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"Der Herr sind gefilmt" - Starsuche im Lunapark - Ferien auf See und in der Luft - Von Helsingfors zu Mussolini - Die Menschheit wird uniform - Wenn Greisinnen tanzen - Aus einem Niggersong.
"Der Herr sind soeben gefilmt!"
Man prallt zurück. Was, gefilmt ? Vor einem steht, mitten im Gewühl des Bürgersteigs, eine Dame und sagt es. Drückt einem auch einen Nummernzettel in die Hand. Unter dieser Nummer kann man tags darauf seine Bildchen verlangen; Kostenpunkt nur 1 Mark. Wahrhaftig: da steht ja uch der Kurbelmann am Rande des Bürgersteigs. Dreht meuchlings zwei Sekunden jeden ahnungslos sich Nähernden, von dem er annimmt, daß er eine Mark lose sitzen hat. Besonders auf Pärchen hat er es abgesehen. Und nun steht man entgeistert mit seinem Nummernzettel da und versucht instinktiv, sich die eigene Haltung in den historischen zwei Sekunden vorzustellen. Hat man nicht besonders blöde vor sich hingelächelt ? Den Regenschirm krampfhaft komisch gehalten ? Die dicke Zigarre lächerlich zwischen den Zähen hängen lassen ? Man geht in Gedanken weiter, vielleicht nur hundert Meter in derselben Straße, - rr -, schon ist man vom nächsten Kurbelmann gefilmt. Und wieder vertritt einem seine Assistentin den Weg. Es ist eine Seuche. Im Juli hatte man von ihrem ersten Auftreten gehört. Da hatten die beiden Jüngsten, vom Tauntzienbummel mit zwei bekannten Mädels, solche Miniaturbildchen mitgebracht. Jetzt ist man nach sechs Wochen Ferien aus dem Auslande heimgekehrt, und in Berlin, auch in anderen deutschen Großstädten, trifft man überall diese drehenden Attentäter. Die Heuheit zieht, sie machen glänzende Geschäfte, es gibt mitunter auf diese Weise ganz ulkige Andenken an iregndeine Reise, endlich einmal nicht "gestellte" Photographien, wie Else bei den Tauben am Markusplatz, Elso vor Trollhättan, Else in Dreß auf dem Sportdeck. Aber schon ist die Überproduktion da. Nach einem Jahr die Pleite.
Hast du ein Filmgesicht ? Das ist die Frage, die sich täglich Tausende junger Mädchen vorlegen. Nicht bloß so auf der Straße geknipst zu werden, in drei Momentaufnahmen schließlich festgehalten, Kostenpunkt eine Mark; nein, Star werden, hundert Meter lang in zusammenhängenden Szenen sich kurbeln lassen! Der Lunapark lädt zu einem Versuche ein: Männer vom Fach würden offen vor allem Volk eine Probe veranstalten, die beste der erprobten Damen aus dem Volke werde vom Fleck weg engagiert. Auf dem großen Freipodium in der Mitte drängen sich die künftigen Stars mit großen Nummernplakaten am Kleide, setzen sich auf die lange Reihe von Stühlen, kriegen ein Fläschchen in den Ausschnitt und einen Briefbogen in die Hand gesteckt und sollen nun mimen, daß sie - ha, der Elende - den Verrat des Liebsten erfahren, Gift nehmen und in Verzweiflung sterben. Also sie lesen, sie trinken, sie verzerren die Gesichter und sie fallen reihenweise von den Stühlen; aber es stirbt sich schwer, wenn ein tausendköpfiges Publikum wiehernd lacht.
Ach, ist das schön, sein altes, lustiges, amüsierendes Berlin so wiederzusehen! Das heißt, nachdem man sich gründlich von ihm erholt hat. Gegen Ende des Plauderjahres steht es einem immer bis an den Hals. Man ist so menschenmüde, so menschenmüde. Ganz zerschlagen habe ich mich diesmal zunächst auf die hohe See gerettet, als Gast des schönen Lloyddampfers "Madrid" die vier nordischen Hauptstädte und noch zwei andere Häfen besucht, nachdem ich vorher auf Sylt ein paar Tage lang den Großstadtstaub mir abgespült hatte. Solch eine Erholungsreise zur See ist das Beste für abgehetzte Nerven. Und der Norddeutsche Lloyd, stark benutzt von Westdeutschen, Süddeutschen, Mitteldeutschen, hat meist nur wenige Berliner an Bord. Mich kennt doch hoffentlich keiner ? In der Passagierliste und auf dem Schildchen an meiner Kabinentür steht nur mein Name, nicht Stand und Beruf. O Gott, da sitzt ja einer auf dem Promenadendeck und liest eine Zeitung, für die ich ständig schreibe! Ich bin verloren, wenn Leser mich entdecken, erkennen, beschlagnahmen und dann vierzehn tage lang Unterhaltung erwarten, während ich doch nur schweigend genießen will. Man kann es so bequem auf einem großen, in der guten Jahreszeit kaum schwankenden Dampfer. Im Speisesaal - erstklassige Sanatoriumsverpflegung - ein Eckchen an der Wand am kleinen Tisch. Gut so. Und die Liegestühle oben auf dem Bootsdeck an die Sonne, Front zum Meer. Mag hinter mir gackern, wer will. Den "Alleswisser" - es gibt immer einen unter den Passagieren, der ständig alles erklären will - hört man gelegentlich zwar auch hier. Aber man hört nicht hin. Hie und da schaut man sich blinzelnd und genesend nach den ersten Tagen auch schon die Mitreisenden an und registriert sie innerlich, gibt ihnen die passendsten Namen. Da ist der Bellermann, da das Bordgespenst, da die unausstehliche Familie, da das Meisje, da der verkümmerte Marx, da der potenzierte Stresemann, da der Senator, da Ibsens Nora. Nach einigen weiteren Tagen streckt man sich schon wohlig und fängt an, ein wenig sich an dem Vergnügungsbetrieb zu beteiligen. Es gibt eine Gykhana, es gibt Bälle, es gibt Decksport, es gibt ein Konzert, es gibt ein Kostümfest. Alle Stände - es ist im allgemeinen nur gute Gesellschaft - mischen sich. Im Rauchzimmer sitzt neben zwei Freiherren und einem Plantagenbesitzer aus Bahia ein kleiner Antiquar aus Südwestdeutschland, der Löcher im Vorhemdchen und für festliche Gelegenheiten nur eine Lüsterjacke hat; man sagt ihm, er solle doch heiraten, dann werde ihn seine Frau schon in Ordnung halten, aber er antwortet, nein, lieber verbrauche er sein Geld zu so schönen Reisen. Schließlich, gegen Ende, taut sogar der schweigsame japanische Oberst Fujisawa von der Berliner Botschaft etwas auf und beteiligt sich gelegentlich an der Unterhaltung. Sonst hat er sich nur für Wasserstraßen interessiert. Wie die große "Madrid" sich zwischen den zahllosen Felseninseln hindurchschlängelt. Während der Schärendurchfahrt vor Stockholm verknipst Fujisawa in einer Stunde achtundvierzig Filme, links, rechts, links, rechts, links, rechts, es geht wie Maschinengewehrfeuer. Aus dieser Bilderreihe kann man die Fahrrinne kartographisch rekonstruieren; es gibt ja wohl eine verbündete Großmacht, die für so etwas dankbar ist.
Vorhang herunter, Vorhang hoch, neue Szene: Der Süden. Unter möglichster Vermeidung der Eisenbahn (verrußte Nasenlöcher sind mir unsympathisch) sause ich durch reine Lüfte im Flugzeug, hin und wieder her über Deutschland im Landflugzeug, draußen in Italien im Wasserflugzeug, in deutschen Dornier-Wal-Maschinen. Traumhaft schön ist besonders das Entlangrutschen an Italiens Schienbein. Von Genua über Ostia und Neapel bis Palermo führt eine Linie. In Rom habe ich das denkwürdigste Erlebnis dieser Ferien, eine Unterredung mit Mussolini im Palazzo Viminale. Zu Hause in Berlin liegt schon ein entrüsteter Brief von Tante Malchen aus Ostpreußen. "Ist das nu eine Erholung ?", zetert sie. Sechs Wochen stille am Strande in Rauschen oder in der Oberförsterei bei Darkehmen wären besser für mich gewesen, sagt sie. Ach, Tantchen, das verstehst du nicht. Ich weiß wohl, daß ich in der Familie "der rasende Reisende" heiße, aber gerade das ist für mich die beste Erholung, der rasche Wechsel immer neuer Bilder und Eindrücke, der mich auf eine Weile Berlin ganz vergessen läßt, mir für später reichhaltiges Vergleichsmaterial gibt und wohlige Erinnerungen schafft. Säße ich statt dessen wochenlang in derselben Pension mit Frau Rechnungsrat links und mit Frau Studienrat rechts, immer intimer bekannt auch mit Herrn Regierungsrat und Herrn Amtsgerichtsrat, so würde ich verrückt vom ewigen Konversationmachen. "Ja, was ich sagen wollte, die Gehaltserhöhung müßte . . ." "Und die Spannung zwischen Klasse neun und zehn, nicht wahr . . ." Nein, meine Lieben, Eure Sorgen in allen Ehren, meinen Berliner Beruf in allen Ehren, aber über beides will ich gerade in den Ferien um alles in der Welt nicht plaudern; da lerne ich mehr und da erhole ich mich mehr, wenn ich irgendwo im lauen Waschblau des Mittelmeers mich zwischen vier Damen aus Messina, einem Maler aus Paris, einem Deutschelsässer aus Colmar und einem lettischen Studenten finde. Vier Tage später kenne ich sie nicht mehr. Und in der Zeit nach dem Abendbrot, wo in der typischen deustchen Sommerfrische die Herrschaften stundenlang bei einem Schwatz zusammenzusitzen pflegen, da studiere ich - um nicht tagsüber draußen mit dem Buche in der Hand als Karikatur eines Deutschen oder Engländers aufzufallen - in aller Ruhe und sehr gründlich den Reiseführer, etwa Meyers treffliche Italienbände oder sonst ein gutes Buch. Diesmal hat mir das Glück noch ein ungedrucktes Buch, das erst im Oktober erscheint, in die Hand gegeben: "Das Verhängnis der Zarin" von M.v.Snessarew. Ich habe das Manuskript, zuerst auf der Nordsee-Ostsee-Rundfahrt, dann im Süden, ehe es im Berliner Brunnenverlag herauskommt, nicht weniger als viermal hintereinander verschlungen. Das war mein zweites großes Erlebnis.
Ansonsten habe ich - in der Berliner Pause zwischen beiden Ferienhälften war ich natürlich wieder im Wellenbad im Lunapark - in Westerland und in Helgoland, in Kopenhagen und in Helsingfors, in Ostia und in Sestri Levante feststellen können, daß die Uniformierung der Menschheit reißend zunimmt. Ich meine nicht die äußere gewisser Kleidungsstücke, daß männiglich in Europa heute im Sommer die katalonische Kappe mit Stengelchen auf dem Hinterhaupte trägt. Nein, der Unterschied der Geschlechter verflacht sich. Schon beim Kostümball auf der "Madrid" hatte es Verwechslungen gegeben. Eine Dame, die im entliehenen Gewand eines Stewards erschien, hatte sich zwar die Haare im Genick, aber nicht den Flaum auf der Oberlippe rasiert. Mit einer anderen Dame tanzte ein Herr und ließ sie entrüstet stehen, als er merkte, daß auch sie ein Herr sei. Und nun in den Bädern, in Westerland und in Helgoland, in Kopenhagen und in Helsingfors, in Ostia und in Sestri Levante: es ist alles geschlechtslos, man weiß bald gar nicht mehr, was für ein Wesen es ist, das neben einem ins Wasser steigt.
Es hat jedenfalls keinen Busen mehr. Es hat nur sowas wie zwei Schemisettknöppchen.
Die Folge davon ist rapide zunehmende Sittlichkeit. Oder, im Ernst gesprochen, Unbefangenheit. Es fehlt die erotische Reizung, man ist harmlos, man tollt jungenhaft miteinander. In einem Familienbad - andere gibt es nicht mehr - sah ich sogar, was früher undenkbar gewesen wäre, einen katholischen Priester, der nicht die Hände über dem Kopf rang. Danach erst ist es mir aufgefallen, daß fast nirgends in der Welt mehr Frauenabteile in den Eisenbahnwagen existieren. Sie sind sang- und klanglos verschwunden. Man braucht sie nicht mehr. Ob es mit dieser Unbefangenheit aber - noch weiter gehen wird ? Hoffentlich nicht. In Helsingfors in Finnland, in Schweden ist es übrigens ebenso, baden Männer und Frauen völlig nackt, kleiden sich auch gemeinsam am Sandstrand oder auf den Klippen aus und an, ohne daß jemand - es gilt ja als ganz natürlich - dabei sich geniert fühlt. Auf unsere Frage in Helsingfors, als wir zufällig da hineingerieten, ob man sich beim Wärter Badeanzüge leihen könne, wurden wir ausgelacht. Wir badeten nicht, es ging uns Mitteleuropäern doch wider den Strich, wir sahen nur zu. Aber was wir da sahen, das war allerdings keine unmoralische, aber eine höchst unästhetische Angelegenheit. Wir sind nun mal nicht alle als Apoll oder als Juno erschaffen. Seid gnädig, behaltet die Badeanzüge bei!
Es gibt auch Altersgrenzen, die man respektieren muß. Ich habe in den letzten Jahren die Emanzipation der vierzigjährigen, der fünfzigjährigen Frau froh begrüßt. Mögen sie jung bleiben und nicht die Matrone markieren. Aber nun sitze ich beim Fünfuhr-Tanztee im Dachgarten des Edenhotels (übrigens zum letzten Mal, seit ich weiß, wie es sich im Flaggenstreit stellt) und sehe unter den vielen künstlich Auflackierten eine annähernd siebzigjährige Dame, eine geschminkte Mumie, die sich von einem Eintänzer schwenken läßt. Nach einem einzigen Foxtrott ist sie völlig echauffiert, zittern ihr die Hände, sinkt sie nachher an ihrem Tischchen fast zusammen. Ein gräßlicher Anblick. Der reine Totentanz. Es gibt kaum etwas Widerlicheres als auf dem Dachgarten diese alltägliche Assemblée von alten Damen mit Wackelköpfen, die höchstens dann einen erfreulichen Anblick böten, wenn sie tief vermummt auf einem Kamel in Ostjordanland einherschwankten.
Im Rundfunk höre ich gestern das erlösende Wort für solche Zustände. Eine Niggertruppe singt. Und sie singt auf englisch: "Ist es nicht eine Schande, Schande, Schande, wenn man sonntags, wenn man sonntags, wenn man sonntags seine Frau verhaut, wo man doch montags, dienstags, mittwochs, donnerstags, freitags, samstags Zeit dazu hat ?"
15. September 1927 (Donnerstag)
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Zarengeburtstage, Kaisersgeburtstage - Aus der Glanzzeit von Rudolf Hertzog - Der Flaggenzwang - "Am Rande der Welt" - Olympiade der Ringer - Reichshallentheater - Wat Mutta azählt.
Der russische Schutzmann - der Gorodowoj - geht von Haus zu Haus. In jeder Stadt und in jedem Städtchen im ganzen Zarenreich. Und überall sagt er: "Morgen Abend wird der Namenstag des Großfürsten-Thronfolgers gefeiert. Dazu ist Illumination befohlen. In jedes Fenster haben Sie drei Lichte zu stellen. Zuwiderhandlung wird streng bestraft." Mit einer solchen Botschaft wird man acht Mal im Jahre heimgesucht. Denn außer dem Thronfolger haben auch noch der Zar und seine Gattin und seine Mutter je einen Namenstag, je einen Geburtstag. Liebende Begeisterung wird durch diesen behördlichen Zwang natürlich nicht erreicht, eher das Gegenteil. Und im Auslande spotten die Blätter namentlich der Linken über den zarischen Schwindel-Byzantinismus.
Die Russen, die in dieser Zeit am 22. März, dem Geburtstag des alten Kaisers, oder später am 27. Januar, dem Geburtstag Wilhelms II., in Berlin sind, wundern sich. Das ist ja eine völlig zwanglose Feier! Die Behörden haben natürlich ihre offiziellen Festessen, die Dienstgebäude haben geflaggt, aber niemand übt auf die Privatleute einen Druck aus. Glückliches freies Volk! Die Läden sind offen, in den Kontoren wird gearbeitet, nur die großen Kaufhäuser erleuchten, aber ganz freiwillig, abends ihre Fassaden; und in mancher Kellerwohnung steht am Fenster neben der Schusterkugel ein bescheidenes Lichtchen hinter einem selbstgemachten Transparent. Die Kinder haben vielleicht aus Buntpapier irgend einen Vers ausgeschnitten: "Unser Kaiser, der soll leben - Und das Deutsche Reich daneben!" So und ähnlich stammelt die Liebe, die Freude, die Ehrfurcht; und wenn im Nachbarhause auch vielleicht der Haß wohnt: kein Mensch tut denen etwas zu Leide, die ein Fähnchen herausgesteckt oder ein Transparent aufgestellt haben, kein Mensch macht umgekehrt auch denen einen Vorwurf, die bewußt jede Feier verneinen. In dem zweiten Jahrzehnt der Regierung Wilhelms II. schränken auf seine eigene Anregung hin auch die Hoflieferanten und Großkaufleute den Luxus der Illumination sehr ein oder lassen ihn sogar ganz weg, lösen ihn durch eine Geldstiftung für Arme am 27. Januar ab. Rudolf Hertzog in der Breiten Straße hatte immer die herrlichste Beleuchtung gehabt; da war abends, schon früher am 22. März, immer halb Berlin hingepilgert. Einmal hatte dieser königliche Kaufmann - jetzt gehört das große Versandhaus seinem Sohn, der auf der Universität dem monarchischen "Verein deutscher Studenten" angehört hat - den Berliner nationalen Vereinen insgesamt sogar bare 100 000 Mark zu dem Zwecke geschenkt, damit Kaisersgeburtstag in Berlin zu einem überwältigend glänzenden Feste werden könne. Das alles war aber "Liebe des freien Mann", geschah ohne jede Einwirkung von oben; wir kannten die Knute nicht.
Inzwischen sind wir "Freistaat" geworden und mit ihm ist der Zarismus eingezogen.
Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag' ich dir den Schädel ein, lautet die Parole, unter der die Republik populär zu werden versucht. Der Berliner Magistrat boykottiert die Berliner Hotels, die nur die Berliner Flagge, den askanischen schwarzen Bären im rotgebänderten weißen Felde, hissen und die Flagge der neuen Republik gleichermaßen wie die des alten Reiches vermeiden, um nicht bei dem einen oder bei dem anderen ihrer Gäste Anstoß zu erregen. Der Berliner Magistrat kauft auch Tausende von Metern schwarzen und roten und gelben Fahnentuches auf, um jetzt, am 2. Oktober, Hindenburgs achtzigstem Geburtstag, ganz Berlin von diesen Farben überwehen zu lassen. Auch über den von Privatleuten bewohnten Siedelungshäusern, wo die Stadt nur Vermieter ist, sollen die "Reichsfarben" flattern. Der Schutzmann geht um.
Das ganze öffentliche Leben wird unter den Farbenstreit gestellt. In Charlottenburg vor dem Schloß, wo es zum Mausoleum der Königin Luise geht, ist das Gitter schwarz mit goldenen preußischen Adlern darin. Jetzt wird es erneuert, ein Teil ist zunächst mit roter Mennige angestrichen, ehe er schwarz überpinselt wird. Aha, endlich schwarzrotgold, triumphieren verbissen die Werber der Republik und machen sich mit ihrem Irrtum doch nur lächerlich. Werden demnächst nicht auch Häuser, Kleider, Menschen so lackiert werden müssen, um endlich - endlich - den Fremden wenigstens äußerlich den Eindruck vorzumimen, daß wir samt und sonders Republikaner geworden seien ? Fast jeder Deutsche schaut heute sowieso dem anderen zunächst nicht in die Augen, sondern auf die Kragenklappe am Rock, um festzustellen, wohin der gehöre: ob da der Sowjetstern oder der Wehrwolf-Totenkopf oder das Sportabzeichen oder die Löbesche Reichsbanner-Rosette oder der Stahlhelm oder sonstwas blinkt.
Scylla und Charibdis. In einen der beiden Strudel gerätst du unbedingt, wirst fortgerissen, herumgewirbelt, bis dir Hören und Sehen vergeht, auch wenn du ein ganz unpolitischer friedlicher Werkmann oder Künstler bist. Propaganda, Propaganda! Schon längst ist auch der Film in den Mahlstrom geraten; man fragt, wenn es nicht gerade eine amerikanische Belanglosigkeit ist, schon vorher, ob er nationalistisch oder bolschewikisch sei. Da ist die Ufa jetzt mit einer Neuheit herausgekommen, "Am Rande der Welt", der Kriegstragödie einer hart an der Landesgrenze gelegenen Mühle. Diesmal jubeln - die Pazifisten. Der Film, dessen Uraufführung ich dieser Tage mir ansah, ist schleimig. Ich finde keinen besseren Ausdruck dafür. Gedreht ist er schon unter der früheren Direktion, die neue Leitung hat ihn im Mai dieses Jahres fast vollendet aufgefunden, er enthält, wie wir es bei der ganzen Ufa-Produktion gewöhnt sind, natürlich entzückende photographische Feinheiten und manche poetische Stimmung, aber er ist genau so phrasenhaft in seiner Tendenz wie Thea v.Harbous Metropolis. Karl Grune ist der Verfasser. Ein ganz weltfremder Mensch, dessen Wiege weit hinten in Ungarn stand. Einmal liegt Grune träumend in der Heide, starrt auf flirrende glühende Sonnenlichter und eilig vor dem Winde segelnde Wolken, vor seinem inneren Auge ersteht das Bild einer wild sich drehenden und dann brennenden Mühle. Da wird die Idee geboren: die brotschaffende Arbeit, die durch den Krieg zerstört wird. Klitsch, ein bißchen Liebesgeschichte dazu, klatsch, ein bißchen Sentimentalität dazu: fertig, abblenden. Die jüngere Müllerstochter - es ist Brigitte Helm, die Maria aus Metropolis - verliebt sich schnell in den eben eingestellten neuen Gesellen, einen Ausländer, der Spion ist und eine unsäglich kindische Telephonleitung "zum Feinde" legt, mit deren Hülfe man das Artilleriefeuer dirigieren kann, und verliebt sich dann noch schneller und gründlicher in einen Leutnant der fremden Besatzung, die die Bewohner der Mühle drangsaliert und den Sohn füsilieren will. Zur Strafe für Verrat wir die Mühle niedergebrannt, die ältere - verheiratete - Tochter des Müllers wird aus den Flammen getragen und mitten im Winter draußen im Freien auf Stroh gebettet, wo sie einem Kinde das Leben gibt. Ach, auch dieses Kind wird einmal Krieg führen, Menschen morden, klagt sie. Nein, es wird neue Mühlen bauen, sagt der Großvater. Die Ufa hat ein paar Szenen aus dem Film herausgeschnitten, die, noch schleimiger, Bethlehem und Golgatha auf die Leinwand brachten und geeignet waren, manches Gemüt zu verletzen, obwohl Grune sie herzlich gut gemeint hat. Wegen dieser "Verstümmelung" will er jetzt angeblich die Gerichte anrufen. Da das Wegschneiden im Einvernehmen mit der Filmkontrolle erfolgt ist, wird er wohl kein Glück damit haben. Die Ufa aber, die das Stück, das mit erheblichen Kosten produziert worden ist, natürlich herausbringen muß, kann froh sein, wenn es die Kosten einbringt und dann abläuft. Ein Ruhmesblatt ist dieser Kitsch wahrhaftig nicht.
Wie man's auch macht, macht man es falsch, sagen sich verzweifelt auch die Theaterleiter. Immer ist nur eine Partei zufrieden, begehrt die andere Partei dagegen auf. Die Parteien haben Ziele, die Nation hat kein Ziel. Es ist zur Zeit nichts denkbar, was einhellige Begeisterung erregen könnte.
Oder doch ? Der Sport ?
Im Schweiße seines Angesichts eröffnet der Oberbürgermeister, soweit der Kampf gegen Schwarzweißrot ihm Zeit dazu läßt, neue Sportplätze. Leider nur gibt es nicht in demselben Tempo neue Wohnungen. Der jungverheiratete Arbeiter, der ein menschenunwürdiges Loch in Aftermiete bewohnt, benutzt den Feierabend nicht dazu, um mit der Straßenbahn zum nächsten Sportplatz zu fahren, sondern geht in die nächste Kneipe. Allenfalls man in den Sportpalast zu irgend einem Wettkampf. Radfahren. Boxen. Da sieht er seine Lieblinge. In der guten alten Zeit, und noch bis in unsere Tage hinein auf manchen Rummelplätzen, waren es die Ringer. Wahre Kolosse von Menschen, mit Muskelgebirgen, mit Speckalpen; wenn so einer, ein Mann von vielleicht drei Zentnern Lebendgewicht, sich auf einen warf, dann konnte man es schon verstehen, wenn "die Brücke durchgedrückt" wurde und man mit beiden Schultern auf den Boden krachte. Das Ringen ist in den letzten Jahrzehnten stark in Mißkredit geraten. Man sagt, der Grund sei der, daß nicht "reell" gekämpft wurde, sondern fast immer nach vorheriger Vereinbarung, unter Teilung der Kasse. Jetzt in diesen Wochen, wo im Berliner Sportpalast "die Olympiade der Ringer" ausgefochten wird, habe ich den Eindruck, daß auch das Gesellschaftliche dabei eine Rolle spielt. Die Manager sind unbeholfen und ungebildet, sie können schon im Programm die Ringer nicht richtig nach ihrer Herkunft registrieren. Da heißt es von einem, er sei aus Deutschpolen. Wo in aller Welt gibt es ein Deutschpolen ? Dieser Mann mit polnischem Namen, Pinatzki, ist in Wirklichkeit Berliner. Die Ringer selbst sehen nicht so aus, was wir verstehen und freudig begrüßen würden, als ob sie etwa dem ehrsamen Stande der ehemaligen Bierkutscher entspringen, sondern machen mit ihren vielfach tätowierten Armen und Brüsten eher den Eindruck, als wenn dunkelstes St. Pauli ihre Urheimat sei. Der Sportpalast ist gähnend leer. Das spärliche Publikum lacht, wenn etwa der Tscheche Prochaska, ein wahres Nilpferd, in der Arbeit schnauft und flucht oder gar seinem Gegner eine runterhaut. Aber doch begreife ich es, daß Bildhauer seit jeher zu den Ringkämpfern gewandert sind. Man sieht doch mitunter ganz prachtvolle Muskulaturen und das Spiel der Bänder sozusagen unter der Zeitlupe, nicht so blitzschnell und unfaßbar wie bei den Boxern. Das "richtige", schulmäßige Ringen ist ja nicht nur schwere Wucht und rohe Masse, sondern ebenfalls Behendigkeit. Man ist erstaunt, wenn man sieht, daß Zweizentnermänner aus der Rückenlage plötzlich wie ein Fisch emporschnellen oder mit einem Satz in der Luft sich überkugeln. In alten Zeiten waren die Ringkämpfer ein wohlorganisierter Stand, Julius Cäsar ("laßt wohlbeleibte Männer um mich sein", läßt der ahnungsvolle Shakespeare ihn sagen) veranstaltete häufig Ringkämpfe, und Kaiser Diocletian gab den Ringern sogar Steuerfreiheit. Heute ist dieser Sport nur noch in Amerika in der Öffentlichkeit sehr geschätzt. Dort hat der Deutsche Richard Schikat seit Jahr und Tag nur noch Siege über die stärksten Männer aller Nationen zu verzeichnen. In Deutschland gibt man sich erst jetzt wieder alle Mühe, das Ringen aus seiner Deklassierung zu befreien, und in der Deutschen Hochschule für Leibesübungen, wo geschmeidige Jünglinge es formvollendet ausüben, sieht man es auch gern.
Ewig jung bleibt es, kombiniert mit regellosem Faustkampf, natürlich bei unseren Buben. Auf jedem Schulhof. Auf der Straße vor jedem Schulhaus. Und nachmittags auf den Spielplätzen. Da messen sich Kraft und Gewandtheit, und der Pazifismus hat das Nachsehen.
In diesen Tagen ist wieder Konfirmationszeit für die Berliner Volksschüler. Am Sonntag Vormittag sieht man sie mit dem herkömmlichen weißen Sträußchen im Knopfloch. Und abends wird "ausgegangen", mit Familie natürlich und mit Braut. So heißt es noch scherzend bei den Steppkes. Man geht etwa zu den Stettiner Sängern in das Reichshallentheater am Dönhoffplatz, die inzwischen zeitgemäß geworden sind: diese jahrelang so ehrbar-lustigen Leute können heute nicht umhin, ihre Couplets gelegentlich mit Derbheiten zu würzen, die fast schon Zote sind. Und Mieze und Karlchen wiehern, auch wenn sie noch nichts verstehen. Der vornehmste Platz in der Fremdenloge kostet zweiundeinehalbe Mark. Und man ist seit einem Jahr so vornehm, daß man während der Vorstellung nicht mehr Bier trinkt und die mitgebrachten Stullen nicht dazu verzehrt. Das tut man nachher unten im Dönhoff-Brettl, wo man zwanzig Pfennig Eintritt bezahlt, ein "fabelhaftes" Variétéprogramm dafür vorgesetzt erhält und in den Pausen tanzen kann. Mutter schaut beseligt zu den Göhren hinüber. Wie lange noch, und sie heiraten auch. Und Mutter erzählt, am Konfirmationstage des Jungen, beseligt nach dem vierten Glase Patzenhofer aus ihren Erinnerungen. "Jawoll, als wir damals zum Stannesamt an de Fischerbricke jingen, da hatte Vata sich feste beschnickert. Er stotterte mit de Beene, als wir rinkamen. Un dem Stannesbeamten sagte er nur Hupp, weil er den Schluckauf hatte. Da sagte der, Mensch, sagte er, Se sin woll besoffen. Un ick redete beeden jut zu und sagte, Herr Stannesbeamter, sagte ick, wenn mein Breitjam nichtern wäre, hätte ick ihn hier ibahaupt nich rinjekricht!"
22. September 1927 (Donnerstag)
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Der geigende Zigeuner - Wer ins Luxusrestaurant geht - Barmat und Claß - Bei Bezner im Atelier - Von Hindenburgs schwerstem Tage - Berliner auf Reisen - Vor einem Velasquez.
Ein hauchzarter Ton verweht im Raum. In einem unerhörten Pianissimo wimmert die Geige des rumänischen Zigeuners, der mit seinem Künstlernamen Boulanger sich nennt. Weder Vörös Miska noch Rigo Janczi, an die der ältere Berliner sich noch erinnert, konnten so berückend mit leisem Wehlaut spielen. Allenfalls in Budapest oder früher im zarischen Petersburg ist ähnliche zu hören gewesen. Es mag Mache sein, diese Zigeunerart, sie ist auch musikalisch oft nicht berechtigt, aber sie ist ungeheuer eindringlich. Die Gäste in dem neuen deutsch-russischen Restaurant an der Ecke Kalckreuth- und Motzstraße, dessen Besitzer früher die "Praga" in Moskau leitete, legen still Messer und Gabel hin. Sie sind verzückt oder geben sich wenigstens den Anschein, es zu sein. Sibirische Pelmeni, kaukasischer Schaschlyk, gurjewsche Grütze, alle die schmackhaften russischen Gerichte bleiben eine Weile unberührt, keine Hummerscheere kracht, selbst der Champagner in den Gläsern hält sozusagen den Atem an, und die Kellner gleiten lautlos auf dem roten Teppich einher. Man kann natürlich auch, wie die beiden jungen Lehrerinnen am Nebentisch, in ein solches Lokal eintreten und nur "zwei kleine Pils" bestellen, die Speisekarte energisch zurückweisen und bei dem Gläschen Bier eine Stunde der Zigeunermusik zuhören. Aber im Grunde ist es doch ein Luxusrestaurant. Es geht hoch her an den Tischen.
Da kommt ein neuer Gast. Ich traue meinen Augen kaum. Es ist Judko Barmat.
In dieser Umgebung wird er nun nicht etwa durch Brille und Einglas gemustert, man interessiert sich auch nicht dafür, ob er und die Seinen hier Henckel privat oder eine andere Marke trinken, überhaupt wäre ja Neugier nicht stilvoll. Aber fast jedermann kennt Barmat. Auch das schöne Auto, in dem er nachmittags und abends auszufahren pflegt, ist im ganzen Westen bekannt. Man begreift in der Amüsierwelt nicht, wieso sich jemand aufregen kann, wenn Barmat in der Königin-Bar oder sonstwo auftaucht und etwa mit seinem Gefolge hochbezahlter Anwälte bei einem guten Trunk seine Affären bespricht. Hat der Mann denn silberne Löffel gestohlen oder aus einer Portokasse achtzig Mark entwendet ? Dann säße er doch schon unweigerlich im Gefängnis! Die Zeiten, wo er in Holland nur gegen Ratenzahlung eine Schreibmaschine kaufen konnte und häufig passiv mit Gerichtsvollziehern zu tun hatte, sind längst dahin, er ist inzwischen eine Größe geworden, hinter die sich mit ihrem ganzen Einfluß die deutsche Sozialdemokratie von Bauer über Wels bis zu Heilmann gestellt hat. Und daß ein großer Teil unseres Volksvermögens, eine ungeheure Zahl von Millionen Goldmark, in seinen Händen zerronnen ist, je nun, das ist doch die alte langweilige Geschichte, von der kein Mensch mehr spricht. In Moabit quält man sich schon das ganze Jahr hindurch damit herum, die Richter setzen schon Moos und Schimmel an. Es ist natürlich lästig für Barmat, daß er an den vier Verhandlungstagen jeder Woche dazu erscheinen muß, aber immerhin, es bleiben ihm doch noch drei ganze Tage und von den vieren die Nachmittage und Abende, an dene er völlig unbelästigt seinen Geschäften nachgehen oder im Strudel der Großstadt untertauchen kann. Dieser Mann mit dem europäisierten glatten Gesicht und den umschatteten Augen des großen Spielers wird noch einmal als Romanfigur berühmte Autoren reizen.
Nein, es sind wirklich ganz andere Dinge, die Berlin erregen. Wenn man die Boulevardblätter liest, weiß man es. Ein humanitärer Ausschuß betreibt die Freilassung des wegen Mordbrennerei verurteilten Kommunisten Max Hölzl. Das sei ein in seiner Art genialer Kerl, dazu mit einer empfindsam poetischen Seele; es sei die höchste Zeit, daß er der Menschheit zurückgegeben werde. Wird er jetzt an Hindenburgs Geburtstag amnestiert oder nicht ? Und wie steht es mit den anderen "Politischen" in Zuchthaus und Gefängnis ? Aber - so grollen unsere Intellektuellen - wahrscheinlich werde man diese Leute ihrem harten Geschick überlassen, dagegen den "Rechtsputschisten" Justizrat Claß amnestieren, der doch kürzlich als Hochverräter den Staat habe umstürzen wollen.
Nur ruhig Blut: Hindenburg wird Claß nicht amnestieren.
Das ist nämlich - gar nicht nötig. Die ganze Affäre, die damit begann, daß die preußische Polizei einmal mitten in der Nacht die Wohnungen unserer großen Wirtschaftsführer, darunter solchen aus der deutschen Volkspartei und dem Zentrum, nicht nur der deutschnationalen, umstellte, Haussuchungen und Vernehmungen unternahm, diese ganze Affäre, die durch das Verbot von "Wiking" und "Olympia" fortgeführt wurde und in einer ungeheuren Hetze gegen die Rechte und alles Schwarzweißrote ausklang, hat sich als eitel Schwindel erwiesen. Dem Reichsgericht liegt jetzt, wie ich mitteilen kann, das Ergebnis der Untersuchung mit dem Antrag vor, das Verfahren einzustellen, weil für eine Schuld von "Claß und Genossen" nicht der geringste Beweis vorhanden ist. Der Reichsanwalt hat sämtliche Zeugen vernommen, die sich den Anschein gegeben hatten, etwas zu wissen. Sie wissen nichts. Sie sind allesamt genau so "klassisch" wie der Zeuge Philipp Scheidemann, der in einem Vorwärtsartikel, sogar mit graphischer Anlage, die angebliche Hochverräterei - des Geheimrats Hugenberg "enthüllt" hat. Jetzt sagt er vor Gericht, aus eigener Kenntnis wisse er nichts, einen Gewährsmann könne er nicht nennen, und sein Artikel sei bloß "ein Versuchsballon" gewesen! Sehr gut. Wenn also jemand plötzlich behauptet, Scheidemann finanziere Mordpläne gegen Hindenburg, und wenn daraufhin die Polizei - aber das ist ja ein ganz irrealer Fall - bei Scheidemann eindränge und ihn vor den Untersuchungsrichter schleppte, wäre das dann auch damit erledigt, daß der Beschuldiger erklärte, er habe lediglich einen Versuchsballon aufsteigen lassen wollen ?
In solchen unerquicklichen Zeiten, in denen jeder vaterländisch Gesinnte von den neudeutschen Berlinern verfehmt wird, flüchtet man aus der garstigen Politik gern in die Hallen der Kunst. Im Atelierhaus in der Wartenburgstraße, ganz nahe am Kreuzberg, ist solch ein Asyl. Der Bildhauer Max Bezner, der schon 1913 in Paris für seine "Badende" die große goldene Medaille erhielt, ein Mann von mehr als europäischem Ruf, dessen Skulpturen bis in die Nationalmuseen und Nationaltheater von Rio de Janeiro und Buenos Aires gelangt sind, empfängt mich in seiner herzlichen Schwabenart schon vor dem Eingang. Die wundervolle Helfferich-Plakette von seiner Hand steht bei mir in meinem Arbeitszimmer. In Bezners Atelier die Helfferich-Büste. In überquellendem Gefühl legt der Bildhauer zärtlich beide Hände um das bronzene Antlitz des großen Toten; er hat ihn ja so lieb gehabt. Ich selbst habe mich bei unserm Bezner angesagt, um in seiner stillen, hohen Halle für mich und mit ihm die Weihe für den Hindenburgtag zu erhalten. Ich kenne keinen Bildhauer unserer Zeit, der so porträtähnlich, so lebendig schafft. Professor v.Willamowitz, der Kaiser, Ludendorff, James Bleichröder, Graf Westarp und ein gutes Dutzend anderer wirklich "sprechender" Köpfe, auch von Damen der Gesellschaft und von Kindern, beleben das Atelier. Aber ich bin ja um Hindenburgs willen gekommen. Da, da! Da steht er! Man versenkt sich schweigend in den Anblick. In Überlebensgröße, in Marmor ausgehauen, gibt diese Büste dem heutigen Reichswehrministerium Charakter. Bezner selbst hat für die Arbeit nur fünfzehntausend Papiermark während der Inflationszeit bekommen, weniger als der rohe Marmor gekostet hat. Und was für eine Schöpfung! Sie stammt aus dem Jahre 1917, aus dem Großen Hauptquartier. Mancher Meißel setzte sich damals für den sieggekrönten Feldmarschall in Bewegung. Ich weiß es von damals her, daß Hindenburg vor der fertigen Arbeit Bezners mit Frau und Sohn und Neffen stand, diesen anstieß und sagte: "Weißt Du, ich bin froh, daß er mich nicht wie andere seiner Kollegen als Schlächter gemacht hat; so wie hier gefalle ich mir ganz gut." Das ist sehr begreiflich. Die meisten Künstler haben ihn brutalisiert, zum starren monumentalen Kubus mit kantigem Bürstenhaar darauf gemacht. Bezner aber hat seine innere Größe erfaßt. Wenn man vor dieser Büste steht, sagt man sich still: welch' ein Löwenhaupt!
Und in diesen Tagen, wo wir den achtzigjährigen Hindenburg feiern, der auch noch im Patriarchenalter mit löwenähnlicher Majestät wirkt, danken wir Gott, daß er uns zum Trost in jämmerlichen Zeiten wenigstens diesen Ragenden gelassen hat. Es gibt nur einen Tag in seinem Leben, den viele von uns gern gestrichen sähen, den 9. November 1918. Noch heute sagt mancher, das eine sei nie zu begreifen, wie damals Hindenburg dem Kaiser nicht den Rat geben konnte, an der Spitze des geordneten Heeres in die Heimat zurückzukehren; denn dann wäre uns doch viel Bitteres erspart geblieben und vor allem das Versailler Diktat an ein durch die Revolution entnervtes Volk.
Es ist vielleicht an der Zeit, die Schleier von diesen Dingen zu heben. Es mag zum ersten Mal veröffentlicht werden, was allen getreuen Kopfschüttlern Klarheit bringen wird. Hindenburg, der in seiner Treue nie gewankt, weder dem Volke noch auch dem Monarchen gegenüber, hat damals die schwersten Stunden seines Daseins durchlebt. Die Meldung eiens Generals, daß das Heer unerschüttert zum Kriegsherrn stehe, wurde von Groener mit den düsteren Worten pariert: "Ich habe andere Nachrichten!" In diesem Augenblick wußte niemand, daß Groeners Nachrichten nicht von der Front stammten, sondern von sozialdemokratischen Abgeordneten in Berlin. Auch hatte Groener offenbar schon alle entsprechenden Befehle vorbereitet; schon am nächsten Morgen erhielten die Truppen seinen Erlaß, daß sie die rote Flagge führen dürften. Inzwischen überstürzten sich die - erlogenen - Meldungen aus der Heimat über Blutbad und Bürgerkrieg und über die Besetzung aller Rheinbrücken durch die Revolutionäre. Man stand im Hauptquartier unter dem Eindruck, dem auch Hindenburg sich nicht entziehen konnte, daß Deutschland mit rasender Geschwindigkeit bolschewistischen Zuständen entgegentreibe; und man wußte doch, daß in Rußland die ganze Zarenfamilie niedergemetzelt worden war. Sollten die Hohenzollern, der Kaiser und der Kronprinz, dem gleichen Schicksal anheimfallen ? Hindenburg wurde am 10. November frühmorgens von der Tatsache überrascht, daß der Kaiser in der Nacht, auf falsche Nachrichten hin, in dem Gefühl, sich selber zum Opfer zu bringen, um den Bürgerkrieg zu vermeiden, die holländische Grenze passiert habe. Aber er atmete auf: der Kaiser, der Kaiser gerettet!
Und nun mußte es an die Rettung des Volkes gehen. Auch da versagte Hindenburg sich nicht. Das Heer wurde geordnet zurückgeführt. Es zerriß alle roten Fahnen, die es bei der Heimkehr vorfand. Seine Besten stellten sich freiwillig gegen die Spartakisten zur Verfügung. So wurde Deutschland vor dem Bolschewismus bewahrt.
Wir vergessen schnell. Heute kann schon überall erzählt werden, die Sozialdemokratie habe mit starker Hand das Chaos verhindert. Du liebe Güte! Scheidemann hat selber einmal in einem Berliner Blatt es beshrieben, wie unstet und flüchtig deren "Regierung" in jenen Zeiten war; wie er und Fritz Ebert über Zäune kletterten, an Häusern entlangschlichen, durch Hinterhöfe entwichen und, wenn sie überhaupt von irgendwo telephonieren konnten, um Entsatz durch Offiziere des alten Heeres telephonierten. Heute kann dafür Scheidemann mit fürstlicher Pension im Smoking alle mondänen Feste mitmachen. Ach Gott, es lebt sich ja wieder so behaglich! Die Konjunktur ist zur Zeit nicht übel, junge Lehrer und alte Stenotypistinnen werden wieder eingestellt, die Vergnügungslokale mehren sich und jetzt, nach Abschluß der sommerlichen Reisezeit, können Reichseisenbahn und Dampfergesellschaften melden, daß noch nie in den letzten Jahren so viele Deutsche unterwegs gewesen seien wie diesmal. Das ist richtig. Manche Hauptstadt eines Siegerstaates mag uns darum beneiden: jeder fünfte Berliner hat eine Sommerreise gemacht. Zum Teil weit ins Ausland hinein. Auf dem Eiffelturm muß ein deutscher Erklärer postiert werden. Auf der Liverpool Street Station in London ein deutschsprechender Schaffner. Von Norwegen bis zur Türkei, von Finnland bis Portugal, überall tönt es einem entgegen: "Postkaarte, Postkaarte, billik, billik!" Überall bedauert es der Berliner, daß man ihn sofort erkennt. Aber das ist kein Wunder bei seiner natürlichen Rücksichtslosigkeit. Lautet doch sein alter Wahlspruch:
"Wat du nich willst, daß man dir tu', |
Leider sind unsere lieben Berliner zum großen Teil noch eingebildeter zurückgekehrt, als sie ausgezogen waren. Es nützt nichts mehr, daß man ihnen predigt, es sei nicht hübsch, wenn sie sich in der Öffentlichkeit, namentlich auf der Rückfahrt von Ausflügen in der Eisenbahn, abknutschen. Da solle man erst die Engländer sehen, sagen sie. Das ist freilich richtig. So außerordentlich zurückhaltend der Engländer sonst auch ist, so ist doch der Flirt in weitestem Sinne für ihn nichts Anstößiges. Im Hydepark, im Regentpark, überall auf allen Bänken sitzt eine einem auf dem Schoß und hängt ihm wie ein nasser Lappen um den Hals. Niemand nimmt daran Anstoß. Störend ist nur die Platzmusik. Wenn die nämlich "Gott schütze den König" spielt, muß man aufstehen, sonst wird man vom Publikum, auch Arbeitern verhauen. Da staunt der Berliner Bauklötze. Wie er überhaupt diesmal in allen Ländern auf einen Kultus von Hymne und Flagge gestoßen ist, wie er ihn daheim gar nicht kennt. Sehr gut, wenn er so hier und da auch das lebendige Volksleben studiert, nicht nur bädekergetreu die Museen abgetrabt hat. Davon hat der Durchschnittsdeutsche, der kein Kunstkenner ist, doch nicht allzuviel. In Barcelona hätte ich einmal bei einer solchen Gelegenheit liebwerte Leser aus Sachsen kennen lernen können. Hinter mir steht ein Paar. Ich höre eine Stimme:
"Gugge doch mal nach, Marda, von wäm das Bild da is!"
Man hört Bädekerblätter rauschen. Eine Frauenstimme sagt:
"Also, Baul, das Bild is nämlich von eenen Felaskwetz."
Und der gute Paul schüttelt den Kopf und seufzt ergeben:
"Mo sollts nich fo meeglich haldn, da ham nu de Schbaancher das scheene krose Musäum, un da hängse nu Bilder nein von Leiden, die gee Mensch gennt!"
23. September 1927 (Freitag)
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