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Die Mütter - Im "Mündlichen" - Wo sind deine Haare ? - Nach der Schulfrohn - Das Geld macht es nicht - Humanismus und Idealismus - Eleonore Prochaska - Geschenke von Auslanddeutschen - Der S.C.-Kommers.
Zwei Frauen stehen an der Ecke und lugen die Straße entlang. Zwei Mütter. Sie stehen schon eine Stunde da und sehen unverwandt auf das große Haus da hinten, dessen fiskalischer Eindruck nur durch das Epheugerank an der Fassade gemildert wird, in dem Hunderte von Spatzen fröhlich zwitschern. Es ist das Gymnasium, "die Penne", heute von Pennälern leer; nur die Männer im feurigen Ofen, die Abiturienten, sind dort zur mündlichen Reifeprüfung versammelt. Den beiden Müttern ist das angstvolle Herz mit dem Verstande durchgegangen. Sonst müßten sie doch wissen, daß ihre Söhne sich zu Tode genieren, wenn andere Junx ihnen hinterbringen, daß ihre "alten Damen" zitternd an der Ecke stehen. Hängt man denn noch an Mutters Schürze ? Als für reif erklärter werdender Mann ? Unsere beiden Muli sitzen nachher am Krankenbett der Mutter und werden ganz rot im Gesicht und fragen, ob sie, wenn sie gesund wäre, am Ende gar ebenfalls zur Penne gestiefelt wäre. Nein, nein. Auf keinen Fall. Solch eine Schwäche hätte Vater nicht geduldet, außerdem weiß man selber, was man den großen Söhnen schuldig ist. Nein, nein, bloß nicht. Meine Frau weiß es noch von alten Zeiten, von einem Ball im Luftschifferbataillon her, wie die Männer über so etwas lachen. Da erzählte ihr nämlich, wider seine sonstige Gemessenheit laut prustend, der Kommandeur Major Groß, daß tags zuvor die junge Frau eines neu zum Bataillon kommandierten Offiziers bei ihm gewesen sei und ihn gebeten habe: "Ach, lassen Sie bitte meinen Mann nicht in die Luft, ich habe so Angst, das ist doch lebensgefährlich!" Aber nachfühlen kann man es den beiden Frauen natürlich. So wie ihnen ist es in diesen Wochen in ganz Deutschland Tausenden ergangen. Besteht der Junge ? Schafft er es ? Man möchte stolz und glücklich sein, aber man ist doch im Grunde wehmütig. Man gibt jetzt vielleicht den Letzten aus Schule und Heim an das Leben her. Die große Einsamkeit beginnt. Wie schön wäre es doch, wenn eines der Kinder immer klein bliebe, immer zu Hause bliebe.
Derweil rauchen den jungen Herrn im Prüfungszimmer die Köpfe. Noch hat die Prüfung nicht angefangen. Noch heißt es, anderthalb Stunden warten: Konferenz des Schulrats mit dem Lehrerkollegium. In Eile wird noch allerlei wiederholt. Einer ruft sich die Szenenfolge in Shaws Saint Joan ins Gedächtnis. Einer rezitiert Sophokleische Chorlieder. Einer murmelt die geschichtlichen Daten über die Entwicklung Indiens nach Seeley herunter. Einer läßt sich noch schnell etwas vom System des Physiokratismus und von Karl Marx einpauken. Einer zählt die Namen aus der römischen Literaturgeschichte von Livius Andronicus an her. Einer leitet das Volumen eines Rotations-Ellipsoids ab. Einer memoriert die chinesischen Provinzen samt den darin jetzt kämpfenden Generalen. Man könnte wahrhaftig hysterisch werden. Und dazu dudelt auf einem Nachbarhofe ein Leierkasten:
Wo sind deine Haare, |
Diese verdammte, diese blödsinnige Musik. Sonst trällert man immer vergnügt die Schlager mit, die man natürlich sämtlich kennt. Aber heute ist es nicht zum Aushalten. Man ist doch ein bißchen verochst, man hat sich doch in diesen letzten Monaten abgeschuftet. Schon das Schriftliche war schwer genug. Schon, um von Griechisch und Lateinisch und Mathematik nicht erst zu sprechen, der deutsche Aufsatz: eine Analyse von Ibsens "Brand" im Lichte von Kants Kritik der reinen Vernunft. Gemein, was ? Da graust es sogar den Vätern.
Das Zeugnis der gymnasialen Reife, dieses Eintrittsbillet zur europäischen Kultur, ist wirklich nicht leicht zu erringen, wenigstens nicht in Berliner Gymnasien, wo besonders hervorragende Lehrer gern damit protzen, wie ungemein reif sie ihre Schüler gemacht haben. Mein Gott, was ist da alles in die jungen Schädel hineingepfropft! Mir scheint, daß besonders die Mathematik und die Wirtschaftsgeographie und die neueste Literatur ganz anders betrieben werden als zu unseren Zeiten. Ich habe als Junge nicht geahnt, was ein "sphärischer Exzeß" ist. Ich habe auch damals nicht gelernt, ob der bessere Kaffee in Brasilien oder in Guatemala wächst. Und in meiner englischen Literaturgeschichte stand noch von Shaw kein Wort. Gegen die Qual des geistigen Nudelns bäumen die jungen Menschen sich natürlich auf. Wehe, wenn dann noch einer der Lehrer als Mensch nicht ganz vollkommen ist! Sodom und Gomorrha sollten auch nur um eines Gerechten willen begnadigt werden, das Lehrerkollegium aber wird auch nur um eines Ungerechten willen verdammt. Und es ist erschütternd, wenn da so ein junger Dachs, statt freudig und allenfalls lächelnd der Gymnasialzeit zu gedenken, nach der Prüfung haßerfüllt sagt:
"Ich streife die Schule ab wie eine schmutzige Unterhose!"
Die Erbitterung über irgendeine vielleicht nur scheinbare ungerechte Behandlung frißt an der Leber. Die Lehrer haben doch ihr Bestes gegeben, das Beste auch gewollt, haben den Jungen die Erkenntnis des Guten und Bösen, des Schönen und Häßlichen, des Nützlichen und Verkehrten samt Motiven beigebracht. Nachher in reiferen Jahren dankt man es ihnen auch. Aber vorerst gehen die Nerven noch durch. Sie waren in der Arbeitsfrohn zum Bersten gespannt. In einer Polemik über die heute so leichtfertige Verleihung des Ehrendoktorats an Leute, die gar keine wissenschaftliche Vorbildung haben, hat ein lieber, aber etwas törichter Mensch mir neulich vorgeworfen, ich hätte etwas gegen den Arbeiterstand, weil ich verdienten Gewerkschaftssekretären die Ernennung zum Ehrendoktor oder Minister nicht gönnte. Ja, ich selber (ich bin und werde übrigens weder das eine noch das andere) hätte es natürlich leichter gehabt, ich sei "vorsichtig in der Wahl der Eltern" gewesen, die hätten eben einfach die hohe Schule für mich bezahlen können. Das ist der alte Irrtum, daß Geld alles mache. Hat dieser liebe, törichte Kerl nie etwas von Werkstudenten gehört ? Weiß er nicht, daß unzählige Familien plötzlich vermögenslos werden und daß die Söhne trotzdem ihr Hungerstudium fortsetzen ? Soll ich ihm erzählen, daß ich in einer Periode meines Lebens abends für ein paar Groschen der Frau v.Hohenhausen Manuskripte abschrieb und nachts Schnee schippte ? Nein, nicht Geld, Arbeit schafft es. Auch bei den Abiturienten. Die haben im letzten Jahre - und das gilt für viele Tausende - doch regelmäßig täglich ihre zwölf Stunden gearbeitet, auch sonntags nur einen kurzen Spaziergang eingelegt. Was würden die Gewerkschaftssekretäre für einen Krach machen, wenn irgendwo siebzehnjährige junge Arbeiter den zwölfstündigen Arbeitstag hätten ? Man bilde sich doch nur nicht ein, daß die deutsche gymnasiale Allgemeinbildung einfach durch Schulgeldzahlung zu erreichen ist. Das Gros fällt doch schon in Sekunda ab. Die wirklich Faulen und Unbegabten schaffen es nie, auch wenn der Vater Millionär ist. Die wirklich Fleißigen und Begabten aber ringen sich selbst dann empor, wenn die Mutter - so beispielsweise die des verstorbenen Generaldirektors des Norddeutschen Lloyd - eine bedürftige arme Waschfrau ist.
Es ist begreiflich, daß nach dem harten Schuften der Oberprimanerzeit die jungen Leute das Bedürfnis haben, sich auszutoben. Unsere beiden, der Pflegesohn und unser eigener Jüngster, hatten ihre Pläne schon längst fertig. Am ersten Abend, ach, am ersten Abend nach bestandener Prüfung, an diesem ersten Abend, natürlich, ist man beim Glase Bier mit den anderen Muli, den Kameraden, beisammen. Genehmigt. "Und dann, Vater, stellen wir Berlin auf den Kopp, kommen erst um 7 Uhr morgens nach Hause!" Quatsch. Punkt 10 Uhr seid Ihr wieder daheim. Und dann gibt es eine friedliche Flasche Wein mit Vatern. Und also geschah es. Es geht immer nach der Uhr. Nur wurden aus der einen zwei Flaschen - und es war wunderschön, sagen die Herren Junx selber, die am nächsten Morgen frisch und mit klarem Kopf erwachen. Vor ihrer guten Feundin, der Gräfin Schwerin, liegt schon ein Telegramm da: "Gratulor vobis!" Donnerwetter, die kann sogar Latein; und nun dampft man fröhlich, "von allem Wissensqualm entladen", auf acht Tage zu ihr aufs Land nach Vorpommern, um sich einmal gründlich auszulüften.
Als das Schönste an unserer deutschen humanistischen Schulbildung habe ich es immer empfunden, daß sie uns gerade die Weisheit einimpft: der Mensch lebt nicht vom Gelde allein. Dieser deutsche Idealismus beschränkt sich denn auch nicht auf die sogenannten "oberen" Stände, sondern - alles Wasser sickert immer von oben nach unten durch - er wird, wenn nur richtig vorgelebt, bis in die letzten Schichten des Volkes hinein wirksam und lebendig. Eleonore Prochaska, deren Denkstein in Potsdam steht, war ein armes Dienstmädchen, als sie ihre Ersparnisse, die eine nette Aussteuer ermöglicht hätten, abhob und 1813 verkleidet als freiwilliger Jäger ins Heer trat. Einen herrlichen Brief, den man heute mit besonderer Erschütterung liest, schrieb sie über ihren Entschluß an den Bruder, tat tapfer und unerkannt als Soldat ihre Pflicht und sagte erst, als sie die tödliche Kugel in dem Gefecht empfing, zu ihrem Zugführer: "Herr Leutnant, ich bin ein Mädchen!" Manchen Blick in solchen Idealismus, der sich um Geld und Gut nicht kümmert, lassen mich Briefe von Lesern namentlich aus Übersee tun. Da sind zwei junge ehemalige Kameraden, ehedem Offiziere in Berlin. Der eine ist heute Diener in einem reichen New Yorker Hause, der andere ist Lokomotivführer in Südafrika, beide sind nicht etwa "Entgleiste" in früherem Sinne, sondern ehrliche Lebenskämpfer, aufrechterhalten durch ihre deutsche humanistische Bildung und den einen großen Gedanken: "Deutschland! Deutschland!" So gibt es Hunderte, Tausende, Zehntausende, denen alle ehemalige Geborgenheit zusammengebrochen ist, die aber deshalb doch nicht auf kommunistische oder klassenkämpferische Ideen kommen, auch nicht nach Art der politischen Revolutionsgewinnler nach Amt und Geld und dem bourgeoisen Genußleben streben, sondern nur den einen Wunsch nach Genesung des Vaterlandes haben, während sie draußen durch ihre unbekümmerte Arbeit mit Hand und Kopf dem deutschen Namen Achtung erringen.
Was sie erwerben, das strömt wieder heim. Unendlich viele Pakete, auch unendlich viel Geld in kleinen Beträgen kommt hierher. Die Zeit der zollfreien Liebesgaben hat alllerdings aufgehört. Auf dem Postzollamt in der Köthener Straße in Berlin kann man täglich viele, viele Menschen aus dem verarmten Deutschland sehen, die hier etwas zu empfangen haben, Lebensmittel, Stoffe, alles mögliche sonst noch aus dem Auslande; und damit sie den Zoll entrichten können, haben sie wohl schon vorher brieflich ihre Dollars, ihre Pfunde, ihre Pesos bekommen. Mit Politik hat das nichts zu schaffen. Aber mich will doch bedünken, daß ein besonderes Band zwischen den Getreuen des "alten Systems" hüben und drüben besteht. Die preußischen Prinzen haben selbst in der schlimmsten Zeit, wo ihnen fast jedes Einkommen gesperrt war, nie zu hungern brauchen, so reichlich strömte es von Büchsenschinken und Mehl und Kaffee und Konserven. Manchmal gibt es sogar Luxusgeschenke. Da hat neulich die Gemahlin des Prinzen Oskar unvermutet "aus dem südamerikanischen Urwalde" ein auf Seide gearbeitetes Straußfedercape bekommen, wie es allenfalls Filmdiven sich anschaffen würden, aber nicht diese im Grunde doch ganz schlichte und bescheidene Familienmutter.
Gewisse Neudeutsche werden grün und gelb vor Wut, wenn sie so etwas hören. Aber warum nur ? Weshalb sollen Gesinnungsfreunde einander nicht beschenken ? Die Sozialdemokratie hat doch für streikende englische Bergleute gesammelt, deutschfeindliche französische Zeitungen unterstützt - und sich selber von ausländischen Genossen zu Schlemmerfesten einladen lassen. Da soll sie auch uns anderen unsere kleinen Freuden und große Sehnsüchte lassen. Aber sie krakehlt schon, weil die deutschen Studenten wieder Bier haben und Kommerse feiern. Geradezu einen Tobsuchtsanfall in der Presse der Linken hat kürzlich der Kommers der alten Korpsstudenten in Berlin erregt, weil auf ihm ein Landgerichtsdirektor "trotz seines republikaníschen Diensteides" in einer Ansprache versicherte, man bleibe seiner alten Gesinnung treu. Und weil - o heiliger Völkerbund - die 2000 jungen Leute begeistert da gesungen haben:
Verraten, erschlagen, viel Hunderttausend tot! |
17. März 1927 (Donnerstag)
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Das ist der Frühling - Im Zoo - Lapwings eggs - Geschenke für Hindenburg - Bei Stresemanns - Nach Genf - Die Nationalhymne auf der Ausstellung - Mädel oder Boy - Unsere Theaterlieblinge - Die Portierzwiebel.
Das ist der Frühling, das ist der Frühling, das ist der Frühling von Berlin: die Kommunisten schlagen aus, die jungen Mädchen kaufen sich Achseleinlagen, der Auspuffqualm der Autos bleibt in der Luft kleben, die nächtlichen Straßenhändler stehen ohne Holzklotzen da, die Kinder rollen wieder Murmeln zwischen den Beinen der Passanten, die Faßbohnen fangen an zu riechen, im Zoo regt sich der Familiensinn.
Man sollte die Schulklassen nicht gerade im Frühling vor den Affenkäfig führen; auch noch im Sommer und im Herbst haben die ausgekochten Großstadtgöhren da mehr als genug zu kichern. Schöner ist es vor den Raubtierhäusern, die in der seltsamen Märzwärme dieses Jahres schon zum Außengitter geöffnet sind. Die Löwen sind schamhaft und monogam, beachten auch die Malschülerinnen nicht, die hier stundenlang skizzieren. Kein Gelaß im Zoologischen Garten ist leer, wir haben bereits einen größeren Tierbestand als vor dem Kriege. Noch ist das Gewühl der Besucher nicht hochsommerlich groß, es gibt vormittags noch nicht das gewohnte Kindergetümmel und nachmittags nicht das Biergetrinke an tausend Gartentischen. Aber Rollstühle sieht man, Rekonvaleszenten sieht man, Genesungshoffnung rötet blasse Wangen. Der Zoo ist doch fast die einzige Stelle in der Großstadt, wo dir Großstadt versinkt: man sieht sie nicht, man hört sie nicht, man riecht sie nicht, man ist wie auf einer stillen Insel um diese Zeit und man freut sich an dem blühenden Krokus auf den Grasplätzchen um die Bäume. Wer hier, etwa unter den Palmen des Wintergartens am Kaisersaal, einmal sein Mittagessen - bitte, ohne Weinzwang - einnimmt, durch die mächtigen Spiegelglasscheiben sich die Sonne hereinscheinen läßt und in den stillen Frieden da draußen hinausschaut, der dünkt sich einen König in einem zauberhaften Schlosse. Der arbeitsame Berliner kennt diese Stunden hier kaum, weil er meist erst dann kommt, wenn "Betrieb" da ist, aber Ausländer nehmen mit Vorliebe an dieser Stelle ihren Lunch. Sprachgewandte Kellner bedienen. Trotzdem ist die Verständigung manchmal schwer. Da verlangt eine amerikanische Gesellschaft lapwing eggs, was der Herr Ober, obwohl er im Hotel Cecil in London vor dem Kriege bedienstet war, noch nicht gehört hat, und es wird ihm erst recht nicht klar, als eine Miß radebrecht: "Aoh, die Ei von die Bismarck, know you." Endlich wird ein Geschäftsführer geholt, der begreift es: die Herrschaften wünschen Kiebitzeier. Aber er schüttelt wehmütig den Kopf. Der Kiebitz ist in Deutschland am Aussterben, seit die Revolutionsgewinnler alljährlich von Ende März bis Ende April jedes Gelege ausräubern lassen, um zum täglichen Frühstück mit getrüffeltem Kiebitzrührei protzen zu können. Die Regierung, so sagt der Geschäftsführer, hat daher schon vor Jahr und Tag, um das Tierchen aufzuschonen, den Handel mit Kiebitzeiern verboten. Möveneier könne man nur haben. Aber auch noch nicht jetzt.
Die Getreuen in Jever in Friesland, die dem eisernen Kanzler jeweils zum Geburtstag am 1.April eine Kiste mit Kiebitzeiern, 101 an der Zahl, zuschickten, haben noch eine Stammtischrunde, so wird mir erzählt. Aber sie haben keinen eisernen Kanzler mehr. Und der Generalfeldmarschall v.Hindenburg, den man mit Fug und Recht als Ersatzmann wählen könnte, hat seinen Geburtstag erst im Herbst. Auch er hat da übrigens schon seinen traditionellen Geschenkgeber, auch nicht allzuweit von Jever, nämlich den Senat von Bremen, der ihm alljährlich zum 2.Oktober eine Anzahl Flaschen edler Spitzenweine verehrt, immer so viel, als das Geburtstagskind Jahre zählt. Zuletzt sind es also neunundsiebzig gewesen. Einem rheinischen Studenten habe ich das mal mitgeteilt. Da dachte er verblüfft eine Weile nach und platzte schließlich heraus: "Hindenburg möchte ich sein und immer 365 Jahre alt möchte ich sein!"
Ja, mein Lieber, wenn du Hindenburg wärst, bekämst du auch noch manches andere. So neulich 5 Sack Kaffee von Auslandsdeutschen aus einem tropischen Lande. Die erbaten freilich gleich ein Gegengeschenk: Bücher und Trommeln und Querpfeifen. Häufig kriegt er auch gute Zigarren. Den größten Teil dieser Sachen stiftet er gleich weiter, dem Kasino des Wachtregiments Berlin oder irgend einer wohltätigen Anstalt, weil er beim besten Willen nicht alles allein trinken oder essen oder rauchen kann. Nur läßt er immer sehr höflich danken, tut es wohl gar gelegentlich auch eigenhändig, es sei denn, daß es sich um - Reklameabsichten handelt. Da ist er zunächst etlichemal hereingefallen, weil dann sein Bild und sein Dankbrief prompt in irgendeiner Anzeige erschienen, und seither ist er zurückhaltender, wenn Hindenburgzigarren, Hindenburgbrillen, Hindenburghosenträger kommen. Für ihn, der es jahrelang gewohnt war, schon frühmorgens durch die Eilenriede bei Hannover zu streifen, diesen gewaltigen Naturpark, ist die Berliner Stadtwohnung natürlich eine Einengung. Lieber wohnte er, hat er noch kurz vor seiner Wahl gesagt, in Potsdam, wo man doch eher seinen Lufthunger stillen kann. Aber der Garten hinter dem Palais des Reichspräsidenten in der Wilhelmstraße ist auch nicht zu verachten. Natürlich kommen die üblen Düfte von dem Autoverkehr der Königgrätzerstraße auch hierher, natürlich bekommen die Bäume auch den typischen grauen Staubbelag. Nur ist der Großstadtlärm wenigstens gedämpft. Von frühmorgens an bis 12 Uhr hat Hindenburg den ersten Teil der Tagesarbeit geleistet, dann gibt es fast eine Stunde Aufatmen; begleitet meist nur von seinem Hunde marschiert Hindenburg mit weiten Schritten dann in seiner Gartenallee auf und ab.
Man kann es verstehen, daß die "Interessenten" sich gegen den geplanten Durchbruch durch die sogenannten Ministergärten der Wilhelmstraße wehren. Wie eine Mauer sperren die Regierungspalais, von der Voßstraße bis zu Unter den Linden, den Verkehr von der Innenstadt zum Westen. Die Leipziger Straße ist überlastet, man kommt kaum mehr vorwärts, das "Karussell" vor dem Brandenburger Tor, wo Autos und Omnibusse im Kreise rasen, gibt nur selten eine Lücke für Fußgänger frei, vom Reichstag zum Potsdamer Platz ist es nachgerade eine Tagesreise, also irgend wann einmal wird die Französische Straße zum Tiergarten durchgebrochen werden müssen. Hindenburg mischt sich nicht darein. Er äußert keine eigenen Wünsche. Aber besonders leidenschaftlich kämpft das Auswärtige Amt um die Erhaltung seines Gartenidylls, in dem die "Villa" des Ministers steht. Stresemanns sind da jetzt doch schon Alteingesessene. Der Wunsch, einen Fest- und Tanzsaal angebaut zu erhalten, ist ihnen nicht gewährt worden, sie haben auch neulich ihren großen Ball drüben im Palais Prinz Leopold, der heutigen Reichspressestelle, geben müssen. Aber nun gar eine Autostraße an der Villa vorbei ? Pfui Deibel. Dann ist das Familienglück gestört. Und es ist ein schönes Familienglück. Die beiden Söhne stehen zu der Mutter, als wenn sie eine angeschwärmte Schwester wäre. Als der eine zum Studium nach Heidelberg abreisen sollte, sagte er, die Muttermüsse für die ersten Tage mit. Was, sagte da der Minister Stresemann, ein Student, der ins Leben hinaustritt, will nicht von Mutters Schürze los ? Und der Sohn antwortete: "Ach, es ist nur wegen des Aussuchens der Bude; wenn Mutter mich nachher einmal besuchte und die Bude ihr nicht gefiele, das wäre doch scheußlich!" Gegenwärtig ist es ein bißchen schwül um Stresemanns. Mit einer seltenen Einmütigkeit haben sämtliche Parteien des Reichstags dem Außenminister die völlige Erfolglosigkeit seiner Politik bestätigt. Am schärfsten nicht etwa die Deutschnationalen, sondern - das Zentrum, deren Wortführer Kaas selber eine Zeitlang in Genf geweilt und inoffiziell dort hinter die Kulissen geschaut hat. Wenn Stresemann über kurz oder lang ausgeschifft wird, dann wird vermutlich auch das Zentrum dieses Geschäft besorgen; und, wenn es soweit ist, wahrscheinlich etwas unvermutet. Der noch unausgesprochene, auch noch leicht zu dementierende Wille ist da, die Schwierigkeit auch lediglich arithmetisch: wie bei dem Revirement die Portefeuilles unter die Fraktionen verteilt werden sollen, das ist die heikle Frage. Jedenfalls wird Stresemann sich rechtzeitig einen Botschafterposten sichern müssen. So etwas zehrt an den Nerven und macht unsicher. Immer nervöser strebt der Außenminister nach der Krönung seiner Tätigkeit, nach dem guten Abgang, nach der verspäteten endlichen Rheinlandräumung, und da die Briand und Chamberlain nun wissen, auf welchen Köder er stets schnappt, lassen sie immer die entfernte Möglichkeit dieser Räumung vor ihm baumeln und listen ihm dafür eine deutsche Vorleistung nach der anderen ab und geben ihm nichts und lassen die berühmten Rückwirkungen von Locarno begraben sein. Mit diesem Minister, das wissen jetzt alle Parteien, werden wir nie etwas erreichen. Er ist im persönlichen Verkehr sehr sympathisch, nur als Politiker unglücklich; er ist besonders als Skatspieler sehr angenehm, weil er immer verliert. Ein junger Frechdachs von Attaché saß neulich in San Remo mit ihm bei einer Partie und sagte ihm dann: "Sie spielen Skat genau so wie Außenpolitik, Sie wollen immer überreizen und verlieren glatt!"
Durch die Gewöhnung daran, daß die große Politik doch nichts erfreuliches bringt, wird der Berliner allmählich interesselos, obwohl es nötiger denn je wäre, daß man mit brennender Teilnahme verfolgte, was in der Welt geschieht. Wir leben wieder so gedankenlos dahin wie in uralten Kleinstaatzeiten: man seufzt, man stöhnt, man klagt über schlechte Geschäfte, man murrt über die hohe Obrigkeit, aber man ißt und trinkt, man liebt und man amüsiert sich auch; mögen die Herren da oben nur ruhig ihren Mist weiter produzieren. Noch nie waren die Zuschauertribünen im Reichstage so leer wie in diesen Wochen. Es ist gar kein Anstehen mehr nach Karten. Aber die Vergnügungsstätten leben noch, und draußen im Messegelände findet jede neue Ausstellung noch genügend Besucher.
Es ist herkömmlich, daß alle Hochmögenden dazu eingeladen werden. Mit Presse und Parlament muß man sich gut stehen, nicht wahr ? Und zu den Parlamentariern gehören auch die Stadtverordneten. Da hat man in Berlin also im Handumdrehen tausend Ehrengäste, die gratis gefüttert und getränkt werden. Dazu, wenn man nobel ist, zweitausend Angehörige. Die schimpfen dann noch, wenn sie, etwa neulich auf der Rheinischen Ausstellung in Berlin, beispielsweise nur einen 1922er Dürkheimer Feuerberg vorgesetzt erhalten statt eines 1915er Niersteiner Auflangen Edelbeerenauslese. Unsere Stadtväter sind noch um einen Grad knotiger als die preußischen Landtagsabgeordneten und deutschen Reichsboten. Wie die sich fühlen! Sind da so ein paar rote Stadtverordnete nebst Damen in einer Loge der Ausstellungshalle bei Gratistrunk und Atzung versammelt. Es gibt Begrüßungsansprachen, Aufführungen, Tanz. Nach dem Hauptfestakt wird das Deutschlandlied gespielt, das die Regierung Ebert doch zur Nationalhymne gemacht hat. Sie paßt mit "Einigkeit und Recht und Freiheit" auf unsere heutige Zeit wie die Faust aufs Auge, aber es ist doch nun mal die Nationalhymne, und so steht denn alles auf, - nur die rote Gesellschaft in der Loge bleibt sitzen. Anderswo wäre eine solche Taktlosigkeit, noch dazu von Landeskindern, unmöglich. Wenn in Brüssel oder London - übrigens dort in jedem Theater und in jedem Kino nach jeder Aufführung - die Hymne gespielt wird, erheben sich selbstverständlich auch alle Fremden; geanu so, wie sie bei Paraden in Moskau den Hut abnehmen, wenn die Internationale ertönt. Also unsere Roten bleiben sitzen. Das moniert ein ebenfalls in der Loge mit Frau und Schwägerin anwesender fremder Herr als Flegelei. Was fällt dem Kerl eigentlich ein ? Der ist wohl gar von der Presse ? "Laß' ihn doch abführen!", zetert eine der roten Damen. Und tatsächlich, ein Direktor vom Messeamt wird geholt, um den "Störenfried" zu belangen. Der aber - weist sich als Reichstagsabgeordneter aus. Der Herr vom Messeamt krümmt sich. Mein Gott, man ist doch städtische Behörde, man ist doch abhängig von der kommunalen Vertretung. Freilich, ein Reichstagsabgeordneter, da ist auch nichts zu machen. Es geschieht also nichts. Und deshalb laufen die Roten schimpfend hinter dem Beamten drein. Zustände, Zustände.
Die rheinischen Mädchen beim rheinischen Wein aber, das war wirklich etwas nettes. In Tracht und Wesen etwas landsmannschaftliches, noch nicht international rasiert und eingeschliffen. Jetzt bei der Gastwirtsmesse sind die Mädel, die Kataloge und sonstiges verkaufen, wieder wie die Hotelboys angezogen. Das englische Käppchen wie von San Francisko über Paris und Berlin bis Yokohama. Dazu das Affenjäckchen und lange Seidenbeine schon vom halben Oberschenkel an. Wir werden Weltstadt, soll das heißen. Es sieht aber aus wie Vorstadtkino. Und es spazieren lauter behäbige Kleinbürger zwischen diesen international aufgemachten Mädchen herum. Kostet ihr Geld. Natürlich sieht man so etwas gern, wenn man aus der Elsasser- oder der Badstraße kommt. Auch im Theater können einem die Darstellerinnen nicht modern genug sein. Der eigentliche Liebling der Berliner, Käte Dorsch, die aus einem alten Nürnberger Patrizierhause stammende "wirklich zu liebe" Künstlerin, ist ja jetzt auf Gastspielen durch ganz Deutschland abwesend. Sie, die mollige, ist ganz schlank geworden; es ist fabelhaft, wie sie als Kiki, wenn sie auf der Chaiselongue sitzt, einfach ihr rechtes Bein wie ein Eia-Popeia-Kind in die Arme und an die Brust nimmt. Und der zweite große Liebling, Erika v.Thellmann, läßt sich in "Dover-Calais" im Komödienhaus gar im Badetrikot aus dem Wasser fischen und entzückt ihre Jünger durch ganz freche Drolerie, wobei ihr das modern Jungenhafte von Natur sogar besser steht als der Dorsch, die auch als Schalk etwas Mütterliches behält. Kaum eine Bühne, auf der nicht der Garçontyp floriert. Auf dem zweiten Rang im Komödienhaus gibt es einen kleinen Disput. Dort ist man ganz modern. Eine einzige Schüchterne findet, die Thellmann habe mit vollem Haar früher besser ausgesehen.
Aber verächtlich macht man ihr den Standpunkt klar:
"Redense bloß keene Müllabfuhr! Wat sagense ? Haarknoten sagense ? Det nenn' wa heite Portierzwiebel!"
24. März 1927 (Donnerstag)
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Sturm auf das Herrenhaus - Um den kommunistischen Regisseur - Piscators Freunde - Die eigentlichen Drahtzieher - Der Verkauf der Ufa - Frau Ludendorff am Vortragspult - Rote Stadtväter und Schulräte - Der erste Schritt ins Leben.
In der Leipziger Straße vor dem ehemaligen Herrenhause ein schwarzes Gewimmel. Der abendliche Verkehr stockt, staut sich. Was ist los ? Die ersten langmähnigen Jünglinge mit Schillerkragen und Sandalen rütteln an dem mächtigen schmiedeeisernen Gitter, das schon vor 8 Uhr abends geschlossen worden ist. Es sind keine Wandervögel. Sie tragen nicht den Kranich des Ibykus als Brosche, sondern ein rotes Abzeichen. Heute sehen die Berliner kommunistischen Jungmannen so aus. Einer von den Siebzehnjährigen versucht mit einem Dietrich das Tor zu öffnen. Ein anderer klettert daran empor. Man wird geschoben, gedrückt, gepreßt, gequetscht. Was ist los ? "Genossinnen und Genossen!" kräht ein Dreikäsehoch aus der Menge und schimpft auf den Polizeistaat, der einen davon abhalte, für den Genossen Piscator zu demonstrieren.
Aha. Nun sind wir im Bilde. Es geht um den Regisseur der Volksbühne, der in Schillers "Räubern" den Schufterle in Trotzkijs Maske zum Haupthelden macht und in "Gewitter über Gottland" immer wieder Lenins Kopf aus den revolutionären Massen aller Jahrhunderte emporwachsen läßt. Die Leitung der Volksbühne hat ihn jetzt öffentlich desavouiert. Es geht so nicht mehr weiter. Die Theaterbesucher bleiben aus. Aber nun kommt "das werktätige Volk" der Unausgegorenen und schart sich um Piscator.
Man hört, daß die Protestversammlung überfüllt sei. Daher der Toresschluß. Aber nun wird geöffnet. Zu einer Parallelversammlung in einem anderen Saale des Herrenhauses. Dieselben Redner sprechen auch dort. Aber das sind nicht die blondmähnigen Jünglinge. Das sind, mit einer einzigen Ausnahme, jene krausschwarzhaarigen und zum Teil specknackigen Intellektuellen, die heute unsere "Kultur" beherrschen, die Herzfeld, Tucholsky, Lania, Holitscher, Blum, Herzog, Toller und Genossen. Sie lispeln, sie kreischen, sie schwitzen, sie heimsen bei jeder Kraftstelle den stürmischen Beifall der entbotenen roten Jugend vom Wedding ein. Auch der Intendant der Staatstheater, Jeßner, spricht für Piscator. Jeßner bekennt von sich selber, er sei, seit er denken könne, Sozialdemokrat. "Schon faul!" ruft eine junge Sowjetangehörige mit Hängelippen. Eine Gruppe fast niggerartig aussehender Leute applaudiert. "Zylinderbourgeois!" schreit ein Arbeiter. Haß spüht auf zwischen Roten und Knallroten, die Einheitlichkeit des Protestes scheint gelegentlich schon in die Brüche gehen zu wollen, aber immer wieder wird man aufgepeitscht. Und das "deutsche Volk" stehe hinter einem, soweit es von Kultur etwas verstehe. Auch Kerr, Pechstein, Pinthus, Feuchtwanger, Mühsam, Engel hätten den Protest bereits unterschrieben.
"Das Theater muß Tendenztheater, muß revolutionär sein. Der Bürger spricht von Ideenkunst, aber er nennt Ideen eben seine traditionelle Weltanschauung. Für uns ist die Summe der proletarischen Erkenntnisprinzipien die Idee. Wenn man Piscator, der revolutionärer Kommunist ist, ein Stück in die Hand gibt, so wird er es natürlich revolutionär gestalten, nicht als Gartenlaubenmann. Wir pfeifen auf die Kunst als Kunst, wir brauchen Fanfaren zur Revolutionierung der Masse. Wir haben mit einem Begriff der Kunst, wie er im alten Theater lebendig war, nicht das Geringste mehr zu tun. Nach den Erlebnissen des Wahnsinns im Kriege, nach der Erschießung Liebknechts und Rosa Luxemburgs gibt es nur einen Weg: Moskau, Berlin, Shanghai! Die zufällige soziale Schichtung der heutigen Theaterbesucher, mit ihren Kleinbürgern, mit ihren Beamtenfrauen, darf nicht entscheidend sein für das Programm der Theater. Wer von Weihestunden unter Ausschaltung politischer Gegensätze spricht, der ist ein Bourgeois. Wir verlangen die Weihe zum Klassenkampf, wir verlangen eine zersetzende Tätigkeit der Bühne. Das Aufbauen können wir einer späteren Zeit überlassen, der neuen sozialistisch-kommunistischen Welt. Als die alte Volksbühne, von Bruno Wille begründet, später von Kurt Eisner und Gustav Landauer geleitet, das erste naturalistische Stück herausbrachte, da stand das ganze bürgerliche Berlin einfach Kopf. So muß es auch jetzt sein, wenn wir revolutionäre Dramen aufführen oder klassisch-bürgerliche revolutionär umarbeiten. Piscator ist eine anerkannt künstlerische Begabung, aber die Hauptsache ist die revolutionäre Gesinnung. Wenn etwa ein genialer Regisseur rechts steht und einen Fridericus inszenieren will: hinausgeschmissen wird er, weil uns seine Politik nicht paßt!"
Das sind so einige wortgetreue Sätze aus den Reden. Auch Piscator selbst schleudert Kraftworte. Eine Diskussion gibt es kaum. Einige Sozialdemokraten protestieren gegen schlechte Behandlung. "Ja, heute seid Ihr die Polizeipräsidenten", wird ihnen entgegengerufen. Es hat nichts genützt, daß Genosse Jeßner dem Genossen Piscator (. . . grüß' mich nicht Unter den Linden; wenn wir erst zu Hause sind, dann wird sich alles finden . . .) die Tore des Staatstheaters weit geöffnet hat. Ein alter Arbeiter sagt: die einst sozialdemokratische Volksbühnenleitung sei heute "nur noch eene Gamrilla, een Konfikel, eene Boheeme!" So wird die Kultur gerettet.
Die Drahtzieher sind immer die gleichen. Fast alle Proteste im Namen der Kultur zu Gunsten von Schmutz und Schund, zu Gunsten der Freiheit der Vergiftung, zu Gunsten revolutionärer Zersetzung, zu Gunsten alles Internationalen gehen seit Jahrzehnten von ihnen aus. In ihnen sah schon Richard Wagner den "plastischen Dämon des Verfalls der Menschheit". Daher haben sie ihn so gehaßt, wie sie alles urecht Deutsche hassen bis einschließlich Börries v.Münchhausen, wenn es ihrem Klüngel nicht dienstbar wird. Oder wenn seine Leistung es unangreifbar macht. Dann nämlich werden sie Kometenschweif und ernten als Impresario oder Reklamechef.
Man kommt ihnen mit Gegenprotest nicht bei. Bloße Entrüstung ist erfolglos. Nur Bessermachen, nur zähe Arbeit, nur Leistung und deren öffentliche Organisation rettet uns unser geistiges Eigentum. So denkt man, glaube ich, in den Kreisen um Hugenberg, der für unsere Zugrunderichter daher auch der schwarze Mann ist. "Nicht davon reden, aber immer daran denken", gaben die Franzosen nach 1871 als Parole aus. "Nicht dagegen reden, aber immer dagegen handeln", ist anscheinend Hugenbergs und der hinter ihm stehenden Gruppen Wahlspruch. Er hat es verhindert, daß in der Kriegs- und Inflationszeit auch noch die letzten selbständigen deutschen Zeitungen mossisch-ullsteinisch wurden. Daher die maßlose Wut gegen ihn, daher das Geschrei, daß die "Freiheit" der Presse durch ihn beeinträchtigt sei. Jetzt hat er die Ufa, das riesige Filmunternehmen, jenen bekannten Drahtziehern entzogen und unter nationale Mitbestimmung gebracht. Ein ganzer Urwald voll Affen kann nicht von solchem Gekreisch widerhallen, wie deswegen die Berliner Presse. Es ist ein Skandal, sagt sie, daß das Haus Scherl jetzt bei der Ufa mitmache. Dabei ist sie zuerst den Häusern Mosse und Ullstein angeboten worden! Nur ist diesen beiden zu spät ein Licht aufgegangen. Wenn sie gewußt hätten, daß nach ihnen "die um Hugenberg" zugreifen würden, hätten sie alle verfügbaren Kapitalien von New York bis Lodz flüssig gemacht, um selber die Ufa zu sanieren. Aber das erschien ihnen eben als schlechtes Geschäft; und bei ihnen wird doch nur das Geldverdienen groß geschrieben, nicht die Erhaltung geistigen deutschen Gutes. Das Filmunternehmen Fritz Langs und Thea v.Harbous, das einzige deutsche, das wenigstens mit zwei großen Stücken, dem "Letzten Mann" und den "Nibelunegn", in Amerika und in den ganzen Weltmarkt eindringen konnte, ist überkapitalisiert und verschuldet, hat auch wohl zu teuer produziert. Die Millionenausgaben für das letzte Werk, für "Metropolis", werden nicht so schnell durch die Einkünfte daraus gedeckt sein; allein an Honorar haben die beiden Hauptschöpfer, wie es heißt, in den zwei Jahren seiner Entstehung 75 000 und 120 000 Mark erhalten. Es ist anzunehmen, daß man sich fortan nicht mehr verrechnen wird. Es ist zu hoffen, daß fortan auch die Bindung an ein deutschfeindliches fremdes Unternehmen aufhört.
Jedenfalls ist mit diesem Übergang in andere Hände wieder ein Stück phrasenloser deutscher Arbeit geleistet. Darauf kommt es an. Leistung, Leistung! Selbstverständlcih braucht man in dem großen Kulturkampf unserer Zeit auch hie und da einen Tyrtäus, irgend eine wortgewaltige Persönlichkeit, die die Menge zu überzeugen und mit fortzureißen imstande ist. In einem demokratisch-parlamentarisch geführten Staatswesen fallen nun einmal so und so viele Entscheidungen durch Mehrheitsbeschluß. Aber nicht nur "Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen", wie Schiller sagt, sondern auch die eigentliche Arbeit und die eigentliche Leistung. Stinnes hätte uns vielleicht - er war nahe daran - das nationale Theater schaffen können, um das der deutsche "Bühnenvolksbund" sich jetzt bemüht, der mindestens erheblich längere Zeit dazu brauchen wird. Der Entschluß eines Einzelnen bringt mehr, als die Agitation unter Vielen. Trotzdem ist auch sie natürlich unentbehrlich. Der beste Sprecher unserer Zeit ist heute - eine Frau. Es ist Mathilde Ludendorff, die Gattin des Generals, die dieser Tage auch zum ersten Mal in Berlin öffentlich geredet hat, in der überfüllten Aula des Gymnasiums in der Kochstraße. Über Rassenerbgut. Da waren nicht nur Völkische herzugeströmt, und unter diesen Leute aller Stände und aller Schichten: auf der Bank hinter mir sitzen begeistert der Botenmeister einer Zeitung und der Sohn unseres Schusters, zwischen ihnen aber ein vornehmes Ehepaar von altem Reichtum, das einem Freunde des Hauses gerade erzählt, der Junge solle jetzt bei den Bonner Borussen einspringen, und es sei doch schlimm, daß sie 600 Mark Monatswechsel verlangten. Rechts vor mir eine Kleinrentnerin in "unmöglich" altmodischer Aufmachung, neben ihr aber ein Mann von Generaldirektorstyp und dessen sehr mondäne Frau. Alle schauen zunächst auf den General Ludendorff, dessen mächtiges Haupt hier sozusagen die Zentralsonne ist. Vor allem die Augen, die Augen! Königsaugen. Kinderaugen. Sie gehören einem genialen Manne, der Hunderttausende führen kann; aber auch einem arglosen Manne, den Hunderttausende betrügen können. Nun spricht seine Frau in tiefem, klingendem Alt, der raumfüllend daherschwingt. Man vermeint Erda in Wagners Nibelungenring zu hören, man ist ganz im Banne dieser Stimme.
An aderer Stelle habe ich einmal die Bücher der Frau Dr.med. v.Kemnitz, der jetzigen Mathilde Ludendorff, ausführlich gewürdigt. Gelehrte Forschung und lebendige Intuition ergänzen sich darin. Als Volksrednerin hat sie dieselben Vorzüge, aber - sie gerät auf ein falsches Geleise. Es ist wunderschön, was sie über das rassische Erbgut sagt, das von unserer Seele im Unterbewußtsein gehegt wird. Es kommt nicht auf äußere Merkmale an, wir haben sowieso schon mehr Rundköpfe als Langschädel in Deutschland, sondern die nordische Rasse offenbart sich im Tun und Lassen und Denken und Fühlen. Uns liegt das unbekümmert Heldische. Die ostische Rasse aber, so sagt Frau Ludendorff, stellt die spiritistisch interessierten Leute, die Leute mit Dämonenfurcht. Nun gut. Wenn aber Frau Ludendorff um Erhaltung unseres Rasseerbgutes ringt und es durch das großstädtische Galiziertum bedroht sieht, greift sie selber zu dem Erregungsmittel einer Art Dämonenfurcht. Die Ziffern 1914, sagt sie, in hebräische Buchstaben umgesetzt, bedeuten "Weltkrieg"; und die Quersumme dieser Ziffern, 15, gebe die Buchstabencharaktere von "Jehovah" wieder. Ein gräßlicher unwissenschaftlicher Unsinn, eine törichte Zahlenspielerei, würdig des Erfinders der "Weisen von Zion". Nein, wir werden unserer kulturellen Vergiftung nicht Herr, indem wir sie erschauernd einer Art religiöser Verschwörung von Rassefeinden zuschreiben, sondern nur, wenn wir selber in Arbeit und rechter geistiger Diät uns von der Krankheit befreien.
Es hat nichts mit kabbalistischen Zahlen zu tun, daß die roten Stadtväter von Berlin-Wedding kürzlich beschlossen haben, das Neue Testament und Bücher über Kirchengeschichte und historische Erzählungen aus den Schulbibliotheken zu entfernen. Und wenn ein Novembersozialist, Stadtschulrat, unseren Abiturienten etliche Tage vor der Prüfung anderthalb Stunden lang auseinandergesetzt hat, Bismarck sei ein ganz mäßiger Mensch gewesen, in der auswärtigen Politik gelegentlich von Zufallserfolg begleitet, in der inneren Politik ein Stümper und Verbrecher, so ist diese Ansprache auch nicht vor Jahrzehnten auf irgend einem Sanhedrin beschlossen worden. Derartige Erscheinungen sind nur die Quittung dafür, daß wir selber es menschenalterlang an eigener Arbeit um die Seele des Volkes haben fehlen lassen.
Unsere beiden Jüngsten, der heute leicht geröteten Schule glücklich entronnen, haben inzwischen ihre ersten Schritte "ins Leben" unternommen. Am letzten Tage des Monats für den letzten Rest Taschengeld einmal allein ins Café. Ohne zahlenden Vater. Man will doch einmal selber "Herr Ober, zahlen!" lässig rufen. Man hat ja noch pro Mann 30 Pfennige. Das reicht nicht für ein vornehmes Wiener Kaffeehaus, aber für den "Kaffee-Expreß" an der Ecke. Gesagt, getan. Man trinkt stolz seinen Kaffee für 30 Pfennige. Aber nun muß plötzlich einer der beiden Muli verschwinden; und an dem Ort steht: "Benutzung 10 Pfennig". Nun hat man zusammen nur noch 50, man fühlt sich geradezu als Zechpreller, gleich beim ersten Schritt ins Leben scheint man straucheln zu sollen. Was tun ? "Ich laß' den Freund dir als Bürgen, den magst du, entrinn' ich, erwürgen!" Einer der beiden bleibt bei dem Kaffeerest sitzen. Der andere läuft nach Hause und nimmt 10 Pfennige Vorschuß auf den morgigen Monatsersten. Gott sei Dank, daß man noch einen Vater hat. Und Gott sei Dank, wenn der - den Kindern das Taschengeld stets so kanpp zumißt, so daß sie auch bescheidene Genüsse froh empfinden.
31. März 1927 (Donnerstag)
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