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Der Löwe bei Tisch - Tripolitaner im Zoo - Brich dein Brot - Die Gefangenen der Schaulust - Der Ozeanflug - Vom Mitmachen und Dabeisein - Im deutschen Montecarlo.
Der Geburtstag des Jungen - lang, lang ist's her - war im Anrücken. Wir überlegten, ob wir dem Kerlchen nicht zum ersten Mal das Vergnügen machen sollten, andere Kinder dazu einzuladen. Das Kerlchen war doch schon so weit, daß es den kleinen Gästen nicht unbedingt Spielsachen weggenommen und den Kuchen weggefressen hätte. Aber wir stießen auf ein energisches Nein. Ob wir also wirklich niemand einladen sollten, fragten wir noch einmal, und erhielten da die Antwort: "Doch jemand einladen! Der Löwe und der Affe aus dem Zoologischen Garten sollen neben mir sitzen!"
Das erschien damals als ein kindlich-grotesker und unerfüllbarer Wunsch. Aber nun habe ich vor einigen Tagen selber mit einem Löwen zu Tisch gesessen, allerdings mit einem Löwenbaby, das bei dem Frühstück der zur Tripolitanerschau geladenen Gäste im Zoologischen Garten herumgereicht wurde. Ein drolliges, wolliges Geschöpf von dreieinhalb Wochen, das kläglich miaut, als es auf das weiße Tafeltuch gesetzt wird, von dem wir schnell die Gläser und Teller weggeschoben haben. Aber der kleine Löwe, immer hin schon ein Bursche von etwa sechzig Zentimetern Länge, fühlt sich da bald ganz wohl. Er scheint der Ansicht Hermann Bahrs zu sein, der einst schrieb: "Unbeweibt ist die Landschaft immer minder"; und da hier die Damen sich herzudrängen, die das seidenweiche Fell einmal streicheln möchten, findet der kleine Löwe die Landschaft sehr schön. Nur als die Signora Morandi ihn auf den Schoß nimmt, reißt er ihr - er hat schon ganz achtbare Krallen - den lilaseidenen Ärmel auf. Und als ihn ein Herr der Gesellschaft auf dem Arm hat, da macht er, was Babies eben zu machen pflegen, - zur Betroffenheit des Betroffenen, zur Erheiterung der Umsitzenden. Ja, dieses Löwchen wäre wirklich ein feiner Geburtstagsgast gewesen. Nur verleiht der Zoo seine Pfleglinge nicht, zeigt sie höchstens seinen eigenen Ehrengästen einmal bei einer solchen festlichen Gelegenheit.
Es ist wirklich hochfestlich. Einer der wenigen heißen Tage in diesem wechselvollen Frühsommer. Die Sonne mimt Afrika. Und die Tripolitaner mimen sich selbst. Es sind diesmal nicht Gaukler und Artisten von Beruf, wie im Vorjahr die Leute der Indienschau, sondern Leute "aus dem Volk" von Tripolis. Vom schweifenden Beduinen bis zum seßhaften städtischen Kunsthandwerker. Araber und Juden. Dazu die üblichen Negerweiber, die den Bauchtanz exekutieren, nur erheblich sittsamer als daheim. Jüdische Tänzer, Spielleute, Kafedschis, Töpfer, Lederarbeiter werden ob ihres malerischen Aussehens von den Berlinern angestaunt. Wie schön steht diesen Leuten die orientalische Tracht! Wenn sie sich europäisch kleiden, begehen sie eine Sünde wider die Ästhetik, das zeigt einem der Vergleich, wenn man die Männer auf dem Podium und die Zuschauer aus Berlin W abwechselnd ansieht. Die Araber - die sogenannten Araber, denn reinrassig sind sie in Nordafrika nicht - zeigen uns einen Ausschnitt aus ihrem festlichen Leben, die Einholung einer Braut. Kamele, Schafe, Ziegen, Esel, edle Pferde tummeln sich, nur werden diese, wie bekannt, sehr schlecht geritten. Mit Hirschhals, nicht beigezäumt. Ganz roh. Wenn sie "kleben", werden sie gepeitscht. Die übliche Fantasia von fünf Reitern mit viel Flintengeknalle. Das schrille Beifallstrillern der schwarzen Weiber. Und dann die "religiösen" Übungen der Aissa-Uja, der mohamedanischen Sektierer, die nach einer suggestiv eintönigen Musik sich in schäumende Bewußtlosigkeit hineinwiegen, hineinschütteln, hineintanzen. Die ganze Sache, für die Berliner ein geradezu märchenhaftes Schauspiel aus Tausend und einer Nacht, ist ethnographisch echt, durchweg ganz echt. Das echteste ist das Beduinenzelt, in dem die Araberin Wolle hechelt und aus der Gerba, dem Ziegenschlauch, Wasser für ihr Mahl entnimmt. Die Leute bereiten sich alles selbst. Schon aus rituellen Gründen. Araber wie Juden. Nur das Brot bekommen sie fertig beliefert - und lernen es sogar schneiden. Im Orient "bricht" man das Brot, wie wir schon in der Bibel lesen, denn da ist es kein großer Laib, sondern ein ganz dünner harter Fladen. Gar manches Mal habe ich in der Wüste seiner Bereitung zugesehen, wenn ich früher auf Reisen bei irgend einem Schech als Gastfreund weilte. Ein paar Halme Stroh werden angezündet und bringen etliche Handvoll Kamelmist zum Glimmen. Darauf kommt eine Art Kuchenblech mit millimeterdünn ausgerolltem Gerstenteig. In ganz kurzer Zeit ist das Gebäck gar, und dann heißt es: Brich dem Hungrigen Dein Brot! So ganz urwüchsig ist die große Gesellschaft, die wir jetzt den Sommer über im Zoologischen Garten sehen, natürlich nicht mehr, ist vielmehr schon erheblich von der Zivilisation beleckt, obgleich Tripolitanien noch kein halbes Menschenalter lang italienische Kolonie ist. Die meisten dieser Leute sprechen italienisch oder radebrechen es wenigstens. Viele haben fünf bis sechs Jahre Schulbildung hinter sich. Unter vier Augen sagt mir einer der braunen Gesellen: "Jetzt im Winter ist es in Deutschland natürlich kalt und naß, aber wir freuen uns auf den Sommer. Nu wollen wir auch Berlin sehen. Bis jetzt sind wir Gefangene im Zoologischen Garten. Wenn man uns wirklich nicht herausläßt, dann schlagen wir alles in Scherben!" Das ist ja die eigentliche Tragik aller solcher Menschen: im Grunde haben sie doch ein Käfigleben, solange sie sich zur Schau stellen. Sie werden ein paar Monate lang gefüttert, aber sie müssen die paar Monate lang täglich vier Mal ihre Vorführungen machen und dazwischen sich ständig angaffen lassen. Die kleinen Berliner lernen Völkerkunde und bereichern ihre Phantasie, kriegen den Drang in die Ferne und bekommen eine Ahnung von dem Schönen eines Kolonialbesitzes. Aber die Objekte ihrer Schaulust werden allmählich neurasthenisch und fletschen die Zähne.
Zu sehen bekommt der Großstädter überhaupt so viel, daß die übrigen deutschen Volksgenossen ihn schier beneiden. Da ist es denn wirklich - wenigstens einmal - ein Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit des Himmels gewesen, daß Chamberlin, der mit nachtwandlerischer Sicherheit den Weg über den Atlantischen Ozean in seiner kleinen Luftkiste fand, sich schließlich von Halle bis Berlin verfliegen und bei Kottbus landen mußte. Da hatte doch einmal eine Mittelstadt von knapp 50 000 Einwohnern die Primeurs dieses historischen Ereignisses, des ersten Passagierfluges über das Weltmeer. Kottbus konnte nicht nur dem jungen Chamberlin mit einem riesigen Kottbuser Baumkuchen - sowas kannte er noch nicht - und mit drei hübschen Spreewälderinnen in wendischer Tracht imponieren, ihn mit Ehrenbürgerrechten und mächtiger Silberschale beschenken und als "Tuchmacherstadt von Qualität" ihm von einem der Fabrikanten Cheviot für einen Anzug und den in Amerika so geschätzten Kamelhaarstoff für einen Wintermantel stiften lassen, sondern auch dadurch auf Amerika Eindruck machen, daß es seine fast tausendjährige Geschichte hervorhob; da kann Berlin nicht mit. Berlin konnte nur tags darauf ganz andere Massen auf die Beine bringen. Schöner mag es anderswo sein, massenhafter ist es immer in Berlin. Denn hier existiert der Typ des Herrn Mitgemacht und des Fräuleins Dabeigewesen. Koste es, was es wolle, viel Geld, eine um die Ohren geschlagene Nacht, einen Bittgang zum Polizeipräsidenten, ein erniedrigendes Antichambrieren, einerlei: man muß mitgemacht haben, man muß dabeigewesen sein. Selbst wenn man schließlich keine gelbe oder rote Karte erwischt, sondern nur aus Kilometerentfernung, von Schutzleuten eingezäunt, das Flugzeug Chamberlins gesehen hat. Damit kann man doch Bekannten gegenüber renommieren. Man will nur deswegen zum Tempelhofer Felde und nicht etwa, um für die "Brücke der Verständigung" zu demonstrieren, die Chamberlin angeblich zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland geschlagen hat; an diese Zeitungsphrasen glaubt doch kein Mensch. Einer Frau Mitgemacht, die im Eisenbahnwagen zweiter Klasse über Berlin nach Abbzia reist und nach Lektüre gähnt, reiche ich lächelnd ein zerlesenes Lederbändchen, Goethes Faust. Sie blättert darin und sagt, manches komme ihr sehr bekannt vor, aber gelesen habe sie das Ding nie, sie gehe auch nie um eines Stückes willen ins Theater, sondern nur, wenn ein Darsteller sie reize, den man gesehen haben müsse. Sie "müssen" alle, die von den Familien Mitgeamcht und Dabeigewesen, die es in allen Ständen gibt; und diese Familien haben denn auch den Flughafen und die Wilhelmstraße bevölkert, und selbstverständlich war meine Abbaziadame darunter, denn den Ozeanflieger "persönlich" gesehen zu haben, auch wenn sie keine Ahnung von seiner Leistung hat, das ist für sie der Inbegriff der Bildung.
Ich habe diese bemerkenswerte, weil typische Dame auf der Rückkehr von Zoppot getroffen, wo ich anderthalb Pfingsttage verbracht hatte. Daß Zoppot unbedingt einmal in ein Berliner Allerlei hineingehört, das versteht der Nichtberliner nicht so ohne weiteres. Und es ist doch so. Während nämlich Heringsdorf an der Ostsee, dessen Treiben ich deshalb schon vor einigen Jahren beschrieb, bereits als richtiger Vorort von Berlin W gilt, ist Zoppot neuerdings die Wochenend-Bleibe für unseren Kurfürstendamm geworden. Zoppot im Freistaat Danzig. Wenn man eine Nacht durch mit der Bahn hinfahren will, muß man durch den polnischen Wallgraben, das macht Umstände und Visakosten. Aber es gibt jetzt einen etwas weiteren und doch bequemeren und billigeren Weg. Man macht, um das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, eine Seereise auf den neuen großen im Reichsdienst fahrenden Schiffen "Preußen" oder "Hansestadt Danzig" von Swinemünde nach Zoppot, die unter Führung des Nordeutschen Lloyd stehen und dessen vorzügliche Verpflegung aufweisen.
Die Wochenendkarte kostet hin und zurück nur 13 Mark. Wer nachts einen Liegestuhl und eine wollene Decke haben will, zahlt 2 Mark zu. Wer ein gutes Bett in einer guten Kabine wünscht, bekommt es für 6 Mark. Im Schlafwagen in der rußigen Eisenbahn ist der Liegeplatz mehr als doppelt so teuer. Und von Zoppot aus kann ein Tagesausflug einen zur Marienburg führen, dem geschichtlich erhebendsten schönen Bauwerk Deutschlands.
Aber dahin wollen die Berliner Zoppotpilger ja gar nicht, sondern - in das "deutsche Montecarlo", in das Kasino des Freistaates Danzig, das im Kurhause des Seebades Zoppot seine Roulette- und Baccarattische aufgestellt hat. Auf dem Hinwege finde ich als Kabinengenossen für das Oberbett einen Syndikus aus Charlottenburg vor, einen ersichtlich großes Geldausgeben gewöhnten Mann. Er reist für Pfingsten in Geschäften nach Danzig, sagt er. Ich möchte wissen, wer dort am ersten und zweiten Pfingsttag Geschäfte macht! Aber auf dem Seestegbummel treffe ich den Syndikus am nächsten Tage in sympathischem Geleite; und die übrige Zeit hat er sicher im Kasino gesessen. Halb Berlin W ist auch da. Und je ein weiteres Drittel der Belegschaft wird von Polen und Russen gestellt, die hier, ehe sie weiter nach Westeuropa reisen, von der Spielbank erst einmal gründlich ausgekämmt werden. Ein sehr lobenswertes Unternehmen. Den Landeskindern ist das Betreten der Spielsäle verboten, der Ausländer aber, wozu seit Versailles ja leider auch der Reichsdeutsche, der Rumpfdeutschlanddeutsche, gehört, bekommt ohne weiteres auf Grund seines Passes gegen ein paar Mark Gebühr den Einlaß. Es wird ihm auch kein blauer Dunst vorgemacht, es erzählen keine Reklameschriften von Millionengewinnen und von Sprengung der Bank, man macht gar kein Hehl daraus, daß man nur zum Rupfen derer da ist, die unter allen Umständen - wenn nicht hier, dann anderswo - ihre paar hundert oder paar tausend Mark verlieren wollen. Auf den Einschreibtischen im Warteraum liegen in Stapeln gedruckte Kärtchen, auf denen mit brutaler Offenheit verkündet wird: "Wir gestatten uns, nachdrücklich darauf aufmerksam zu machen, daß wir Reisedarlehn unter keinen Umständen mehr gewähren können. Gesuche um Gewährung von Reisedarlehn sind daher völlig zwecklos." Wer hier eintritt, der weiß also von vornherein, daß er damit rechnen muß, völlig ausgeplündert zu werden, ohne nachhher, wie Montecarlo es früher großen Verlierern gegenüber tat, eine Fahrkarte zweiter Klasse nach Hause zu bekommen. Mit solchen Ansprüchen kommen heutzutage ja auch wohl bloß kleine Verlierer. Von hundert Besuchern ist es neunundneunzig ganz klar, daß es vergleichsweise leichter und billiger ist, in der Klassenlotterie mit dem Großen Los herauszukommen, als im Spielsaal in Zoppot mit einigen tausend Mark Gewinn. Aber der Nervenreiz zieht. Und es zieht auch das Bewußtsein, daß es hier unter sozusagen behördlicher Aufsicht wenigstens ehrlich zugeht, keine Falschspieler arbeiten können, wie sie in Berlin in jedem Ecartéklub häufig genug auftauchen. Der Reiz des Treibens im Spielsaal ist allerdings groß. Da sehe ich an einem Baccarattisch, wo das "große" Spiel gemacht wird, einen Krüppel sitzen, der mit der einen Hand die Krücken hält, mit der anderen die Chips gibt. Da kommt noch täglich am Arm der Pflegerin der zweiundachtzigjährige Justizrat Gebauer hereingehumpelt. Da drängen sich nicht die sogenannten internationalen Spielertypen, sondern - die Ehepaare. Alles ist leger, ist "popelig" geworden, wie ja auch in Montecarlo, wo man früher nur im Frack erscheinen durfte; man kommt in Zoppot im Straßenanzug, vormittags auch wohl im Sportanzug in das Kasino. Es ist ja so egal, wie die Leute angezogen sind, wenn sie nur zahlen; und tagsüber und die ganze Nacht hindurch schaufelt die Spielbank, scheffelt die Spielbank das Geld. Eine einzige Dame sah ich in großer Toilette und tiefem Decolleté. Sie wirkte geradezu altmodisch. Und diese einzige Dame war gar keine Dame. Ach, es ist ja wirklich alles egal. Nur Spiel, Spiel, Spiel. Nur "Nichts geht mehr!" und "Ab dafür!" Draußen springt die mächtige Leuchtfontäne, draußen singen die Donkosaken. Kein Spieler achtet darauf. Bis er buchstäblich nichts mehr hat.
Gelegentlich gibt es dann ein sogenanntes Drama. Dann steht einer nachts an der Spitze des Seesteges. Peng! und er fällt vornüber ins Wasser. Aber das ist selten. Im allgemeinen werden in Zoppot Einkommen, nicht Vermögen verloren. Die meisten Spieler sind kleines Kroppzeug; nur zwei Gulden (Goldfranken) kostet der geringste Chip. Und die ganz Ausgebeutelten gehen zwar mit einigem Haarweh, aber nicht in Sinnlosigkeit fort, behalten manchmal sogar Galgenhumor. Zwei Berliner treffe ich an einer Stelle, wo das bekannte Schildchen hängt: "Auch des Mannes sei gedacht, der diesen Raum euch sauber macht." Da klopfen sie den Alten auf die Schulter und sagen ihm: "Wissen Sie was, wir haben keinen Sechser mehr, aber denken wollen wir Ihrer, also Sie sollen leben, Hip hip hurrah, Hip hip hurrah!"
9. Juni 1927 (Donnerstag)
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Lucie geht auf Urlaub - Herrschaft und Gesinde - Das ersparte Dienstmädchen - Stürze im Schneepalast - Das neue Wellenbad - Die Rekordläuferin über Hürden - Was bei Hofe nicht getanzt wurde.
In der Küche wird herzbrechend geschluchzt. Da steht die Lucie, unsere Perle, in ihrem Sonntagsstaat. Die Lucie ist die Schwester unserer "vorichten"; wir bleiben am liebsten bei der Familie, da ist doch schon Tradition. Die Lucie soll ihre vierzehn Tage Sommerurlaub antreten, zu den Eltern auf den kleinen armen Bauernhof in Schlesien fahren. Sie kommt wie ein Weihnachtsengel: einer jüngeren Schwester bringt sie ein Kleid mit, dem Bruder einen Selbstbinder, den ganz Kleinen Naschwerk, den Eltern zwei bequeme Korbstühle für die gute Stube und außerdem eine Büchse Ananas, weil sie so etwas Schönes noch nie gegessen hätten. Ihr selbst haben wir noch tüchtig Zehrgeld mitgegeben, damit sie zu Hause nicht umsonst verpflegt zu werden braucht. Der Lucie fehlt auch so nichts, sie hat sogar einen kreuzbraven Tischlergesellen, der sie mal heiraten will. Trotzdem heult sie wie ein Schloßhund und kann auf unsere Fragen nach dem Grunde kein Wort hervorbringen. Da sagt unsere alte Putz- und Waschfrau: "Se weent, weil et hier so scheen is un weil se det erste Mal wechjeht, un se meent, wenn nu bloß de Frau sich nich überarbeet, wo se doch all so lang krank war." Die gute Seele, wahrhaftig, in uns quillt es warm empor. Und am nächsten Morgen, während die Lucie schon längst daheim ist, erscheint noch vor Tau und Tag unsere Waschfrau, wird still von unserem kleinen Pflegejungen hereingelassen und spült schnell und geräuschlos alles Geschirr. Da sage einer noch, daß es keine patriarchalischen Zustände mehr gibt! Dabei haben die beiden, das alte Faktotum und das junge Dienstmädchen, schon die letzten Wochen hindurch weit über Pflichtmaß getan und waren abends nur mit Gewalt von ihrer Arbeit zu scheuchen. Unsere große Wohnung blinkt wie ein Musterstübchen in Dordrecht oder Delft. Am heutigen Donnerstag macht sich die Lucie zu Hause, obwohl es dort in der katholischen Gegend bei Fronleichnam hoch hergeht, sicherlich noch Sorgen. Denn am Donnerstag, das weiß sie, da "rumpelt" der Herr am Schreibtisch, wie die Kinder sagen, da darf er nicht gestört werden, und wenn es nun schellt und die alte Putzfrau ist nicht wie der Wind an der Haustür, da macht der Herr wohl selber auf, schrecklich, schrecklich. Und wenn am Sonnabend über acht Tage die Lucie wieder hier ist, wird sie erneut herzbrechend schluchzen, aber dann vor Freude. Denn hier hat sie ein Heim. Hier ist sie geborgen. Hier lernt sie was bei einer tüchtigen Hausfrau, bis sie selber eine geworden ist, und dann wohl als "Frau Meesterin" in Berlin. Die erste ist es nicht, die von hier aus heiratet. Warum ich das erzähle ? So eine reine Privatsache ? Ihr lieben Leute: weil auch diese Privatsache typisch berlinisch ist. Es gibt hier noch viel mehr familiären Zusammenhang zwischen Herrschaft und Gesinde, als der Fernstehende ahnt, denn die guten gebildeten Familien haben immer noch eine Art elterlichen Verantwortungsgefühls, sind mehr als bloß Arbeitgeber oder Leuteschinder. Darunter leidet durchaus nicht etwa der Respekt. Wenn die Lucie mal einen Apfel bekommt, dankt sie trotz ihrer dreiundzwanzig Jahre mit einem tiefen Knicks. Gelehrt haben wir sie das nicht.
Manche werden freilich sagen, so etwas sei doch sehr selten. Gewiß, wie es überhaupt seltener geworden ist, daß die Art Familien, die ich meine, sich noch ein Dienstmädchen und eine Putzfrau hält. Man sollte einmal die statistischen Ziffern darüber veröffentlichen, wieviele Hausgehilfinnen es 1927 im Vergleich zu 1914 bei uns noch gibt. Dann wäre man über den angeblichen materiellen "Aufschwung" Deutschlands gleich im Bilde. Für manchen Haushalt bedeutet der Verzicht auf die herkömmliche Hilfe sogar ein Aufatmen. Man hat sie haben müssen, schon aus Rücksichten auf die Stellung des Mannes, nun aber sagt man, die Kinder seien aus dem Hause, man sei selber alt und lebe eingezogener, also wisse man nicht recht ein Dienstmädchen zu beschäftigen. Das bedeutet mindestens 100 Mark Ersparnis im Monat. Da braucht der Mann nicht mehr so abgeschabte Bureauröcke zu tragen, da kann man sich wieder hin und wieder ein Buch, einen Ausflug, einen Theaterbesuch leisten. Und die Umwelt versteht einen heute.
Natürlich gibt es trotz allem eine große Schicht von Leuten bei uns, die einen durchaus gepflegten Eindruck machen, nicht nur die Verdienerinnen unter den jungen Mädchen, sondern auch Herren aller Altersstufen, auch ganze Familien mit Haussöhnen und Haustöchtern. Zumeist ist es die Schicht derer, die irgendwie an dem allmählichen Auaverkauf unserer Substanz mitbeteiligt sind, aber auch andere sind darunter, die als Spezialisten auf einem Fachgebiet noch verdienen oder sonstwie sich arrangiert haben. Für die wird die Welt alle Tage schöner, sogar die öldunstverpestete der Großstadt. Denn diese Großstadt schafft raffinierten Ersatz für alles das, was hier nicht bodenständig ist. Wir haben jetzt einige Monate hindurch den Schneepalast schätzen gelernt, der von Woche zu Woche mehr Skiläufer vereinigte. Kolossal echte Sache. Schon drei Knöchelbrüche in den ersten vier Wochen. Nur muß man Lederhandschuhe tragen, denn wenn man purzelt, schürft man sich sonst die Hände auf den Sodakristallen ab. Und nach dem Skilauf kann man dann ganz in der Nähe, im Lunapark, ein erfrischendes Wellenbad nehmen. Das ist seit kurzem "der letzte Schrei" in Berlin. Und man braucht deshalb noch nicht einmal den Rummel über sich ergehen zu lassen, die marokkanischen Feuerschlucker anzusehen, auf dem Radioauto einherzusausen, vor den Zerrspiegeln im Lachkabinett den Veitstanz zu kriegen, auf der Wasserrutschbahn zu kreischen, mit teuren kleinen Mädchen auf der Weinterrasse zu soupieren, - nein, es gibt auch einen besonderen Eingang zum Wellenbad von der Bornimer Straße in Halensee her. Eine mächtige Halle, fünfundvierzig Meter lang, etwa dreißig Meter breit. Ein verschiebbares Glasdach, dessen Öffnung in wenigen Minuten den großen Raum entlüftet. Betrieb von morgens 8 bis nachts 12 Uhr. Das Schwimmbecken selbst, dessen Wasser ständig auf 22 Grad Wärme erhalten wird, ist von pudellustigen Leuten belebt. Es ist wie in Westerland auf Sylt: große Wellen rollen heran, regelmäßig, alle drei Sekunden, quer durch die ganze Breite des Beckens, brechen sich am "Strande" im flach ansteigenden Teil, es rauscht und braust und spritzt ganz wie an der See, man wird umgeworfen, hochgehoben, hinweggeschwemmt, und anch wenigen Minuten fühlt man sich wie neugeboren. Heute früh bin ich da ganz allein geschwommen. Es war herrlich. Durch Glasdach und Glasfenster schien die Sonne. Die ersten Badegäste waren schon weg, waren schon wieder in der Berufsarbeit, die zweite sehr große Serie, die der Nichtstuer vom späteren Vormittag, noch nicht da. Gerade so um 11 herum aber lohne es sich, meinte ein Badediener, da könne man ganz Berlin W bewundern. Ich danke. Wohl aber bin ich auch abends um 8 dagewesen. Und dann in die beste Stimmung geraten: der Damenschwimmklub Spreenixe tummelt sich gerade. Eine Menge netter junger Dinger, so daß ich schon glaubte, das Unternehmen habe sie als Lockvögel engagiert. Am späten Nachmittag und am Abend baden nämlich die Beschäftigten. Es ist ein vergnügtes, gesundes, sportfrohes, anständiges, ungeniertes Treiben; auch eine Dame von mindestens zweieinhalb Zentnern Lebendgewicht sprudelt im Wasser, und niemand schaut besonders nach ihr hin oder macht irgend eine Bemerkung über sie. Jedermann gönnt jedermann den Jungbrunnen. Mitten in einer Schar sehniger junger Leute bewegt sich, lehrend und anfeuernd, ein ungemein stämmiger, untersetzter Mensch, ich würde sogar ruhig "ein dicker Mensch" sagen, wenn ich mich bei seiner federnden Beweglichkeit dieser Bezeichnung nicht schämte. Es ist der "Weltspringmeister" Günther, der Athener Olympiasieger von 1912, der auch im schnellen Hand-über-Hand-Schwimmen und in der Parterreakrobatik die Schlanksten übertrifft. Natürlich laufen an dem Becken auch Galerien für das "Publikum" entang, das dort an gedeckten Tischen schmausen und zusehen kann, denn der Restaurantbetrieb bringt bei dergleichen doch die Haupteinnahme. Aber morgens kann man ohne Zuschauer sich in die Wellen stürzen. Badet niemand, so liegt das Wasser ruhig da. Sowie aber auch nur ein einziger Badegast hineinsteigt, wird hinter der Szene die Maschine in Tätigkeit gesetzt, die mit einer hin- und herschwingenden Riesenschaufel von fünfzehn Metern Breite das Wasser bewegt. Eine herrliche Erfindung. Ich weiß nicht, ob irgend eine andere Weltstadt so etwas aufweist. Wenn ja, dann sicher nicht so groß, so gediegen, so sauber. Auch Nichtschwimmer, die ganz im Flachen bleiben, können froh sein. Sie strampeln am Tau oder sie legen sich in die Brandung, und alsbald überschäumt sie neue Lebenskraft.
Es ist erfreulich, mit welcher Selbstverständlichkeit auch alleinstehende Damen aller Jahrgänge das Wellenbad aufsuchen. Es ist nichts Schwüles dabei. Das findet sich nur in den Badenummern der Witzblätter. Dagegen hier Frische, köstliche Frische. Ausländer bemerken schon seit Jahren erstaunt, daß ein ganz neues weibliches Geschlecht bei uns heranwachse. Unsere jungen Mädchen wollen nicht mehr Gattungsbegriff sein, sondern Persönlichkeit. Wenn einem straffen Geiste ein weichlicher Körper den Dienst versagt, ist es keine durchgebildete Gesamtpersönlichkeit. Also treiben wir Sport. Der dadurch gezüchtete Amazonentyp entspricht allerdings nur selten den bisherigen Schönheitsbegriffen. Auf dem Frauensportfest des vorigen Sonntags, an dem zum erstenmal ausschließlich nur Frauen beteiligt waren, sind drei neue Weltrekorde aufgestellt worden, darunter zwei von deutschen Sportlerinnen. Wenn ich da so etwa das Fräulein Eva v.Bredow mir ansehe, eine zweiund zwanzigjährige "berufstätige" Dame, die heute, wo Grafen Droschkenautos steuern, als Stenotypistin sich ihr Brot verdient, dieses Fräulein v.Bredow, das im Endlauf vor der Engländerin, Französin und Tschechin in Weltrekordzeit über die Hürden springt, kann ich mir wohl vorstellen, daß sie eine gute Partnerin auf der Elefantenjagd in Ostafrika wäre. Ihre Muskeln sind Bänder von Stahl. Nur, wo findet sich immer ein König Gunther, der solche Brunhild - heiraten möchte ? Freilich gibt es unter den Sportlerinnen - die Bredow gehört selbst dazu - nicht wenige, die "in Zivil" es vergessen lassen, was ihre Stärke ist, und dann genau so aussehen wie irgend eine andere Dame der Gesellschaft. Auch den Freuden der mondänen Zeitgenossen nicht abhold sind, auf dem Tanzparkett geschmeidig und sogar elegant wirken.
Auch das Tanzen ist ja schon längst fast nur noch Bewegungsübung, Ersatz des Großstädters für das ihm versagte Herumlaufen im Freien. Wäre es nicht so, so könnten die Schlenkertänze sich doch nicht halten. An fürstlichen Höfen waren und sind sie natürlich verpönt. Da durfte man auch früher am Hergebrachten nicht rütteln, denn irgend ein königlicher Spiegelsaal "ist doch kein Tanzbums". Einmal besuchte eine Abordnung seines preußischen Ulanenregiments den König von Sachsen und wurde zum großen Kammerball eingeladen. Die jüngeren Herren schwenkten fleißig das Tanzbein. Da klopfte einer der Dresdner Würdenträger einen von den Leutnants auf die Schulter und sagte ihm: "Verzeihen Sie, Herr Graf, aber Walzer linksrum tanzen, das darf man bei Hofe nicht, das ist nicht anständig!"
16. Juni 1927 (Donnerstag)
42
Parfum Chanel - Demokratisierung aller Genüsse - Im Tanzsalon des Ostens - Jedermann mit Tischtelephon - Ins Grüne - Die schwimmende Jugendherberge - Zucht und Sitte - Miß Edith Cavell.
Ein Friseurladen, Kantstraße, Joachimsthaler Ecke. Hin und wieder bleibt jemand kopfschüttelnd vor der Auslage stehen. Natürlich, man ist ja hier im wohlhabenden Westen, aber das hätte man doch nicht gedacht, daß es solch einen Parfumluxus geben kann. Alle weltbekannten Pariser Duftfabrikanten sind hier vertreten, Coty, Guerlain, Piver, Dorsay, Mury und die anderen. Den Vogel schießt das Parfum Chanel ab. Es gibt da freilich schon "billigere" Fläschchen und Flacons, zu 65, 120, 225 Mark, aber die große Originalflasche Nr. 5 kostet, man kriegt wirklich Stielaugen und will es zunächst nicht glauben, 800 Mark. Ich habe eine ganze Weile davorgestanden und mir angehört, was die Leute dazu sagen. Es gibt nur zwei Meinungen. Die eine lautet, daß es mit Deutschland doch unleugbar aufwärts gehe, denn solchen Luxus hätten wir uns nicht einmal vor dem Kriege und der Revolution geleistet. Und die andere ist helle Empörung gegen das Weibsvolk im allgemeinen und gegen die reichen westlichen Weiber im besonderen. Da steht einer mit verzerrten Zügen und rechnet seiner Frau vor, was der geplagte normale Bürger alles mit 800 Mark bestreiten kann, große Auslandsreise oder Neueinkleidung der ganzen Familie oder so und so lange Leben. Ich traue der öffentlichen Meinung nur selten ohne Nachprüfung, also ich gehe zum Friseur hinein und frage. Und da höre ich, daß - noch nie eine deutsche Dame sich solch eine Flasche erstanden hat. Nur gelegentlich eine durchreisende Amerikanerin aus dem nahegelegenen Edenhotel.
So kann man sich täuschen. Die Tendenz bei uns geht gar nicht auf unerhörten Luxus hin, der sich verblüffend von allem bisher Dagewesenen abhebt, sondern viel mehr auf Demokratisierung aller Genüsse. Wenn auch in kleineren Portionen. Hie und da gibt es Schaumwein glasweise. Hie und da winzige Kleckschen Kaviar für ein paar Groschen. Und kunstseidene Strümpfe trägt schon jedes Berliner Dienstmädchen. Die Hausfrau braucht sich auch nicht mehr besonders schlicht anzuziehen, um in der Markthalle nicht unliebsam aufzufallen. Und in den Arbeitervierteln gibt es sogenannte "mondäne" Lokale mit den gleichen Attraktionen wie im Westen. Manchmal geht Berlin O sogar voran. In der Kantstraße, Berlin W, hat man leuchtendes Glasparkett. Aber in der Blumenstraße, Berlin O, hat man überall Tischtelephone. Das Residenz-Kasino, kurz Resi genannt, hat damit angefangen, andere Tanzdielen im Osten und Nordosten sind gefolgt, und in den illustrierten Zeitungsanzeigen sieht es verlockend aus, wie ein bildhübsches Mädel im Parkett einen feschen Herrn in der Loge antelephoniert, oder umgekehrt. Großartige Sache, sagt sich der Hergereiste aus dem Reiche. Also das sei ja sehr einfach. Da brauche man sich nicht mit einer diplomatischen Einleitung abzumühen, nicht eine vielleicht Horizontale mit "Jestatten Jnädigste" hochoffiziell anzuknarren, sondern könne einfach und geradezu durch den Fernsprecher erklären: "Na, Kleene, willst mal 'n Schampus trinken ? Komm' mal rüber an Tisch zwoundfuffzich!" So denkt der Mann von außerhalb. Er denkt aber ein wenig vorbei. In jedem Tanzlokal im Westen oder im Zentrum gibt es mehr bezahlte Animiermädchen und mehr Halbwelt als in dem Resi. Hier amüsiert sich im Großen und Ganzen das, mit Einschränkung natürlich sei es gesagt, solide bodenständige Publikum des Ostens. Allerdings unter für dortige Verhältnisse fabelhafter Aufmachung. Nicht weniger als achtzehn kleine Leuchtfontänen umsäumen den großen Tanzsaal und frischen ständig seine Luft auf, eine Unzahl von Lichteffekten wird von rotierenden Glühbirnenkörben ausgestreut, zwei Kapellen machen abwechselnd und daher ununterbrochen Musik, und, wie gesagt, ein Selbstwählerapparat an jedem Tisch ermöglicht Gespräche nach allen Seiten im Hause. Ich sitze an der Brüstung, vor der, um sich ein wenig auszuruhen, gerade eine Gruppe von Mädels und jungen Männern sich hingestellt hat. Ich tippe eine Diva des Ostens leicht auf den Arm, sage ihr, daß ich hier fremd sei, und frage so recht einfältig, wozu denn die Telephone benutzt würden. Und ich erhalte die erfrischende Antwort: "Na zum Verkohlen doch!" So ist es. Wenn Stimmung da ist, verulkt man sich. Neun Zehntel aller Gespräche sind völlig harmlos. Mitunter entdeckt man so ein ganz schlagfertiges Mädel. Ich rufe eines an, ein nettes Ding, das beim Dreher noch einen Streifen weißen Unterrock sehen läßt, also sicher nicht zu den Mondänen oder gar Demimondänen gehört, eher Haustöchterchen im Gemüsekeller ist und einen Haufen Geschwister hat.
Also da telephoniere ich: "Hier Peer Gynt!" Und ich falle fast auf den Rücken, als es in der Hörmuschel zurückschallt: "Solveig wartet!" Ja, ja, unsereins ahnt nicht, wieviel gutes Theater auch Berlin O sich heute gönnt.
Da kommen ein paar junge Leute, Berlin C, neu herein und an meinen Tisch, rufen den Kellner und bestellen protzig bei ihm "ein paar Mächens, aber nich so vermickerte"; sie sind schon ein bißchen angetrunken und kennen das Lokal anscheinend noch nicht. Ein lustiges kleines Ding kommt auch herangezwitschert. Es mag gern mit jedem tanzen. Aber die Burschen werden gleich handgreiflich. Da herrscht sie sie an: "Nich antatschen!" und wirft ihnen einen Blick von vier Milligramm Blausäure zu und entschwindet. Nun ist Mitternacht schon lange vorbei. Alles amüsiert sich. Der Wein, guter Wein, ist hier nicht unverschämt teuer, es gibt auch keinen Weinzwang, man darf ruhig auch Bier oder sonstwas trinken. Leute aus Berlin W oder von noch weiter her erscheinen auf Entdeckungsreise. In der Ecke hinter mir sitzt ein junges Ehepaar, das sich französisch unterhält; es mögen Rumänen sein. Er trinkt eine Flasche Champagner. Er ist der einzige Herr im Smoking, fällt aber deshalb nicht auf; das ist ja alles so egal. Sie aber tanzt. Zuerst mit einem dicken Protzen, der die seltene Blume von ihrem Herrn erbeten hat; der Dicke ist sicher Viehkommissionär vom benachbarten Schlachthof. Dann mit verschiedenen jüngeren Herren aus biederem Bürgerstande. An meinen wieder leergewordenen Tisch hat der Ober zwei Damen bugsiert, die wie das junge Ehepaar hinter uns auch zum erstenmal hier sind. Zwei Damen mittleren Alters, zwei Freundinnen, die sich halbtot lachen möchten, nachdem sie zu ersten Mal das "Verkohlen" am Telephon versucht haben. Die eine wohnt am Tiergarten, die andere in Zehlendorf. Die eine ist Witwe, die andere Strohwitwe. Und dieser hat ihr Mann, zur Zeit auf Geschäftsreise abwesend, "einen Taler und fünf Neugroschen" mit der Auflage zurückgelassen, die beiden sollten sich nach Herzenslust amüsieren, aber nur zu zweit. Sie ersticken fast vor Vergnügen, als sie zwei junge Männer weiter links beraten hören, wen man durchs Tischtelephon anrufen solle, und der eine sagt: "Mensch, die da kann ja meine Mutter sein, die schielt ja so!"
Nun mag mancher sagen, das sei ja recht lustig, aber es wäre doch besser und natürlicher, wenn man ins Grüne statt ins Resi ginge. Gewiß, gewiß. Wenn man in Rothenburg oder in Landeck wohnt, dann ist man in fünf Minuten im Grünen. Der Berliner aber muß zuvor eine kleine Weltreise vornehmen, hat im Durchschnitt eine Stunde zu fahren, auch hat das Wetter das Lagern bei Mutter Grün bisher verboten, also denkt er "Sicher ist sicher" und verschafft sich die nötige körperliche Bewegung nahebei im Tanzsaal. Wenn er dann plötzlich einmal mitten in der Großstadt junge Leute sieht, die ganz anders über dergleichen denken, wetterfest sind, barhäuptig und braungebrannt, mit festem Schuhzeug und mit Decke und Kochtopf über dem Rucksack daherkommen, dann wundert er sich. Und wenn diese jungen Leute als Pärchen wandern, er etwa achtzehn Jahre, sie vielleicht sechzehn Jahre alt, dann rümpft er wohl gar die Nase, fragt sich, auf welchem Heuboden in irgendeinem Dorf die beiden wohl genächtigt haben, und findet im Vergleich zu der Berliner Solidität dieses Wandervogelwesen "einfach unsittlich". Er irrt sich. Die jugendlichen Pärchen, wenn sie sauber sind und nicht schon von weitem als Sowjetrussen erkennbar, sind nahezu immer Bruder und Schwester. Sonst wird in Gruppen unter Führung marschiert. Und die Jugendherbergen draußen im Lande sorgen für Zucht und Sitte.
Besorgte Eltern haben eine Scheu vor diesen Nachtquartieren für beide Geschlechter. Sie wissen nicht, wie ordentlich es da zugeht. Die jungen Wanderer, Mädel und Buben, die aus Berlin hinausgehen, kommen gestärkt an Leib und Seele zurück. Aber auch die jungen Wanderer aus dem Reiche, die Berlin sehen und seine Historien und Museen besuchen möchten, finden jetzt seit Jahr und Tag hier ihre gesittete Bleibe. Zu den nettesten gehören die schwimmenden Herbergen. Einer dieser großen Havelkähne liegt, betreut vom Herbergsvater und seiner Frau und einem kleinen Dienstmädchen, in dem stillen Tiergartenwinkel an der Schleuse vor dem Charlottenburger Tor. Es gibt kaum Verkehr an diesem idyllischen Platz, obwohl er nahebei brandet. In den Bäumen jubilieren die Vögel, an Bord des "Oberbürgermeister Böß" frohlocken Buben und Mädel. Im Schiffsbauch ist in der Mitte der Tagesaufenthaltsraum, in dem außer Bänken und Tischen auch der Kochherd steht, aber noch schöner ist's antürlich an Deck, unter dem Sonnendach, mitten zwischen blühenden Blumen auf der ganzen Reeling. Zum Schlafen gibt es im Kahn, durch den Tagesraum getrennt, je dreißig Kasernenbetten, für die Mädel vorn, für die Buben achtern. Gute Betten. Logis: 20 Pfennig. Um ein weniges, 40 Pfennige in der ersten, 20 in der zweiten bis vierten, 10 Pfennige in jeder weiteren Nacht gibt es auch weiße Bettwäsche. Ausrichendes Mittagessen von 60 Pfennigen an; an dem Tage, an dem ich den Kahn besichtigte, duftete es nach einer kräftigen Suppe und nach Schweinebraten mit Kartoffeln und Gemüse. Der Begriff "Jugend" ist nicht allzu eng gespannt. Es ist nicht nur das, was wir Mädel und Buben nennen. Solange jemand beispielsweise noch Schulausbildung genießt, selbst wenn er schon über 20 Jahre alt ist, bekommt er ohne weiteres den Bleibeausweis vom Jugendherbergsamt. Es ist blitzsauber auf dem "Oberbürgermeister Böß". In den Schlafräumen gibt es sogar fließendes Wasser für die Waschbecken, und am Ufer steht ein eigenes Bedürfnishäuschen mit Brausebad. Ich schaue mich um unter den Beherbergten, von denen einige gerade aus dem Aquarium, andere aus der Ruhmeshalle, aus dem Charlottenburger Mausoleum, aus der Staatsbibliothek, aus der Kunstschule gekommen sind. Schüler, Schülerinnen, ein Mechaniker, eine Kontoristin, ein Marmorschleifer. Kleine Gruppen aus dem Reiche, aber auch aus Schweden, Böhmen, Ungarn. Und um 10 Uhr abends ist Ruhe im Schiff. Ordnung muß sein. Wer morgens sein Bett nicht gemacht hat, sein Waschbecken nicht nachgespült hat, der muß Strafe zahlen. Und auf der anderen Berliner schwimmenden Jugendherberge, im Petzsee draußen bei Altbuchhorst, und in den Jugendherbergen in dem Stadtinnern und draußen überall in Deutschland steht genau derselbe Aufruf an der Wand wie hier:
"Denkt bei Euren Wanderungen an den Ernst der Zeit und meidet alles Auffällige in Benehmen und Kleidung. Laßt unnützen Schmuck, meidet Alkohol und Tabak und lautes Wesen. Verzichtet freudig auf alles Entbehrliche, besonders auf ausländische Genußmittel. Singt anständige Lieder. Unterlaßt aber Singen und Fröhlichkeit dort, wo es andere stören könnte. Euer Betragen soll Euch Liebe und Achtung erwerben. Schont Wiesen und Felder, Wald und Strauch; denn das Land ist heilig und alles, was es trägt. Werdet Mitstreiter am deutschen Jugendherbergswerk und bringt das Jugendwandern zu Blüte und Ehren."
Prachtvoll, ganz prachtvoll. Hier wird wirkliche Wiederaufbauarbeit geleistet; die seelische ist noch mehr wert als die wirtschaftliche. Und sie wird bewußt geleistet. Draußen im großen Treiben der Welt iat man national viel gedankenloser. Da kommen einige Mädel und Buben von der Charlottenburger Chaussee aus dem Rosengarten, dieser Oase der Schönheit in der Steinwüste Berlin. Sie wundern sich. Bei einer der Rosen, die nach Art und Name durch Porzellanschildchen gekennzeichnet sind, stand: "Miß Edith Cavell". Das ist die überführte Spionin, die viel Leid über deutsche Kriegsmütter gebracht hat; sie wurde in Belgien standrechtlich von uns erschossen. Wäre es denkbar, daß man in London eine Rose mit dem Namen "Hans Lody" einführte oder in Paris eine Schwertlilie "Leo Schlageter", eine Orchidee "Mata Hari" ? Der Rosengarten als Teil des Tiergartens untersteht städtischer Pflege. Wir haben einen weisen Magistrat. Er hat noch keinen deutschen Kriegshelden druch ein Denkmal oder auch nur eine Erinnerungstafel geehrt, er hat in seinem Rathaus auch kein Historienbild aus großer Zeit wie etwa Hannover das von Hindenburg und Ludendorff, aber er hat mitten im Tiergarten eine Blume, die mit dem Namen einer englischen Spionin prunkt, und er hat am Abschluß des Tiergartens eine place de la republique.
23. Juni 1927 (Donnerstag)
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