähriger gefeiert werden. Aber Kleist paßt natürlich nicht in die Locarnozeit, es sei denn, daß man ihn für die Öffentlichkeit umfälscht und seinen elementaren Franzosenhaß aus den Napoleonjahren unterschlägt. Heute werden wieder, wie damals, Deutsche im Rheinland von Franzosen gepeitscht, aber wir sollen nicht mit Kleist sprechen:

"Ich will die höhnische Dämonenbrut nicht lieben!
Solang sie in Germanien trotzt,
Ist Haß mein Amt und meine Tugend Rache!"

Wer heute so spräche, wer gar Kleists Wort "Schlagt sie tot! Das Weltgericht fragt Euch nach den Gründen nicht!" wiederholte, der kriegte es wohl mit den Behörden zu tun. In unsere Zeit paßt viel besser der von einem internationalen Kabarettisten geprägte Satz: Lieber fünf Minuten feige, als das ganze Leben tot. Wir witzeln uns über das nationale Elend hinweg. Und wir feiern nur diejenigen, die Wegbereiter der neuen Weltanschauung waren, gute Republikaner und Paneuropäer sind. Der ehemalige Reichsschatzminister von 1919, der demokratische Abgeordnete Gothein, unter dem die Verschleuderung des deutschen Reichsschatzes an die Schieber begann, begeht heute seinen 70. Geburtstag. Ein Ausschuß, dem Dernburg, Koch, Sobernheim, Stern und andere angehören, fordert zu einem Bankett zu seinen Ehren auf, das für jeden Teilnehmer 25 Mark kosten soll. Ein besonderer Witz ist es, daß das Festbankett im Hotel Esplanade in der Bellevuestraße stattfindet, jener vornehmen Gaststätte, die im Flaggenstreit Schulter an Schulter mit Adlon und Kaiserhof sich am deutschesten und mannhaftesten benommen hat. Als jüngst die Vorstandsmitglieder des Genfer Internationalen Arbeitsamtes hier ihr Zweckessen hielten, hatte die Berliner demokratische Presse geschlossen ihre Teilnahme abgesagt. Man hat sie nicht vermißt. Jetzt ist sie wieder da. Das Hotel Esplanade, einst das bevorzugte Stelldichein der ersten Gesellschaft nach allen Hoffesten, hat übrigens gar keinen Schaden durch seine Haltung gehabt, eher seine Besucherzahl erhöht gesehen. Nur haben die verehrlichen Behörden ein "Flaggenkompromiß" jetzt erzwungen: die Hotels hissen nicht mehr wie bisher, wo sie niemand vor den Kopf stoßen wollten, entweder gar nichts oder Schwarzrotgelb und Schwarzweißrot, sondern Schwarzrotgelb und Schwarzweißrot mit schwarzrotgelbem Obereck.

Wenn nur ein Teil der Energie, die die Berliner Obrigkeit im Kampfe gegen die Erinnerung an vergangene deutsche Herrlichkeit verwendet, zur Befreiung des Vaterlandes aufgebracht würde, dann wären wir schon erheblich weiter. Es wird unsäglich viel Kraft verpulvert. Den neudeutschen Schnüfflern dreht sich schon das Herz im Leibe um, wenn sie im Postscheckamt in der Dorotheenstraße die Ehrentafel für die im Weltkrieg gefallenen Beamten sehen; denn über der Tafel sinkt eine Jünglingsgestalt mit der schwarzweißroten Fahne in die Knie. Man schnüffelt in ganz Deutschland. Auf dem Bodensee verkehrte früher ein Dampfer, der "Kaiser Wilhelm" hieß. Entsetzlich; die Republik ist in Gefahr. Also taufte die Reichsbahngesellschaft, der der Dampfer gehört, ihn in "Baden" um. Und nun neues Entsetzen: man bemerkt erst jetzt, daß auf sämtlichen Treppenstufen im Dampfer in großen Messingbuchstaben, die sich nicht einfach wegpinseln lassen, wahrhaftig noch "Kaiser Wilhelm" steht! Wenn man das Geld, das das Überstreichen und Fortmeißeln und Umformen gekostet hat, noch besäße und zur Verfügung hätte, könnte man damit der Wohnungsnot schon erheblich zu Leibe gehen.

Die einzige Hoffnung der Pinsler ist, daß wir allmählich auf andere Gedanken kommen. Es werden täglich so viele Rekorde gebrochen, daran kann sich die Nation doch erbauen. Trage jeder seinen Teil dazu bei! Den Weltrekord im Dauertanzen haben wir ja in Berlin. Auch den Weltrekord im Trinken von großen Weißen. Dann den deutschen Rekord im Dauerreden: der Abgeordnete Antrick brachte es im Reichstag bei einer Zolldebatte vor fünfundzwanzig Jahren auf acht Stunden. Wir haben Rekordschwimmer, Rekordläufer, Rekordsegelflieger. Den Rekord von 38 Umdrehungen um sich selbst bei einer Pirouette hält die Tänzerin Nemtschinowa in London. Den Weltrekord im tiefsten Baßton ein ehemaliger Kirchensänger in Moskau. Ich selber könnte vielleicht in diese Galerie illustrer Zeitgenossen kommen, - ich kann nach einem tiefen Zuge aus der Zigarre mit gespitztem Munde 82 Rauchkringel ausstoßen. Wenn das bekannt wird, werde vielleicht sogar ich bekannt und von Interviewern aufgesucht. Den Rekord im Langsamrauchen hat neulich eine Dame aufgestellt. Den Rekord, als erste Frau den Ozean von Europa nach Amerika überflogen zu haben, hofft jetzt im deutschen Flugzeug eine Wiener Schauspielerin für sich buchen zu können. Eine Tochter von Gertrud Barrison.

Da kommen einem wahrhaftig die Tränen historischer Rührung in die Augen.

Ich sehe mich noch als jungen Menschen auf der Weinestrade des Berliner Wintergartens, wie ich da mit großen Kugelaugen die Welt anstaune. Am Nebentisch haben drei von den "five sisters Barrison" Platz genommen, mit ihnen der Rechtsanwalt Fritz Friedmann, die große Prozeßkanone, der sagenhaft berühmte Mann, der von einem Tage zum anderen Vermögen gewann und vergeudete. Er reicht Gertrud Barrison einen echten Hundertmarkschein, sie dreht diesen zu einem Fidibus zusammen und zündet sich damit die Zigarette an. Das konnten die Barrisons sich leisten; ganz Berlin, soweit es Geld hatte, lag ihnen zu Füßen. Das war die Zeit, wo alle Welt ihr Daisy-Lied trällerte. Eigentlich waren sie das Urbild der heutigen Tillergirls, zum ersten Mal die Masse Weib, zehn Beine und ein Schlag. Die fünf Sisters saßen bei Hochgehen des Vorhangs vorn an der Rampe auf dem Boden, alle fünf mit den gleichen goldblonden Locken, alle fünf mit den gleichen süßen Gesichtchen, alle fünf mit dem gleichen lebendigen Kätzchen im Schoß, und sie schaukelten gleichmäßig und erregend hin und her und hoben gleichmäßig die weißen Arme und die kurzbestrumpften Beine und sangen:

"Daddy wouldn't buy me a bow-wow, bow-wow,
I've got a little cat
And I'm very fond of that,
But I'd rather have a bow-wow, bow-wow",

und das Publikum , von Anblick und Singsang hingerissen, raste Beifall, obwohl es nicht einmal, denn es waren ja Deutsche, die obszöne Nebenbedeutung von "Kätzchen" und "großem Wauwau" ahnte.

Der Berliner hat ja immer eine kleine Sonderschwäche für das Fremde gehabt und hat sie noch. Er möchte so gerne "Weltstadt" vortäuschen, obwohl beispielsweise Hamburg es im kleinen Finger mehr ist. Kluge Geschäftsleute nutzen das weidlich aus. Der Riesenbau des Ufahauses am Potsdamer Platz, in dessen Front sich das Café Vaterland befindet, ist jetzt zum Teil abgerissen, weil ein "internationaler" Kempinski-Betrieb hineingebaut werden soll. Holländische, russische, italienische, japanische, arabische, spanische "original echte" Kneipen.

Da wird man Schutzleute davorstellen müssen, um den Verkehr zu regeln. Ja, das Fremde! Die Tripolisschau im Zoologischen Garten ist seit Herbstbeginn nicht mehr, dafür aber hat sich eine "echt bayrische" Oktoberwiese in der riesigen Autohalle auf dem Meßgelände draußen aufgetan, und da strömt man nun hin, denn auch die bayrischen Trachtler sind für die Reichshauptstadt "Eingeborene", die man angestaunt haben muß. Von den Leuten, die für Berlin WW typisch sind, gehen freilich nur wenige hin, aber der gesamte Berliner Mittelstand erscheint in Massen. Er erfreut sich kindlich an dem Oktoberfestrummel, vor allem an den "wilden Eseln", an Autobussen, die bocken und sich dann wie wild im Kreise um sich drehen, vorn und hinten ausschlagen und ihre Insassen gründlich durchschütteln. Das ist ferner "Das Weltwunder Hertha, 15 Jahre alt, wiegt 500 Pfund", da ist "Das Tagesgespräch, Salome, das blaue Weib", da ist das angeblich 350jährige Krokodil mit der lockenden Anzeige: "Dieses Riesenkrokodil ist eine zoologische Angelegenheit und für jeden Besucher eine bleibende Erinnerung für das ganze Leben", da sind so viel Schaubuden und Jahrmarktszelte, daß der gaffende Berliner endlich einmal zeigen kann, wie sehr er noch - Kleinstädter ist.

Aber der Hauptstrom ergießt sich doch nicht in diese "bildende", sondern mehr in die "nahrhafte" Abteilung, in den kolossalen à la Partenkirchen und Oberammergau und Neuschwanstein ausgemalten Raum, in dem gleichzeitig Tausende mit Rostwürsteln, Spanferkeln, Brathühnern, Rettichen geatzt und mit Wagnerbräu getränkt werden können. Dazu eine große Kapelle in "echtem" Kostüm (sagt's nicht weiter: der dicke Paul da heroben ist nur ein verkleideter Berliner!), dazu an die hundert Kellnermadln, nicht nur vom Seniorenkonvent, sondern auch apfelfrische junge Dinger darunter, und verschiedene Münchener und oberbayrische "Originale", die der Unternehmer, der Tiroler Kirchner, nun schon in Düsseldorf und Magdeburg und sonstwo überall herumgeschleppt hat. Darunter auch Kuckuck, der alte Kuckuck, der Doppelgänger des Königs Ludwig. Er spielt hier eine etwas trübselige Rolle mit seinen Kriegsdenkmünzen und dem übrigen Behang und dem umwickelten Stock, der in Preußisch-Berlin nicht mehr schwarzweißrot ist, sondern schwarzrotgelbweißrot, zum Aussuchen für Jud und Christ und Hottentott. Ein echter Watschentanz auf der Bühne, juhu! Alle die Tänzer ud Trachtler, das ist das Anziehende, verschwinden aber dann nicht, sondern mischen sich unter das Publikum. Das füttert und tränkt diese lieben drolligen Eingeborenen. Je ärger der Urbayer über die Saupreißen oder die damischen Berliner schilt, desto liebenswürdiger sind diese zu ihm. Im Bayrischen Vaterland schrieb Sigl einmal, es sei lächerlich, von preußischer Kultur zu sprechen; die Bayern seien schon ein altes Kulturvolk zu einer Zeit gewesen, als die Preußen noch auf Bäumen saßen und sich mit Nüssen bewarfen. Solche Kraftäußerungen freuen den Berliner und die Berlinerin. Jener zwickt die Madln in alle Rundungen und gibt große Trinkgelder, diese haucht "Mei lieber Bua!" und gibt den Burschen so viel zu trinken, daß sie abends kaum mehr stehen können. "Ein Prosit, ein Prosit der Gemüatliachkeit! Oans, zwaa, drei, gsuffa!" Lärm, Gelächter, Krach; keiner merkts, wie schlecht eingeschenkt wird, alles ist von der Lust mit fortgerissen, die ältesten Esel und die dicksten Gattinnen werden zu lustig kreischenden Kindern.

Natürlich habe ich mich auf den Besuch dieses Oktoberfestes, das vier Wochen lang dauern soll, literarisch-ethnologisch gehörig vorbereitet. Ich habe den köstlichen Gedichtband "Bairisch Blut" eines alten Feldzugskameraden, des kürzlich verstorbenen Oberstleutnants a.D. Karl Bauer, das im vorigen Jahr in München erschienen ist, wieder einmal mit großem Behagen durchgelesen; dazu ein bißchen Ludwig Thoma. Aber draußen auf dem Rummel hatte ich alles wieder vergessen. Der Ploner Sepp saß neben mir und bot mir von seinem Schmalzler an. Ich schnupfte, nieste zuerst einen halben Radi durch die Nase, nieste zum zweiten Mal das duftende Taschentuch meiner Schwägerin voll und nieste zum dritten Male so, daß die Papierservietten vom Tisch und die Röcke der Damen in die Höhe flogen. Dann erst wurde ich gesprächig und erzählte dem Ploner Sepp (wir Berliner verulken uns ja gerne selber) die ihm noch nicht bekannte Geschichte aus Ettal. Da kommt ein Berliner in seinem Auto vom Gebirge herunter gefahren und kann nicht vorwärts, weil vor ihm bedächtig ein Leiterwagen mit Langholz, mit Baumstämmen, fährt und bei jeder Biegung quersteht. Der Berliner schimpft das Blaue vom Himmel herunter. Weshalb die Stämme nicht vorher zersägt würden ? Verdammt nochmal! Da dreht sich der bayrische Fuhrmann um und sagt:

"Dös geht fei net, daß die Stämm' dersägst, do draus wern Mundharmonikas für die Berliner gmacht!"

(Natürlich sagt er "Fotzhobel" und nicht Mundharmonika; aber wenn ich richtig bayrisch schriebe, verstände es in Norddeutschland kein Mensch.)
20. Oktober 1927 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts