"Rumpelstilzchen"

Berliner Funken
(Jahrgangsband 1926/27)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1927

Glossen 43 - 46
30. Juni bis 21. Juli 1927


43

Höflichkeit in Berlin und anderswo - Klassenkampfpsychose - Am Bauzaun in der Zimmerstraße - Der verregnete Juni - "Eine Nacht auf dem Wannsee" - Schattentheater - Uwelala - Erlebnisse im Wohnungsamt.

Eine bezeichnende Geschichte vom höflichen Berliner macht die Runde. Der Mann kommt nach Wien und fragt den ersten Entgegenkommenden kurz und barsch nach dem Weg. Der Wiener gibt bereitwillig Bescheid, kann sich aber die Bemerkung nicht versagen, ob der Herr Landsmann aus dem Reich nicht etwas höflicher fragen könnte. Der antwortet seelenruhig: "Nee, da valoof ick ma lieba!"

Die Geschichte ist zum mindesten gut erfunden; sie könnte wörtlich so passiert sein. Unser Jüngster, der Mulus, weilt seit einigen Monaten in London, um sich im Englischsprechen zu vervollkommnen, und sein erster überraschender Eindruck war die ungemeine Höflichkeit des "Mannes auf der Straße", nicht nur des Gebildeten. Zwei Nichten von uns, die ein halbes Jahr in Rom zugebracht haben, kommen zurück und erzählen begeistert von der strahlenden Liebenswürdigkeit der Italiener aller Stände. Völlig rücksichtslos, wenn es sich nicht gerade um eine pikante hübsche Dame handelt, ist in Europa, trotz der gerühmten Politesse, nur der Franzose, der rohes Benehmen allenfalls unter einem Wortschwall zu verbergen versteht. Aber schon der Spanier, selbst der in Lumpen, ist von einer entwaffnenden Ritterlichkeit. Dem Schweden, dem Finnländer leuchtet die Herzlichkeit offen aus den Augen, wenn er jemand mit Rat und Tat behilflich sein kann, im freundlichen Holland ist der kurz angebundene Mynheer "Kannitverstan" zu Unrecht durch das deutsche Lesebuch verewigt worden, und selbst in den Balkanstaaten und im nahen Orient erscheint uns der schlichte Mann aus dem Volke innerlich vornehm in der Art seines Verkehrs mit Einheimischen und Fremden.

Die Barschheit des ungebildeten oder halbgebildeten Berliners wird gewöhnlich auf den sogenannten Unteroffizierston zurückgeführt, der für den ehemaligen Obrigkeitsstaat bezeichnend sei. Darin mag ein Körnchen Wahrheit sein. Schon der Ton, in dem in England oder in Amerika etwa ein Direktor, ein Ingenieur, ein Meister mit den Arbeitern spricht, ist ein ganz anderer als bei uns. Aber dann müßte doch, seit angeblich das Volk bei uns souverän geworden ist, eine fabelhafte Zutulichkeit in Deutschland ausgebrochen sein. Das Gegenteil ist der Fall. Die Grobheit, nicht etwa die der Beamten oder Vorgesetzten, sondern die "im Publikum", ist ärger denn je, und der hergereiste Fremdling hat den nicht ganz unrichtigen Eindruck, daß wir allesamt gegeneinander verhetzt seien, verärgert und mißmutig seien. Das ist in der Tat die Wurzel des Übels. Überall wird Klassenkampf und Bürgerkrieg gepredigt. Der Feind steht nicht an den Grenzen, sondern "rechts" oder "oben", der Lehrer ist der Feind schon für den Dreikäsehoch, der Bauer ist der Feind, der Hauswirt ist der Feind, der Gutgekleidete ist der Feind. Die Not, die Versaillesvertrag und Dawesdiktat über uns gebracht haben, wird den anderen Ständen angekreidet. Man steht "mit dem linken Bein" morgens auf, man ist den Tag über unwirsch, man ist oft mit Bewußtsein roh. Was sind wir doch für ein unglückseliges Volk geworden. Wenn einer die Befreiung seines Vaterlandes auf sein Panier geschrieben hat, dann genügt das, um ihm den Haß verblendeter Volksgenossen einzutragen. Die Überfälle auf Angehörige des Stahlhelms, auf alte Frontsoldaten und Kriegsteilnehmer, mehren sich, das Reichsbanner Schwarzrotgold und die kommunistischen Rotfäustler unternehmen auf Lastautos richtige Kriegszüge, und die Behörden versagen, denn in Preußen sind sie sozialdemokratisch, also klassenkämpferisch geleitet. Ein Abgeordneter bringt in einer schriftlichen Anfrage eine lange Reihe von Überfällen vor, bei denen es Schwerverletzte und Tote gegeben hat, und verlangt Untersuchung und Eingreifen. Erst nach einem halben Jahre antwortet der Minister. Er antwortet: ihm sei nur eine einzige Affäre bekanntgeworden, und da hätten die Vaterländischen provoziert. Aus solchen Dingen zieht der schlichte Mann natürlich den Schluß, daß wir in einem Übergangsstadium leben, in einer Zeit des Vorfühlens auf den Bürgerkrieg, und daß die "richtige" Revolution erst noch komme; und dieser Stimmung entspricht dann sein aufreizendes Verhalten. Höflichkeit hat Behagen als Grundlage. In so unbehaglichen Zeiten wie den jetzigen ist sie verloren. Ein Bekannter, ein ehemaliger Stabsoffizier, geht am vorigen Sonnabend durch die Zimmerstraße in Berlin, an einem Bauzaun vorbei, auf dem verbliebenen schmalen Streifen des Bürgersteigs. Er merkt, daß ihm plötzlich jemand von hinten in seinen Regenschirm tritt. Er wendet sich um und sagt ganz ruhig: "Sehen Sie sich doch bitte etwas vor!" Der Mann, der sich so unliebsam bemerkbar gemacht und selbstverständlich nicht einmal "Paddong!" gesagt hat, ist ein Bauhandwerker, trägt ein mächtiges Stemmeisen in der Hand und entschuldigt sich nun nicht etwa noch nachträglich, sondern belfert los: "Wat sagense, ick soll mir vorsehen, sagense ? Se ham woll heute noch nischt jearbeet ? Ick soll mir vorsehn ? Det wern wa jleich ham!" Und - rums - tritt er zum zweitenmal mit dem Stiefel in den Schirm.

In London würde solch ein Kerl vom Publikum gelyncht werden. In Berlin stellt sich ein Volksauflauf auf seine Seite. "Feste, Emil, jib ihm Saures!" Der Herr mit dem Schirm sieht die Leute wortlos an und entfernt sich ruhig. Das ist das einzig Mögliche, sonst hat er das Stemmeisen auf dem Kopf und endet ruhmlos als Lokalnotiz.

Der völlig verregnete Juni hat noch ein übriges dazu getan, um dem Berliner den letzten Rest von Höflichkeit zu vergällen. In den Laubenkolonien keine Erholung, sondern Gehuste und Geschneuze. Die Freibäder menschenleer, die Ausflugswirte vor dem Bankerott. Der Zoologische Garten hat, wenn ich mich nicht verhört habe, in diesem Halbjahr 40 000 Mark weniger eingenommen als in dem gleichen des Vorjahrs, und dabei ist er doch jetzt auf einer Höhe wie kaum ein anderer in Europa. Im Lunapark nicht das sommerliche Gedränge, sondern kleine Regenschirmprozessionen. Auf der Wannseestrecke an Sonntagen kein einziger Sonderzug. Das Tanzlokal in Pichelsdorf an der Havel verschlammt. In Berlin draußen vor den Kaffeehäusern die Stühle schräg an die ebenfalls schräggestellten Tische gelehnt, damit das Wasser ablaufen kann, und so fast alle Tage einen Monat lang. Der Berliner hatte schließlich das Gefühl, daß er selber verschimmele.

Auf der Schoonerbark "Dorothea" an der Brücke am kleinen Wannsee aber hatte man es gewagt, in der Nacht zum letzten Junisonntag ein angebliches Künstlerfest zu veranstalten. So eine Frechheit. Mit hohem Eintrittsgeld. Von der Novembergruppe. Im Winter hat die Gruppe auf ihren Bällen bis zu dreitausend vergnügte Teilnehmer. Diesmal hatten sich zu Beginn ganze elf eingefunden. Gegen Morgengrauen, als man nach dem Freibad hinüberstarrte, ob sich dort nicht das Naturwunder eines Sonnenaufganges vollzöge, mochten es vielleicht zweihundert geworden sein, davon die Mehrzahl Ortsansässige. Diese "Nacht auf dem Wannsee" unterschied sich von dem sonstigen Wochenende daselbst, abgesehen von dem schwachen Besuch, nur dadurch, daß drei der erschienen jungen Damen, um Künstlerfreiheit zu markieren, in Jungenshosen tanzten. Die betrübliche kleine Kapelle, die unentwegt kratzte und jazzte, war die übliche der Wochentage. Es war wirklich eine Frechheit. Aber der Spaziergang dann am Morgen, rund um die Bucht, rund um die Halbinsel, der war allerdings herrlich, den vergesse ich sobald nicht wieder. Unsereins hat derartiges so selten. Und überall trotz regenverhängter Landschaft Boote im Schilf und Zelte an Land, Picknick und Grammophon, Naturhunger und ein ganz klein bißchen blinzelnde Lebenslust. In der Stadt aber, in die ich dann am Nachmittag zurückkehrte, das alte Treiben, die pflichtgemäße Demonstration. Ich stoße auf kleine Gruppen mit Sowjetabzeichen und Musik: "Die Internationale erkämpft des Menschen Recht". Ein paar Buben stehen rundum und singen diesen Kehrreim nach Leibeskräften mit. Aber mit etwas verändertem Text. Ein uniformierter Berliner Sowjetmann verjagt sie. Sie haben immer gesungen: "Die Überlandzentrale versorgt Berlin mit Licht".

Das Klügste in sotanen Zeiten ist es doch noch, in den Zoologischen Garten zu gehen, da kann man in den Regenpausen Luft schnappen, während des Regens unterkriechen, man hört gute Musik, man belustigt sich stets aufs neue bei Bären-, Löwen- und Giraffenbabies und man kann in der Tripolisschau auch beim fünften oder sechsten Besuch immr noch fesselnde ethnographische Studien machen. Richtig: man hat bisher die hie und da auf Hauswände gekleckste rote Hand noch nicht bemerkt. Sie soll den bösen Blick bannen. Unberufen, toi-toi, noch sind die Tripolitaner, abgesehen von den üblichen geheimen Krankheiten, gesund und munter, nur drei der Araberhengste husten. Im übrigen hat die Sittenpolizei eine besondere Streife hierher detachieren müssen. Wie schon 1896 auf der großen Berliner Ausstellung und seither bei jeder exotischen Schau drängen auch diesmal Berliner Frauen und Mädchen aus kleinbürgerlichen Kreisen sich an die braunen Gesellen heran. Im arabischen Café sind einzelne von ihnen täglicher Stammgast. Der Wildgeruch reizt. Das Viehische reizt. Das Perverse reizt. Es hat Zeiten gegeben, wo harmlose Gemüter bei uns von der kindlichen Negerseele faselten, die durch die Europäer verdorben werde, aber den Hamiten und Semiten und dem ganzen Mischlingsgezücht Afrikas können wir wirklich nichts mehr vormachen. Da ist Sodom und Gomorrha. Es wird das alles aber nicht als gemein empfunden, sondern ganz naiv betrieben. In ihrem Schattentheater, in dem täglich auch Frauen und Kinder herzlich lachen, wenn da Kara-gös, der orientalische Hanswurst, auf der beleuchteten Leinwand seine Streiche vollführt, wird das meiste für europäische Augen abgemildert. Kara-gös, der in der Originalsilhouette als eine Art Phallusgott erscheint, wird hier zweckmäßig "beschnitten", und den obszönen arabischen Text verstehen Berliner Kinder zum Glück ja nicht. Sie sehen nur, wie Kara-gös mit Frauen und Männern sich "balgt" und lachen darüber. Eine originale Aufführung für wenige geladene Gäste habe ich mir jetzt angesehen. In der ganzen Türkei sind die Schattenspiele schon vor etwa dreißig Jahren durch ein Irade des damaligen Sultans als unmoralisch verboten worden. In Tripolis und Tunis und Algier existieren die Rezitatoren mit den Pappfiguren noch. Aber auch da sind ihre Tage gezählt. Das Geschäft geht zurück, weil auch der Eingeborene heute lieber ins Kino geht, um die Streiche von Pat und Patachon sich anzusehen, als ins einheimische Schattentheater zu dem Kasperle Kara-gös. Die Kunst selbst ist uralt. Ich habe einmal in Samarkand in Zentralasien, wohin es zuerst unter dem Sohne des großen Despoten Tamerlan gekommen ist, ein Schattenspiel bei einem Wanderartisten gesehen, aber das war anständig, hatte Heldensagen zum Text. Auch in Siam und auf Java gibt es solche, die seit Jahrhunderten das nationale Epos und die überlieferte Mythologie verbildlichen und phantastisch, aber moralisch unbedenklich sind: im Ramajana kämpfen Affenkönig und Dämonen um einen verstoßenen Fürstensohn, der mit Hülfe seines edlen treuen Weibes sich ihrer sieghaft erwehrt.

Jetzt, wo ich ein paar Stunden am Schreibtisch sitzen muß, scheint natürlich die liebe Sonne. Morgen fangen die Schulferien an. Zehntausende Berliner Kinder namentlich auch aus der Arbeitergegend, die umsonst oder für sehr wenig Geld an die See und in die Berge geschickt werden, sind schon heute trunken vor Freude. Sie haben die liebe Sonne so lange nicht gesehen, nun hoffen sie sie fünf Wochen zu haben. Wer auf die Sonne geschäftlich angewiesen war, der hat im Juni geschleudert. Die große Wochenendausstellung hat halbe und Viertelspreise gemacht, um die Besucher zu locken. Es hat schließlich nichts mehr ziehen wollen. Nun ist es zu Ende damit. Geblieben ist nur noch der Ausdruck Wochenende. Kempinski stellt Wochenendpakete aus, die Sardinen, Wurst, Käse, Baumkuchen und Likör enthalten. Ein Festausschuß veranstaltet "Uwelawa", auf deutsch: Unser Wochenende liegt am Wasser. Es gibt in den Schaufenstern Wochenendkameras, Wochenendgrammophone, Wochenendschokolade, Wochenendregenhäute.

Ferien machen diesmal am ersten Juli nicht nur Schulkinder und Lehrer und viele Familien, sondern auch - die Berliner Wohnungsämter. Denen gönnt man sie am wenigsten. Sie sind vielfach so unbeliebt wie die Finanzämter, obwohl beide wohl besser sind als ihr Ruf. Sie sind ja nur ausführendes Organ. Den Steuerdruck machen nicht die Finanzämter, die Wohnungsnot nicht die Wohnungsämter. Ich kenne den langjährigen Direktor eines solchen Amtes, der mir versichert, leicht habe man es da nicht, denn man werde zwecklos überlaufen und man werde ständig belogen, man komme aus dem Krakehl nicht heraus und man gelte als so übel beleumundet wie einst die Schinder und Scharfrichter. Vor etwa sieben Jahren gab es in Berlin gegenüber allen Wohnungsämtern noch Frauen in gesegneten Umständen zu mieten, die dann zusammen mit dem Wohnungsuchenden gegen geringe Gebühr den Gang aufs Amt machten. "Herr Direktor, Sie sehen et ja, wat meine Braut is, die is nu so weit, da müssen wa doch eene Bleibe ham!" Eines Tages gibt es großen Krach im Wartezimmer, eine Frau schreit, sie denke nicht daran, stundenlang mit ihrem Säugling dazustehen, sie müsse sofort zum Direktor. Die Tür fleigt auf, sie tritt herein und wirft das Bündel auf die Diele. Entsetzt springt der Direktor auf und sagt, so schmeiße man doch nicht Säuglinge hin, und erhält die Antwort: "Wat denn, det is ja bloß mein Dackel, ick ha' ihm als Seichling frisiert, sonst hätte man mir bei Sie janich rinjelassen!" Ein anderes Mal knistert ein Dämchen herein, das bei einer Filmgesellschaft beschäftigt ist, noch bei der Mutter lebt, aber eine eigene Wohnung verlangt. "Sehn Sie, Herr Direktor, wenn mein Alfred bei mir ist und morgens in das Badezimmer will, dann steht meine Mutter wie ein Erzengel davor, das ist doch unerträglich!" Der Leiter des Wohnungamtes lehnt kurz ab. Da sagt das Fräulein, indem es ganz nahe rückt, beschwörend: "Ich muß, ich muß eine Wohnung haben! Wenn Sie mir eine besorgen, dann versprech ich Ihnen eine Nacht, Direktorchen, eine Nacht, sage ich Ihnen . . ." Ehe das Dämchen weiterreden kann, ist es hinausgeworfen. Drei Tage später klingelt es an und sagt: "Herr Direktor, was ich Ihnen bloß sagen wollte: Ihr Kollege im Nachbarbezirk war klüger als Sie!"
30. Juni 1927 (Donnerstag)


44

Der achtzigjährige Liebermann - Künstler und Nachahmer - Walter Rathenaus Urteil - Piscator-Theater - Der Beruf der Frau - Wochenende in Bad Saarow - Liedke und die Dorsch.

Max Liebermann wird jetzt achtzig Jahre alt. Er kann bildschön berlinern. Die Zahl seiner kolportierten Witze ist Legion. Aber nicht deshalb hat man ihn nun zum Ehrenbürger Berlins gemacht, sondern weil doch alle Welt sagt, er sei unser größter Maler. Beiläufig bemerkt: wenn er Fritz Lehmann hieße, hätte die Stadtverordnetenversammlung, deren Mehrheit aus Sozialisten, Demokraten und Botokuden besteht, ihn kaum so geehrt. Diese Stadtverordneten verstehen von Kunst ungefähr so viel wie die Reichstagsabgeordneten, die einst das herrliche Riesengemälde Angelo Janks "König Wilhelm reitet über das Schlachtfeld von Sedan", dieses in seiner ungeheuren Schlichtheit so ergreifende Bild, zwar mürrisch bezahlten, aber aus dem Sitzungssaal alsbald wieder entfernten. Denen könnte man auch weismachen, daß Max Liebermann der größte Maler des Jahrhunderts sei. Jetzt schreiben die Zeitungen, es sei ein Skandal, daß die Deutschnationalen im Rathaus gegen die Ehrung des Meisters gestimmt hätten; da sehe man wieder den blöden Rassenhaß. Groß ist die Macht dieser Blätter. Sie bringen es fertig, jedes Talent, wenn es nur vom Kurfürstendamm stammt, zum Genie emporzuloben, auch wenn es nichts eigenes hat, sondern eklektisch und betriebsam nachahmt. Ich habe vor Jahr und Tag Max Liebermann einmal den Damenimitator unter den Malern genannt. Er kann sozusagen Sopran singen. Es gibt keinen erfolgreichen Großen im Reiche von Pinsel und Palette in den beiden letzten Menschenaltern, den er nicht erfolgreich in seiner Manier nachgeahmt hätte. Unsereins ist doch mit offenen Augen durch die Welt gegangen und hat nicht nur alles ehrwürdig Alte zwischen Prado und Eremitage, sondern auch alles revolutionär Neue sich angesehen. Außerdem steht im Bücherschragen ein trefflicher Ratgeber: die in Bruckmanns Verlag in München erscheinende Zeitschrift "Die Kunst" mit ihren sämtlichen stattlichen Bänden. Sie ist unabhängig, keiner Clique oder Sippe verpflichtet, sie bringt Altes und Neues in hervorragenden Abbildungen, ich halte sie seit 1899, sie ist Nachschlagewerk für mich und Erhebung in besinnlichen Stunden. Da kann ich nun mit dem Finger auf das zeigen, was Max Liebermann schuf, und auf das, wonach er es schuf. Er ist wirklich der Schauspieler unter den Malern, der handwerklich geschickteste Nachempfinder, der immer die modernste Technik sich aneignet, ja sogar jedes neu auftauchende Sujet, aber von deutscher Seele nicht die leiseste Spur aufzuweisen vermag. Dieser geschäftstüchtige Virtuose ist, wie ein Kunstkenner, Dr. Richard Biedrzynski, ihm bescheinigt, ein Schausteller der jeweiligen Mode von Israels über Manet und Menzel bis zu Degas. Seine "Netzflickerinnen" stammen von Millet, sein "Tischgebet" von Uhde, seine "Gedächtnisfeier in Kösen" ist ein haarsträubend stimmungsloses Plagiat nach Menzel.

Ich denke nicht daran, etwa Liebermanns Talent zu leugnen, das wäre wirklich ein Haßurteil. Er kann schon was. Als Maler und als - Geschäftsmann. Als eine deutsche Staatsgalerie einmal eine Skulptur von dem großen französischen Bildhauer Rodin erwerben wollte, sagte der: "Ist mir eine Ehre!" und verlangte nur 8000 Franken für eine überlebensgroße Bronze. Als aber das Land Württemberg vor einigen Jahren ein verhältnismäßig kleines Bildchen Liebermanns, "Seilerwasen", anzukaufen wünschte, scheiterte dies an der starren Erklärung des Malers, unter 45 000 Mark sei nichts zu machen.

Die deutschnationalen Berliner Stadtverordneten sind sicherlich keine gelehrten Kunstkritiker. Aber den richtigen Instinkt haben sie ausnahmsweise gehabt, als sie gegen die Bürgerkrone für Max Liebermann stimmten.

Man muß mit den Wölfen heulen, denkt das Gros unserer Bildungsphilister. Was im Baedeker einen Stern hat, dafür muß man vorschriftsmäßig schwärmen. Was irgend eine Zeitung unter dem Strich empfiehlt, das ist unantastbar.

Einen weiß ich, der wahrte sich sein selbständiges Urteil. Das ist Walter Rathenau, dessen 1908 bei Hirzel erschienene "Reflexionen" eines meiner Lieblingsbücher sind. Das Reichsbanner Schwarzrotgold, das unter Führung von Hausvogteiplatzjünglingen an seinem Grabe demonstriert, weiß nicht was es tut. Ebensowenig wußten es umgekehrt seine sinnlosen Mörder. Er ist derjenige, der, voll Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, deutsches Wesen im Tiefsten erfaßt und die Reflexe vom Kurfürstendamm ehrlich verachtet hat. Und aus deutscher Seele heraus, der er so gerne sich zu eigen gäbe, sagt er zu Malerei:

"Ihr habt uns gebändigt. Uns habt Ihr gezwungen, nach Art der Franzosen zu blinzeln, nach Art der Orientalen äugen zu lernen, um Eure Bilder zu begreifen. Ihr habt uns bewiesen, daß Licht und Sonne und wieder Licht der Gegenstand der Malerei ist. Wir wissen jetzt genau, wie Licht mit Ölfarbe gemacht wird. Wir haben auch begriffen, daß eine weiße Schürze lediglich aus bläulichen, rötlichen und gelblichen Tönen besteht. Die Presse ist Euch ergeben. Von Krefeld bis Magdeburg und von Chemnitz bis Graudenz hört die kunstschreibende Jüngerschaft das Kommando Eurer Führer. Sieben alte Meister werden respektiert, ein Dutzend neue bilden den Katechismus, und im übrigen wechselt es ab mit der Farbensymphonie des Herrn Müller, der Weltseelenwurzelschaft des Herrn Schulze und dem Erdgeruch des Herrn Cohn."

Ähnliches könnte Rathenau heute auch von allen anderen Künsten sagen. Von der atonalen Musik. Von der nihilistischen Schauspielerei. Von der interpunktionellen Dichtung. Der Künstler, der einst als Bildner galt, ist heute Formzertrümmerer. Und voran weht die rote Fahne. Auf der Volksbühnentagung in Magdeburg konnte der irrsinnige Satz ausgesprochen werden: "Die kulturelle Befreiung der Massen kann nur das Werk der Massen selbst sein!" Kultur wird aber doch nie von den Vielzuvielen erzeugt, auch nicht einmal von der ehedem satten Bourgeoisie, sondern immer nur von Einzelnen, von Eigenen, von Führern. Auch die Kommunisten haben nur ihren Piscator. Dieser ist jetzt unter die Kapitalisten gegangen und hat sich das Theater am Nollendorfplatz kaufen lassen, das demnächst mit einem Stück von Toller, dem jugendlichen roten General der Münchener Rätezeit, neu eröffnet wird. Alles, was besteht, ist wert, zugrunde zu gehen, - das ist die ganze Weisheit. Nun war ja auch Nietzsche, der so oft und so falsch zitierte, ein Brecher alter Tafeln, aber er wollte doch den Übermenschen, während heute der Untermensch, die Masse, das Unvolk unser Züchtungsergebnis sein soll.

Wenn es nur gegen das Bestehende geht, dann ist es schon richtig. Wir sind ein zuchtloses Volk geworden. Die Leiterin der Berliner sozialen Frauenschule, das allmächtige Fräulein Dr. Alice Salomon, erklärt ihren Schülerinnen: "Hausfrau ist kein Beruf!" Allenfalls sei dies noch bei der Proletarierin der Fall. Die Frau im Mittelstande, die sich noch ein Dienstmädchen leisten könne, habe doch nichts Rechtes mehr zu tun. Außerhalb des Hauses, da liege der Beruf. Die jungen Mädchen, die - auch wenn sie Fürsorgeschwester oder ähnliches werden wollen - doch allesamt von der Heirat träumen, einem Manne Helferin, Kindern Mutter sein möchten, staunen. Aber freilich, Fräulein Dr. Alice Salomon braucht nicht Hausfrau zu sein. Sie hat weder Mann noch Kind, und ihre Vierzimmerwohnung in der Luitpoldstraße wird von ihrer Haushälterin gut in Ordnung gehalten.

Natürlich gibt es kniekehlenfreie Girls, denen solche moderne Auffassung sehr zusagt. Junggesellin sein, das ist fein. Ist das Ding dann aber dreißig Jahre alt, dann zieht es zu einem Witwer mit fünf Kindern und entdeckt auf einmal den wahren Frauenberuf. Man muß immer wieder sagen: wir sind ja gar nicht so. Wir machen uns nur etwas vor. Wenn die Ketten erst fallen, wenn die fürchterliche Not der Gegenwart gehoben ist, dann haben wir wieder das deutsche Mädchen, die deutsche Frau. Ihr heutiger Beruf ist, sich deutsch für die Zukunft zu erhalten und ein Geschlecht heranzuziehen, da nicht mehr zertrümmert, sondern aufbaut. Die Freiheit aufbaut, das Reich uns wiedergibt. Die Geschichte wird die Mütter von heute einst segnen. Auch wenn zur Zeit in der Öffentlichkeit von ihnen keine Rede ist, nur das verschwiegene Haus ihre Aufgabe und ihre Arbeit kennt.

Es sind zum Teil ganz arme Mütter, Mütter, die kaum einen Sonntag des Aufatmens kennen. Über eine halbe Million Berliner ist jetzt zu den Ferien ausgeflogen, aber dreieinhalb Millionen sind doch daheimgeblieben. Die bevölkern jetzt, um dem Großstadtgestank in der endlich heißen Julisonne zu entgehen, lechzend die Freibäder rundum. Am Wannsee ist die Luft auch schon so anthropingeschwängert, daß man seine Ziele immer weitersteckt. Schon ist der Scharmützelsee trotz anderthalbstündiger Bahnfahrt dorthin das geworden, was früher der Wannsee war, als er noch als vielangestaunter Villenvorort alter reicher Bankiersfamilien galt. Der Scharmützelsee ist ja auch viel größer, hat meilenweiten Umfang, hat an wenigen Stellen "Betrieb", aber vielfach an seinen Ufern noch idyllische Ruhe und Vornehmheit. In dem blitzsauberen Hotel Viktoria kann man im tiefsten Frieden sein Wochenende verbringen, während zehn Minuten ab davon im Kurhaus Esplanade die Masse Mensch viel Geld in Lärm vertut. Vor diesem Hause stehen mitunter sechzig bis siebzig Privatautos in langer Reihe. Die Zimmer sind längst vorausbestellt. Man weiß auch, wer sie hat. "Sind die Herrschaften von Nr. 42 schon da ?"   "Das ist der Hupenton von Caro-Lehmanns großer Limousine!"   "Hat der Herr von Nr. 10 schon nach uns gefragt ?"   "Ach grüß' Gott, da sind ja auch Meyers!" Lauter Tauentziengesichter. Man tafelt, man tanzt. Es gibt da viel sowjetrussischen Einschlag. Auch neue Revolutionsgewinnler wissen schon, wo es schön ist. Gegen Einbruch derweil daheim ist man ja wohl versichert; sonst müßte doch auch der sozialdemokratische ehemalige Reichskanzler Bauer, der frühere Bureauschreiber und spätere Busenfreund Barmats, tieftraurig sein, denn auch in seine Villa ist man eingebrochen und hat ihm, wie seiner Zeit dem Genossen Adolf Hoffmann, "zahlreiche Brillanten und andere Wertsachen" entwendet. Auf dem Wasser lebhaftes Treiben. Segler blähen ihr blendendes Weiß, Motorboote flitzen über den See. Und hinterdrein - Wellenreiter. Auf den Samoainseln übt man diesen Sport in der Brandung frei auf schmalem Brett. Hier ist es angeseilt. Das Motorboot zieht einen über schäumendes Schmeißwasser. Achtung, Kurve! Da purzelt mancher Wellenreiter. Schadet nichts, man ist ja im Badeanzug. Und abends im bleichen Schein des ersten Mondviertels, da wird es gar poetisch, da fährt man in großer Gesellschaft zur Liebesinsel hinüber, da gibt es ein kosendes Bad mit leisem Geplätscher in nächtlicher Stille. Solche Sensationen kennt man in den Familienbädern nahe bei Berlin denn doch nicht; da muß man schon zum Scharmützelsee hinaus.

Wer Lust hat, der sieht sich auch mal dort bei Pieskow die Villenkolonie der Künstler und Intellektuellen an, das bekannte Meckerndorf, das mit diesem aus Künstlerlaune geborenen Namen jetzt sogar im amtlichen Fernsprechverzeichnis steht. Alfred Abel, Ernst Stern, Hans Waßmann, Friedrich Hobbing, Maximilian Sladek, Gustav Hochstetter, Henry Bender, Harry Liedke, - wer zählt die Völker, nennt die Namen ? Harry Liedke ist der Bürgermeister der fröhlichen Gemeinde. Seine entzückende Frau, Käte Dorsch, will jetzt, wie es heißt, wieder Frieden mit ihm schließen. Sie war einst eine mollige Luise. Dann spielte sie die quecksilbrige Kiki. Als sie sich zu diesem Zweck von 151 Pfund auf 131 heruntermassiert hatte, ging Harry Liedke mit einer Kollegin auf Reisen, ausgerechnet drei Tage vor Weihnachten. Da wurde die Ehe Liedke-Dorsch geschieden. Jetzt freut sich schon ganz Bad Saarow auf die erwartete Neukittung. Die beiden wohnen schon wieder unter demselben Dach, wenn auch in getrennten Räumen.
7. Juli 1927 (Donnerstag)


45

Allerlei Sorten Ferien - Die liebe Lokomotive - Marinemaler und Haushälterin - Deutsche im Auslande - Großstadt-Chauffeure - Zu Martin Mohrs Tode - Abgeordnete auf dem Bummel.

Vom Borsdorfer bis zum Calville gibt es allerlei Apfelsorten, eine immer schöner als die andere. Und es gibt so vielerlei Ferien, die verschiedenartig erfreuen, die Schul- und die Universitätsferien, die sächsischen, die rheinischen, die Gerichtsferien, die Ferien vom Ich und die Ferien von der besseren Hälfte. Der brave Mensch genießt sie mit Weib und Kind. Der nicht minder brave sondert, um der geplagten Frau einmal wirklich Ausspannung zu gönnen, die Kinder aus, schickt sie in eines der vortrefflichen Heime an der See und reist mit seiner Frau allein. Fraglicher ist die Bravheit schon bei den Männern, die vorher ihre Gattin auf ein paar Wochen "zum Aufbügeln" wegschicken, ins Moorbad, wo sie im heißen braunen Brei selbst und dann beim Nachschwitzen und bei Packung und Massage im Handumdrehen ihre 10 oder 20 oder 30 Pfund verliert. Da kann man nicht immer feststellen, ob er es gut mit ihr oder gut mit sich meint. Ganz perfide - aber auch da gibt es Ausnahmen, die von der Güte diktiert sind - erscheint uns nur der Mann, der in den Ferien von der Frau sich trennt, selbst wenn das Geld für eine gemeinsame Reise reichen würde; der sie also daheim läßt und selber in die Weite zieht oder sie laufen läßt und selber den vergnügten Strohwitwer spielt. In diesen Julitagen wird Berlin ja nicht nur verlassen, sondern auch aufgesucht. Da erinnern sich Tanten und Schwägerinnen und Vetter, daß sie Verwandte in Berlin haben, und schicken irgend eine Base oder Nichte vertrauensvoll her. Man möge doch das unerfahrene Kind - es zählt zwischen 14 und 44 Jahren - auf dem Bahnhof abholen. In neun von zehn Fällen mißlingt so etwas in Berlin, wenn nicht vorher Genaueres abgemacht ist, denn es gibt viele Ausgänge und ein Fluten und Hasten von tausend Menschen. Also das Abholen mißlingt. Aber dafür hat man in dem Treiben auf dem Bahnhof wieder allerhand in Psychologie zugelernt. Heute brechen gerade die Gerichtsferien an. Es wimmelt von Amts-, Land- und Kammergerichtsräten, von Staats- und Rechtsanwälten auf den Bahnhöfen. Nicht alle fahren weg, manche begleiten nur. Ich schlendere mit einigen Herren zurück, ich machen einen von ihnen darauf aufmerksam, daß seine rechte Hand ganz rußig sei. "Ja", antwortet er glückselig, "meine Olle ist abgedampft, da habe ich noch zuletzt die Lokomotive gestreichelt!"

Auch bei minder legitimen Gemeinschaften von Mann und Frau gibt es Ähnliches. Ich kannte einen Marinemaler in Berlin, einen Junggesellen in den sogenannten besten Jahren, der seit unvordenklichen Zeiten eine Haushälterin besaß, die zuerst komisch sentimental und zuletzt ingrimmig verbissen darauf wartete, daß er sie einmal heiraten werde, der Waschlappen, der elendige, der Haderlump, der versoffene. Im Vertrauen erklärte er einem am Stammtisch im Möckernkeller, sie sei der größte Drachen des Jahrtausends. Seine schönsten Ferien waren es, wenn er einmal wieder, um ein neues Marinebild zu malen, ans Wasser mußte. Dann bestellte er sie - er habe bis zuletzt in der Stadt zu tun - zum Abschied auf den Stettiner Bahnhof und sauste derweil vom Lehrter Bahnhof ab. Und dann im ersten Hafen womöglich gleich auf eine seeklare alte Brigg, die für sechs Wochen nach Island segelte. Keine Breifpost unterwegs, herlich, herrlich! Kam unser Maler dann zurück, so stieg er schon eine Station vor Berlin aus und klingelte einen von uns an, wir möchten doch nachsehen, ob nicht inzwischen der Teufel endlich den Drachen geholt habe. Dann aber kehrte er gehorsam und zerknittert zurück, ließ alles über sich ergehen und bemühte sich, mit der Kaffeemühle im Schoß einen guten Eindruck zu machen.

Im allgemeinen kann man jetzt feststellen, daß die verreisenden Deutschen nicht mehr in so unmöglichem Aufzug erscheinen, wie es früher so häufig war. Man sieht auf dem Anhalter Bahnhof nicht mehr die zwei Meter langen sogenannten Bergstöcke aus den Fliegenden Blättern in den Händen von Leuten mit Nagelschuhen. Auch daß die deutschen Frauen und Mädchen sich heute überraschend gut kleiden, bestätigen uns neuerdings alle fremden Besucher. Mussolinis Ausfall gegen schlecht oder komisch angezogene Deutsche, die den Marmor italienischer Tempel entweihen, ist veraltet und ungerecht. Er selbst, Mussolini, hat vielleicht einmal nicht gerade einen erhebenden Eindruck gemacht, damals, als er wegen Landstreicherei mit den schweizerischen Behörden in Konflikt kam. Nein, auch der sogenannte Lodendeutsche, wenn er nur sauber ist und sich unauffällig benimmt, sollte uns eher rühren als entrüsten, Mussolini aber mit frohem Stolz auf die Anziehungskraft des ewigen Rom erfüllen, weil es nicht nur für Snobs da ist wie die Riviera, sondern für suchende Seelen. Trotzdem können wir unseren Landsleuten in der Reisezeit immer wieder nur predigen, sie sollten draußen nie vergessen, daß sie Deutschland repräsentieren. Es ist nicht wahr, was man immer erzählt, daß sie so furchtbar laut sind, ich habe immer gefunden, daß Italiener und Dänen und manche andere, mit alleiniger Ausnahme der Engländer, noch durchdringender gackern, aber auch bei ruhigem Sprechen fällt der fremde Tonfall ins Gehör. Also in allen Fällen weiß die Umgebung alsbald: Aha, Deutsche! Von dem Augenblick an wird heimlich und interessiert beobachtet. Wie diese Tysker oder Germans oder Tedeschi oder Allemands sich benehmen, wie sie essen oder schlürfen, wie sie gegen Damen sind, was sie an Trinkgeld geben. Da sitzen vor einigen Tagen ein paar deutsche Lehrerinnen in dem kleinen Strandort Peacehaven an der Südküste Englands im Kaffeegarten des Hotels. Da beginnt die eine den Rock, den sie anhat, vor den Augen des kleinen englischen Spießertums kürzer zu schneiden und umzunähen! In den englischen Hirnen revoltiert es. Selbst die kleinen Spießbürger erklären jetzt halblaut, nun könnten sie begreifen, warum dieses Deutschland - den Krieg verlieren mußte. Hoffentlich schreiben mir nun nicht gleich sieben Studienräte, ich schiene die Absicht zu haben, den deutschen Lehrerstand herabzuwürdigen, so wie neulich, als ich etwas von einem Portokassenjüngling erzählte, der sich in Berlin auffällig benommen habe, deutschnationale Handlungsgehilfen eine Beleidigung des hochgeachteten deutschen Kaufmannsstandes konstruierten. Auch unsere tüchtigen Gerichtsschreiber, die endlich ihre Umbenennung in Urkundsbeamten erreicht haben, wollen sich keine Titelsucht vorwerfen lassen; gegen solche Kritik ist jedermann äußerst empfindlich. Also muß ich jetzt wohl auch im voraus erklären. daß ich keine Verunglimpfung des deutschen Adels beabsichtige, wenn ich von einer alten Exzellenz berichte, einer sehr selbstbewußten Dame, die mit einer jungen Gräfin und noch zwei oder drei jungen gerade in London weilenden Deutschen in einem Teeraum sitzt, eine Zeche von 8 Schilling macht, nur einen einzigen Penny Trinkgeld gibt, aber dem Kellner durch das ganze Lokal mit ihrer Reklamation nachläuft, weil er angeblich zu wenig Milch hingestellt hat.

Ins Ausland sollte man nur gehen, um still zu beobachten, aber nicht, um sich selbst zum Mittelpunkt der Beobachtung zu machen. Dann kehrt man bereichert heim. Dann schätzt man auch wieder sein altes Berlin oder München oder Hamburg. Welch' entsetzliche Langeweile in Rom oder London nach 11 Uhr abends! Da ist buchstäblich "nichts" mehr los, abgesehen von ein paar Hoteldielen. In Berlin aber schäumt nach harter Tagesarbeit die Lebenslust auf. Da sausen die Autos umher, da ist Leben und Bewegung. Diese Berliner Autos, jetzt nicht mehr die gräßlichen Kasten der ersten Nachkriegszeit, verdienten wirklich eine Monographie. Vor allem um ihres Personals willen.

Chauffeur heißt Heizer. Wie in so vielen Fällen haben wir hier ein ganz ungelenkes Fremdwort übernommen, nur weil es ein Fremdwort ist. Es fahren doch keine Lokomotiven auf unserem Asphalt, die eines Heizers bedürften. Auch die "deutsche" Schreibweise - Schofför - verschlimmert nur das Übel. Wir sollten Lenker sagen. Das trifft die Sache. Aber so etwas geht bei uns erst durch, wenn es befohlen wird, so mit dem Bahnsteig statt des Perrons. Nur selten gelingt es einem einzelnen Anreger, ein gutes deutsches Wort einzuführen, wie zu Beginn des vorigen Jahrhunderts Friedrich Ludwig Jahn mit dem Worte Volkstum, während man bis dahin mit Nationalität sich begnügte, was den ganzen Sinn nicht eraßt.

Also unsere Berliner Chauffeure, um bei ihrer Amtsbezeichnung zu bleiben, sind ein ganz eigenartiges Völkchen. Immer seltener wird der alte Kutscher, der auf Motor umgelernt hat. Man könnte fast sagen, es sind Sportsleute, nur daß sie an der vollen Entfaltung ihrer Fähigkeiten behördlich gehindert werden, nicht so viel Freiheit haben wie in anderen Ländern, dem Zwang zu dauerndem Tuten unterliegen, mechanisch nach roten, gelben, grünen Lichtern sich richten müssen. Da haben wir unter ihnen die Steher und Greifer. Die einen warten seelenruhig auf dem Halteplatz, rücken schicksalsgemäß vor, gehen dann, wenn sie an die Spitze gekommen sind, mit ihrer Menschenfracht ab und suchen nachher wieder den nächsten Halteplatz auf. Das Geschäft der anderen blüht beim "Greifen von Figuren", wie sie es nennen. Sie sausen leer und ziellos durch die Straßen, äugen scharf aus, fahren plötzlich langsam, wenn sie ein Paar entdecken, das ihnen als geeignetes Objekt erscheint, und sind so suggestiv einladend, so bequem, daß man wirklich einsteigt, obwohl man eigentlich noch die vierzig Schritte bis zum Halteplatz an der Ecke gehen wollte. Unter diesen Lenkern sind wahre Genies, die fabelhaft gewandt durchschlüpfen, immer wieder Sekunden und Minuten gewinnen, ohne dabei zu rasen, während unschlüssige Charaktere, Typ Kutscher, vor dem roten Aufleuchten kleben bleiben. Und es gibt Leute aller Stände unter ihnen. Neulich fährt mich ein kleines Kerlchen mit Intelligenzbrille. Den habe ich doch schon irgendwo gesehen ? Richtig, im Kriege war er blutjunger Fliegerleutnant. Jetzt erfahre ich, daß er verheiratet ist und heute den letzten Tag seine Droschke lenkt, denn gerade hat er - seine Bestallung als Assistenzarzt an einem der größten Berliner Krankenhäuser erhalten. Das ist auch nicht gerade zum Totlachen, das gibt nur 170 Mark monatlich Gehalt, da kann man als Greifer mitunter mehr verdienen, um von Maurer und Zimmermann und ähnlichen Leuten nicht erst zu sprechen, und trotzdem ist der junge Ehemann glücklich. Nun ist er doch wieder in seinem Beruf, in seiner Kaste. Im Jahre 1923 hat er sein zweites Examen gemacht. Vier Jahre hat er sich durchlenken müssen, hat er als approbierter Arzt Geschäftsleute und Betrunkene, Liebespärchen und Familien gegondelt. Sein Nachfolger auf seiner Droschke bei dem Fuhrunternehmer ist ein ehemaliger russischer Oberst. Der verdient gut. Seine nicht verarmten Landsleute bestellen ihn ständig fest für ganze Stunden und geben reichlich Trinkgeld. Die schlechtesten Trinkgeldgeber sind die Kurfürstendammer. Wenn sie 4,90 Mark verfahren haben, lassen sie sich auf einen Fünfmarkschein den Groschen bestimmt herausgeben. Sie haben gar kein soziales Verständnis. Sie wissen nicht, welche Hölle ein warmer Großstadttag für den Lenker da vorn bedeutet: er atmet Gestank, er hantiert an fast glühenden Hebeln, vom Motor her strömt die Hitze, durch die Stiefelsohlen hindurch brennt der eiserne Bremstritt. Sie sind hochfahrend und brüsk. "Zu Krause!", herrschen sie etwa beim Einsteigen den Mann an. Du liebe Güte, im Berliner Adreßbuch stehen rund 3700 Krauses! Der Lenker sieht sie fragend an, fährt noch nicht los. Da wird er angeschnauzt: "Wie lange sind Sie eigentlich Chauffeur ? Sie kennen die Weinhandlung von Krause nicht ?" Oder man ruft ihm zu: "Zur Schule von Uznach, aber schnell!" Wo denn die sei, bitte, fragt er bescheiden, und erhält die Antwort: "Na, das Theaterstück doch, die Schule von Uznach! Wo das gespielt wird, weiß ich nicht! Aber es hat doch in allen Zeitungen gestanden!" Die ruhigsten, sachlichsten, nettesten Fahrgäste sind die aus dem gebildeten Mittelstande, für die das Autofahren nicht eine lästige Gewohnheit, sondern immer noch etwas Besonderes ist; sie kargen auch nie mit einem oder zwei Groschen Trinkgeld. Und nun schließlich die vom Wedding, die Leute, die an Lohntagen eine Bierreise machen, die sind freigebig und familiär. "Kannst mal in der Kneipe mitkommen, kriegst 'ne Stange Bier, laß' de Uhr ruhig weiterloofen, verdienst was dabei!" Das ist gut gemeint. Das ist aber meist der Ausgangspunkt von späteren Unglücksfällen.

Wir haben so schon genug von Katastrophen, Zusammenstößen, Wolkenbrüchen, Explosionen in diesem Jahr, in dem alle Elemente sich gegen die Menschheit aufzubäumen scheinen. Dazu die Verbrechen aller Art, dazu die sonderbarsten Todesfälle im nächsten Bekanntenkreise. Da ist dieser Tage der Dr. Martin Mohr in Berlin gestorben, der bewährte Pressereferent im Preußischen Kultusministerium, im Nebenamt ebenso seit Jahren Leiter des deutschen Instituts für Zeitungskunde, früher einmal angesehener Chefredakteur in München und Berlin, ein alter Liberaler. Wie das so plötzlich kam ? Von Fritz Ebert, der an Blinddarmentzündung starb, wurde gesagt, die Deutschnationalen hätten ihn auf dem Gewissen. Wir wollen nicht umgekehrt sagen, daß die Roten an Martin Mohrs Tode schuldig sind, sondern nur schlicht den Fall erzählen. Ein junger Mann anfangs der Dreißiger namens Otto Benecke war einst Mitglied eines Studentenverbandes, dessen Wahlspruch lautete: Mit Gott für Kaiser und Reich. Benecke hat jetzt da seinen Austritt mit der Begründung mitgeteilt, daß er nicht großdeutsch sei und daß ihn überhaupt mit der Korporation lediglich seine "ehemals" monarchische Gesinnung verbunden habe; er techtelmechtelt gegenwärtig bereits mit der Sozialdemokratie, die in Preußen ja ausschlaggebend ist. Ursprünglich Vorkämpfer der deutschen Studentenschaft, näherte er sich allmählich dem Standpunkt des preußischen Kultusministers Becker und wurde als Referendar in das Ministerium berufen und schließlich, ohne seinen Assessor gemacht zu haben, mit einem Sprung zum Regierungsrat ernannt. Er war Hauptmitarbeiter Beckers bei der Abdrosselung der nationalen deutschen Studentenschaft und Mittelpunkt eines Kreises von Leuten der Ullstein-Mosse-Sonnemann-Presse. Dieser junge Mann erhielt den Auftrag, dem einundsechzigjährigen Dr. Martin Mohr mitzuteilen, daß er ab 1. Oktober entlassen sei. In welch' schonender Form das geschehen ist, weiß man nicht, jedenfalls wurde Mohr in seiner Erregung vom Schlage getroffen und lag tot im Sessel im Amtszimmer Beneckes. Zunächst wollte man den langjährigen verdienten Angestellten des Kultusministeriums in gewohntem Takt - ins Leichenschauhaus schaffen lassen, überließ ihn dann aber doch seiner Familie. Das ist kurz und bündig die ganze Geschichte.

Ein wahrer Segen, daß jetzt auch in der Regierung und im Parlament überall Ferien ausgebrochen sind. Da hat man doch seinen Frieden und braucht sich nicht mehr täglich beim Zeitunglesen zu ärgern. Den geplagten Reichsboten ist es auch zu gönnen, daß sie seit Jahren zum ersten Mal schon in den ersten Julitagen freigekommen sind, also endlich ihre Kinder in den Ferien sehen können. In der letzten Woche gab es noch überall große Fraktionskneipe zum Abschied. Da beschlossen genen 3 Uhr nachts zwei biedere Volksvertreter, ein alter und ein junger, zum Abschluß noch in die Barberina zu fahren. Gesagt, getan. Da wurden aber schon die Stühle auf die Tische getürmt. Ha, sagte der eine, die Valencia sei aber doch, das wisse er bestimmt, irgendwo ganz in der Nähe, die habe gewiß bis 4 Uhr auf. Also los. Ja, wo ist eigentlich die Valencia ? Da, das muß sie sein! Aber alles schon dunkel ? Gut, klingeln wir! Die Beiden schellen 10 Minuten lang, endlich kommt ein würdiger Portier.

"Was wollen Sie ?"

"Rein wollen wir!"

"Was fällt Ihnen ein, mitten in der Nacht ?"

"Sie haben doch bis 4 Uhr immer Betrieb!"

"Sie sind wohl verrückt geworden. Wir haben Dienststunden von 9 Uhr früh bis 2 Uhr nachmittags. Hier ist das Preußische Oberverwaltungsgericht."
14. Juli 1927 (Donnerstag)


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Sommerliches Theater - Keine Koryphäen mehr in Berlin - Große Kunstausstellung - Was ist 1927 erreicht ? - Äußere Ordnung, geistige Unterjochung - Ein Blick in die "Funkstunde" - Acht Tage Berufstänzer - Hinaus ins Stillesein.

Die Bergner und den Klöpfer und den Krauß und die Massary, ja, und noch einige Berühmte, die möchte man doch gesehen haben, wenn man einige Urlaubstage in der Reichshauptstadt verbringen kann. Auf der Durchreise an die See kommen aus Glauchau und Niesky und Kulmbach und Zielenzig, aus allen Städten und Städtchen der Landkarte, jetzt Besucher nach Berlin und wollen mindestens einen Abend für Kunst und Bildung hergeben.

Nachher schimpfen sie. Einen Schmarren hätten sie gesehen. So ein Drecksstück. Das hätten sie sich nach den sorglich aufbewahrten Zeitungsberichten über die Première - sie holen dabei einen vergilbten Ausschnitt hervor - ganz anders vorgestellt. Einfach jammerhaft und geradezu schludrig. Alleräußerste Provinz. So etwas höre ich regelmäßig in jedem Sommer, kurz bevor ich selber, wenn Berlin schon völlig provinzlerisch geworden ist, auf einen Ferienmonat durchbrenne. Auch nach meinen Schilderungen, heißt es da, habe man sich Berlin ganz anders vorgestellt. Das glaube ich schon, meine Lieben, denn: Berlin ist jetzt über das Reich verstreut, und das Reich ergießt sich über Berlin. Unter den Linden sieht man ein ausgesprochen kleinstädtisches Publikum. In den Theatern aber wird mit sogenannter dritter Besetzung gespielt, nachdem im Winter die Stars ihre Erfolgserie hinter sich gebracht haben und im Frühling schon Darsteller nicht ganz so hohen Ranges eingeschoben worden sind. Selbstverständlich wollen doch auch die Berühmten ihre Ferien haben, und das nicht zu knapp. Sie sind alle auf und davon. Die Theaterdirektoren und Regisseure auch. Irgendwer ist als Sommerpächter gekommen. Irgendwas wird gegeben. Nein, es ist keine Bereicherung für Kunst und Bildung.

Also laßt Euer Streben danach fahren und gondelt lieber über die Havelseen nach Potsdam. Oder geht meintwegen in den großen Glaspalast am Lehrter Bahnhof, die Kunstausstellung, wo Ihr dem Albdruck von Tausenden von Werken der Malerei und Bildnerei erliegt, die Euch fratzenhaft in hundert verschiedenen Ismen auf den Leib rücken. Vom Klassizismus über Impressionismus, Kubismus, Futurismus, Suprematismus hinweg bis zum Infantilismus. Dazwischen die paar Schüchternen der sogenannten neuen Sachlichkeit. Dazu eine besondere Abteilung für moderne religiöse Kunst und Innenarchitektur, für Protestanten, Katholiken und Juden. Hat man sich die angesehen, dann sagt man sich: nein, dann schon lieber Heide. Daß in einer Zeit, die angeblich "so groß" wie noch nie ist, die Kunst noch keinen adäquaten Stil gefunden hat, sondern uns alle Ismen der vergangenen Jahrzehnte durcheinander vorstottert, das ist das beklemmende Gefühl, das wir hier empfinden. Auch die Baukunst, die nach den ausliegenden Entwürfen Berlin gern umstülpen möchte, bringt nichts eigenes zustande. Die Herren stürzen sich mit ihren Plänen zumeist auf das bißchen Tiergarten. Wenn man da gründlich abholzt, hat man Raum, also auf, also los; es scheint, daß wir nichts so notwendig haben, als ein Forum, als einen Markusplatz, statt der nordischen Laubkronen also rundum vier Seiten mächtiger Palast- oder Tempelfront. Inmitten das freie Volk in Regenwetter. Da ist der Blick durch das Brandenburger Tor in den Tiergarten hinein denn doch viel schöner und unseren Breitengraden angemessener. Das Tor selbst hat endlich sein Reparaturgerüst abgestreift. Alles wieder in Ordnung. Die letzte noch sichtbare Verwüstung der Revolutionstage ist beseitigt.

Das ist vielleicht überhaupt das Kennzeichnende dieses Jahres. Wer etwa 1923 hier war und nun 1927 wiederkommt, der findet, daß wir doch fabelhaft schnell gesundet seien. Es sei alles wieder wie einst. Sogar die abgeblätterten Fassaden der Mietskasernen werden wieder regelmäßig erneuert. Berlin ist noch nicht wieder die sauberste Stadt der Welt, aber eine der saubersten. Fast holländisch sauber.

Nur bei längerem Aufenthalt merkt der Fremde, wieviel doch unwiderbringlich - einstweilen unwiderbringlich - verloren ist. Und wieviel geistige Zerrüttung sich hinter wieder ordentlicher Fassade verbirgt. Die Spaltung, Zersetzung, Verhetzung hat zugenommen. Das Volk arbeitet zwar, das ganze deutsche Volk, mit alter Gründlichkeit und Pflichttreue. Aber am Feierabend steht nicht die Freude, sondern der Haß; und bei vielen, noch viel zu vielen, auch die Sorge. An jedem Tage spielt der Rundfunk über alle unsere Gaue hin am Schluß seiner Darbietungen das Deutschlandlied. Das ist die unwahrhaftigste Nationalhymne der Welt. Sie brüstet sich mit deutscher Treue in einer Zeit des Eidbruchs. Sie zitiert Etsch und Memel, Maas und Belt, die italienisch, litauisch, französisch, dänisch geworden sind. Und dann der grausamste Hohn: "wenn es stets zu Schutz und Trutze brüderlich zusammenhält." Zu Trutze ? Nun schon gar nicht. Nie wieder Krieg, Völkerverbrüderung, Sicherheit für Frankreich.Und zum Schutze ? Auch das nicht. Auch nicht zum Schutze der eigenen Volksgenossen untereinander gegen ihre Ausbeutung durch den Landesfeind und durch die Schicht der internationalen Geldverdiener daheim. Wir schlagen einander die Köpfe ein, hie Reichsbanner, hie Stahlhelm, und sogar die "Nationalen" unter sich befehden einander wenigstens in der Presse und vor Gericht. Das freut die vom Stamme der Internationalen. Die können derweil, nachdem sie geschäftlich schon längst alles an sich gerissen haben, auch unsere geistige Unterjochung vollenden. Ich habe im Laufe dieses Jahres mancherlei davon erzählt, namentlich von der Ausnutzung des Theaters zum Zwecke der Zerstörung deutschen Geistes. Auch der Deutsche selbst wird als Darsteller und Lehrer und Redner immer mehr von allen Bühnen, Kathedern, Mikrophonen verdrängt. Wer einen geradezu erschütternden bildlichen Beweis dafür haben will, der braucht bloß einen Jahrgang Hefte der Funkstunde durchzublättern und sich die Porträts der Vortragenden jeder Woche anzusehen: die Leute unserer eigenen Rasse sind da in einer hoffnungslosen winzigen Minderheit. Die Heilmann und Genossen sorgen schon dafür, daß die großen Honorare, die der Rundfunk bei einer Bruttoeinnahme von dreieinhalb Millionen Mark monatlich zahlen kann, an die richtige Stelle kommen. So erreicht man zweierlei. Man zapft der Masse bei uns das Geld ab; und man flößt ihr dafür fremden Geist ein. Der deutsche Geistesarbeiter wird proletarisiert. Der Deutsche soll nur schuften. Geschäft und Geist wird mehr und mehr zum Monopol der anderen. Wir leben in einer doppelten Sklaverei, der äußeren und der inneren, und dieser - gelinde gesagt - Überfremdungsprozeß ist in letzter Zeit sehr beschleunigt worden, selbstverständlich unter Mithilfe unserer Sozialdemokratie, deren Massen nach wie vor von Unerkannten geschoben werden. Das ist das Berlin von 1927, das von außen wieder als so wohlgeordnet erscheint. Wir werden mehr denn je dummgemacht. Die Demagogen lassen sich dafür bezahlen. Und sogar mancher fromme Katholik schlägt zwar vor Berlin entsetzt sein Kreuz, macht aber unbewußt in Preußen die Zerstörerpolitik mit, an deren Ende auch er vielleicht unter den Trümmern seiner Kirche begraben sein wird.

Es gibt freilich noch Berufe, die auch Deutschen in Berlin noch offen stehen. Man kann Droschkenkutscher werden. Man kann Schutzmann werden. Man kann - aber auch das schon nicht mehr überall - Eintänzer werden.

Vor Jahr und Tag wurden diese mietbaren Herren der Tanzkabaretts und Hoteldielen gelegentlich aus der Schicht abgebauter junger Angestellter entnommen und wechselten häufig. Wer wieder richtige Arbeit bekam, der gab die Tanzerei auf. Dann wuchsen die Ansprüche. Die ausländischen Besucherinnen der Hotels wünschten sprachkundige Herren möglichst aus guter Gesellschaft. Und die Berliner Stammgäste vom Nachmittagstee verlangten nach richtigen Berufstänzern, unter deren Führung man etwas lernen könne, ehe man abends zum Empfang des Gatten an den Familientisch zurückkehre. Da wurden die Eintänzer zu Festangestellten; und man siebte. In einem großen Hotel in unserer Nähe bekommt der schlanke junge Mann aus Wien, Tanzlehrer von Beruf, der hier von fünf Uhr nachmittags bis ein Uhr nachts, eine Stunde Pause dazwischen, die Damen schwenkt, 350 Mark Gehalt monatlich. Dazu verdient er an Trinkgeldern mitunter noch etwas mehr. Aber das halbe Geld muß er natürlich verfressen, denn der Charleston, der erst jetzt nachzulassen beginnt, mergelt aus. In einem anderen großen Hotel, das seinen Eintänzern nur 150 Mark zahlt, aber volle Verpflegung einschließlich reichlicher Schlagsahne verabfolgt, kenne ich den Besitzer. Den bat ich neulich, er möge mich, auf meine Kosten natürlich, als "Aushilfskraft" an den Tisch seiner Eintänzer aufnehmen, ohne meinen wahren Beruf zu verraten; ich hätte nämlich Lust, dieses neue Milieu kennen zu lernen. Wie ich darauf kam ? Nun, saß da einmal eine Dame, die gut und gern 65 Jahre alt sein mochte. Nicht füllig und rosig, sondern klapperdürr und trotz aller Auftakelung die reine Vogelscheuche. Sie verlangte einen Tänzer und erhielt ihn: ein junges Bürschchen von etwa 22 Jahren. Es sah aus, als wenn ein junger Cherub mit des Teufels Großmutter tanze. Man ist in Berlin ja allerhand gewöhnt, jedermann gönnt auch den älteren Damen die gesunde Bewegung, aber dieses Paar erregte denn doch Aufsehen. Der Dame selbst war es unangenehm. Sie sagte nachher halblaut an ihrem Tisch zu ihrer Gesellschafterin: "Eigentlich könnte die Hoteldirektion für unsereins doch etwas Unauffälligeres parat halten, so einen guterhaltenen Fünfziger etwa oder einen soliden Vierziger!" Ha, Wink des Schicksals! Also probieren wir das Geschäft mal acht Tage.

Herrschaften, ich bin ja sooo müde . . .

Nein, das kann man wirklich nicht mehr nebenberuflich machen. Das geht auf die Knochen. Der Dauertänzer Fernando hat in diesem Frühling im Lunapark in 145 Stunden, nur mit je zehn Minuten Pause alle zwei Stunden, 1861 Tänze durchgetanzt und dabei 1642 Partnerinnen beglückt. Das ist ein Phänomen. Wenn unsereins nach der Berufsarbeit täglich auch nur fünf Stunden Sohlen schleift, ist schon "das Ende von weg". Aber nach diesem Ausflug ins Unbekannte verbleibt einem freilich das große Schmunzeln.

Ich werde mich jedoch hüten, alles zu verraten. Ich will nur sagen, daß die Damen verblüffend offenherzig sind, sobald sie sich einem berufsmäßigen Eintänzer gegenüber glauben. Der ist ja nicht "Klasse". Der ist doch nur Turngerät für sie. Bezahlter Mensch. Auch vor seinem Masseur geniert man sich ja nicht.

Nur Engländerinnen und Amerikanerinnen machen eine Ausnahme. Die sind zurückhaltend. Nach meinen achttägigen Stichproben will ich nicht gleich generalisieren, aber wenn ich es täte, müßte ich sagen, daß die Frauen aus Deutschland, Ungarn, Rumänien, Belgien am massivsten in ihren unerbetenen Andeutungen sind. Mein erstes Trinkgeld, fünf Mark, bekam ich von einer Schwedin. Nicht für Tanzen, sondern für die Unterhaltung. Sie hatte vom alten Deutschland angefangen, das Gespräch auf den Kaiser gebracht und mich zaghaft gefragt: "Oder sagen Sie am Ende: Exkaiser ?" Ich antwortete: "Ich denke nicht daran! Ich nenne einen emeritierten Pfarrer ja auch nicht Expfarrer! Mein Kaiser bleibt mein Kaiser!" Da bleib die Dame mitten im Tanze stehen und schüttelte mir mit beiden Händen die Rechte. Wir wurden fast umgerannt. Ich habe noch nie so viel Liebes und Begeistertes über Deutschland gehört, als nachher in der Pause am Tischchen meienr Schwedin. Die meisten Damen glauben es sich schuldig zu sein, dem Eintänzer gegenüber zunächst damit zu renommieren, wieviel Preise sie schon auf Turnieren gewonnen hätte. Neun Zehntel davon ist sicher geschwindelt. Manchmal erlebt man auch Groteskes. Ich werde zu einer Dame zitiert, die von hinten, sie sitzt mit dem Rücken zum Gang, ganz passabel aussieht. Nun stehe ich vor ihr, engagiere sie. Hilf Himmel! Gegen die ist das Koloß von Rhodos ja nur ein Gedankenstrich gewesen! Sie ist außerdem gut einen Kopf größer als ich. Und sie sagt: "Ich komme aus Karlsbad, ich habe dort Charleston gelernt!" Da ist mir der Schweiß schon ausgebrochen, ehe ich tanzte. Unglücklicherweise traten zunächst auch nur drei Paare an. Meine Dame und ich waren das Ziel von Hunderten vergnügter Augen; Gott sei Dank, daß es wenigstens keine Bekannten mehr um diese Zeit in Berlin gibt. Nachher schickte mir eine andere Dame, mit der ich nicht einmal getanzt hatte, durch den Kellner fünf Mark im Brief. Aus ehrlichem Mitleid. Jetzt sind die acht Tage herum, jetzt beginnen auch meine Ferien. Ich verabschiede mich dankbar von dem Hotelbesitzer. Die Geschichte hat mir viel mehr gekostet, als sie mir eingebracht hat, denn ich hatte immer Heißhunger und Durst. Und zum Abschied zeigt mir der Hotelier - aber das dürfe ich nicht falsch auffassen, das sei eine gewöhnliche Erscheinung - nicht weniger als acht anonyme Briefe von Berliner Damen, regelmäßigen Besucherinnen, wie sie erklären, die sich darüber beschweren, daß der neue Eintänzer - das bin ich - seinen Dienst nicht ordnungsgemäß versehe, die besten Stammgäste des Hotels sitzen lasse und offenbar nur mit den ihm bekannten Damen tanze!

Ich habe jedenfalls einen tiefen Blick in die Psyche namentlich der Berliner Fünf-Uhr-Damen tun können. Genug. Nun packe ich fröhlich die Koffer und will die nächsten Wochen über nicht tanzen, nicht schreiben, nicht sprechen, nur still wieder ein Stück Gotteswelt außerhalb Berlins sehen und genießen. Natürlich nicht allein. Wer angibt, er reise allein, um allein zu sein, der lügt. Allein ist man nur zu zweit; dann will kein Außenstehender stören. Wer aber allein reist, der bleibt kaum je allein, sondern hat meist sehr bald Anschluß. Erweitert er sich nur um einen zweiten Partner, so ist er wieder allein. Aber meist nimmt ein Paar sich seiner an, und zu dritt ist man schon eine Horde. Dann muß man Konversation machen. Das hat man doch schon das ganze Jahr über, davon will man sich doch erholen; deshalb nehme ich ja auch keine Einladung von lieben Lesern in ein Landhaus, Forsthaus, Pfarrhaus jemals an.

Sollte aber einmal wirklich die Gefahr drohen, daß ich unterwegs zum Gesellschaftsmenschen gepreßt werde, dann hole ich mein echtes Berliner Plakat, von einem famosen Stammtisch würdiger Geistesarbeiter geklaut, aus dem Koffer. Darauf steht:

"Unbefugten ist das Öffnen der Schnauze verboten!"
21. Juli 1927 (Donnerstag)



Glossen 40 - 42

Jahresinhalt

© Karlheinz Everts