"Rumpelstilzchen"

Berliner Funken
(Jahrgangsband 1926/27)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1927

Glossen 37 - 39
19. Mai bis 2. Juni 1927


37

Pillkallener Auslese - Der "schwarze Freitag" an der Börse - Wir sparen noch nicht - Schacht als Hüter der Währung - Friede, Freiheit, Brot - Versteigerung bei Lori Leux - Von Berliner Theatern - Jan der Wunderbare.

Wenn die Eisheiligen ausnahmsweise einmal ihren bösen Ruf rechtfertigen und im Wonnemonat Mai uns mit Hagel und Nachtfrösten züchtigen, dann trinkt der brave Ostpreuße Pillkallener Auslese. Ich habe schon manchen Schoppen im "Blutgericht" in Königsberg gehoben, habe auch den sogenannten ostpreußischen Maitrank, nämlich heißen Grog, bei dem das Wasser entbehrlich ist, mitten im Sommer schon versucht. Aber Pillkallener Auslese kannte ich wahrhaftig noch nicht. Was das ist ? Das ist ein großer Cognac, in den man eine Scheibe Zervelatwurst mit einem Klecks Senf darauf gleiten läßt. Sitzen da am Tage des heiligen Servatius ein paar Ostpreußen in Berlin zusammen und wärmen sich so; und sitzt eine Dame bei ihnen, eine Parlamentarierin sogar, und läßt auch den Cognac über die Zervelatwurst in die Kehle rinnen. In solch ritterlichem Turnier kriegt man die Unverwüstliche nicht aus dem Sattel. Schwaches Geschlecht ? Lächerlich. Man wird doch noch ein bißchen Pillkallener Auslese vertragen können.

Manch einer hat im ersten Schreck, als diesmal der letzte Eisheilige auf einen Freitag fiel und der Freitag den großen Börsenkrach brachte, sich wohl noch stärkere Getränke gewünscht. Der "schwarze Freitag" wird eine Katastrophe genannt. Es seien mindestens 80 Millionen Goldmark verloren. Und von den in der Großstadt alltäglichen Selbstmorden seien dreizehn in der Zeit vom Freitag zum Dienstag auf Börsenverluste zurückzuführen.

Ganz so ist es wohl nicht, vieles wird melodramatisch übertrieben, die Reporter wollen doch leben, und der amerikanische sogenannte Schreistil nimmt auch bei uns überhand. Schon wird Zolas naturalistische Schilderung einer Börsen-Deroute zitiert, schon tauchen die bleichen Gesichter wieder auf, die mit Schweißperlen bedeckt sind, die stieren Blicke, die zitternden Hände. So werden Spieler immer geschildert, obwohl gerade sie immer die äußere Haltung zu wahren wissen. Natürlich hat es Erregung an der Börse gegeben, als am Freitag voriger Woche alle Maklertafeln in fliegender Hast sich mit Minuszeichen bedeckten und das große Kursepurzeln - für die meisten unerwartet - immer rapider wurde. Aber solche Erregung zeigt sich selten nach außen. Überdies kann von einer wirklichen Katastrophe, einem Zusammenbruch, doch nicht gesprochen werden, da meines Wissens bisher noch keine Zahlungseinstellungen erfolgt sind, auch wenn starke Verluste gebucht werden mußten. Das Schlimme ist nicht die sogenannte Katastrophe, die als Warnungssignal sogar ihr Gutes hat, sondern das Schlimme ist das, daß wir erst am Anfang einer ganzen Reihe von Rückschlägen stehen und noch auf weit größere Erschütterungen in den nächsten Monaten gefaßt sein müssen. Die eigentliche Ursache der Maßnahmen, die die Großbanken - ihrerseits durch die Reichsbank gedrängt - gegen das Spielkapital einleiteten, ist die ernste Sorge um den Schutz unserer Währung, die tatsächlich in letzter Zeit schon unter dem Goldpunkt angelangt ist. Die Entente zapft uns zu große Tribute ab. Irgendwie tritt das doch in die Erscheinung. Erst am Dienstag dieser Woche hat die Reichsbank wieder 10 Millionen Goldmark bar der Bank von England überweisen müssen, da in letzter Zeit unsere Devisenbestände stark abgeflossen sind. Nur ist diesmal die berufsmäßige Börsenspekulation durch die Maßnahmen überrascht worden und hat daher nicht wie sonst schon vierundzwanzig Stunden vorher durch Fixen sich darauf vorbereiten können, das Publikum auszusaugen. Man erzählt von einem Berliner Bankmann, er habe am "schwarzen Freitag" zwei Millionen Mark gemacht. Der zehnte Teil mag wahr sein. Aber auch das ist eine Ausnahme. Natürlich hat die breite Masse viel verloren, jene Masse auch des Mittelstandes, die sich in den letzten anderthalb Jahren daran gewöhnt hatte, Börsengewinne als regelmäßige Einnahme zu betrachten. Wir spielen. Wir legen kaum mehr etwas auf die hohe Kante. Die steigenden Einlageziffern der Sparkassen werden mit Unrecht als Beweis für die geschäftliche Gesundung des deutschen Volkes angeführt. Das sind nicht Gelder der breiten Masse, das sind heute zum großen Teil Gelder von Konzernen, die zur Zeit nicht besser angelegt werden können, bis man sie wieder abrufen muß. Das Publikum hat die Spekulationsgewinne von 1926 und 1927 nicht auf die Sparkassen gebracht, nicht eine Rücklage für Rückschläge angesammelt, sondern alles eben als reguläre Einnahmme sofort wieder verknabbert. Wer in dieser Zeit, sagen wir, etwa 3000 Mark gewonnen und - verbraucht hat, für den ist es jetzt allerdings vielleicht eine Katastrophe, wenn er nun etwa 1500 Mark plötzlich wieder hergeben soll. Da werden tausend Pläne zu Wasser. Die Sommerreise wird abgesagt. Oder das Wochenendhäuschen bleibt Luftschloß. Oder der Junge kann nun doch nicht auf die Universität. Oder die Herzkur für Vater muß unterbleiben. Auch die Konfektionsgeschäfte merken schon heute den Rückgang der Kaufkraft, und das wohl nicht nur in Berlin, sondern auch fast in allen Mittelstädten Deutschlands. Dabei ist es noch ein wahres Glück, daß die Dummen diesmal die Klugen gewesen sind. Wer am Freitag verzweifelt war, weil er seine stürzenden Papiere nicht mehr Hals über Kopf loswurde, der konnte am Sonnabend schon etwas aufatmen, denn da waren die Kurse schon besser. Die Hals-über-Kopf-Leute aber sind vielfach ganz tief hineingeschlittert. Ich kenne ein publizistisches Unternehmen, das seine sicheren, aber sehr knappen Einnahmen durch "gute Anlagen" in der Spekulation zu heben pflegte. Jetzt kann es den Nachschuß an seine Bank - und Ultimo steht ja noch bevor - nicht aufbringen und bietet sich zum Ankauf aus: wer es haben wolle, der kriege es mit Leib und Seele.

Nun macht der Zorn sich Luft. Im Laienvolk wäre Selbstanklage vernünftiger. Wer kein nennenswertes Kapital hat, und das haben wir fast alle nicht mehr, der soll seine Finger vom Börsenspiel lassen. Aber am wütendsten sind gerade die Kapitalisten. "Dieser Schacht, nein, dieser Schacht!" Sie können ihm sein unerbittliches Eingreifen nicht verzeihen. Lebenslängliche Mitglieder der demokratischen Partei sind in diesen Tagen zu den Deutschnationalen übergetreten. Endlich sähe man ein, daß die immer Recht gehabt hätten. Aber gerade die Rechte macht heute dem Reichsbankpräsidenten Schacht keinen Vorwurf, da er doch die Währung unter allen Umständen stützen muß. Sie sagt nur: der schwarze Freitag - als erster einer ganzen Reihe schwarzer Tage an der Börse und in der Wirtschaft - ist eine natürliche Folge der Dawes-Politik. Wir schuften uns ab, wir zahlen nicht nur mit Überarbeit, sondern wir verkaufen auch die Substanz und werfen immer noch mehr hinterdrein. Auch reichere Völker, als wir es sind, würden bei derartigen Tributen allmählich zu Blutleere und Schwindelanfällen kommen.

Der eine und der andere im Volke sieht das schon ein. Alles ist um rund 50 Prozent im Durchschnitt teurer als früher und steigt noch. Da werden mal die Gehälter etwas aufgebessert. Aber die Aufbesserung ist schon vorher diskontiert, ist von der Mietssteigerung oder von der Verteuerung der Nahrung und Notdurft schon aufgefressen. Augenblicklich feiert die Berliner und die märkische Bäckerinnung ihr Jubiläum. In allen Schaufenstern sieht man, von den blauweißen Bäckerschleifen umrahmt, große Aufbauten, Füllhörner aus Zwiebäcken, Schwäne aus Milchbrötchen, ja sogar das Brandenburger Tor aus irgend welchem Backwerk. Aber den Vogel hat ein Meister in der Großbeerenstraße abgeschossen. Links: "Gebäckgröße aus der guten alten Zeit." Da liegt ein kolossaler Brotlaib für fünfzig Pfennig, da liegen Schrippen, Brezeln, Knüppel von heute schon sagenhaftem Umfang. Rechts aber das gegenwärtige winzige Gebäck zu den gleichen Preisen, und darüber die Inschrift: "Heutige Gebäckgröße, Erfolg von: Friede - Freiheit!" Das Schaufenster ist umlagert. Man hört nicht viel sprechen, es sind keine Debatten, die Leute stehen nur da, bohren ihre Augen in das Einst und lassen die Ohren hängen.

Es gibt freilich auch noch Berliner, denen es für ihre Person ganz gleichgültig ist, wieviel Brot man für fünfzig Pfennige bekommt. Im Tiergartenviertel hat man andere Sorgen. Da ist die stille, vornehme Rauchstraße, in der es von Generaldirektoren, Kommerzienräten, Exzellenzen wimmelt und in der nicht weniger als vier fremde Gesandtschaften, die niederländische, die apostolische, die tschechische, die rumänische, ihr Heim gefunden haben. Mitten unter ihnen, Rauchstraße Nr. 5: Lori Leux, Operettensängerin. Mit jenem langen, hageren Germanen Leux, der einst deutscher Meisterruderer im Einer war, ist die kleine füllige Brünette wohl kaum verwandt; vielleicht ist Leux nur ihr Künstlername. Aber Sprühteufelchen im Leib hat sie, und eine Stimme hat sie, und verführerisch spielen kann sie; zuletzt haben wir sie als "Zirkusprinzessin" gesehen, wo sie jedenfalls sehr gute Figur machte. Also Rauchstraße Nummer 5 ist ihre Wohnung - gewesen. Zum Abschied, aber ohne die Inhaberin zu Gesicht zu bekommen, ist "das ganze tuh-Berläng" dieser Tage da vorgefahren; die Straße war gestopft voll von Privatautos, Nerz und blonder Maulwurf und Chinchilla drängten sich, Edelsteine blitzten auf, kurz, es war der reine Kongreß von Kommerzienrätinnen, die alle - ein Andenken an Lori Leux erstehen oder wenigstens gesehen haben wollten, wie diese Dame gelebt und geliebt hat. Beiläufig bemerkt: in zwölf Zimmern und Sälen, drei Bädern, drei Dienstbotenräumen. Der ganze Inhalt dieses Feenpalastes wurde nämlich versteigert, und das war nicht so wie sonst, wo die Händler und Hyänen der Pfandlokale sich einfinden, sondern es war eine mondäne Sache, eine gesellschaftliche Sache, eine Sache sozusagen mit Augenzwinkern, und der Gesellschaft wurden Orangeade und Lachsbrötchen gereicht, und man war unter sich und man paffte Sultanszigaretten aus goldenen Spitzen. Und jeder wußte etwas "von der Lori" zu erzählen, denn jedermann kannte doch irgend jemand von Börse oder Handel, der einmal Beziehungen zu ihr gehabt hatte. Das reizt diese honette Welt des Westens, wenn sie von einer bodenlos galanten und verliebten Frau etwas hört, für die schon eine ganze Kette illustrer Leute sich ruiniert hat. Einer darunter, der im Spritweber-Prozeß eine Rolle gespielt hat, konnte, wenn er einmal an der Pechsträhne war, darauf rechnen, daß Lori Leux für ihn alle ihre Juwelen verpfändete; umgekehrt kaufte er ihr noch ein paar neue hinzu und beglich ihre sämtlichen Spiel- und Toiletteschulden , wenn er mal einen großen Coup gelandet hatte. Und nun geht die Herrlichkeit Stück um Stück dahin, die Teppiche, die Porzellane, die Prunktischchen, die Klubsessel, das Silber, der Flügel, die Möbel aller Stile aus fünf Jahrhunderten und - o, o, - das imposante Schlafzimmer in Schleiflack mit den vier halbrunden Eckschränken und den Spiegeln des Glücks und des Erfolges. Alles wird nach Gebühr beschnuppert, vieles über Gebühr hoch bezahlt, denn jedes Stück hat doch Erinnerungen, die geradezu literaturfähig wären, wenn am Kurfürstendamm ein Bocaccio erstünde. Man fragt, warum denn nun eigentlich Lori Leux alles versteigern lasse. Ja, - "Er" will es. Er ist ihre endgültige "ganz seriöse" Liaison, er will sie endgültig sanieren, und dazu müsse zunächst reiner Tisch gemacht, der "ganze Plunder" im Hause möglichst vorteilhaft verklopft werden.

In der Welt des holden Scheins - der Operette, der Revue, des Schauspiels - geht es wieder einmal toll her in Berlin. Drunter und drüber. Man jagt immer vergeblicher nach Kassenerfolgen, man kann sich immer weniger gegenüber dem Kino behaupten. Der unorthographische - ein tatsächlicher Analphabet ist er ja nicht - James Klein, der irgendwo aus dem Osten stammt und "kapores" war, ist wieder aufgetaucht und hat uns eine neue Revue mit, wie der Grenadierstraßenberliner sagt, lauter "Pofelchens" beschert, eine kümmerlich erfundene und noch kümmerlicher ausgestattete Sache, mit der man allenfalls Berlin N eine Zeitlang befriedigen kann. Der streitbare Kommunist Erwin Piscator aber, der öffentlich von seinem Direktorium abgekanzelte Regisseur der Volksbühne, ein Fanatiker kleinbürgerlicher Herkunft, hat angeblich Geldleute gefunden, vielleicht in Moskau, die ihm das Berliner Theater in der Charlottenstraße als erste Kommunistenbühne Deutschlands kaufen wollen. Derweil hat der Verein Volksbühne, für den Piscators revolutionäre Inszenierungen einen Bankerott einzuleiten schienen, sich auf gutes Altes gerettet. In der Filiale, dem Theater am Schiffbauerdamm, wird "Jan der Wunderbare", das volkstümlich-derbe altniederdeutsche Bauernlustspiel Friedrich Kayßlers, des früheren Volksbühnenleiters, gegeben. Die kleinen Leute aus Berlin N verstehen den Humor nicht ganz. Schon der erste Akt in der Bauernschänke in seiner ungeheuren Realistik - es sind Bilder wie herausgeschnitten aus holländischen Meistern der Ostade- und Breughel-Zeit - macht sie nur traurig, denn so etwas ähnliches, nur nicht so vollsaftig, sieht man doch leider gegen Wochenschluß auch in Berliner Destillen. Aber für das verstehende gebildete Publikum ist es ein Hochgenuß. Noch tagelang nachher lacht irgendwer ganz unmotiviert los. "Was ist denn ?"   "Ach, ich habe nur gerade an Wilhelm Diegelmann gedacht." Oder an einen anderen Darsteller. Und in der Erinnerung fängt man an, Gesichter zu schneiden. Man krümmt sich. Man hat Bauchweh. Aber diese innere Massage ist außerordentlich gesund in dieser Zeit, wo einem sonst auf den Bühnen so viel krankhaftes und unverdauliches Zeug vorgesetzt wird.
19. Mai 1927 (Donnerstag)


38

Eine Mütze voll Luft - In Bremen und Helgoland - Der Wiederaufbau unserer Handelsflotte - Der Bacchus-Keller - Höhensonne statt Braunolin - "Licht am Zoo" - Rhythmisches Turnen - Keine falsche Scham - Die intime Ausstattung - Barchent-Wirkung.

Eine Mütze voll Luft! Ein Königreich für eine Mütze voll Seeluft!

Wer da weiß, welche üblen Duftwolken von verbranntem Öl die 7542 Berliner Autodroschken ältester Kaliber, ungerechnet die rund 44 000 sonstigen Motorfahrzeuge, täglich uns um die Nase wedeln lassen, der wird den Notruf verstehen. Alle Jahre wieder so um die ersten Sommertage herum - und wir haben doch schon mal ohne Mantel draußen sitzen können - möchte man als Berliner aus der Haut fahren. Man ist abgearbeitet, man kämpft aus Mangel an Sauerstoff mit dem Ersticken, - und man denkt, wenn mich jetzt einer auch nur leise antippt, dann zerplatze ich sofort mit einem Knall. Das ist die Zeit, wo man das Luftkursbuch, den Schulatlas, die Liste der Feriensonderzüge, den Reisebriefkasten seiner Zeitung und die Ziffer seines Postscheckkontos immer aufs neue studiert. Ende Mai bricht diese Krankheit gewöhnlich aus. Man kann sie nur erfolgreich bekämpfen, indem man nicht die langsame Vergiftung seiner Nerven und Atmungsorgane bis zum Juli weiter beobachtet, sondern kurz entschlossen, selbst wenn es nur für drei oder vier Tage sein kann, sich Vorferien macht und irgendwo die Mütze voll Luft sich holt. Äußerstenfall tun es auch schon zwei Tage; und man kommt wie ausgewechselt wieder heim.

Die Entfernungen sind ja kein Hindernis mehr. Nach der Einrichtung der Fluglinie Kairo-Bagdad-Karachi kann man demnächst seinen Vierwochenurlaub zu einer Reise nach Indien ausnutzen. Und in achtundvierzig Stunden kann man sich an der Nordsee mit Ozon vollpumpen. Unsereins braucht nicht gerade ein Lindbergh zu sein. Aber wenn der Berliner im Flughafen geruhig seinen Kaffee trinkt und zusieht, wie da täglich Leute so mir nichts, dir nichts aus Konstantinopel oder Madrid durch die Luft hergeschwirrt kommen, so kriegt er natürlich die große Lust zum Durchbrennen.

Item, ich bin ganz bescheiden an der Nordsee gewesen, zum neunten Mal in meinem Leben in Helgoland. Nur ist es das erstemal, daß ich zu Schiff nicht von Hamburg hingefahren bin, wie es sonst der Berliner und Ostelbier tut, sondern von Bremen aus. Auf die Einladung des Norddeutschen Lloyd an die deutsche Presse hin, seinen neu eingestellten Bäderdampfer "Roland", einen für diese Schiffsklasse recht stattlichen Burschen von zweitausend Tonnen, sozusagen für die Öffentlichkeit abzunehmen. Also da sind in dicken Scharen die Berliner - von Paul Oskar Höcker bis Isidor Landau - und die "aus dem Reiche" und sogar die aus dem Auslande herzugeströmt, einschließlich des Vertreters des "Budapesti Hirlap" und einer diabolisch geschminkten Pariser Journalistin. Viele noch gar nicht Seebefahrene dabei, die die Ventilatoren für Sprachrohre halten und das Kondenswasser für Lackage. Da hat man denn den "Roland" gebührend bewundert und auf ihm in Sonne und Wind die herrliche Meerfahrt gen Helgoland gemacht, hat auf dem Ozeanriesen "Berlin" unmittelbar vor seiner Ausreise nach New York alle Prachträume beschnuppert und sich eine der vornehm-behaglichen Kabinen alleweil zum Wochenende gewünscht, hat auf der "München" übernachtet und sein Frühstück mit Pampelmuse, Porridge und Seezunge begonnen, hat sich durch eine atemlose Folge großer Eindrücke hindurchdiniert und im Kurhause in Helgoland die Augen aufgerissen, weil dort auch der Vertreter der Hamburg-Amerika-Linie unter den von Herzen Glückwünschenden auftrat. Nanu, sagt der Frankfurter und Dreddener, nanu, sagt er, das sind doch Konkurrenten ? Ei, gewiß doch. So wie Goethe und Schiller "Konkurrenten" waren und - das deutsche Volk wissen ließen, es solle nicht fragen, wer der Größere sei, sondern sich freuen, daß es zwei solche Kerle habe. Stimming, der Generaldirektor des Nordeutschen Lloyd, und Cuno, der Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie, stammen übrigens aus derselben Schule: sie haben beide unter Helfferich im Reichsschatzamt ihre Laufbahn gemacht. Sie und ihr Werk stellen heute stärker als alles andere bei uns den Auferstehungswillen des deutschen Volkes dar. Als wir nach dem Kriege fast unsere gesamte Handelsflotte hergeben mußten, brachte der Lloyd 1919 seine ersten Neubau "Vegesack" mit 1500 Tonnen heraus. Der "Columbus", das zur Zeit größte deutsche Schiff, zählt schon 26 000 Tonnen. Und die jetzt bestellten "Bremen" und "Europa" haben ein Deplacement von 46 000 Tonnen, reichen also an die "Vaterland"-Klasse heran und werden dabei erheblich schneller als diese sein. Die Deutschen sind schon wieder im Kommen. "Da wir es mit anderen Mitteln nicht können, wollen wir uns mit dem Fleiß unserer Hände und mit der Qual unseres Hirns wieder einbohren in die Welt, bis ihre Tore für uns aufspringen", sagte uns in Bremerhaven der Geheimrat Stimming.

In Berlin gibt es nichts so augenfällig Imposantes an Leistung, wenn auch der Fachmann sich durch die soundsovieltausendste Lokomotive von Borsig und ähnliche Dinge erhoben fühlt. In Berlin haben wir auch nicht Roland den Riesen vorm Rathaus. Und im Rathaus nicht einen Weinkeller, der einen Wilhelm Hauff zu "Phantasien" anregen könnte. Nur den von Lutter und Wegener, in dem E.Th.A. Hoffmann geisterte, aber auch der ist nur neunzehntes, nicht fünfzehntes Jahrhundert. In dem Bacchuskeller des Bremer Rathauses, in dem der Zimmermeister Barthold "in freventlichem Weinesübermut in der Silvesternacht des Jahres 1561 sein Geld an die Kumpane und sein Leben an die Toten verspielte", sind wir zuletzt vom hohen Senat der freien Reichsstadt begrüßt worden. Da war man schon herzlich müde. Und in die Träume gaukelte einem die Gestalt des Oberstewards Rabien von der "München" herein, den die Landratten von hinter Breslau her zuerst für einen Vizeadmiral hielten, bis sie erfuhren, daß es jener berühmte und unübertreffliche Ober sei, der schon pensioniert war und sich mit einem ehrlich verdienten Vermögen von mehreren hunderttausend Mark ins Privatleben zurückgezogen hatte, bis die Inflation ihn wieder in den Beruf zurücktrieb und er zum Jubel der New Yorker oberen Zehntausend, bei denen er so ungemein populär ist, erneut seinen Posten auf den Atlantikfahrten antrat.

Es sind nicht die guten Weine allein, die den einhunderteinundfünfzig Teilnehmern der Bremen-Helgoland-Fahrt die Gesichter so gerötet haben. Es ist die Mütze voll Seeluft. In solchen zwei Ausflugstagen wird man wirklich auf neu gebügelt.

Die daheimgebliebenen Berliner wollen natürlich nicht hintanstehen. Noch vor sechs Jahren erwarben sie zu diesem Zwecke spätestens im Mai die nötige Portion "Braunolin" und färbten sich damit Seeluft oder Gletschersonne an. Heute ist das ganz veraltet. Heute geht man zum Arzt oder in ein Lichtinstitut und setzt sich dort ein paar Wochen lang, zuerst zwei Minuten und dann immer länger bis zu einer halben Stunde, den ultravioletten Strahlen aus, die von dem in einer Quarzlampe verdampfenden Quecksilber im elektrischen Strom erzeugt werden. Höhensonne ist heute die große Mode. Das wird von industriösen Köpfen sofort ausgenutzt. In dem Michelshaus an der Kaiser-Wilhelm-Kirche in Berlin, dem gewaltigen Rundbau am Eingang des Kurfürstendamms, ist das ganze Dachgeschoß zu dem größten Lichtinstitut Deutschlands, wahrscheinlich Europas, ausgebaut. Säle und Zellen, Zellen und Säle, insgesamt achtzig Räume, der wahre Jungbrunnen der Berliner. Von hier stammen die gebräunten Sportgesichter. Hier gibt es auch einen "Strand", wo eine Unzahl künstlicher Wärmesonnen auf den Kies strahlt, und da liegen in Badeanzügen die enervierten Kurfürstendammer herum. Da spielen auch die Kinder im Sande. Wer Hokuspokus haben will, der bestellt sich "Lebensstrahlen"; unsere Intelligenz sinkt nachgerade wirklich auf die Stufe jener Intelligenz hinab, die für den wundermittelhungrigen amerikanischen Mann aus dem Volke typisch ist. Die Höhensonne, ja, das ist wirklich etwas gutes. Wenn man sieht, wie matte, verkümmerte, apathische Kinder allmählich unter ihr aufleben, zweifelt man nicht mehr. Aber im "Licht im Zoo" ist sie für die Großen meist nur Kosmetikum. Und die erwarten dort mehr oder weniger vergeblich noch manches andere, nicht nur "lokalisierte Entfettung von Waden", nicht nur Behandlung von Runzeln und Haarausfall, Platzangst und Gedächtnisschwäche, Bettnässen und Nasenröte, sondern auch "eine Regenerierung deformeirter Frauenbrüste" und dergleichen in einer der sechsundvierzig Abteilungen des Instituts. Weltstädtischer, newyorkerischer, marktschreierischer kann man nicht gut sein. Dabei ist natürlich mehr als nur ein Körnchen Wahrheit dabei; und nach ärztlichem Rezept und ärztlicher Dosierung kann Licht wirklich Wunder wirken.

Am besten hat mir nicht etwa das Strandbad gefallen, sondern der Unterricht in rhythmischer Gymnastik in dem Institut. Frau Magda Bauer aus München erteilt ihn. Die junge Dame könnte als Amazone Modell stehen. Das verbirgt sie auch durchaus nicht. Außer einem Lendenschurz hat sie nur eine gestrickte Weste an. Sonst nichts. Nicht nur ihre nackten prallen Oberschenkel, sondern jede Muskel an ihr federt. Wenn sie sich bewegt, sich strafft oder löst, denkt man, sie könne gleich fliegen, so befreit von aller Erdenschwere sind ihre Glieder. Und nun soll man es ihr nachmachen, während sie zählt oder singend kommandiert: "Alles ohne Überspan--nung! Alles ohne Überspan--nung! Locker in den Knie--en! Und jetzt Hüf--te, Hüf--te, Hüf--te!" Ihr gegenüber stehen mehrere Herren in Badehose, wärmesonnenbestrahlt, aber bei offenen Fenstern. Sie schwitzen, während Magda Bauers Glieder immer noch kühle Bronze sind. Und sie schnaufen. Und ihre rhythmische Gymnastik, bei Frau Bauer so leicht und beschwingt, sieht in den ersten Stunden tolpatschig aus. Sie sind nicht Herr ihrer Arme und Beine, sie stolpern vornüber, sie verlieren bei der Rumpfbeuge das Gleichgewicht. Der Großstadt ganzer Jammer faßt uns an, wir schämen uns unserer Unnatur und Unbeholfenheit. Die Herren hier sehen alle aus, als besäßen sie ein eigenes Auto und verstünden es zu lenken, aber selber können sie keine drei wirklich freien Schritte machen. Nur allmählich wird es besser. Nach ein paar Wochen sind es ihrer selbst sichere Menschen, sind es endlich - Männer geworden. Und der Spitzbauch fällt nicht mehr so auf, weil die Brust sich wölbt. Nun kann man sich diese Leute, ohne daß einem übel wird, schon als nackte "Reiter am Strande" vorstellen, als das bekannte Bild schwedischer Kavallerieoffiziere. Da geschehen wirklich Wunder; und nicht nur an Herren, sondern ebenso - in gesonderten Kursen - an Frauen und Kindern.

Es ist staunenswert, wie willig namentlich die Herren die Überlegenheit dieser Lehrerin anerkennen. Das wäre vor zwanzig Jahren noch undenkbar gewesen.Da konnte man höchstens, wenn man ein kleiner Junge war, bei einer Dame Klavierstunden nehmen. Aber über die absurde Idee, daß eine junge Frau Männern das Turnen beibrinegn könnte, hätte man laut losgelacht. Und noch vor zehn Jahren hätte man aus Eitelkeit die falsche Scham nicht überwunden, sich so in Badehosen vor einer Lehrerin in Reih und Glied zu stellen. Man weiß doch, wie man nackend aussieht. Man möchte viel lieber "mit Beinkorrektur in den langen Hosen" und überhaupt vom Schneider konfektioniert und mit eingezogenem Bauch als Adonis oder Apollo imponieren.

Das alles hat die Sehnsucht, aus der körperlichen Verbildung wieder herauszukommen, verändert. Man hat nicht etwa sein Schamgefühl eingebüßt. Aber man "geniert" sich nicht mehr.

Auch das weibliche Geschlecht ist in den Großstädten in den letzten Jahren nicht etwa schamloser, sondern vielfach nur unbefangener geworden. Vor zwei jahren erregte es noch Aufsehen, als im Verlaufe einer Polemik über "Unterrockspolitik" die Abgeordnete Kathinka v.Oheimb einer Zeitung schrieb, sie selbst sei eine moderne Frau und trage also überhaupt keine Unterröcke. Noch zwei Jahre weiter, dann werden junge Leute beider Geschlechter ganz ruhig und sachlich, ohne daß irgendeine Reizung damit verbunden ist, über dergleichen Toilettenfragen sprechen. Früher durfte doch beileibe nicht einmal der Bräutigam irgendeinen Wunsch zur persönlichen Ausstattung seiner Verlobten äußern, weil dies "intim" und daher unschicklich sei. Und so kommt bisweilen auch heute noch manch selbständiges junges Mädchen in die Verlegenheit, entweder allzu solide oder allzu flatterhaft sich auszurüsten, weil sie in diesem Punkte die "Menatlität" ihres künftigen Gatten nicht kennt. Neulich geht eine Braut von dreißig Jahren (das gibt's heute mehr denn je), ein liebes ernstes Mädchen, mit dem Manne ihrer Wahl zu Rudolph Hertzog, um die Wäscheausstattung einzukaufen. Nichts war vorher beredet.

Das Mädchen kauft Barchenthosen mit Volants und Languetten.

Am nächsten Tage löst der Bräutigam die Verlobung auf.
25. Mai 1927 (Mittwoch)


39

Das Juni-Wunder - Die Schneiderin im Hause - Von der Moralität des Lotteriespiels - Wieder ein schwarzer Börsentag - Deutsche Kulis - In der Villa d'Este - Ausstellung vom deutschen Frontkämpfer - Der Valencia-Film.

Für uns ist Anfang Juni immer eine Zeit der Wunder. Ich meine nicht die diesjährige Abnormität der Witterung, die in der einen Woche noch Kälteferien in der Schule und in der nächsten Woche Hitzschläge auf offener Straße brachte. Auch nicht das übliche Wunder für uns bescheidene Großstädter, daß im Kasten auf dem Balkon die Feuerbohnen zu schießen beginnen. Nein, ich meine unsere Hausschneiderin und ihr Werk, die Umwandlung der ganzen Sommergarderobe, von der eigentlich schon jedes Stück seine jahrelange Geschichte hat. Da wird aus dem weiten weißen Umhang, der vor zwei Jahren auf dem Lido Aufsehen erregte, ein blaues Jackenkostüm; da wird aus dem gerafften hellgrauen Mantel, de vor vier Jahren auf Helgoland ungemein neureich aussah, ein tabakfarbenes Complet. Da wird aus einem alten immer wieder ein neues Kleid. Man ist bis zum Winter wieder gerüstet, man braucht auch nicht den Lodendeutschen zu spielen, wenn man mal im Sommer auf vierzehn Tage in die große Welt über den Grenzen guckt. "Man": das ist selbstverständlich die Frau. Unsereins, der Gatte, ist ja mit Flanellhose und Sakkoanzug und ewigem Smoking immer vollständig, da bedarf es keiner Wunder. Sie sind übrigens auch bei der Hausschneiderin nicht so leicht zu erreichen. Mit den 7 Mark Tagelohn ist es nicht geschafft. Es gehört Intuition und gute Laune dazu, und wenn jemand, wie diese unsere Perle, zu den von den Polen vertriebenen Ostmarkdeutschen gehört, wurzellos geworden ist, das geliebte und treulich aufgezogene Nichtchen in das ferne Bulgarien verheiratet hat, von Jahr zu Jahr weniger Arbeit bekommt, da heute doch jede zweite Frau und nachgerade fast jedes junge Mädchen des Mittelstandes ihre paar Hängerchen selbst näht oder billig kauft, und viele Wochen im Jahr gezwungen müßig sein muß, da kann die gute Laune mitsamt der künstlerischen Eingebung sich schon verflüchtigen.

Aber da setzt eben das andere Wunder ein. Unsere Hausschneiderin spielt. Nicht etwa Ecarté in einem Klub, sondern ein Achtel in der Staatslotterie. Das hebt sie. Das macht sie zu einem guten, fröhlichen, erfindungsreichen Menschen. Seither glaube ich nicht mehr an die Unsittlichkleit des Lotteriespiels.

An sich hätte unsere Hausschneiderin deren Eltern wohlhabende Hofbesitzer in der Gegend von Lissa waren, alle Ursache, in ihrer jetzigen Verarmung mißgestimmt und gelegentlich neidisch zu sein. Aber sie trillert wie eine Lerche durchs Leben. Sieht sie eine elegant gekleidete Dame einem Privatauto entsteigen, so zischt sie nicht etwas von verdammten Kapitalisten, sondern lächelt der Dame freundlich zu und denkt: "Kindchen, wenn Du eine Ahnung hättest, wer ich bin! Ich kann nächstens das große Los gewinnen! Dann habe ich ein noch moderneres Auto als Du und, darauf kannst Du Gift nehmen, bin sicher geschmackvoller gekleidet! Und alle armen Bekannten kriegen dann noch was ab!" So denkt sie; und dann schleppt sie sich nicht weiter, sondern sie schreitet oder sie tänzelt, und an der nächsten Straßenecke gibt sie, leichtsinnig und glückselig, dem blinden Bettler 20 Pfennige. Manchmal steigt ihr das Wasser an die Kehle, wenn die durch sie in bunte Falter verwandelten Frauen zur Sommerreise entflattern, aber im nächsten Augenblick ist sie schon wieder zufrieden und sagt sich: "Pöh, habt Euch doch nicht so mit Eurem bißchen Friedrichroda oder Binz! Wenn ich erst das große Los habe, dann fliege ich über Wien und Ofenpest nach Sofia! Vorher kaufe ich lauter schöne Sachen ein, aber alles zu Fuß, nicht etwa mit Autodroschke! Ich werde doch keinen Zusammenstoß riskieren und deshalb nachher den Flug aufgeben müssen!" So ist unsere Hausschneiderin ständig in gehobener Stimmung, ihre Arbeit bekommt Flügel der Phantasie, und auch ihre Rechtlichkeit vertieft sich. Sie wird sich nie, wenn sie selbständig für eine Dame Stoffe oder Spitzen einkaufen darf, die landesüblichen Prozente geben lassen, denn das wäre doch proletarisch, wäre standesungemäß, so weit darf eine Person, die nächstens vielleicht den Hauptgewinn macht, sich doch nicht erniedrigen. Sie geht auch kaum je ins Kino. Das ist was für kleine arme Leute. Sie liest lieber etwas Gutes, oder sie stichelt in ihrer Freizeit etwas zusammen, um andere Menschen zu beschenken, die nicht wie sie durch ein Achtel der Staatslotterie beglückt und geadelt sind. Links und rechts, überall sehe ich solche Wunder; und wenn einer auch nur ein Kölner Dombaulos hat, so rückt er schon moralisch auf, und wenn er auch zehnmal nichts gewonnen hat, so strahlt er vor dem elften Mal doch wieder seine ganze Umgebung an.

Ohne etwas Hoffnungsseligkeit wäre das Leben manchmal wirklich nicht mehr schön, und da die schlichte Berufsarbeit heute doch nicht mehr die früheren Möglichkeiten zum Aufstieg bietet, ist der phantastische Ersatz durch das Spiel zu verstehen. Immer noch besser ein Achtel in der Staatslotterie, als eine Schiebewette nach der anderen beim Buchmacher oder das Kartenspiel oder die Spekulation an der Börse. Besonders diese hat ihre Fallgruben. Was ich vor einiger Zeit, nach dem schwarzen Freitag, schrieb, ist inzwischen eingetroffen, nämlich die zweite große Erschütterung der Kurse, die nicht die letzte sein wird. Wenn die Leute es doch endlich kapieren wollten, daß wir wirtschaftlich durchaus nicht eine Periode des Aufschwungs erleben! Nach dem Kriege hat der Feindbund uns ausgeplündert und bis zum Weißbluten ausgequetscht, gleichzeitig wurden durch die Revolution Milliarden deutschen Volksvermögens zentrifugiert und in die Hände internationaler Schieber geschleudert, beides brachte uns den Zusamenbruch in der Inflation und neben der materiellen eine ungeheure geistige Verarmung. Diese wilden Umwälzungen sind allerdings vorüber, es ist alles ruhig und - systematisch geworden. Das System, bis zur Vollendung ausgeklügelt und durchgeführt, besteht aber darin, daß unsere geasmte Nation zum Kuli des Auslandes gemacht worden ist, ohne daß sie es merkt. Man schreit auf gegen den Staat, der unwürdige Gehälter zahle, man explodiert gegen den Unternehmer, der im Lohn kaum das Existenzminimum auswerfe, aber Staat und Unternehmer ihrerseits werden doch durch die Maschinerie ausgepumpt, an deren Hebel der Reparationsagent Parker Gilbert steht. Es gehört zu diesem System, wie zu jeder Fron, daß die Fronvögte gut verdienen, Schieber und Politiker, und in deren Gefolge auch der Anhang, aber für das ganze deutsche Volk gibt es nur eine Parole, und die heißt: schuften.

Die sich nicht so abarbeiten müssen, die Kulitreiber hinter den Kulissen, die Frongewinnler vor den Kulissen, die können allerdings gut leben. Die Gelegenheiten dazu weisen einen raffinierteren Luxus als je auf, und wer manche dieser neuberliner Vergnügungsstätten sieht, der mag freilich an Aufschwung glauben.

Auf dem Gelände neben dem Theater des Westens wird jetzt ein Tanzpalast von mehreren Stockwerken erbaut, deren oberstes durch ein mechanisches Aufklappen und Verschwinden des Daches an lauen Sommerabenden zu einer Freifläche gemacht werden kann. Ein paar hundert Schritte um die Ecke aber, in der Hardenbergstraße, lockt schon heute die Villa d'Este die Genießer. Eine wirkliche Villa hier im Westen, mit nur einem Stockwerk über dem Erdgeschoß, mit einem Tanzparkett im Garten, wo man unter Bäumen an Springbrunnen sitzen kann. Im Hause selbst ein Luxusrestaurant von erlesener Pracht, das trotzdem nicht die vornehme Privatvilla ganz abgestreift hat. Es besteht erst seit einigen Tagen und hat doch schon sein Stammpublikum, jenes Publikum, für das Fünfzigmarkscheine Kleingeld sind und dessen größte Sorge es ist, ob nach dem Diner eine Birne belle Hélène oder eine Birne Dame blanche empfehlenswerter sei, ein Publikum, dessen männlicher Teil sich auch schon längst von der kulinarischen Barbarei der großen Masse freigemacht hat, den Mosel eiskalt zu trinken und für den Bordeaux warme Temperatur zu verlangen. Natürlich geht man nur paarweise in ein solches Haus. Es ist das aber ein Haus der sehr ungleichen Paare: häufig beträgt der Altersunterschied ganz augenscheinlich 30 Jahre oder noch mehr, häufig sitzen da weißhaarige Glatzköpfe von altem Geldadel oder ebenso vergreiste Augenblicksmillionäre neben ganz jungen Dingern. Das Ding ist kostbar gekleidet, hat aber einen bitteren Zug um den Mund, hat seine Lebensfrische beim Geldpascha schon verloren. Auch Geschäftemacher aus dem Auslande findet man hier. Da sitzt am Nebentisch ein weißborstiger Franzose, ein Money-Maker-Kopf, wie ih Forain oder Caran d'Ache gezeichnet haben könnten, ein Kerl, dem man auf Anhieb jedes Riesengeweih glaubt, und stochert mit zitternden Händen an seinem Stück Poularde herum, das auf dem Teller nicht stillhalten will, und wird von zwei Kellner und einem Geschäftsführer umschwänzelt und bei der Weinauslese beraten. Mit erloschenen Augen starrt das magere Geschöpfchen neben ihm in die Weite. Nicht alles sind solche Paare, von denen der eine Teil unsichtbare Ketten trägt, es verirren sich auch gleichalterige hierher, es kommt wohl auch aus Neugier ein junges Paar von dem ausgesprochenen Typ des nordischen Menschen, des Nicht-Geschäfte-Machers, aber das Gros macht einen levantinischen Eindruck. Natürlich ist auch eine diskrete Jazzkapelle da, natürlich sind auch gemietete Tanzjünglinge da, und manchmal hebt einer der Valutagreise die müden Augendeckel und winkt dem Jüngling und läßt seine junge Hörige mal eins tanzen, um derweil ungestört das schwierige Werk zu unternehmen, das Glas Chablis mit beiden Händen zum Munde zu führen und dabei nichts zu verschütten. Und dabei an das nächste Geschäft zu denken.

Zu den größten Unbegreiflichkeiten gehört für diese Sorte Menschen der Begriff Vaterland. Der ist doch antiquiert. Allenfalls kann der moderne Mensch ihres Gelichters von Paneuropa sprechen. Auf jeden Fall nur von irgend einer Wirtschaftsgemeinschaft; das Staatliche nebenbei ist nur Erwerbssicherung, stellt nur die Gendarmerie vor den Geldschrank. Mit überlegenem Lächeln fahren diese Leute an den Ausstellungshallen am Zoo vorüber, die jetzt vier Wochen lang die Aufschrift tragen: "Der deutsche Frontkämpfer. Bilddokumente aus dem Weltkriege." Das ist wirklich etwas ganz Unbegreifliches, stellt auch die demokratische Schieberpresse fest. Man denke: hier handelt es sich nicht um irgend einen Ismus, um irgend eine Kunstfatzkerei, um irgend eine schreiende Aufmachung künstlerischer Unfähigkeit oder irgend ein kunstrevolutionäres Gebrüll, sondern um eine Sammlung von Kriegsdarstellungen, die urkundlichen Wert haben. So wie es war. Nicht so, wie irgend ein Talentchen es sieht, oder gar so, wie irgend ein Gehirnchen auf Eindrücke hin phosphoresziert. Wenn wir schlichten Durchschnittsbürger ein Porträt malen lassen, dann soll es eine Urkunde sein, soll es den Porträtierten darstellen, wie er leibt und lebt. Das gleiche ersehnen wir von Kriegsbildern. Sie sollen keine pazifistischen Leitartikel sein, die das Grauen noch übergraulen, wie es Otto Dix in seinem "Schützengraben" versucht hat, dieser scheußlichen Anatomie, die hier Gott sei Dank nicht aufgenommen ist; aber auch keine militaristischen Leitartikel, die in Haurrahpatriotismus und falscher Theatralik machen, wie es zu Zeiten Anton v.Werners noch üblich war. Nein: Wahrheit! Die Lndschaft, die Maschine, der Mensch im Kriege; vor allem dieser kämpfende, leidende, harrende, siegende feldgraue Mensch der großen Masse, der unbekannte Soldat, das ganze Volk.

Von dieser Anforderung aus gesehen sind die 1020 am Zoo ausgestellten Bilder und Skulpturen eine Sammlung echtester Urkunden. Vielfach im feindlichen Feuer selbst skizziert. Der alte Rocholl aus Düsseldorf, der Senior unserer Soldatenmaler, humpelt noch heute nach mehrmaliger schwerer Verwundung im Kriege. Und da ist Erich Mattschaß aus Berlin-Zehlendorf, von dem ich schon einmal sagte, seine Bilder seien ein derart erschütternd wahrhaftiges Zeugnis unserer großen Volksleistung, daß sie von den Städten angekauft und in den Rathäusern aufgehängt werden müßten: in jeder Gemeinde die Darstellung jener Kämpfe, an denen gerade die Söhne aus dem Ort besonders teilgenommen haben. Und da sind die Köpfe aller Führer von Arnold Busch und Hugo Vogel, sprechend ähnlich, energiegeladen und sorgenbeschwert, versteinert oder siegesfroh. Da bringen allein die drei Münchener Hayek, Reich, Ullrich eine Geschichte des Weltkrieges in Einzeldarstellungen ihrer sämtlichen Schauplätze, da erschließen uns Hans Bohrdt und Willi Stöwer und nicht zuletzt der glasklare Münchener Klaus Bergen das grandiose deutsche Heldentum zur See. Einiges wenige Sentimentale (die Mutter über dem Feldpostbrief: Der Herr wird ihn behüten!) fällt aus dem Stil der ganzen Ausstellung heraus, einiges wenige - so von Felix Schwormstedt - ist auch nicht mehr Urkunde, sondern reine Illustration, einiges wenige, ich denke hier an Pechsteins vier Zeichnungen, schildert auch einseitig und suggestiv das Ekle, aber im Ganzen hat man nach dem Durchwandern dieser Sammlung, in der vom Feldherrn bis zum Landstürmer, vom Pionier bis zum Flieger, vom Finnlandbefreier bis zum Asienkämpfer jeder sein großes Erlebnis wiederfindet, nur den einen dringenden Wunsch: daß ein Nationalmuseum sie aufnähme. Viele unserer großen Erinnerungen sind uns entrissen, die französischen Fahnen verbrannt, die große Kanone vom Mont Valérien von 1871 abgeliefert, das ganze Zeughaus geplündert, aber die ungeheure, die allergrößte Leistung des deutschen Volkes, dieses vierjährige Standhalten gegen 28 Feindesstaaten, das sollten wir wenigstens im Bilde uns erhalten.

Es ist klar, daß es keinen Massenbesuch in der Ausstellung gibt. Die Linke schweigt sie tot oder verspottet sie unter dem Titel: "Man sollte es nicht für möglich halten!" Und die gedankenlose Masse strömt vorüber. Ein paar Meter weiter lockt mit grellerer Reklame der neue Valenciafilm. Auf die Straße hinaus dringt aufpeitschend die Musik. Kein anderer Foxtrott hat ein solches Tempo wie Valencia; und der dazugehörige Film der bayrischen Lichtbildgesellschaft hat den gleichen Schmiß. Wozu von dem Kriege reden, solange man noch tanzen und die Valencia sehen kann ? Und versuchst du deine Begleiterin in die Ausstellung hinüberzuziehen, dann macht sie wohl gar eine unmißverständliche Bewegung nach dem Kopfe - der "Birne" - hin und sagt dir den heute meistgehörten Berliner Vers:

"Ich seh's an deiner Stirne:
Du hast 'ne weiche Birne!"

2. Juni 1927 (Donnerstag)



Glossen 34 - 36

Jahresinhalt

Glossen 40 - 42

© Karlheinz Everts