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Ministersöhne im Examen - Das Reichskabinett gegen die unaufhörliche Saison - Referendar Greulich - Derbere Vergnügungen - Die Blues-Stunde - Werkstoffschau - Im großen Modehaus - Die Dorsch und die Porten beim Anprobieren - Der Beruf der Mannequins - Unerfüllbare Wünsche.
Höchlichst amüsiert erzählt man sich in den Berliner Salons, daß der Sohn von Stresemann und der Sohn von Marx gleichzeitig durch das Referendarexamen gerasselt sind. Warum lächelt man darüber ? Eine erfolglose Staatsprüfung bedeutet weder die Talentlosigkeit des Vaters noch den Unfleiß des Sohnes; sie ist neuerdings eine alltägliche Sache, da die Anforderungen tatsächlich von Jahr zu Jahr größer werden und daher mitunter neun Zehntel der Prüflinge das erste Mal durchfallen. Nein, bei einer solchen Nachricht sollte man nur aufatmen und sagen: Gott sei Dank, es gibt noch Richter in Berlin; auch in den Prüfungskommissionen. Das sind unsere alten unabhängigen Beamten, denen die Linke immer an den Kragen will. Sie richten nicht, auch im Examen nicht, nach Ansehen der Person; es ist ihnen gleichgültig, ob der Vater des Kandidaten Außenminister oder Trambahnschaffner, Reichskanzler oder Botenmeister ist.
Erklärlich wird der erste erfolglose Versuch, die Examenshürde zu nehmen, in der Reichshauptstadt freilich besonders leicht. "Es gibt zu viel Abhaltung!", sagen die jungen Leute selbst. Und nun gar, wenn sie Ministersöhne sind, rauschende Feste gegeben werden, die Familie mitmachen muß. Auch die Privatfreunde von früher kommen nun erst recht gelaufen, "mal sehen", wie es "bei Ministers" zugeht. Soll man sie abweisen ? Abweisen, weil man gerade so schön intensiv den zweiten Band von Iherings Geist des Römischen Rechts durchackert ? Dann würde es doch nur heißen: "Aha, das Ministerjüngelchen ist hochnäsig geworden!" Unter der Last der amtlich-gesellschaftlichen Verpflichtungen seufzen doch auch die Eltern. Anfangs macht es Spaß, wenn beispielsweise in Weltblättern steht, das eleganteste Tangopaar auf dem Ball in Genf seien die schlanke Gattin des deutschen Außenministers und ihr großer Sohn gewesen; aber allmählich wird man doch müde. Und die Minister selbst kommen heute weniger denn je zu wirklich solider Aktenarbeit alter Art, können nur nippen und daraufhin Feuilletons sprechen, weil sie dauernd im Auto herumrasen: Besprechung, Gartenfest, Empfang, Jubiläum, Ausstellung, Klubtee, Eröffnung, Diplomatenball, Tagung, Totenfeier, Ehrung, Verabschiedung, Antritt, Werkfleiß, Kunstschau, Miramundum. Uff! Man kann es dem Kabinett nachfühlen und - danken, daß es jetzt in einer Kundgebung um Einschränkung des "Betriebs" gebeten hat. Wir feiern ja viel mehr, wir haben ja viel mehr Zweckessen als jemals in der angeblich so festelüsternen Kaiserzeit. Wem dieser gesellschaftliche Betrieb etwas Neues ist, der macht noch vergnügt mit, der unermüdliche Scheidemann zum Abschluß nachts noch oft im Klub "Bühne und Film", und es ist ganz verständlich, daß es das Reichskabinett ist, nicht das rote preußische mit seinen Neuregierenden, das diese Mahnung ausspricht. Auf jeden Fall, so sagt es, müsse mit Aschermittwoch die Serie der Feste ein Ende haben; nachher müsse jeder hohe Beamte Einladungen strikt ablehnen.
Natürlich bis der Schnupfen der Übergangszeit vorüber ist und die Gartenfeste und die Tombola im Freien wieder herankommen, werden die Skeptiker sagen. Sicherlich wird es schwer halten, hier abzubauen. Aber es muß sein. Wenn auch der Luxus in Speise und Trank gegen die Vorkriegszeit erheblich abgenommen hat und gängereiche Riesendiners selbst in reichen Privathäusern heute als geschmacklos gelten, hat doch die Zahl der Gelegenheiten, bei denen "man" sich offiziell amüsieren - oder langweilen muß, sich sehr stark vermehrt. Ich denke immer wieder an die alte Geschichte vom Referendar Greulich aus Kleinstottersdorf, der, ohne Märker zu sein, doch ans Kammergericht versetzt wird, zum ersten Mal in der "Weltstadt" residiert und - die Geschichte spielt etwa um 1912 - eine Liste eingehändigt erhält, auf der mehrere hundert Namen verzeichnet stehen. Da überall solle er seine Besuchskarte abwerfen. Er fährt also die Tour ab, kriegt wenige Tage später die Einladung vom Präsidenten des Kammergerichts in die Festsäle des Hotels Kaiserhof und findet sich hier unter 240 völlig wildfremden Menschen wieder und mopst sich. Neben ihm an einer Saalwand steht ein Herr. Unser Referendar verbeugt sich zur Vorstellung, knallt die Hacken zusammen und sagt: "Greulich!" Und der Herr erwidert: "Tja, zum Kotzen!" Verstört flieht Referendar Greulich in das letzte Zimmer, wo ein sehr vertrauenswürdig aussehender alter Herr sich gerade am kalten Buffet etwas holt und fragt den: "Sagen Sie bitte, kann man sich hier einfach polnisch drücken ?" und erhält die Antwort: "Aber natürlich. Ich kanns leider nicht. Ich bin der Gastgeber."
Jetzt ist die Wintersaison gerade im Anstieg, die ersten großen Bälle steigen im Zoo, und die führenden Berliner beraten schon, um Berlin als Fremdenstadt anziehender zu machen, die Neueinführung einer Frühlingssaison. Im Mai soll dann berückend viel los sein. Wie früher der höhere Beamte dem Roten Adlerorden vierter Klasse nur durch Selbstmord entgehen konnte, so ist ein Nichtmitmachen der Saison für alle Dazugehörigen schließlich nur bei Flucht ins Sanatorium möglich. Und dabei ist alles immer dasselbe, der gleiche Wein, die gleiche Poularde, das gleiche Pücklereis, die gleichen Damen. Wer es kann, gerade in Berlin, der geht dann, um Atem zu schöpfen, mal "ins Volk", dorthin, wo es noch Stangenbier und ungekünstelten Humor gibt, dorthin, wo als gesellschaftliche Richtschnur der Vers ausgegeben wird:
"Küssen derfste! |
Oder er geht gleich noch eine Stufe tiefer, in den Verbrecherkeller, von denen es sechs offiziell erlaubte in Berlin gibt, die ihre Pforten gegen 3 Uhr morgens öffnen, wenn alle anderen Lokale zumachen müssen. Da kann er noch allerlei Nicht-Alltägliches erleben und nachher zitieren:
"Wie lieblich is die Träne eener Braut, |
Also jedenfalls sind wir "mitten mang die Saison", die Plättstuben häufen die gestärkten Herrenhemdbrüste zu Bergen, und selbst die Dienstmädchen kaufen sich neue Seidenstrümpfe. Da komme ich abends nach Hause, ohne daß es bemerkt wird. Donnerwetter, vorne ist ja Licht ? Einbrecher ? Nein, eine lustige Gesellschaft ? Ich höre lachen. Und eine sonore Männerstimme sagt:
"Jetzt kommt der Blues, also bitte die Damen die Füßchen und die Herren die Füße in Schlußstellung, Hacken und Spitzen zusammen. Und dann, meine Herren, geradehalten, den Kopf hoch, linke Hand in Schulterhöhe. O, o, ich sehe da welche, die sich sehr schlecht halten! Nun zuerst die Herren anch Zählen und dann nach Musik. Noch einmal. Und noch einmal. Nun die Damen, bitte auf die Füßchen zu achten! 1, 2, 3, 4! Ach, wie die Damen doch so viel schneller alles kapieren als unsere Herren!"
Ich schaue durch eine Ritze ins rote Zimmer. Es ist der Rundfunk, der da schnarrt. Und unsere alte Waschfrau und unser Mädchen lernen vor dem Lautsprecher Blues. Alles Gute, meine Lieben! Ich schleich leise weg in mein Schlafzimmer.
Den ganzen Abend bin ich in der Deutschen Werkstoffschau draußen im Messsegelände gewesen, in dem man nachgerade jede Woche gewesen sein muß, denn in wohltuender Abwechslung mit reinen Verkaufsmessen gibt es da sehr lehrreiche Schauen und Ausstellungen. Augenblicklich ist ganz Berlin voll von Fremden aus dem Reiche und dem Auslande; nach Hotelangaben sind etwa 5000 Industrielle und Ingenieure hergereist, um gleich in den ersten Tagen die gewaltigen Eindrücke dieser Heerschau der wissenschaftlichen Technik in sich aufzunehmen, und diese Zahl wird wohl bis zum Schluß am 13. November sich halten. Fast nur Herren, auch viele junge angehende Ingenieure und Studenten, drängen sich am Eingang. Vor mir steht gerade eine Dame an. "Da wollen Sie 'rein, Fräulein ? Da sind aber wirklich bloß Maschinen!", wird ihr freundlich an der Kasse gesagt; man denkt, sie wolle zur Modenschau in die zweite oder zum Oktoberfest in die dritte große Halle. Aber sie will tatsächlich zu den Maschinen. "Maschinen sind schön!" sagt sie ganz versonnen. Und sie hat ja so recht. Zunächst läuft man auf den großen Lärm zu, da donnert ein kolossaler Preßlufthammer; da wird man von einem Gebläse angezogen, das 1280 oder 1500 Grad Hitze faucht; da sieht man in einer Zerreißmaschine ein riesiges Schiffstau, Stahltrossen, die bis zum Bersten erprobt werden; da imponiert ein Höchstspannungsprüffeld mit 1 Million Volt Spannung; da lockt die unendlich saubere chemische Abteilung mit Röhrchen und Spitzchen und Waagen und Mikroskopen, da wird Stahl gehärtet, gelocht, gehobelt, gefräst. Da sehen wir einem aufgeschnittenen Auto sozusagen in den Blutkreislauf hinein, da wird in den Kabinen für Edelmetalle der Werdegang eines Löffels, Uhrdeckels, Zigarettenetuis, Traurings, Likörbechers gezeigt, da gibt es Schwingungsmessungen beim Fräsen, Elastizitätsmessungen beim Stanzen, ach, hunderterlei, bei dem wir vor unserer technischen Wissenschaft andächtig erschauern. Wir humanistisch Gebildeten stehen vor der Maschine ja meist wie die Kuh vor dem Scheunentor. Im Abiturientenaufsatz hatte unser Jüngster den Ausdruck "bis zur Zerreißgrenze" gebraucht. Da kriegte er einen dicken roten Strich. Zerreißgrenze! Aber schon Goethe hat doch gesagt, soviel Sprachen man spricht, soviel ist man Mensch; und neben den gewöhnlichen Umgangssprachen gibt es eben schon längst eine ganz neue technische mit einer ganz ungeheuren Bereicherung der Ausdrucksmöglichkeit. Die paar Stunden Schauen und Staunen in der Werkstoffausstellung tun mir nicht leid. Es ist außerdem die reklamefreieste Ausstellung, die ich erlebt habe. Keine Firma ist plakatiert oder steht im Katalog. Nur eine unsichtbare, aber fühlbare Überschrift über dem ganzen: Deutschland! Die Ausländer debattieren und kaufen. Sie kommen an der Hand unserer Prüfmaschinen des Werkstoffs auch zu unserer Normung. In der Abteilung für nichtrostenden Stahl stand - es ist wirklich für jeden Beruf Interessantes dabei - ein Postschaffner vor einem blanken Stangengebiß und sagte: "Dunnerlitzchen, was hat man es heute bequem! Als ich noch Mittelreiter am ersten Geschütz in meiner Batterie war, mußte ich jeden Sonntag früh stundenlang mit der Polierkette fummeln, bis die Kandare zur Stallrevision blank war."
Die Dame, die wirklich zu den Maschinen wollte, ist nachher auch noch zu der Ausstellung "Die Mode der Dame" gegangen. Da hängen blaue Tüllwogen von der Decke der Riesenhalle, und in silbernem Licht präsentieren sich kokett köstliche Kleider und allerlei Bric-à-Brac. Da schlägt nicht technische Gelehrsamkeit ihre Schlachten, sondern der Geschmack und das Anpassungsvermögen.
Hier glühen natürlich mehr Frauenaugen. Manchmal so begehrlich, daß einem Angst werden kann.
Unsereins ist ja im wesentlichen auf die Hausschneiderin eingespielt in der wahrscheinlich irrigen Ansicht, das sei viel billiger. In den großen Modehäusern bin ich der bescheidenste der bescheidenen Kunden, aber sie haben ja auch für diese Sorte Menschen allerhand Schönes bereit. Die vielen neuen Inflationsfirmen im Westen mag ich nicht. Wenn wir ausnahmsweise mal einen Mantel mit Pelzkragen oder ein fertiges Abendkleid brauchen, gehen wir in das Haus, in dem schon im Jahre 1835 die Urgroßtante ihren Muff gekauft hat, zu Herpich in der Leipziger Straße; also auch nicht zu Heß oder Gerson, die mit großen Reklamekosten die "Königin" der Mannequins unter sich auskämpfen. Jüngst sah ich bei Herpich Käte Dorsch; man vergißt dieses liebe Gesicht nicht so leicht. Sie war allein, sie ist bei so etwas immer allein gewesen, und ließ sich von Mannequins einige Kleider vorführen. Über die Kunst des Vorführens herrschen im großen Publikum noch irrige Begriffe, es meint, mit ein bißchen Sichdrehen und Schwänzeln sei die Sache getan, es ahnt nicht, wie anstrengend in Wirklichkeit der Beruf ist. Sie glauben das nicht, meine Gnädigste ? Bitte, dann gehen Sie doch in ein Engrosgeschäft, ziehen sich in zwei Stunden 30 Kleider an und aus und tänzeln Sie darin auf und ab; dann wissen Sie Bescheid. Außerdem muß solch ein Girl wissen, wie - eine Dame sich bewegt; man kann manches anerziehen, aber der natürlich Charme muß angeboren sein. Und ein Mannequin, dessen vorgeführte Kleider schließlich nicht gekauft werden, ist nicht tüchtig. Das heiße Verkaufenwollen ist schon Anstrengung für sich. Käte Dorsch, die jetzt - sie freut sich inständig - nicht mehr den Schnittkopf, sondern wieder einen Haarknoten im Nacken hat, ist übrigens, soviel ich nach diesem zufälligen Zusammentreffen beurteilen kann, im Leben genau so nett zu den Menschen wie auf der Bühne.
Schon mehr Star, schon mehr unnahbar, schon mehr argwöhnisch ist Henny Porten, die vor Jahr und Tag bei Herpich einen Pelz anprobierte, als ich armer Teufel dort gerade nur einen Kragen aufgebessert haben wollte. Es ist ja auch blutig schwer, solch Star zu sein. Man wird also in dem neuen Pelz für alle Bilderblätter photographiert, der Pelz ist, bitte sehr, "Modell", existiert natürlich, für so hohe Herrschaften, nur in der einen Ausgabe. Aber wenn nun die Damen erfahren, dieser Pelz sei von Herpich, laufen sie alle hin und sagen: "Gerade so einen will ich haben!" Und dann ist die Einzigartigkeit dahin. Henny Porten kommt, sieht, überlegt scharf, kauft; gelegentlich äußert dazu ihr Mann sich kritisch. Die meisten Männer haben nach der ersten halben Stunde genug und schielen nach dem Notausgang. Ich kannte nur einen, den Sänger Raimund von zur Mühlen, der ganz feminin in Stoffen wühlte und sich nicht sattsehen konnte und immer weiter für bekannte Damen der Gesellschaft wählte und probierte.
Unsere Berliner Modehäuser haben wieder, wie vor dem Kriege, einen großen Absatz im ganzen Inlande und darüber hinaus. Selbst französische Private kaufen hier, weil sie dasselbe billiger bekommen als in Paris. In Stoffen sind sie uns drüben noch immer einige Monate voraus, im Geschmack nicht mehr. Unsere Modehäuser müssen ihre Künstler aber auch mehr denn je anstrengen, denn früher hatten sie doch Spielraum vom Knöchel bis zum Hals, während sie heute auf der kleinen Strecke vom Knie bis zur Brust "Linie" anbringen müssen.
Und, o Gott, o Gott, dann komt eine kostbare Kundin, eine Dame von zwei Zentnern Lebendgewicht, und sagt eigensinnig: "Ich will auch ein Stilkleid haben!" Ihr Mann lacht vielleicht gleichgültig oder höhnisch dazu. Für die Angestellten des Modehauses aber ist es eine Tragödie mit hundert dräuenden Fallgruben.
23. Oktober 1927 (Sonntag)
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Nach Hardens Tod - Erinnerungen aus dem Moltke-Harden-Prozeß - Porkeles - Harden und Bismarck - Jacobsohn und Tucholski - Der Christusfilm - Vom Schuh zum Taschentuch.
Harden ist also endgültig gestorben. Kaum zu glauben. Am Ende tritt er aus dem Klub der Seligen wieder aus. Und beschimpft ihn. Denn kein Fegefeuer kann diesen geborenen Pamphletisten ändern.
Ich sehe ihn noch vor mir, wie er im Moltke-Harden-Prozeß posierte, in einem unmöglich hohen und breiten Stehumlegkragen, sorgfältig in die Stirn gewellter Hamletlocke und etwas aufgelegtem Rot auf den Backen. Der krakehlende Schmierenkomödiant, wie er im Buche steht. Aber auch ein Mensch von einer erstaunlichen Treffsicherheit des Wortes, von einer manchmal geradezu zauberischen Suggestivkraft. Warf er mit Dreck, so saß der Dreck; und explodierte womöglich noch. Für den prächtigen General Kuno v.Moltke, ehemaligen Kommandeur der Breslauer schwarzen Kürassiere, war es blutig schwer, im Prozeß gegen Harden diesen zu packen und abzuschütteln. Ein Soldat ist dieser Art Presse gegenüber immer ungelenk. Ich kannte Moltke, war noch wenige Wochen vor dem Skandal mit dem württembergischen Gesandten Freiherrn v.Varnbüler und einigen anderen Herren ahnungs- und harmlos bei ihm, in der Kommandatur von Berlin, zum Frühstück gewesen. Wir alle hätten für diesen reinen und edlen Menschen die Hand ins Feuer gelegt und können es Gott sei Dank noch heute tun. Harden wurde damals als Verleumder verurteilt. Davon merkte dank der teuflischen Regie die Welt so gut wie nichts; die Welt war in dem Glauben befangen, es sei wahr, was Harden behauptet hatte, daß nämlich Moltke und sein Freundeskreis pervers seien und daß sie den Kaiser in eine weibische Politik eingesponnen hätten. Damals stand Harden auf dem Höhepunkt seines komödiantischen Ruhmes. Es fehlte nicht viel, so konnte er aus Rührung über sich selber schluchzen. Er hatte es endlich erreicht, sogar durch einen nur indirekten Wurf, Wilhelm II. mit der Dreckschleuder zu treffen; daß dabei das gesamte Ausland aller Erdteile aufhorchte und alsbald erklärte, "Deutschland" sei verrottet, "Deutschland" sei schweinisch, "Deutschland" sei reif zum Gericht, das focht Maximilian Harden wenig an.
Er hatte sein Lebtag nur heruntergerissen. Als ersten Decknamen hatte er "Apostata" gewählt: der Abtrünnige. Vom Glauben seiner Väter war er, der als Felix Wittkowski im Hause eines Berliner Seidenhändlers geboren war, abgefallen, und hatte jahrelang seine Sippe geschmäht, gelegentlich sogar mit Christlich-Sozialen geliebäugelt, dann wieder dicke Freundschaft mit führenden Knallroten geschlossen, internationalistisch-jüdische Intelligenzen gefördert, alles Positive verhöhnt. Er hatte in seiner "Zukunft" jahrzehntelang ständig mit starken Worten zum Kriege gehetzt, den nur der schlappe Kaiser verhindere, wurde 1916 aber wieder Pazifist und Internationalist und Wilsonschwärmer. Er hatte Wilhelm II. stets verrissen, wofür dieser sich nur einmal ganz leise gerächt hat, mit der Andeutung, daß ein Harden eben nicht anders könne: als in einem Theaterstück Lauffs ein hämischer Schreiber namens Heinrich Porkes als handelnde Person vorkam, korrigierte der Kaiser den Namen in "Maximilian Porkeles" um. Harden war ein Mensch, der von Eitelkeit besessen war. Er wollte immer eine Rolle spielen. Als Obersekundaner brannte er aus dem Französischen Gymnasium in Berlin durch und wurde fahrender Schauspieler, brachte es aber in 10 Jahren zu nichts. Dann wurde er Schriftsteller, "Apostata", und leistete auf einem Gebiet, dem der Theaterkritik, unterstützt durch seine französische Schulbildung und eine fabelhafte Belesenheit, wirklich Hervorragendes. Aber das befriedigte ihn nicht.
Immer wollte er Regisseur auf der großen Weltbühne sein. Er vergaß, daß Weltgeschichte nicht von Komödianten, sondern von Männern gemacht wird. Er selbst blieb im Grunde eine feminine Natur mit dem brennenden Vergnügen an Klatsch und Zwischenträgerei. Er wurde auch immer wie ein Weib gebraucht. Die alte Hyäne im Auswärtigen Amt, Geheimrat Holstein, nutzte ihn. Auch Bismarck, der so virtuos mit der Presse zu spielen wußte, ließ ihn eine Zeitlang in seinem Orchester pauken. Nach 1890, nach der Entlassung.
Da blähte sich Harden auf. Er war mehr als ein Ochsenfrosch, er war angeblich der "einzige" Vertraute, der Impresario, der Manager des Titanen. Dabei hat Bismarck ihn nur dreimal in seinem ganzen Leben empfangen - und Hardens Anwesenheit vor seinem wirklichen Verkehrskreis stets verborgen. Auch die Geschichte von der Flasche Steinberger Kabinett ist nur Legende, nur Reklame.
Dieser Harden kriegte es dann fertig, am 16. Oktober 1918 protzig eine Audienz beim Kaiser zu verlangen mit dem bombastisch-komödiantischen Bemerken: "Weil jede Stunde jetzt Schicksal ist, scheue ich weder Ablehnung noch Schein der Aufdringlichkeit und belaste den Hofbeamten, der diese Bitte verschweigt, mit der Verantwortlichkeit!" Er bekam die höfliche Antwort, der Kaiser sei zur Zeit außer Stande, ihn zu empfangen, er möge aber Tag und Stunde seines Besuches im Hauptquartier telegraphisch melden, dann werde der Kabinettschef Seiner Majestät das, was er wünsche, sofort zur weiteren Übermittlung an den Kaiser entgegennehmen. Da verzichtete Harden wütend. Was, eine bloße Exzellenz solle ihn, Maximilian Harden, empfangen ? Lächerlich! Er wollte endlich, als das einzige große Genie Deutschlands, die erste Rolle spielen. Als dann die Republik, von der er erhoffte, sie werde ihn, den Wegbereiter, zum Kanzler oder mindestens zum Botschafter in Paris machen, nicht daran dachte, begeiferte er auch die Republik. Er hat in einzelnen Perioden seines Lebens Freunde bis weit nach rechts hin genau so wie bis zur äußersten Linken gehabt, aber sich sehr schnell mit allen wieder verkracht. Seine "Zukunft" war einst eine Arena erlesener Geister, die fesselndste Zeitschrift Europas, von der ich noch heute sämtliche Bände von 1902 bis 1913 in meinem Bücherschragen stehen habe und noch heute dies und das nachlese. In den letzten Jahren, bis zum Eingehen im Jahre 1923, hatte die Zeitschrift aber gar keine Mitarbeiter mehr. Harden schrieb jedes Heft von Anfang bis zu Ende selber voll. In einem immer mehr manirierten, zuletzt gänzlich unklaren, kaum mehr lesbaren Stil. Der wirkliche Künstler in Harden war an seiner unbefriedigten Eitelkeit erstickt; er röchelte nur noch; und niemand hörte mehr auf sein Schimpfen, denn niemand glaubte ihm mehr auch nur ein Wort, weil jedermann wußte: dieser Mensch hat nicht ein Quentchen Charakter.
An Talenten seiner Art hat es in dem brodelnden Kochtopf Berlin nie gefehlt. Harden wurde schon vor Jahren von Siegfried Jacobsohn abgelöst, der in der "Weltbühne" sein Organ hatte; natürlich haßten sich die beiden. Dann ist an Jacobsohns Stelle Tucholski getreten, mit Decknamen Peter Panther, Theobald Tiger usw., auch ein außerordentlich begabter Mensch. Dazu hat er, ebenso wie der schon kurz vor Harden verstorbene Jacobsohn, den Vorzug, Charakter zu besitzen. Er beschmutzt nie das eigene Nest und steht, ohne zu schwanken und ohne Kehrtwendungen und Pirouetten, auf seinem Posten links von allem. Das ist so die Gegend, wo die Feinschmecker des ständigen Umsturzes stehen, die Cassirer, Piscator, Tilla Durieux.
Diese Kreise stellen ja immer mehr nicht nur die Akteure unseres kulturellen Berliner Lebens, sondern auch das Publikum. Jetzt, wo mit unerhörtem Aufwand der dritte Christusfilm, diesmal amerikanischer (das letzte Mal italienischer) Herkunft, gegeben worden ist, hätte man meinen sollen, da wären zur Première sehnsüchtig alle überzeugten Christen Berlins geeilt. Aber es war wieder nur Berlin WW. Fast konnte man glauben, ein Prunkfest am Hofe des Königs Herodes mitzumachen. Die Salome neben mir knabberte Pralinen unter vorsichtiger Schonung ihres Lippenrots, als Jesus gegeißelt wurde. Und die Herodias links von mir ließ, etwas unvorsichtiger, eine Flasche Bier aufknallen, als Jesus auf der Leinwand gen Himmel fuhr. Es war, zwischen 10 und ½1 Uhr abends, ein "gesellschaftliches Ereignis". Im Zwischenakt musterte man die Toiletten, flogen giftige Blicke hin und her. Unsereins hatte trotz alles Schönen dieses Films die Empfindung, daß er am falschen Platze sei. Er gehört nicht vor die Snobs und den Amüsierpöbel ins Kino, sondern in die Kirche vor andächtige Abendbesucher oder in irgendeine Aula. Dazu muß man ihn etwas zusammenstreichen. Die ersten bunten Szenen vom Leben und Treiben der als grande cocotte aufgemachten Maria Magdalena, das kinomäßige große Gefechtsgetümmel bei der Verhaftung Jesu, die kitschige Sentimentalität mit den flatternden weißen Täubchen im letzten Akt können die Striche vertragen. Aber sonst ist "Der König der Könige" eine ergreifend schöne Arbeit. Die Gestalt des Heilandes selber nicht süßlich, sondern von einer herben und hoheitsvollen Gotik, ganz der gütige Herrscher über alle verborgenen Kräfte, ganz der Helfer und reine Kämpfer. Mein stärkster Eindruck ist der: daß man unmittelbar nach diesem "Theater" den Drang verspürt, in seinem Neuen Testament noch einmal alles nachzulesen. Vielleicht kann man von diesem Empfinden aus sogar wünschen, daß der amerikanische Film doch in alle Vorstadtkinos gelangt und so auch von Kindern "religionsloser" Volksschulen, weltlicher Schulen, vielleicht einmal gesehen wird; die gehen ja nicht in die Kirche, die erfahren sonst nichts von der größten Erscheinung der Weltgeschichte.
In der sogenannten Gesellschaft, aber auch in den Kreisen der "Enterbten" bis zum letzten Ladenmädchen hinunter, scheint der Film ganz andere Anregungen auszustrahlen, als die Verfasser es sich gedacht haben. Da bespricht man die Toiletten - oder das Minus der Toilette - der Maria Magdalena. Ihren Büstenhalter, ihren Umhang. Das wäre eigentlich eine gute Idee für das nächste Abendkleid. Am Stoff kann man nie genug sparen. Dafür darf man wieder die Ausgaben für Strümpfe und Schuhe übertreiben. Die Damen, "die etwas auf sich hält", die sich vom Morgen bis zum Abend studiert, die jedes Leberfleckchen an sich kennt, legt mehr denn je Wert darauf, nicht durch ein einzelnes gediegenes Stück ihrer Kleidung aufzufallen, sondern immer "homogen" vom Kopf bis zu den Füßen zu sein, alles aufeinander abgestimmt. Wenn schon ein Mann wie der sozialdemokratische Exminister Südekum nur mit 12 Paar Stiefeln gleichzeitig auskommen kann, so ist es kein Wunder, wenn die mondäne Dame das doppelte braucht. In Ochsenrot, Mittelbraun, Havanna, Haselnuß, Beigerosé, Blond, Grau in verschiedener Tönung, Lackschwarz, Samtkalb, Blau, Silberchevreau; auf der Straße mit 2½ bis 4, zum Nachmittagstee mit 4 bis 5½, zur Abendgesellschaft mit 5 bis 6½ Zentimeter Absatz. Vor Jahren habe ich es einmal erlebt, daß begeisterte ungarische Herren einer Sängerin den Schuh vom Füßchen zogen und ihr huldigten, indem sie ihr daraus Champagner zutranken. Das kann man heute nicht gut mehr; dazu sind diese Gebilde zu ausgeschnitten und nicht weindicht genug.
Nächstens nehmen unsere Damen vielleicht noch ein Reservepaar in ihrem Beauty-Köfferchen mit. Ich wundere mich schon lange nicht mehr. Da ich bei Damen bisher auch nur immer ein duftiges Nichts von Spitzentaschentuch gesehen habe, habe ich bisher angenommen, eine gütige Natur habe sie nicht mit den Schleimhäuten der Männerrasse ausgestattet; da sei es immer trocken und rosig bei ihnen. Aber nun hat mich eine aufgeklärt. Das Spitzen-Nichts hat sie allerdings im Ausschnitt. Aber ein zweites, schon solideres Taschentuch, im Ärmel. Ein drittes und viertes, fast schon männliches, in de Handtasche. "Und außerdem gehen wir, wenn wir Schnupfen haben, nicht in Gesellschaft; wenn wir trompeten müssen, trompeten wir nur zu Hause."
3. November 1927 (Donnerstag)
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Wo ich nicht war - Die moderne Ministerfrau - Meine Tischdame, das Stiftsfräulein - Bilder aus der Wohnungsnot - Grock - Unsere Chinesenkolonie - Fang.
Meine Tischdame ist ein Stiftsfräulein; durchaus "altes System", gute Offiziersfamilie. Das ist sehr beruhigend. Sie fragt mich also nicht, was ich dazu sage, daß der Charleston in feiner Gesellschaft heute nur noch fließend getanzt wird, nicht mehr auf der Stelle, nicht mehr mit Fußschlenkern und Hüftenzucken. Ach, in feiner Gesellschaft habe ich den Charleston überhaupt kaum erlebt. Sie fragt mich auch nicht, wie mir Ehmer-Kroschel auf dem diesmaligen Sechstagerennen gefallen habe. Ich habe sie mir garnicht angesehen; seit im vorigen Jahre ein Franzose im Berliner Sportpalast auf den besten deutschen Fahrer losstürzte, um den Boche mit der Fahrradpumpe niederzuschlagen, auf Veranlassung der deutschen Mannschaften dann ausgeschlossen werden sollte, aber vom Renngericht unter Beifallklatschen der Galerie (des "Heubodens") pardonniert wurde, ist mir ja noch speiübel. Meine Tischdame fragt nicht einmal, welche von den diesjährigen öffentlichen Bällen ich schon mitgemacht hätte, obgleich wir schon wieder 12 ganz große und über hundert kleinere allwöchentlich haben. Noch keinen einzigen habe ich mitgemacht. Nur auf zwei Tanzdielen, zu denen Chronistenpflicht mich zwang, sah ich eine deutsche Ministerfrau als lebende Reklame für die kosmetische Indsutrie im Gewühl der Paare und dachte darüber nach, ob wohl auch Johanna v.Bismarck in solcher Umgebung möglich gewesen wäre. Andere Zeiten, andere Sitten. Man denkt, daß Cassandra ihr Haupt verhüllen müßte, aber siehe da, leichtgeschürzt steht Terpsichore da.
Mit diesen klassischen Namen weiß meine liebe, nette Tischdame übrigens gut Bescheid, dagegen weniger mit den Bezeichnungen neuer Seidenstoffe. Sie erzählt auch ganz offenherzig und fröhlich, daß sie schon 1866 geboren sei. Der Vater habe auf dem Schlachtfeld von Königgrätz das Telegramm von ihrer Geburt erhalten. Das habe der Kronprinz gesehen, der nachmalige Kaiser Friedrich, habe gleich gratuliert und gesagt, die Kronprinzessin werde Pate stehen. Das sei denn auch wirklich geschehen. Und als meine Tischdame 12 Jahre alt geworden sei, habe die Kronprinzessin Viktoria ihrem Patenkind den Altsitz im Fräuleinstift geschenkt. Damals habe sie, die Kleine, natürlich die Nase gerümpft; aber jetzt freue sie sich über das sorgenfreie Nest. Ein Heim, ein wirkliches Heim!
Ja, man bekreuzigt sich, wenn man sich vorstellt, wieviel Heimatlose es sonst unter uns gibt. Wir haben das alte schöne Wort Umfriedung für den Zaun um das eigene Anwesen. Nur ein winziger Bruchteil des deutschen Volkes kann solchen Frieden genießen. Ach, man soll schon dankbar sein, wenn man wenigstens eine richtige Wohnung, meintwegen in einer lärmvollen Großstadtstraße, innehat. Jede Freude wird einem vergällt, wenn man weiß, wie heute noch manche Leute hausen müssen. In der Nähe von Elche in Spanien sah und photographierte ich vor einigen Jahren Höhlenlöcher, in denen Menschen lebten: ein alter Bastvorhang statt der Tür vor dem Eingang, im Dunkel innen zwei Lagerstätten auf dem Boden, ein Schemel, ein Tischchen, ein Kasten, etwas Kochgeschirr. Und doch ist dieses trockene luftige Heim in dem Lande ewiger Sonne ein wahres Paradies etwa gegen unsere städtischen Kellerwohnungen, in denen die Wände triefen und die Stiefel schimmeln. Ich halte mich wahrhaftig für einen Mann, der fest in seiner Weltanschauung steht, aber das kann ich verstehen, daß einer zum rabiaten Umstürzler wird, wenn er schon hienieden in Dantes Inferno seine Tage verbringen muß. Ein einziger leidenschaftlicher Schrei müßte die Welt durchgellen: schafft anständige Wohnungen! Ich habe eine Zeitlang etwas in eine städtische Säuglingsfürsorge hineinblicken können, wo täglich Hunderte kleiner Kinder von angestellten Ärzten und Schwestern kostenlos untersucht und die Eltern beraten werden. Da ist ein junger Vater, einen "Kommunisten" nennen sie ihn, der macht jedesmal Krakehl und schimpft auf Gott und die Welt und sagt, aufhängen müßte man die Ärzte samt den Pflegerinnen, so daß die ganze himmlische Geduld des deutschen Pflichtmenschen dazu gehört, das Kind dieses Mannes trotzdem liebevoll zu behandeln. Neulich besucht eine der Schwestern eine Laubenkolonie. Da steht solch eine kleine Bretterbude, windschief und winddurchpfiffen und regenumspritzt, kalt und unwohnlich, und doch "wohnt" eine Familie im Sommer und im Winter darin. O Gott, unser Kommunist! Wahrhaftig, er ist es. Knurrt auch gleich wieder los. Aber nachher schneidet er für die Schwester einen schönen Strauß Astern zurecht. "Da, Fräulein, nehmen Sie man!" Wer vermag auf diesen Mann einen Stein zu werfen ? Oder da kommt zur Fürsorge eine verhärmte junge Frau mit ihrem Sechswochenkind. Sie wird gefragt, wie oft sie ihm die Brust gebe. Sie antwortet, nachts etwa alle zwei Stunden. Um Gotteswillen, das Kind sei ja schon überfüttert, es werde ja krank, nachts müsse es schlafen und verdauen. "Es schreit aber doch." "Lassen Sie es schreien, es wird sich das schon abgewöhnen." "Ja, aber . . . wir haben doch nur das eine kleine Zimmer und mein Mann ist abends totmüde von der Arbeit . . . und wenn das Kind nachts schreit, dann schlägt er es . . . und das Kind ist doch erst sechs Wochen alt . . . da wache ich lieber selber und nehme es schnell an die Brust." Hätte die Frau wenigstens noch eine Kammer oder Küche nebenbei, so wäre alles gut. Aber so ? Daß Gott erbarm'! Ich meine, vor dem Jüngsten Gericht werden wir alle - buchstäblich: wir alle - gefragt werden, was wir gegen das Wohnungselend getan haben. In der Großstadt verhallt auch mein heutiger Schrei. Aber vielleicht erreicht er in Mittel- und Kleinstädten hie und da ein Gewissen und scheucht hie und da einen Stammtisch Hochmögender auf und veranlaßt sie zu einem ersten Rundgang durch die Armeleutviertel und läßt sie von da ab nicht mehr rasten und ruhen. Ein alter Volksmann aus der Umgebung Bodelschwinghs in Bielefeld schrieb in den neunziger Jahren eine Artikelserie unter dem Titel: Ein Gang durch Jammer und Not. Das rüttelte auf. Es geschah manches, in vielen Städten, auch in Berlin, konnten schließlich die Kellerwohnungen sogar verboten werden; aber heute ist es schlimmer denn je.
Es hat sehr wenig mit dem angeblichen Sittenverfall zu tun, daß die kleinen Leute in Berlin sich zu aller Lustbarkeit so drängen. Man will nur vergessen. Man will heraus aus der stickigen Enge daheim. Licht und Luft, Farbe und Freude! Deshalb muß der Kientopp zum Palast werden. Deshalb sind allein in dieser einen Novemberwoche elf neue Tanzdielen eröffnet worden, darunter drei ganz luxuriöse. Es ist auch durchaus kein Zeichen beginnender Wohlhabenheit, daß jetzt überall das Schild "Ausverkauft!" prangt. Selbst in einem Riesenvariété wie der Scala in Berlin; man muß tagelang vorher sich seine Eintrittskarten besorgen. Allerdings wird die Mühe belohnt, denn man sieht und hört dafür - Grock, dessen Wesen keineswegs damit umschrieben ist, daß man sagt, er sei ein musikalischer Clown. Das sind Hunderte. Nur haben sie nicht die innerliche Güte und die tiefe Bildung dieses schweizerischen Prachtmenschen, der als Uhrmacher im väterlichen Betriebe begann und sich dann in die Welt hinausjodelte, Erzieher der Kinder des Grafen Bethlen in Budapest war, dazwischen Schlangenmensch und Seiltänzer, um endlich als Humorist der Töne und Instrumente seinen eigentlichen Beruf zu finden. Und als Tröster der Menschheit.
Grock ist das, was "Adamson" in den Zeichnungen des genialen Schweden Jacobsson ist, der kindhafte Mensch, der sich in den Tücken des Objekts verstrickt, dem fällt, was er fangen will, reißt, was er heben will, zurückfliegt, was er wegwerfen will, und der doch trotz allen Ärgers, trotz aller Umwege, trotz aller gesuchten Beschwerlichkeit, mit der er die einfachsten Dinge verrichtet, in einem liebevollen Verhältnis zu allen Dingen steht. Grock selbst sagt von sich, der tollste Beifall des Publikums mache ihn nicht toll: "Das unbefangene Lachen eines Kindes genügt mir; denn was ich suche, das ist das ewig Kindhafte im Menschen." Darum macht dieser sogenannte Clown uns auch so glücklich. Wir werden wie die Kinder und sind alsbald weltenfern von allem Harm.
Ich liebe diese Philosophen unter den Artisten. Sie sind mir viel mehr als die reinen Akrobaten, wie sie uns besonders Ostasien stellt, auch wenn man die fabelhafte Muskelarbeit und Präzision dieser Leute bewundert. In irgendeinem Berliner Variété gibt es fast immer chinesische oder japanische Turner, Jongleure, Taschenspieler. Früher waren das fast die einzigen Gelben, die bei uns auftauchten, aber jetzt haben wir in Berlin allein an Chinesen schon eine ständige Kolonie von mehreren hundert Köpfen, Kaufleuten, Studenten, Gelehrten, Beamten. Der hochgewachsene Legationssekretär Dr. King, der als Sohn eines chinesischen Diplomaten in Berlin geboren ist und ein ausgezeichnetes, dialektfreies Deutsch spricht, ist in unseren besten Salons heimisch; und der große Ball, den die chinesischen Akademiker Berlins neulich gaben, soll - ein schwieriges Unterfangen - ganz westeuropäisch und doch originell gewesen sein. Die Chinesen haben zwei Zentren bei uns. In der westlichen Kantstraße hausen ihre Gebildeten, um den Schlesischen Bahnhof herum ihre kleinen Leute, die meist aus Tsingtien in der Provinz Tsekiang stammen und mit Tee, Marmorwaren, Porzellan, billigen Bijouterien handeln. Stille, ruhige Leute. Von der "Romantik" der angeblich geheimnisvoll verbrecherischen Chinesenviertel Londons und Newyorks keine Spur; ob die übrigens echt ist, steht auch noch dahin, - vermutlich ist sie ebenso show wie der heutige Pariser Montmartre. Der Inhaber einer großen Wäscherei in Berlin ist Chinese, war früher in Hamburg. Einen chinesischen Großhändler, Ling tsi tsching, haben wir hier in der Krautstraße. Und Köche aus dem Reiche der Mitte gibt es natürlich auch, denn wir haben schon drei nationalchinesische Restaurants, in denen man die ehedem Bezopften, die heute ja schon längst wie die "westlichen Teufel" aussehen, doch immer noch nach der Väter Sitte mit Stäbchen essen sieht, häkelnadelgroßen, aber viereckigen Stäbchen, mit denen die Speise geklemmt und in den Mund geworfen wird. Das geht erstaunlich flink und gewandt, Reis, Hühnerragout, Bambussprossen, Morcheln, alles fliegt. In dem ältesten Restaurant, dem von Tsai tien wen, Kantstraße 130b, habe ich schon manchmal gegessen. Fast unmittelbar daneben hat jetzt Ho kai kom eine Konkurrenz aufgemacht. Von den 190 Studenten und 11 Studentinnen allein, die aus China hier sind, könnten die Restaurants natürlich nicht leben, zumal da viele der Berliner jungen Chinesen, schon um sich ständig im Deutschen zu vervollkommnen, in deutschen Familien wohnen und essen. Es kommen eben auch viele deutsche Besucher in diese Garküchen. Sie sind apart und sauber. Wer immer von "chinesischem Schmutz" spricht, ihn sozusagen als national ansieht, der tut Unrecht; nur wo "chinesische Armut" ist, da ist auch Schmutz, und das ist ähnlich wohl bei allen Völkern, wenn auch am wenigsten bei uns. Vor langen Jahren war ich mit dem General Jin tschang, damals Gesandter in Berlin, gut bekannt. Er war eine populäre Figur, denn er berlinerte so, als wäre er in der Ackerstraße geboren. Er lebt noch heute, jetzt ganz weißhaarig, wohl an die 80 Jahre alt, in Peking. Während des Boxerkrieges - das erzählte mir ein Vetter von mir, der ihn mitgemacht hat - kam Jin tschang aus alter Liebe einmal in die Nähe der deutschen Soldaten, es waren nette Leute vom 2.Feldregiment, die gerade Latrinen bauten. Sie riefen dem in dürftiges Zivil gekleideten General zu: "Kuli, lai, lai!", er solle kommen und mit anpacken. Worauf er erwiderte: "Nee, Männeken, wat Sie denken, is nich!" Sie fielen fast auf den Rücken.
"Mein" Chinese, den ich ein bißchen ins Herz geschlossen habe, heißt Fang. Fang ist eine Perle. Fang ist Bediensteter in der Villa, in der ich kürzlich "obengenanntes" Stiftsfräulein zu Tisch führte. Fang bedient nicht. Fang ist Herr über die Wäsche des Hauses und sozusagen motorischer Antrieb für die übrige Dienerschaft. Er ist ganz Pflichtbewußtsein und giftet sich, wenn für "Muttel" - "gnädige Frau" kennt er nicht und das r in "Mutter" kann er wie die meisten Chinesen nicht aussprechen - nicht alles sofort springt. "Volwäts masch! Muttel schon einmal, feimal, deimal klingelt! Sweinelei velfluchte!" Ich habe schon so oft in dem gastlichen Hause verkehrt, neulich aber zum ersten Male Fang in seinem Bereich, in der Waschküche im Obergeschoß, aufgesucht. Fang ist blütenweiß und sauber. Fang hat die sanften Züge eines Jünglings, so daß ich ihn scherzend auf 25 Jahre taxiere. Aber nein, Fang ist 44, sagt er selbst. "Kinese kein Schnullbat, Kinese junge Gesicht!", sagt er und fährt sich mit dem Finger über die bartlose Mundpartie.
Mit einem vornehmen Chinesen - ich selbst kenne das Reich der Mitte nur vom Westzipfel in Zentralasien her - sprach ich einmal über die "typische Bedürfnislosigkeit" der Chinesen. Er klärte mich daraufhin so auf, daß mir die Augen über - chinesischen Luxus aufgingen. Nur ist dieser stets verborgen; man protzt nicht öffentlich. Mit der Bedürfnislosigkeit sei es, meint dieser Chinese, wie mit dem Schmutz: erklärlich durch bitterste Armut und daneben den Drang zur Sparsamkeit. Ich solle, meinte er, mich doch im eigenen Lande umsehen, ob es nicht auch da viel notgedrungene Bedürfnislosigkeit gebe. Tags darauf hatte ich die Illustration dazu in einem Fleischerladen, in dem ein kleines Mädchen ein Geldstück hinlegte und dann piepte: "'n Viertelpfund Wurschtabfall for unsen Hund, aber nich so fett wie vorichtes Mal, da is Vatan janz schlecht von jeworden!"
10. November 1927 (Donnerstag)
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