"Rumpelstilzchen"

Berliner Funken
(Jahrgangsband 1926/27)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1927

Glossen 31 - 33
7. bis 21. April 1927


31

Berliner in Paris - Was Paris für die Welt bedeutet - Französische Kunstinvasion bei uns - Comédie française - "Vive la femme!" - Kunst oder Unsittlichkeit - Berliner Baupläne - Die Neufundierung des Kaiserpalais - Wieder im Hohenzollernmuseum - Eine ganze Frau.

Den Zauber von Paris zu besingen, ist heute wieder einmal Mode bei uns. "Ja, als wir neulich in Paris waren", so sagt auf Berliner Nachmittagstees der oder die eine oder andere, und dann gibt es, von Schnalzen begleitet, ein paar Phrasen über jene Kultur, vor der wir uns verstecken könnten. Gewiß, es gibt einen Zauber von Paris. Das ist die alte Patina, das Historische; und das ganze Stadtbild. Aber kulturell sind die Franzosen meilenweit hinter uns zurück. Überhaupt hat man manchmal den Eindruck, daß diejenigen, die von Pariser Kultur schwärmen, die gepflegten Kokotten meinen. Paris als Babel.

Paris ist das Absteigequartier der Welt.

Paris ist die einzige Metropole des Binnenlandes, die wie exotische Hafenstädte von den Gelüsten der Passanten lebt. Man kann da alles haben, was man in Port Said oder Havanna haben kann, und noch viel mehr. Paris ist der offene Schoß der Danae, der den Goldregen auffängt. Alles ist auf den Fremden dressiert, alles ist willig, alles legt sich vor Dollars und Pfunden und Reichsmark hin, selbst ausschweifendes Verlangen wird mit einem gleichmütigen "Mais oui!" beantwortet, der Montmartre ist nur noch Nepp, und die schmierige Vertraulichkeit, mit der auf jeden Wunsch eingegangen wird, erscheint dem Berliner in Paris, der schwärmen will, als Abkehr von der Deutschfeindlichkeit. Das ist natürlich eine Täuschung. In öffentlichen Häusern wird nie nach der Nationalität gefragt, und Paris ist ein öffentliches Haus. Ein sehr exotisches, in dem heute schon auf den Boulevards die Farbige allmählig den Typ Mimi Pinson verdrängt, den wir nach den Romanen aus der Biedermeierzeit noch erwarten. Den früheren gallischen Esprit, den spühenden Geist, kann man auch nur noch in verlorenen Winkeln aufstöbern, wenn man selber Pariser wird. Das Theater ist muffig. Die Revue herrscht. Aber nicht jene pariserische, die sich und die Umwelt heiter verulkt, sondern die große Schau, wie der Globetrotter sie liebt; ein Massenaufgebot von Frauenbeinen, einen Rausch von Lichteffekten und Straußfedern kann man auch verstehen, wenn man kein Französisch kann.

Die Franzosen selbst aber sind davon überzeugt, wenn sie sich verzückte Feuilletons aus dem Berliner Tageblatt übersetzen lassen, daß wir allesamt ihre "culture" anhimmeln; und daß sie uns eine Wohltat erweisen, wenn sie damit zu uns kommen. Ein Mitglied der Comédie française hat kürzlich eine Gastspieltruppe zusammengestellt und den Berlinern klassisches und modernes Theater vorgemimt. Ich kann nur sagen: es war eine gräßlich verstaubte Sache, stillos und unbeholfen. Schon seit mehr als einem Menschenalter ist unsere deutsche darstellende Kunst erheblich weiter; wie wir ja auch Shakespeare besser geben als die Engländer, und wie unser Kunsthandwerk längst an Geschmack das fremde übermocht hat. Dabei hat Alt-Paris sich heftig gegen die Gastspielreise um Reichsmark gewehrt, da die "boches" es noch nicht wert seien, französisches Theater zu bekommen. Im übrigen war das Unternehmen eine traurige Pleite, da nur wenige Kritiker ihrem Gewissen ein paar freundliche Worte abringen konnten und das Publikum nach der dritten Vorstellung die Langeweile mied.

Nun versuchen es die Pariser mit der Revue. Sie kommen uns also nicht pariserisch, sondern international. Dieses Prunkstück heißt "Vive la femme!" Sehr gut. Hoch die Frau! Die Überschrift genügt, um von Halensee bis Pankow alle Berliner Kleinbürgerfamilien erschauern zu lassen, weil sie von der Vorstellung im Admiralspalast nun ungeahnte Wonnen erwarten. Sie kommen und finden eine Revue, je nun, eine Revue, wie man sie heute ebenso in Berlin oder London oder Kopenhagen sehen kann. Sie ist sinnlos, also braucht man sich nicht anzustrengen. Sie hat keine Handlung, nur Bilder, Tänze und viel weißes Mädchenfleisch. Aber sie ist verhältnismäßig dezent. Ich habe keine Zote gehört. Wenn das Kultur ist, daß man das, was in guter Gesellschaft unsagbar ist, in gefälliger Form sagen kann, dann haben diese Franzosen Kultur. Die Schlager sind harmlos, der Hauptschlager, ins Deutsche übersetzt, lautet etwa:

Jenny, Jenny,
Schau mich nicht so an,
Das erträgt kein Mann!

Aber sind das denn überhaupt Franzosen, die hier auf der Bühne einzeln einherwirbeln oder in Massen paradieren ? Ach, das Revuegeschäft ist doch längst eine internationale Sache, besonders, seit man Akrobaten als Tänzer verwendet. Wohlgefällig - der ganze Kurfürstendamm schmunzelt dazu - schreibt ein Berliner Ullsteinblatt:

"Diese Franzosen parlieren in einem reizenden Gemisch von französisch, englisch, deutsch und - Jargon. Sie haben es ja so leicht, vom französischen abzusehen. Spadaro, der große Klavierhumorist, ein Italiener ? Ah, bah! Harry Pilzer und die geniale Komikerin Jenny Golder Amerikaner ? Geh' weg! Wenn Ihr nachdenkt, bloß ein bißchen, dann müßt Ihr gestehen, daß Ihr Alle aus der talentträchtigen Gegnd südlich von Wien seid!"

Sie haben wirklich Talent, diese Leute. Reines Varététalent. Spadaro macht aus dem Klavier einen schier lebendigen Partner, der vor Vergnügen quietscht, trällert, lacht, ein Mäulchen zieht. Das sind überhaupt zwei Personen, nicht ein Mann und sein Instrument. Man wundert sich, daß das Klavier nicht selbständig loswackelt und Shimmy tanzt. Und Jenny Golder, eine Dame schon in reiferen Jahren, hat die Verve und den Schmiß eines sekttollen jungen Variétégirls. Und Harry Pilzer torkelt und tanzt in einer Schwipsszene auf der hohen Treppe, wie der Geigenspieler auf einer Tonleiter in lustigem Staccato. Eine Enttäuschung ist für den in dieser Beziehung verwöhnten Berliner, der im Theater des Westens in "Wissen Sie schon ?" besseres und schöner gewachsenes sieht, die Masse Weib. Das Kollektivweib mit sechzehn exerzierten Beinen, genannt acht Tanzgirls, und auch das Einzelweib, das als Kostümpuppe oder als femme nue auftritt. Waren wirklich in Paris und in den internationalen Artistenagenturen nicht ein paar hübsche Mädchen aufzutreiben ? Man sieht das Paris der Inflation leibhaftig vor sich; billig, billig. Lauter Pofel, sagt der Kurfürstendamm. Gut genug für die Boches, sagt der Revueunternehmer. Er verfügt unter den mehr als hundert Darstellerinnen im ganzen über drei, die so gewachsen sind, daß ein Bildhauer nicht gleich Sodbrennen bei ihrem Anblick bekommt. Die läßt er im Schlußbild als hüllenlose Nymphen um einen Springquell lagern. Er weiß mit den Bestimmungen der nachrevolutionären Berliner Polizei ja Bescheid, die das Nackte erlaubt, aber nur in folgender Erläuterung:

"Eine stehende oder liegende nackte Frau ist Kunst, eine gehende oder tanzende nackte Frau ist Unsittlichkeit."

Das ist der große Fortschritt der neuen Zeit, das ist die neue Freiheit. Wir haben anderthalb Millionen Arbeitslose. Aber sie alle haben die Freiheit, wenn sie 16 Mark für das Parkettfauteuil bezahlen, sich Ausgezogenheiten aus der Nähe anzusehen.

In Berlin spricht man freilich schon hoffnungsvoll von einer Belebung des Arbeitsmarktes. Die pflegt immer vom Baugewerbe her auszugehen. Jetzt läuft uns schon das Wasser im Munde zusammen, weil amerikanische Kapitalisten sich erboten haben, auf dem noch freien Südgelände Berlin-Schönebergs 15 000 neue Wohnungen zu errichten. Das klingt ungeheuer. Wenn man aber weiß, daß wir in den nächsten Jahren 50 000 neue Wohnungen jährlich brauchen, ist es schon nicht so arg. Immerhin, auch die 15 000 gäben schon einen schönen Aufschwung. Baugerüste sieht man auch so schon leidlich viel in Berlin, aber da handelt es sich meist um Aufstockung oder Reparatur oder Fassadenanstrich. In den guten Stadtvierteln ist das Bild des Verfalls, wie man es von 1918 bis 1924 überall sah, nicht mehr vorhanden. Berlin ist wieder schmuck. Das Königliche Schloß und der Alte Fritz sind schon seit einiger Zeit ausgeflickt. Nur recht lange wird es noch dauern, bis die Untermauerung des alten Palais Kaiser Wilhelms I. und der Umbau des Opernhauses fertig sind. Das Palais - das mit dem "historischen Eckfenster" - steht wie so viele Berliner Gebäude auf Moor. An einre Stelle ist das Moor siebzehn Meter mächtig. So tief mußten also bei Erbauung des Palais die Pfähle, einer dicht neben dem anderen, bis auf den darunter liegenden festen Baugrund getrieben werden, und auf diesem Pfahlrost steht das Schloß. Solange die Baumstämme von Feuchtigkeit umgeben sind, von der Luft dadurch abgeschlossen, halten sie Jahrhunderte lang. Nun hat sich aber das Grundwasser gesenkt, ist durch Auspumpen der benachbarten Baugrube des Opernhauses auch noch weiter gesunken, so daß die Pfähle jetzt in trockenem Torf stehen und durch Moorsäure verfaulen. An vielen Stellen im Palais zeigen sich handbreite lange Risse. Das ganze Fundament verwest, und daher senken sich die Mauern. Ich bin in diesen Tagen da unten herumgekrochen und habe mir zum Andenken ein Stück Balken mitgenommen. Man kann es zwischen den Fíngern zu Pulver zerreiben. Da hat die staatliche Bauverwaltung eilends eingreifen müssen, und es ist sehr lehrreich, sich anzusehen, wie sie das - natürlich mit Millionenmitteln - macht. Das ganze kolossale Gebäude wird meterweise neu unterfangen. Man "puhlt" einen Holzbalken heraus, treibt an seiner Stelle - die ganze Arbeit findet in den tiefsten Kellern statt, man hat also nach oben nur wenig Raum - keinen langen neuen hinein, sondern stückchenweise stählerne Mannesmannrohre von dreißig bis vierzig Zentimetern Durchmesser, die dann mit Beton gefüllt werden; und auf diesen neuen Rost kommt ein neues Mauerfundament, Meter für Meter.

Während hier unten rüstig geschafft wird, stehen oben im Arbeitszimmer des alten Kaisers in stiller Andacht Besucher. Ursprünglich war alles "sowas" geschlossen, da die Republik die Reliquienangst hatte. Das Charlottenburger Mausoleum mit dem Sarkophag der Königin Luise wurde erst freigegeben, als englische und amerikanische Reisende Krach schlugen. Seit einigen Tagen ist endlich auch das Hohenzollernmuseum wieder geöffnet, nur darf es nicht mehr so heißen. Jetzt heißt es amtlich: Museum Schloß Monbijou. Fremde finden nicht so leicht hin. Am Zirkus Busch um die Ecke links vom Bahnhof Börse. Der Cityverkehr hastet, Schnellzüge donnern daher, aber plötzlich, wenn man ein Gittertor durchschritten hat, steht man im tiefen Frieden eines kleinen Parks, in dem langgestreckt das ehemalige Lustschloß einer preußischen Königin liegt, heute in 67 Sälen und Zimmern zu ebener Erde ein Museum, das von Wilhelm II. an bis zurück zu dem Grafen Eitel Friedrich, des Heiligen Römischen Reiches Kämmerer, eine ungeheure Sammlung von Zollernandenken enthält. Vor dem Kriege pflegte ich hier besonders lange immer in den Räumen zu verweilen, die die Andenken aus der Zeit der Befreiungskriege bargen. Den ersten Abdruck des "Aufrufs an Mein Volk". Einen Brief Schills. Ein Diktatheft der Königin Luise. Bilder, Büsten, Kleider, Uniformen, Waffen, Sänften, Möbel, Porzellan jener Jahre. Diesmal hat es mir am meisten das Arbeitszimmer der Kaiserin Auguste Viktoria angetan, original mit gesamten Inhalt, das damals noch nicht existierte. Sehen wir zu, was sie in ihrem kleinen Bücherschrank rechts vom Schreibtisch zum Handgebrauch stehen hatte. Zum Nachschlagen Meyer, Büchmann, Perthes. Von schöner Literatur Ganghofer, Rosegger, Wildenbruch, aber auch Clara Viebig und - englisch - Rudyard Kipling. Allerlei von und über Goethe. Houston Stewart Chamberlains "Grundlagen des 19. Jahrhunderts". Einen Leitfaden der vaterländischen Geschichte. Von der jetzigen demokratischen Abgeordneten Gertrud Bäumer ein Kriegsbuch "Weit hinter den Schützengräben". Soziale Kompendien, Sammelwerke von Frauenvereinen. Das Jagdbuch des Kronprinzen. Am abgebrauchtesten aber ein Neues Testament und ein Gesangbuch.

Diese Frau hat, ohne es zu wissen, unendlich viel Gutes gewirkt. Ich meine nicht den Wohltätigkeitsrummel, sondern das hausfrauliche Beispiel. Höfe machen immer Schule; am schnellsten die leichtfertigen. Der der Kaiserin Auguste Viktoria aber hat dazu beigetragen, daß unsere Mütter und Gattinnen im Kriege so Gewaltiges dulden und leisten konnten. Arbeit ist keine Schande und kein Unglück, sondern eine Forderung des Anstandes und des Herzens, das hat diese Frau uns vorgelebt.

Heute denken die Berliner Garçonnes über die Gattinnen und Hausfrauen freilich gering. "Das ist alles Bruch!" Na, na. "Jawohl, das sind die sogenannten besseren Hälften, also doch nur halbe Menschen!" Ach so. Dann wäre aber der mathematische Grundsatz, daß das Ganze immer größer ist als seine Teile, falsch. Diese modernen "ganzen" Frauen jedenfalls leisten nur einen Bruchteil von dem, was die besseren Hälften des alten Systems für die Familie und das Land geleistet haben.
7. April 1927 (Donnerstag)


32

Eine sehr anständige Frau - Im Kaisersaal des Rheingolds - Wie verleben Sie Ostern ? - Berliner auf Teneriffa - Der Stresemann-Prozeß - Erinnerungen an Kranz und Genossen - Politik und Korruption - In die Kerbe gehauen.

Sie ist eine sehr anständige Frau. Sie hat nicht den, den sie liebt; nun liebt sie den, den sie hat. In Dankbarkeit, in Treue, in nimmermüdem Besorgtsein. Und weil sie es ihm so oft gesagt hat, glaubt sie es schier selber: daß er der Herrlichste von allen sei. Sie streichelt ihm liebkosend über die Denkerstirn, wie sie seine Glatze nennt, und wenn sein Bäuchlein sich immer mehr rundet, sagt sie von dem ersten besten schlanken Herrn, er sei ein "lächerlich" magerer Hering. Nur ganz unauffällig sorgt sie dafür, daß ihr Mann nicht mehr so viel fettbildende Stoffe bei den Mahlzeiten sich zuführt. Und daß er sich Bewegung verschafft. "Du machst ja noch so gute Figur beim Tanzen, für dich könnten junge Mädchen erglühen!" Der Mann ist und bleibt ein Kind. Er glaubt an solche Märchen. Und so kriegt seine sehr anständige, sehr verständige Frau ihn schließlich dazu herum, daß er - sogar ohne sie - Tanzstunde nimmt, Abteilung für ältere Herrschaften, ganz ungeniert. Allwöchentlich zeigt er ihr das neu Erlernte. Ein Glück, daß er dabei nicht gefilmt wird! Noch hält er sie auf halbe Armlänge von sich ab, noch ist es nichts rechtes mit dem Paartanz, aber sie selbst packt allmählich derber zu, bis er den Anschluß hat, wie ihn die heutige Führung durch den Mann verlangt. "Wer hat, hat!", redet sie ihm ermutigend zu, bis er sie tüchtig an sich preßt und nun merkt, wie sie dann gut folgen kann.

In Berlin kann man das Paar sehr häufig sehen, weil die Großstadt so viele ungenierte Gelegenheiten hat. Man sieht diesen Typus zu Dutzenden, wenn man abends im Kaisersaal des "Rheingolds" in der Bellevuestraße sitzt. Vor dem Kriege wurde in diesem imposantesten aller Restaurants an tausend Tischen gebechert und geschmaust. Heute zieht sich nur ein doppelter Kranz von Tischen die Wände entlang herum, und der große Raum in der Mitte bleibt für die Tanzenden frei. Es gibt nie Gewühl. Jedermann hat Platz, hat sozusagen einen Tanzsaal für sich. Selbst der Ungewandteste tritt niemand auf die Hacken. Es ist eine Art Versuchsbühne. "Dort können Sie ganz ungestört üben!", hat der tüchtige Tanzlehrer v.Paquet-Léon, der frühere königliche Balletmeister, seinen älteren Herrschaften gesagt. Hie und da taucht im Kaisersaal des Rheingolds, auch schon zum Nachmittagstee, irgend ein tanzlustiger junger Herr auf, der unter den auch hier vorhandenen eßlustigen jungen Mädchen eine Partnerin auf Zeit findet, aber die Mehrheit besteht aus Ehepaaren.

Es ist spaßig zuzusehen, wie sie da breitbeinig einhertappen. Immer kühner werden. Sich eine ganz eigene Technik zulegen. Immer vergnügter sich schwenken. Das ist ein Jungbrunnen, in dem die Einbildung die größten Wunder vollbringt. Die anständige Frau frohlockt innerlich. Schon kleidet ihr Brummbär sich sorgfältiger als sonst. Schon sieht er ein, daß auch sie ein bißchen aufgebessert werden muß.

Die jetzt aktuelle Frage "Wie werden Sie diesmal Ostern verleben ?" ist für diese Glücklichen gelöst. Müllers reisen in den Harz, Lehmanns in die sächsische Schweiz, Meyers nach Locarno, aber das alles - nur auf ein parr Tage - ist ja gräßlich unbequem. Zerstoßen und gerädert kommt man zurück, mehr ausgegeben hat man dann auch, als man wollte. Nein, unsere Glücklichen bleiben in Berlin. Einmal kann man ja in den Grunewald pilgern oder an irgend welche Seen, aber dann: u.a.w.g, und Abends wird getanzt. Im Kaisersaal, des Rheingolds, wie gewöhnlich; oder ausnahmsweise in einem anderen Lokal, in dem es über Ostern wohl auch mehr Platz als sonst geben wird. Auch kann man in die große Wochenend-Ausstellung gehen, die am Ostersonnabend auf dem Messegelände eröffnet wird, und dort Luftschlösser für den Sommer bauen. Gott sei Dank, man gehört ja nicht zu den "Mondänen", die auf den nächsten Fünfuhrtees erzählen müssen, wie sie Ostern verlebt haben. Freilch wird der Kreis derer, die sich das Ausfliegen um ihrer Reputation willen schuldig zu sein glauben, immer größer. Um Weihnachten spritzt schon fast alles auseinander. Jedes Bureaufräulein hat doch auch mal Sehnsucht nach dem Schnee. Aber auch dafür gibt es nun Ersatz in der Großstadt, sogar in der warmen Jahreszeit: das neueste in Berlin ist der "Schneepalast" mit Steilhängen und Sprungschanze, wo man mit seinen Skiern - auf Sodapulver läuft; es geht ganz großartig. Mögen Schulzes ruhig darüber lächeln! Schulzes sind im Winter in Norwegen gewesen, aber nicht gelaufen, sondern haben nur bei Oslo unter dem Publikum sich als Zugucker betätigt. Schulzes waren dann zu Beginn des Frühlings auf den Kanarischen Inseln und erzählen wichtig, daß im Hotel auf Teneriffa der König von Sachsen mit seiner ältesten Tochter am Nebentisch gesessen habe; und einen Tisch weiter der Admiral v.Trotha; und hinter ihnen auch eine deutsche Reisegruppe mit Frau v.Bülow-Bothkamp in der Mitte. Diese Gruppe habe einmal draußen Croquet gespielt. Engländer standen dabei und sagten: "Auch beim Croquetspiel merkt man die Unbildung der Hunnen!" Darauf habe sich Frau v.Bülow jäh umgewandt und gesagt: "Die Hunnen sind so ungebildet, daß sie sogar Englisch verstehen!" Worauf prompt eine Entschuldigung folgte. Im übrigen bildeten auch auf Teneriffa Müllers, Lehmanns, Meyers, Schulzes - neben Levys und Goldstaubs - das Gros. So ist es auch jetzt überall draußen. "Wie wir diesmal Ostern verlebten" ist das Thema zahlloser Briefe, auf denen zum Teil ausländische Marken klebten. Neben bitterster Not sieht man hie und da doch auch wieder schon allmählichen Aufstieg.

Es ist nur gut, daß die gräßliche Politik in den Ostertagen Ferien hat. Politik verdirbt nicht nur den Charakter, sondern schädigt auch die Verdauung, sagen die Leute. Vielleicht ist es aber schon umgekehrt, daß nämlich Charakter die Politik verdirbt, wenigstens das, was man heute unter Politik versteht. In allen demokratisch-parlamentarisch regierten Ländern ist Politik nämlich Geschäft.

Einen Einblick darein hat der Plauener Prozeß Stresemann-Müller dem großen Publikum gewährt. Die Zeitungsberichte freilich waren je nach der Partei verwirrend. Die Presse der Linken hat es nahezu fertiggebracht, dem Volke einzureden, es handele sich um einen Verleumdungsfeldzug der Deutschnationalen Volkspartei gegen den Außenminister, um ihn, den gegenwärtigen Koalitionsgenossen, zu stürzen. Ohne jede Rücksicht auf unser Ansehen im Auslande sei dies geschehen. Du liebe Güte, das Ausland, soweit es demokratisch-parlamentarisch regiert wird, hat dergleichen so häufig daheim, daß es über den Fall Stresemann-Müller kaum berichtet. Sehen wir einmal zu, was in Plauen festgestellt worden ist. Der falsche Kommerzienrat, Herr Abraham Veitel Litwin, ist mit Herrn Gustav Stresemann befreundet. Hat ihm einen gutbezahlten Aufsichtsratposten gegeben. Hat ihm eine Silberschale geschenkt. Hat für ihn und Familie einen Schweizer Sommeraufenthalt bezahlt. Hat ein Konto "S. Gustav" eingerichtet, das angeblich P. Gustav bedeutet, Partei Gustav, Deutsch Volkspartei. Hat in einer Zeit, wo dies für gewöhnliche Sterbliche strafbar war, Herrn Stresemann 5000 Pfund Sterling in Devisen zugeschanzt. Hat mit schätzungsweise anderthalb Millionen Mark Stresemanns Organ "Die Zeit" über Wasser gehalten und es dafür allerdings in Schriftleitung und Geschäftsstelle zum großen Teil mit seinen Leuten besetzt. Hat Stresemann auf seinem Schloß Schwante zur Geburtstagsfeier seines Sohnes, David Litwins, gesehen. Hat von Stresemann, als es sich um die Aufhebung der Beschlagnahme eines Eisenbahnzuges voll Schrott handelte, ein Eintreten für die Aufhebung beim Wirtschaftsminister erreicht. Hat im übrigen beim Schrottgeschäft mit deutschem Heeresgut 19 Millionen Goldmark verdient.

Wenn der Rechstanwalt Müller-Plauen nur dies behauptet hätte, so hätten Millionen Deutscher gesagt: "Kinder, Kinder, was haben wir heute für Zeiten! So etwas wäre doch früher undenkbar gewesen!" Und die Sehnsucht nach Wiederherstellung des alten sauberen Deutschlands ohne Litwineinflüsse wäre übermächtig geworden.

Aber bei solchen Aktionen schießen Leute, die an die Herkulesarbeit im Augiasstall herangehen, gewöhnlich über das Ziel hinaus. Müller hat es nicht genügt, einfach nachzuweisen, wie heute Politik und Geschäft Hand in Hand gehen. Er ist melodramatisch geworden. Er hat, wenn die Zeitungen es richtig wiedergeben, behauptet, mit Stresemanns Hilfe habe Litwin als Schrott gute Granaten nach Polen verschoben, mit denen wir dann in Oberschlesien beschossen wurden. Das wäre also Begünstigung eines Verbrechens, Begünstigung von Landesverrat gewesen. Einer solchen Tat ist Stresemann nicht fähig. Man mag über seine Eitelkeit spotten, man mag seine Politik als dilettantisch und schädlich nachweisen, aber an seiner vaterländischen Gesinnung ist kein Zweifel; vielleicht nicht einmal an seiner monarchischen Einstellung. Nur ist er eben ein mit Politik arbeitender Geschäftsmann. Er ist es immer gewesen, nicht etwa über die Politik zum Geschäft gekommen, wie der Volksschullehrer Erzberger oder der Gymnasiallehrer Wirth. Er war Schokolade-Syndikus, er war Syndikus des sächsischen Industriellenverbandes, er hatte Aufsichtsratsposten schon vor der Ära Litwin.

Aus dieser einfachen Sache ist in Plauen ein Hintertreppenroman gemacht worden, der Roman von den gestohlenen Akten mit Material gegen Stresemann, das der Hauptgeschäftsführer der Deutschnationalen Partei aufgekauft habe. Es ist ein Schwindelroman. Ich kenne die Figuren. Ich kann ein bißchen hinter die Kulissen leuchten. Also acht Tage vor der Reichtagswahl 1924 taucht ein Herr Kranz auf und bietet den Deutschnationalen seine vier Kisten voll Akten an. Kranz ist ein stattlicher Mensch, vor dem Kriege wackerer Feldwebel in Deutschsüdwestafrika, nachher Beamter für Außendienst in der Erfassungsabteilung des Reichsschatzministeriums, hat da die ganze abgrundtiefe Schweinerei nach der Revolution miterlebt, hat sich jahrelang Durchschläge und Akten gesammelt. Jetzt soll er entlassen werden. Er ist den roten Revolutionshyänen verdächtig geworden. Da geht er zur Rechten, zeigt seine Sachen, wünscht ein Unterkommen. Man schickt ihn zu mir, ich werde um die Gefälligkeit gebeten, den Kram durchzusehen, vielleicht zu bearbeiten. Letzteres lehne ich ab. Aber das Material sei fabelhaft, das gäbe ein epochemachendes Buch, Überschrift: Sechs Jahre roter Sumpf. Nun sollen also Kranz und Kautter die Bearbeitung vornehmen. Ich erkläre den Herren der Partei, es käme alles darauf an, den Kranz flott zu erhalten, ihn gut zu bezahlen, aber das geschieht wohl nicht in ausreichendem Maße, und nun tritt ein, was immer in solchen Fällen geschieht: der Mann verhökert einzelnes aus seinem Material auch an anderer Stelle, an verschiedene Zeitungen: der Kreis der Wissenden vergößert sich. Auch der Kreis der Bearbeiter, die ihrerseits wieder anderes Material zuschustern zu können vorgeben, so der ehemalige Ingenieur Knoll-Kluge, im Kriege wegen Tapferkeit vor dem Feinde zum aktiven Hauptmann befördert, ein fanatisch rechtsstehender Mensch, und der ehemalige Sozialdemokrat Breithaupt, im Kriege Deserteur und roter Parteifunktionär in Holland, nachher literarischer Parteiverräter. Nun erst wird man geschäftig. Die Deutschnationalen haben die Aktenkisten schon längst aus der Hand gegeben, auf Anforderung der Staatsanwaltschaft deren Vertrauensmann Knoll übermittelt, der das für den Prozeß Kutisker Notwendige daraus auszieht; es ist ja wirklich ein ungemein lehrreiches Material, das die ganze sozialdemokratische Schand- und Schieberwirtschaft seit der Revolution aufblättert, bei Gelegenheit auch noch sicherlich zur Verwendung kommt, aber über Stresemann nicht ein Wort enthält. Der hat doch mit Hanauer Lager, Deutschen Werken und allem übrigen wirklich nichts zu tun. Nicht die Hauptgeschäftsstelle der Deutschnationalen Volkspartei, sondern zwei ehemalige Parteigenossen Stresemanns selbst, Müller in Plauen und Bacmeister in Berlin, haben nachher, auf Grund ganz anderen Materials, das Anklagegebäude gezimmert. Die intimsten Feinde sind ja immer die ehemaligen Freunde.

Der klare Tatbestand ist dadurch verwirrt worden, daß einzelne Enthüller zweierlei zu Geld machten. Zunächst auf der Rechten ihre Akten und Aufzeichnungen. Dann bei der Linken einen Bericht über diesen Verkauf mit allen Einzelheiten. Kranz schildert, nicht immer ganz gedächtnisfest, seine Erlebnisse gegen Honorar bei Ullstein. Breithaupt hat schon vorher seinen Verrat an der Sozialdemokratie beim Vorwärts fruktifiziert, indem er dort seine Zusammenarbeit mit Knoll und anderen Herren von rechts schilderte. Also diese notgepeitschten Existenzen schöpfen aus, was sie können. In allen demokratisch-parlamentarisch regierten Ländern sind sie eine naturgemäße Begleiterscheinung der allgemeinen Fäulnis. Politik ist Geschäft, Korruption ist Geschäft, auch Bekämpfung der Korruption kann zum Geschäft werden. Franzosen und Amerikaner lächeln verständnisinnig zu dem Segen, den sie uns gebracht haben, indem sie den "Kaiserismus" zerschlugen. Was wir verloren haben, dessen wird unser Volk vielleicht noch einmal inne werden, wenn etwa aus den berühmten Akten der Bericht des Rechnungshofes des Deutschen Reiches über die nachrevolutionäre Schieberei veröffentlicht wird. Die Seelennot der ehrenfesten alten Kontrollbeamten spricht aus jeder Zeile. Es ist einerschütterndes Dokument.

So sieht es heute hinter den Kulissen aus, wo Millionen verdient werden. Vor den Kulissen in den Parlamenten aber hört man große Worte. Bisweilen auch erheiternde Worte. So in der letzten Sitzung des Reichstages vor der Osterpause, wo ein Volksvertreter mit dem Satze anhub: "Auch ich kann nur in die Kerbe des Herrn Vorredners hauen!"
13. April 1927 (Mittwoch)


33

Ostern daheim - Kneipenstatistik - Berliner Ehen - Die zweite Frau - In der Fürsorge - Kongreßbesucher - Veränderungen in der Friedrichstadt - Schillertheater - Neue weltliche Schulen.

Wer über Ostern verreist war, der hat durch Versenden von Ansichtskarten dafür gesorgt, daß alle Welt es wußte; und so konnte denn auch alle Welt ihn, den man sonst beneidet hätte, heute bedauern, denn an diesen kalten und regnerischen Tagen war es daheim wirklich schöner. Behaglich wie eine alte Hauskatze schnurrt und schnarcht der elektrische Kaffeekocher auf dem österlich besetzten Frühstückstisch in der warmen Stube. Die Tafel bricht nicht unter der Last lockender Fastenendgerichte zusammen, wie es in Ländern der byzantinischen Kirche üblich ist, auch hat unsereins nicht den aufnahmefähigen Magen der Männer und Frauen in Südschweden, die am Ostersonntag Vormittag lachend ihre zehn bis zwölf hartgekochten Hühnereier vertilgen. Aber auch bei bescheidener Aufmachung hat man doch das Gefühl, festlich zu schmausen. Fast die Hälfte der Berliner, die noch im vorigen Jahre ausgeflogen sind, ist diesmal zu Hause geblieben und hat sich an heimischen Genüssen mehr erfreut als an der Allerweltskost der Hotels. Um diese Zeit, in der unsere Schlecker den Übergang von der Auster zum Krebs begehen, pflegte der Kaiser sich eine Lieblingsdelikatesse zu gönnen, die erheblich billiger war: ein Butterbrot, belegt mit heißen Scheiben neuer Kartoffeln, leicht mit Salz bestreut, darauf eben so dünne Scheibchen frischer Gurke. Es ist "bei Kaisers" ja überhaupt stets viel bürgerlicher zugegangen, als die große Menge angenommen hat. Da wissen viele Leute aus Berlin-West ganz anders zu schlemmen, besonders um Ostern herum. Und doch ist es ein Irrtum, wenn man annimmt, in "einfacheren" Stadtgegenden lebe man spartanisch und asketisch. Nachdem im vorigen Jahre die Polizei es allen Gastwirtschaften freigestellt hat, fortan bis um 3 Uhr nachts Betrieb zu machen, nahm jedermann natürlich an, daß diese Erlaubnis am meisten in dem westlichen Vergnügungszentrum um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche herum ausgenutzt werden würde. Nun veröffentlicht die Polizei aber eine genaue Statistik, aus der erstaunlicher Weise etwas ganz anderes hervorgeht. Die relativ meisten Lokale haben bis um 3 Uhr in Berlin-Neukölln aufgehalten, also in ausgesprochen rotem Arbeiterviertel. Es ist wirklich so, daß kein Stand auf den anderen mit Fingern zeigen dürfte; der Drang zum Genießen ist ganz allgemein.

Die großstädtische Statistik ist auch sonst häufig überraschend und manchmal sehr lehrreich. Bisweilen auch niederdrückend. In der letzten Berichtsperiode war es - zum ersten Mal in normalen Friedenszeiten - zu verzeichnen, daß die Zahl der Geburten in Berlin die der Sterbefälle nicht mehr übertraf, ja sogar nicht mehr erreichte. Und das, obwohl hier so unendlich viel für Hygiene geschieht und obwohl hierher auch so viele Mütter von außerhalb zur Niederkunft kommen. Die Kinderlosigkeit nimmt überhand, nicht die Ehelosigkeit. Geheiratet und - geschieden wird mehr denn je. Bis vor kurzem ist es in weiten Kreisen wohl auch nicht bekannt gewesen, daß in Berlin jede sechste Ehe wieder auseinandergeht. Es gibt Leute, die dauernd experimentieren. Da ist ein bekannter Arzt, der kürzlich seine achte Frau heimgeführt hat, und geschwätzige Nachbar behaupten sogar, er habe sich in der Eile verzählt, es sei in Wahrheit seine neunte. Sie ist 23, er ist 63 Jahre alt. In den Ostertagen war das Pärchen im Harz zum Forellenangeln. Etwas durchfroren, aber glücklich und ungeschieden ist es jetzt heimgekehrt. Nun fragt sich unsereiner natürlich: für wieviel Kinder aus diesen acht Ehen muß der Herr Doktor zahlen ? Nur - für ein einziges. Dessen Mutter ist, beiläufig bemerkt, eine Nichte von Tirpitz. Aus den übrigen sieben Ehen hat es keine Nachkommenschaft gegeben. Ein typisches Zeitbild.

Nimmt man zu den ehedem Geschiedenen noch die ehedem Verwitweten hinzu, die ebenfalls wieder geheiratet haben, so kann man sich ungefähr vorstellen, wieviele Berliner Kinder - denn ganz aufgehört hat das Kinderkriegen doch nicht - eine zweite Mutter haben. Das weiß natürlich die ganze Nchbarschaft. Und die ganze Nachbarschaft ist roh genug, den Kleinen bei Gelegenheit zu sagen: "Ihr armen Geschöpfe, Ihr habt ja eine Stiefmutter!" So etwas wird noch durch gruselige Zeitungsgeschichten über das Martyrium solcher Kinder genährt. Da entsteht ein ganz falsches Bild, das dem liebenden Opfermut der deutschen Frau nicht gerecht wird. Es gibt unzählige Ehen, in denen die "zweite" Mutter mehr - und zwar von Herzen - für die Kinder tut, als es die leibliche Mutter vermocht hätte, und das, ohne dafür Dank und natürliche Gegenliebe zu ernten. Die heimlichen Märtyrerkronen dieser Mütter strahlen. Der Mann ahnt es vielleicht. Die Nachbarn aber schmälen aus Dummheit; sie sind noch in alten Märchen befangen, die aus wilden Zeiten stammen. Wer jemals in die öffentlichen Beratungsstellen der kommunalen Kleinkinderfürsorge in Berlin hineingeschaut hat, der weiß, wie rührend das Gros der zweiten Mütter, auch der bloßen Pflegemütter, um die überkommenen oft schwächlichen Kinde bemüht ist, wie aufopfernd und treu, wie liebevoll in des Wortes ureigenster Bedeutung. Unsere soziale Gesetzgebeung hat ja auch viel dazu beigetragen, den wenigen Leichtfertigen unter den leiblichen und zweiten Müttern das Gewissen zu schärfen. Sie sehen, wie der Arzt, die Ärztin, die Krankenschwester in der "Fürsorge" um jedes einzelne Kind, selbst wenn Hunderte an einem Tage herangebracht werden, bei karger amtlicher Entlohnung sich mühen, als sei jedes einzelne, und ist es noch so hinfällig und verschwärt, ein köstliches Gottesgeschenk. Und da leuchten denn auch ihnen die Augen auf und da bekommen sie Lust an der Arbeit für das Kind. Sehr häufig sind hier, namentlich in Berlin, natürlich auch die unehelichen Mütter. Niemand brandmarkt sie. Sogar den berühmten "Schrei nach dem Kinde" versteht man, der fast schon häufiger ist als der Schrei nach dem Manne. Nur manchmal fällt es dem Personal der Fürsorge schwer, gleichmütig zu bleiben und sich auch nur das geringste Kopfschütteln zu verkneifen. Da kommt ein junges Mädchen mit ihrem Säugling an und legt ihn auf die Wage. Es verbreitet sich ein eigentümlicher Wildgeruch von dem sonst sehr appetitlichen und sauberen Kinde. Man schnuppert. Und da wird die Mutter rot und sagt:

"Ja, der Vater ist ein Japaner, ein Student; seit er von Berlin abgereist ist, habe ich nichts mehr von ihm gehört."

Berlin hat noch lange nicht solch ein Völkergemisch wie Paris oder gar Marseille, aber immerhin schon eine richtige kleine Kolonie von Chinesen, nicht nur flüchtigen Studenten, sondern fest ansässigen Händlern. Dazu Gruppen von Vertretern "unterdrückter Nationen" aus Afrika und Asien. Auch eine wachsende Zahl von Geschäftsleuten aus Südamerika. Dazu seit dem Zusammenbruch des Zarenreiches den großen Stamm von Zehntausenden hier schon ganz eingebürgerter Russen. Aus dem Deutschen Reiche selbst gibt es nur an Festtagen und in den Ferien stärkeren Zuzug. Da haben sich zu Ostern wieder die ehemaligen Offiziere des Stabes der Heeresgruppe Linsingen in Berlin zusammengefunden, der Alte mit der Hakennase mitten unter ihnen. Da tagt hier auch wieder der Chirurgenkongreß, auf dem es diesmal, irre ich nicht, nicht weniger als 229 offizielle wissenschaftliche Vorträge gibt. Da hat am Ostermontag auch der "Zentralverband deutscher Rätselrater" seine Tagung gehabt, auf der die Meisterschaft im deutschen Kreuzworträtseln ausgetragen wurde; der erste Favorit, ein Ingenieur, wurde von dem zweiten, einem Kellner, geschlagen. Da sind noch ungezählte andere Vereine und Verbände hergeströmt, so daß die aus Berlin zu Ostern verschwundenen Berliner reichlich durch Zuzug ersetzt waren.

Sind die Aufgaben der Zusammenkunft erledigt, so sieht man sich natürlich die Reichshauptstadt an und versucht festzustellen, was sich da seit dem Vorjahr verändert hat. Die leichte Muse, die zehnte Muse, ist dieselbe geblieben. In Kabaretts, in Revuen, in Variétés das alte Bild. Aber schon die Friedrichstadt, das Vergnügungszentrum von früher, ist in schneller Umwandlung und schnellem Zerfall begriffen. Da war doch früher das Café National an der Ecke Jägerstraße sozusagen der Astartetempel für den hergereisten Kleinstädter, wo er sicher die ältesten und fettesten Priesterinnen der Friedrichstraße traf. Heute ist es verschwunden. In seinen Räumen - "das Alte stürzt, es ändern sich die Zeiten, und neues Leben blüht aus den Ruinen" - haust eine solide österreichische Wortschaft. Es sind ganz andere "Anschlußschwärmer" als früher, die jetzt in das Bierhaus Dreher - Anton Dreher ist der Wiener Patzenhofer - pilgern und beim Dreherbier eine Rindssuppe mit Fridatten, Beinfleisch mit Oberskren und Krautsalat oder Selchkarree mit böhmischen Knödeln, ein Wiener Backhähndl und nachher einen Palatschinken oder Kaiserschmarrn genießen. Neben den russischen, italienischen, spanischen, chinesischen Restaurants endlich ein bundesbrüderliches! Die vielen Amüsierlokale der Friedrichstadt aber verspießern rettungslos, werden immer mehr drittklassig, so wie man sie sich kaum mehr in Buxtehude gefallen ließe, vom Weidenhofkasino bis zur Bonbonnière ist alles von Tag zu Tag leerer, und im Margaretensaal des Equitable-Palastes an der Leipziger Ecke, wo früher die Sektpfropfen knallten, ist der Kellner heute schon erstaunt, wenn ein Besucher ein Glas Ananasbowle bestellt. Die berufsmäßigen Besucherinnen dieser Lokale fallen in der Aufmachung sehr gegen die im Westen ab, und das Publikum ist auch mehr und mehr "äußerste Provinz", auch das Vorführungsprogramm auf seinen Geschmack berechnet. Alles kämpft gegen die Pleite. Der Berliner selbst wird sie nicht aufhalten können, denn er ist sparsamer als früher, und der Zuzug aus dem Reiche kann den Niedergang auch nicht verhindern. Solche nach Berlin kommenden Kongreßler, die edleren Genuß suchen, sind auch von unseren verwilderten Theatern meist enttäuscht. Aber eines ist noch da, das häufig gute klassische Vorstellungen herausbringt, und zwar mit dem vortrefflichen Menschenmaterial der Staatsbühne, nämlich das Schillertheater in Charlottenburg, auch in der Inszenierung noch ganz in der reichen alten Art. Ganz Deutschland kennt Margarete Schön vom Nibelungenfilm her, in dem sie die Kriemhild dargestellt hat. Im Schillertheater auf der Sprechbühne, in Schillers "Maria Stuart" oder Kleists "Prinzen von Homburg", hat man noch viel mehr von ihr. Es gehen freilich keine Mondänen hin. Aber Leute von gutem altem Bildungsdrange, die sich einmal wirklich erheben wollen. Man sieht so viele Gesichter, die einem bekannt vorkommen. Da schauen mit heißen Augen neben uns der frühere Reichskanzler Dr. Luther und sein Töchterchen auf die Szene. Da ist viel gute alte Gesellschaft beisammen - und auch viel schlichtes, ehrliches Volk.

Dieses schlichte Volk - besonders die Mütter - schickt auch seine Kinder gern in die guten Volksschulen alter Art. Aber Berlin hat rote Stadtväter, die am liebsten nur weltliche, religionslose Schulen sähen. Es sind jetzt nach Ostern wieder einige neu eröffnet worden. Natürlich hat man ihnen die besten modernsten Gebäude gegeben und dort die bisherigen Schulen hinausgeworfen. Für die neuen Lehrerstellen, das ist ein gutes Zeichen, haben sich aber nicht genug Bewerber gemeldet. Die nötigen Schulkinder bekommt man leichter zusammen, zur Umschulung genügt das Verlangen des Vaters, auch wenn das Kind mit allen Fasern am alten Heim hängt, und auf die organisierten Väter drückt die Partei. Da müssen denn auch die Mütter wohl oder übel zustimmen.

"Heul' doch nich so, Mieze, von wejen ohne Relijon! Wenn Vata det hört, haut er dir eene runter! Du weeßt doch, er is nu mal for die Freiheit!"
21. April 1927 (Donnerstag)



Glossen 28 - 30

Jahresinhalt

Glossen 34 - 36

© Karlheinz Everts