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Bildung auf Termin - Nach Brandes' Tode - Der Drang zur Großbourgeoisie - Parlamentarische Bierabende - Vier Modeköniginnen - Eine Bismarck-Erinnerung - Geselligkeit bei Hindenburg - Der Leutnant vom Wachtregiment Berlin - Hindenburg und der Gendarm.
Schrecklich, schrecklich. Was denn ? Ja, sagt die Dame des Hauses, die vor einem Haufen von Büchern sitzt, es ist doch schrecklich, daß alle berühmten Leute gerade vor 100 oder 150 Jahren geboren oder gestorben sind. Und dann zeigt sie mir die Bücher: über Spinoza, über Beethoven, über Pestalozzi. Die Kinder haben alle Nase lang eine Schulfeier, da wird von den Berühmtheiten, die gerade durch Geburt oder Tod termingerecht geworden sind, gesprochen. Und als Mutter will man doch gegenüber seinen großen Jungens nicht als Dummerchen erscheinen. Schrecklich, schrecklich. Der braven Hausfrau raucht der Kopf. Spinoza, Beethoven, Pestalozzi sind nicht einmal die einzigen; im Rundfunk ist noch von anderen die Rede gewesen. Und schon wirft man alles durcheinander und sagt bei Tisch von einem der Hervorragenden: "Jawohl, ich weiß, der ist gerade vor 50 Jahren gestorben"; aber er ist gerade lebend 60 Jahre alt geworden.
Ein großer Teil unserer sogenannten Bildung ist solcher Terminhandel, also kein effektives Lieferungsgeschäft. In einem Satz ist alles umschrieben: man muß darüber sprechen können, worüber gesprochen wird; und gesprochen wird häufig in Anlehnung an Gedenkfeiern und Jubiläumsartikel. Wann kann der gehetzte Großstädter denn noch wirklich seine Bildung vertiefen ? Dankbar gedenke eines gesegneten Typhus, während dessen Ausheilung ich sämtliche Werke Gerhart Hauptmanns mir einverleibte und im Anschluß daran sämtliches Erreichbare über Gerhart Hauptmann las. Darnach Streitschriften für und wider den Naturalismus, für und wider die Romantik. Aber allemal hat man keinen Typhus, der Beruf nimmt die Zeit weg, man gibt geistig mehr aus, als man einnimmt, und neben dem Beruf tut die "Gesellschaft" ein übriges, um einen am Studieren zu verhindern. Man kriegt allmählich nur eine Art Stichprobenbildung. Und man beneidet die Leute in stilleren Gegenden des Vaterlandes, die - so stelle ich es mir wenigstens vor - immer genügend Zeit haben, um auf festen Fundamenten der Belesenheit ein solides Mauerwerk aufzuführen und ständig auszubauen. Der Berliner hat es bei der eiligen Aufnahme von Stoff besonders schwer, zu einem sicheren eigenen Urteil zu kommen, denn der Posaunenschall der demokratischen Presse überdröhnt hier alles und ist, obwohl er politisch nichts mehr erreicht, kulturell doch noch von außerordentlichem Einfluß. Diese Presse geht auch weit ins Land hinaus. Ebenso stehen zahlreiche literarische und sonstige Zeitungskorrespondenzen unter ihrem Szepter. Sie ist es immer noch, die die Tagesberühmtheiten prägt, das Tagesgespräch dirigiert und - Reklame nur für "ihre" Leute macht. So ist ja auch der jetzt mit 85 Jahren gestorbene Georg Morris Cohen-Brandes in Kopenhagen zum Heros gestempelt worden, dem seine eigenen Dänen sein Lebtag die ersehnte Professur an der Universität nicht gegeben haben, weil sie ihn besser kannten, weil sie ihn nicht für einen Gelehrten, sondern nur für einen äußerst findigen Journalisten hielten, der mit großem Geschick und noch größerer Interviewerzähigkeit die verschiedensten Modelle für sich einfing, Bebel wie Moltke, Ibsen wie Nietzsche, sich dann sozusagen zu ihrem Impresario machte, sie aber auch oft gründlich mißverstand. Ibsen hat am meisten darunter gelitten.
Es gab einst eine Zeit, wo auch in Berlin der Hunger nach Bildung alles andere überwog. In einzelnen, aber sehr kleinen Schichten ist es heute noch der Fall. Nur sind das nicht die seit dem Umsturz führenden Schichten. Vielleicht schreibt noch mal einer deren Kulturgeschichte; das wird ein kurioses Ding. Es kommt diesen Leuten nur auf die äußere Politur an, nur darauf, möglichst schnell zur Großbourgeoisie gerechnet zu werden, ohne sich deren geistiges Fundament erarbeiten zu müssen. Alle Achtung vor dem Arbeiter, der jede Mußestunde zu seiner Fortbildung benutzt. Da war ein schlichter Setzer bei der Deutschen Tageszeitung, ein feiner Mensch, der machte eines Tages, so nebenbei, seine Reifeprüfung für die Universität, ein paar Jahre darnach seinen Doktor. Das haben die, die nur durch die Revolution nach oben gespült sind, nicht nötig. Sagst du, sie hätten sich ein Amt ergaunert oder sie hätten sich von der Geflügelrechnung bis zu den Reitstiefeln und dem Nachttopf alles von Parvus-Helphand bezahlen lassen oder sie hätten geradezu Landesverrat begangen, - das rührt sie nicht. Erzählst du aber, sie trügen zum schwarzen Gehrock kanariengelbe Stiefel oder sie fräßen mit dem Messer, dann triffst du sie ins Herz. Denn vor allem und in allem wollen sie zur Großbourgeoisie gehören, die zu bekämpfen sie fälschlich vorgeben. Es gibt da nur sehr wenige Ausnahmen. Zu den wenigen, innerlich bescheiden gebliebenen gehört unter anderen die Frau Severings.
Der Geselligkeitstrubel der Offiziellen steht gegenwärtig auf dem Höhepunkt. Bei allen Parteien. Es gibt Politiker, die an einem Tage drei Bierabende hinter einander besuchen. Unsereins gehört nicht zu den Offiziellen, sondern Gott sei Dank zu den Außenseitern, hat aber alle Mühe, solche Gesellschaften zu vermeiden, auf denen man mit gewissen Neudeutschen zusammenträfe. Die deutschnationale Parteigeselligkeit hat sich neuerdings koalitionsmäßig erweitert. Auf einem außerordentlich gemütlichen Abend, den die Abgeordneten Quaatz und Oberfohren in Nationalen Klub gegeben haben, sieht man so Schreiber vom Zentrum, Leicht von der Bayrischen Volkspartei, Runkel und Klara Mende von der Deutschen Volkspartei, ja sogar Frau v.Oheimb, die als lächelnde Circe ihre Zauberkünste erprobt. Tags darauf im Hotel Kaiserhof beim Grafen Westarp das gleiche Bild, Hunderte von Schwarzberockten, die vergnügt dem Buffet zusprechen und dann angeregt bechern, Parteifreunde und Parteifremde, darunter wieder einige politische Damen. Manches läßt sich da gesellig ausgleichen, was in der Arena der Reichstagsausschüsse hart aufeinanderprallt. Für eine halbe Stunde bin ich da freilich ausgerückt, denn in der Kaiserhofdiele lockte etwas ganz Unpolitisches. Da kicherten und schlenkerten die - Modeköniginnen von Österreich, Ungarn, Frankreich, England. Am Fastnachtsabend sollen sie hier den Ball verschönen. Sie können sich untereinander, da sie alle nur ihre Muttersprache sprechen, nur schwer verständigen, umso leichter aber mit der Herrenwelt. Die blonde Engländerin ist der puppenhafte, glatte, seelenlose Schönheitstyp der dortigen illustrierten Blätter. Die schwarze Französin mit ihrem wie lackierten Pagenkopf und der strengen Habichtsnase ist häßlich und leidenschaftlich. Fesch und vergnügt, ganz das "süße Mädel" von Schnitzlerart, ist die Wienerin. In der Figur am auffallendsten - der Reiter würde sagen: edel gezogen - die vollschlanke und in keiner Faser dekadente Ungarin. Man könnte kaum bessere Repräsentantinnen der vier Nationen finden. Pff! Schon wieder einmal. Das verdammte Blitzlicht. Immer wieder flammt es auf. Es ist Zeit, daß man sich zu den Parlamentariern und Ministern in die Nebensäle zurückfindet. Gerade ist ein neuer Schub von Besuchern eingetroffen. Die einen kommen von dem Bierabend bei Oberst v.Kleist, dem neuen Bevollmächtigten der kaiserlichen Vermögensverwaltung, der mit den Männern der Öffentlichkeit gesellige Fühlung genommen hat. Die anderen waren beim Reichstagspräsidenten Loebe und schnalzen noch mit der Zunge, - so delikat seien die kalten Forellen in Aspic gewesen.
Dazwischen hat es die üblichen großen Empfänge bei Hindenburg gegeben. Die Sitte der Bierabende stammt noch von Bismarck her. Er ist ihr Erfinder, wie er auch ja der Erfinder der parlamentarischen Stimmungsbilder gewesen ist. Dort, wo heute das Café Vaterland steht, befand sich einst das alte Gebäude der Kreuzzeitung. Da saß manchen Abend der Abgeordnete des Vereinigten Landtages, Otto v.Bismarck, und schrieb für den "Berliner Zuschauer" der Kreuzzeitung, die Rubrik unter dem Strich, seine anonymen Stimmungsbilder, die an satirischer Bissigkeit gegen die Linke niemand nach ihm erreicht hat. Nach ihm schlief länger als ein Menschenalter das Stimmungsbild. Erst Ende der achtziger Jahre tauchte es in der Berliner Presse wieder auf. Und das Bier hat, wie gesagt, auch Bismarck gesellschaftsfähig gemacht, während zu seiner Zeit sonst überall nur der Wein als "vornehm" galt.
Am Dienstag voriger Woche waren es in der Hauptsache Parlamentarier aller Parteien, die zu Hindenburg geladen waren, am Frteitag Beamtenschaft, Offizierkorps, Schrifttum, Industrie und - an beiden Tagen - die Minister. Übrigens an beiden Tagen auch Männer anderer Berufe. Da sehe ich vom Handwerk den Ehrenobermeister Plate, von der Medizin die Professoren Bier und Körte, von der Poeterei Paul Warncke, von den christlichen Gewerkschaften Maenzel, von der Landwirtschaft den Grafen Kalckreuth. Es gibt da immer interessante Köpfe. Und Hindenburg plaudert gern und plaudert jovial und versteht auch die Kunst des Zuhörens, und das umsomehr, als in seinem noch immer bolzengeraden mächtigen Körper eine Seele sitzt, die nach immer neuer Nahrung verlangt. Eine der dümmsten Verleumdungen, die die Ullsteinpresse vor seiner Wahl aussprengte, war die, er habe selber bekannt, seit seiner Kadettenzeit nie andere als militärische Bücher gelesen zu haben. Er list gern und viel und rege, soweit er nur Zeit dazu findet. Und seine "Typhuszeit" der Muße dafür waren ja die Vorkriegs- und Nachkriegsjahre in Hannover. Rüstig und frisch unterzieht sich der alte Recke den Pflichten der Repräsentation als Staatsoberhaupt. Damit sie, besonders bei den Empfängen der fremden Diplomatie, würdig sei, hat er seiner Dienerschaft auf eigene Kosten, nicht etwa duch Anforderung im Etat, Livréen gekauft, aber sie sind nicht prunkhaft, sind sogar bescheidener als die im Hause Bülow, als dieser unser Reichskanzler war; denn Hindenburg zieht ganz bewußt den Unterschied zwischen einem gekrönten Haupte und sich. Bei Diplomatenabenden gibt es wieder Frack und Orden. Hindenburg mit dem Orangebande vom Schwarzen Adler über der breiten Brust, mit Pour le Mérite und vor allem - das staunen die Ausländer am meisten an - mit dem Blücherkreuz, das in zwei Jahrhunderten nur je ein Deutscher getragen hat. Wenn die offiziellen Reden wie üblich abgelesen sind, kommt es zu freiem und angeregtem Gespräch. Selbstverständlich kann Hindenburg, der einst im Großen Generalstabe Chef der französischen Abteilung war, französisch konversieren; und bei entlegeneren Idiomen macht der sehr sprachgewandte Staatssekretär Meißner den Dolmetsch. Das Nette in diesem Hause ist, daß der Gastgeber, auch wenn Hunderte da sind, sich um jeden einzelnen der Erschienenen kümmert, ihm persönlich nahekommt und nicht, wie es wohl Neureiche zu tun pflegen, mit einigen Prominenten sich für den ganzen Abend in eine Ecke setzt. Die beiden Bierabende der vorigen Woche waren von zwei Hausbällen bei Hindenburg eingerahmt. Das ist nun ganz alter, lieber Stil, mit Blumenkotillon und Halali, mit Quadrille und Schlußgalopp, aber auch für einen schönen eleganten Tango hat der alte Herr Verständnis. Selbst den Bubikopf mancher jungen Dame läßt er allenfalls über sich ergehen; aber die geschorenen älteren Damen findet er entsetzlich. Den tanzenden Damen heftet er eigenhändig die frischen Blumen an, als Gegengabe kriegt er die Schleifchen an die Brust. Die jungen Referendare und Leutnants, die das Gros der Tänzer stellen, sind selig, aber er sieht scharf darauf, daß sie sich auch heranhalten und daß keinesfalls eine Dame unbetanzt bleibt.
Ein junger Dachs vom Wachtregiment Berlin, fröhlich vom Tanzen und von der Bowle, schlägt nachher abseits im Kameradenkreise mit der Faust auf den Tisch und kräht ganz laut:
"Hindenburg ist wahrhaftig der einzige Mann von Ehre in Berlin! Der gibt einem schon vor dem Tanzen was zu fressen!"
Der Generalfeldmarschall hat herzlich gelacht, als ihm das hinterbracht wurde. Ja, er ist nicht dafür, daß mit hungrigem Magen getanzt wird und daß erst um Mitternacht das Souper folgt. Die erste Stunde, pünktlich begonnen und pünktlich beendet, gilt den einfachen, aber guten Tafelfreuden. Wie einem guten Hausvater leuchten ihm die Augen, wenn das junge Volk nach Meister Kermbachs Weisen tanzt. Übrigens: es gibt hier keine Jazzinstrumente, kein Katzenmiauen. Die Toiletten der Damen sind gewählt, aber nicht exzentrisch. Eine Dame erschien einmal in verblüffend kniefreiem Rock; sie wird nie wieder eingeladen.
Natürlich hat Hindenburg außer den offiziellen Abenden auch viele Einzelempfänge, wobei er besondere Vorliebe für die Auslandsdeutschen zeigt, mit denen er gern lange über Land und Leute plaudert. So sah er einmal auch den alten Konsul Zerrenner aus Sao Paulo bei sich, der in Berlin-Grunewald einen eigenen Palazzo hat, in dem er alljährlich ein paar Monate verbringt. Er und Frau Zerrenner - diese eine Dame von wirklich königlicher Grandezza und Freigebigkeit - hätten umgekehrt gerne auch Hindenburg bei sich gesehen, aber das "schafft" er natürlich nicht; wenn er überall hinginge, wo liebe Leute ihn hinwünschen, hätte er in sechs Wochen einen chronischen Darmkatarrh. Er läßt sich sogar bei deutschen Ministern entschuldigen. Er schafft es nicht, weil zu viele Leute und Deputationen zu ihm kommen. "Zuerst zum Zoo und dann zu mir", sagt er lächelnd. Und wenn es mal von Vereinsvorständen und dergleichen nicht abreißen will, dann meint er geduldig: "Vergrämen Sie mir die Leute nicht, und wenn es die auf dem Rücken schwimmenden Bäckergesellen sind, die noch etwas Dringendes für mich haben."
Nun noch ein Erlebnis vom vorigen Freitag, ganz ohne Kommentar, weil es so am stärksten wirkt. Ich hatte gerade im Vorbeigehen den kostbaren alten und immer noch quicklebendigen Elard v.Oldenburg begrüßt, der an Hindenburgs Tische saß. Dem erzählte Hindenburg, daß er auf der Fahrt zur Schorfheide neulich auf Oldenburgs märkischem Gute gehalten habe.
"Ihre Leute: sehr ordentlich, sehr höflich. Nur ein Gendarm auf dem Hofe zeigte mir seine Rückansicht mit den Händen in den Hosentaschen."
"Aber Herr Generalfeldmarschall, warum haben Sie den Kerl nicht angepfiffen ?"
"Mein lieber Oldenburg, es war ja ein preußischer Gendarm; in Preußen habe ich nichts zu sagen."
24. Februar 1927 (Donnerstag)
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Fortgesetzter Karneval - Kuß und Schminke - Im und am Stadion - Aus der Geschichte des Mädchenturnens - Selbstbewußte Menschen - Das Fäulniszentrum des Reiches - Gertrud Bäumer und Tante Voß - Fritz v. Unruhs "Bonaparte" - Auf der Galerie.
Wir sind zeitlos geworden. Im Sommer läuft der Berliner im Eispalast Schlittschuh und im Winter kann er frische Erdbeeren auf seiner Tafel haben. Es fehlen ihm auch die anderswo herkömmlichen scharfen Einschnitte im Jahr. Se bedeutet der Aschermittwoch hier gar nichts. Weder läßt man vorher die Zügel besonders schleifen noch zieht man sie nachher besonders an. Es bleibt das alte Motto "Saure Wochen, frohe Feste" das ganze Jahr hindurch. Auch der Mummenschanz ist nicht etwa mit Fastnacht zu Ende; schon an diesem Sonnabend darauf geht es wieder los, überall in den großen Sälen ist Karnevalslust. Und man läßt sich nicht nur "für sein Geld" amüsieren, wie es noch bis ganz vor kurzem berlinisch war, sondern man fängt allmählich an, selber Spaß an der Sache zu finden und selbsttätig im Trubel mitzumachen. Der Spießer hat vom Künstler gelernt. Aber was den Berliner immer ausgezeichnet hat: er macht nicht etwa tags darauf blau, sondern geht pünktlich und rüstig zur Arbeit. Er hat Maß zu üben gelernt. Er trinkt weniger und er küßt weniger als ehedem. Das erste liegt an den geschmälerten Einnahmen, das zweite bringt der Lippenstift zuwege. Der gesunde Mensch hat einen natürlichen Widerwillen gegen die Schminke, auch wenn er nicht weiß, daß sie auf den Lippen eine Brutstätte von Bakterien ist, - rund 220 000 dieser unsichtbaren Verderber auf dem kleinsten Mädchenmund, so konstatieren die Ärzte.
In Modedingen soll man eigentlich nicht prophezeien, ich will also auch nicht behaupten, daß das gänzlich ungermanische Schminken, das in Holland noch heute nur von der Halbwelt geübt wird und in Deutschland auch in der eleganten alten Gesellschaft noch heute verpönt ist, sich bei uns allgemein durchsetzen wird oder nicht. Ich kann nur sagen: die stärkste Hoffnung im Kampfe gegen alle Unnatur ist der Sport. In diesen mildesten Tagen eines ausnehmend milden Winters, wo wir am 1. März statt Eis und Schnee 17 Grad Wärme im Schatten hatten und in der Sonne hemdsärmelig sitzen konnten, hat es draußen im Stadion und rundum auf allen Waldspielplätzen wieder die schönste Sehnenstählunmg gegeben. Nur die sogenannte Koedukation, die gemeinsame Erziehung beider Geschlechter, will mir im Sport nicht so recht einleuchten. Sie lenkt ab. Da knattert am Stadion in rasendem Lauf eine Gruppe von jungen Männern daher. Sehr gut. Da übt sich oberhalb auf der Weide unter den Föhren eine Anzahl junger Mädchen im Speerwurf. Wunderschön. Aber im Schutze der Hecke gegen die Rennbahn, auf ausgebreiteten Decken, rekeln sich in dem Beinahe-Nichts von Sportdreß einige Pärchen. Das ist auch nett. Nur nicht hier am Platze. Kindlein, liebet euch untereinander, aber anderswo. Es ist ja ganz harmlos, dieses gemeinsame Ausruhen und Flirten, nur macht es einen sehr wenig erhebenden Eindruck auf die Zuschauer, die höher vom Sport denken, ihn für fast etwas Heiliges halten, zum mindesten für etwas Heiligendes. Er hat ganz unvermerkt von unserem Leben Besitzergriffen, kein Alter kann sich ihm mehr entziehen, auch wenn er sich nur etwa auf die paar Morgenübungen im Zimmer beschränkt.
Wie das allmählich gekommen ist, das hat uns am vorigen Dienstag die Preußische Hochschule für Leibesübungen, die in Spandau - im Stadion in Berlin residiert die Deutsche Hochschule - ihren Sitz hat, in einer historischen Vorführung gezeigt. In einem geschlossenen Raum allerdings, in einer großen Halle, vor dem Berliner Turnlehrerverein. Zunächst in sechs Gruppen das Mädchenturnen, wie es sich in den letzten 125 Jahren entwickelt hat. Zum Piepen namentlich der "Sport" der Jungmädchenwelt in der Biedermeierzeit. Da stehen in langen gelben Kleidern, aus denen unten noch eine Handbreit gelber Hose hervorlugt, die kleinen Damen, vor ihnen im blauen Frack mit Vatermördern der Anstandslehrer. "Ästhetische Stellung Nr. 1": Die Mädchen mit rund emporgehobenem rechten Arm und ausgestrecktem Zeigefinger, die linke Hand unten abgespreizt wie bei den Wachspuppen im Schaufenster. "Ästhetische Stellung Nr. 2": Die Pose schämiger Zurückhaltung, der Kopf gesenkt, die Hände über der Taille verschlungen. "Ästhetische Stellung Nr. 3": In der Körperhaltung ein stiller Jubel, die Arme ausgebreitet "wie zum Empfang einer geliebten Person." Köstlich, ganz köstlich. Man lächelt, und es ist einem doch ein bißchen wehmütig im Sinn. Was waren das doch damals für dressierte Puppen! Aber liebhaben konnte man sie freilich auch so. Und dann, so etwa von 1862 ab, wird es ganz unmädchenhaft. In hochgeschnürtem Korsett, in hohen Stiefeln, in langen Gingankleidern, militärisch steif, marschieren die Dämchen mit "Finger lang" und "Brust heraus" und machen Kehrtwendungen nach Zählen. Zwei Jahrzehnte später gibt es schon Turnkleider, grau mit rot abgesetzt, aber immer noch feste Stiefel und langatmige Freiübungen bis zu 24 Zeiten, bis dann endlich, was wir noch alle miterlebt haben, die Pumphose mit korsettloser Matrosenbluse und leichtem Schuhwerk die Emanzipation einleitet, die uns heute, wo auch auf die Strümpfe verzichtet wird und Sporthose und Sporthemd im übrigen genügen, ganz durchgeführt erscheint. Nur die Herren sind noch ein Stück weiter, sie brauchen lediglich eine Art Badehose. Die männlichen "Hörer" der Preußischen Hochschule - die Bezeichnung als Hörer ist von der Universität übernommen wie die ebenso unzutreffende des "Chauffeurs" von der Dampfmaschine - führen uns im zweiten Teil Körperschule, Springen am Pferd, Bodenturnen vor und begeistern uns durch die prachtvolle Muskulatur dieser geschmeidigen Leiber, denen jede Steifheit genommen ist. Wem so der Körper gehorcht, wer so zum Herrn seiner selbst wird, der hat wohl auch Herrenbewußtsein im Leben draußen und setzt sich durch, wenn er irgendwo auf der Welt auf, sagen wir, Engländer trifft und geschäftlich oder politisch mit ihnen sich auseinandersetzen muß. Der tiefere Sinn des ganzen Sports ist ja doch die Erziehung zu einem freien und selbstbewußten Menschen, der nicht mehr Sklave von körperlichen Unzulänglichkeiten und nervösen Depressionen ist, sondern das Leben frischfröhlich packt wie seinen Wurfspeer oder seinen Diskus. Und die jungen Mütter, die durch solche Erziehung in ihrer Mädchenzeit physisch und psychisch gelenkig geworden sind, können uns dann auch ein neues Geschlecht heranbilden, das mehr Nervenkraft als das von 1917 bis 1918 aufweist; Mütter jeden Standes, bis in die Arbeiterwelt hinein, die dann trotz aller Not doch noch Lebensfreude und Lebenstrotz aufbringen und nicht nur immer mit erhobenem Finger dastehen: "Das schickt sich nicht!"
Unsere beiden Hochschulen für Leibesübungen - die Preußische mehr turnerisch, die Deutsche mehr leichtathletisch eingestellt - werden so in ihrer Art eine Pflanzstätte der Kultur. Der alte Streit, ob Berlin überhaupt ein Kulturzentrum sei, ist neuerdings wieder aufgelebt. In umfassendem Sinne ist es die Reichshauptstadt sicherlich nicht. Auf die Umfrage einer hiesigen rechtsstehenden Tageszeitung haben es alle befragten Schriftsteller, und zwar auch solche der Linken, heftig verneint. Berlin sei nur Börse auch für Kulturwerte. Eine linksstehende Tageszeitung hat dann die Kollegin wegen der Umfragen angegriffen, weil in dem "Madigmachen" der Vaterstadt System liege. Ach bewahre. Wir alle schätzen das unauffällige, bodenständige, arbeitsame Berlin, aber wir stoßen uns an dem vordringlichen, lauten, überfremdeten Berlin. Das ist nicht Kulturzentrum, sondern Fäulniszentrum des Reiches. Das vergiftet uns in Politik und Kunst und Literatur, das fühlt sich nur wohl in Bakterienkulturen der Unmoral.
Schreibt da die demokratische Abgeordnete Gertrud Bäumer einen ernsten Aufsatz über Bühne und Politik für ein Ullsteinblatt. Die Bäumer hat ein Herz für die sittliche Not unserer heranwachsenden Jugend, sie hat daher für das Gesetz zum Schutze der Jugend vor Schmutz und Schund gestimmt. Das hat ihr den infernalischen Haß des überfremdeten Berlins eingetragen. Was tut also das Ullsteinblatt ? Es setzt zu dem Namender Verfasserin Gertrud Bäumer die Bezeichnung hinzu: "Oberzensurrat am deutschen Schund- und Schmutzgerichtshof". Es gibt kein solches Amt, es gibt keinen solchen Gerichtshof, beides existiert nur in dem Geifer des Blattes, der unbedingt gegen diese hochgebildete Dame der eigenen Partei verspritzt werden mußte, nur weil sie einmal deutschem Empfinden Ausdruck gegeben hat. Dasselbe Ullsteinblatt hat sich aber natürlich schützend vor den "roten Genossentisch" auf dem Presseball gestellt und schweigt den Barmatprozeß schon seit Wochen tot.
Der Bäumersche Aufsatz galt Fritz v.Unruhs "Bonaparte", dem neuen Zugstück des Deutschen Theaters. Die Aufführung selbst ist meiningerhaft echt. Reinhardt hat sich die Kostümierung und Inszenierung was kosten lassen, um die Zuschauer zu locken. Ganz abgesehen davon, daß Werner Krauß den Napoleon gibt, eine Rolle, die dem kurzhalsigen und stämmigen Mann, unserem ersten Heldendarsteller, wirklich "auf den Leib geschrieben" erscheint. Wir hungern ja so nach Geschichte! An den Staatsbühnen wird sie so verjeßnert, daß es nicht mehr zum Aushalten ist; schön, da macht eben das Deutsche Theater das Geschäft. Unruhs "Bonaparte" hat es der Bäumer angetan, weil sie, die deutsche Republikanerin, das Stück für ein Drama geradezu unserer Gegenwart hält. Theam: Wie nach der Vernichtung der legitimen Autorität eine neue Ordnung sich festigt; und ob sie von der Dämonie eines Einzelnen oder von dem Massenwillen geschaffen wird. Gewiß, das alles wird in Fritz v.Unruhs Drama abgewandelt. Und modern ist es noch insofern, als es gelegentlich auch Leitartikelschlagworte unserer Tage mitten in der Historie aufflammen läßt. Der Herzog von Enghien wird von Napoleon dem Gericht überliefert. Aber sind Gerichte so schnell wandelbar wie Staatsformen ? "Ob es den ehemaligen Hofgerichtsräten passen wird, einen Prinzen dem Kriegsgericht auszuliefern ? . . . Ein Prinz, da fallen alle Paragraphen des Rechts auf den Bauch . . . Prinz, - und die vereidigten Richter des Volks streuen Kies, wo er geht". Das atmet Gegenwart, sagt die Republikanerin Dr. Gertrud Bäumer. Und Fritz v.Unruh ist ihr sowieso ans Herz gewachsen, denn neben Gerhart Hauptmann gilt er doch als "der" Dichter der Republik, seit er als Offizier die Ulanka abgelegt und , wie die Presse der Linken schreibt, zu einem Soldaten des Pazifismus und der Völkerversöhnung geworden ist. Ist er das wirklich ? Ach . . .
Ach, unsere politische Demokratie hat Poeten niemals verstanden. Sie hat Gerhart Hauptmann, dessen "Hanneles Himmelfahrt" länger leben wird als "Die Weber" oder gar "Vor Sonnenaufgang", zu ihrem Vortrab pressen wollen. Er reagiert darauf ebenso unlustig, wie er 1913 unlustig für das Hohenzollernreich das Jahrhundertfestspiel geschrieben hat. Für die Revolution war er - jeden Dichter entflammt zunächst alles Explosive - acht Tage lang begeistert, aber jetzt lehnt er es dem demokratischen Kultusminister Becker gegenüber sogar ab, in die preußische republikanische Dichterakademie einzutreten. Wer nun vor dem Kriege Fritz v.Unruhs "Offiziere" gelesen hat, diese vulkanische Auseinandersetzung zwischen kantischem Pflichtgefühl und Louis-Ferdinand-Geist, der wußte es: dieser Unruh sprengt alle Fesseln, der bleibt nicht beim Kommiß. Dann trat Unruh während des Weltkrieges wieder ein und stand seinen Mann, aber wieder mußte man sich sagen: weil er ein so großer Künstler ist, wird er hier innerlich fast verbluten. Er kam, bis in den tiefsten Nerv erschüttert, zurück, er warf sich dem Neuen in die Arme und wurde - der Herr Offizier, der Herr v.Unruh - als Renegat umschmeichelt. Er ist es nie gewesen. Er ist immer der Unruh geblieben. Die deutsche Bäumer wittert das noch nicht, aber in Bosels "Tagebuch", der internationalistischen Zeitschrift, wirft man ihn schon zu den Toten, weil er Schillersches Pathos hat, weil er als tätiger Fäulniserreger nicht mehr verwendbar erscheint. Und wenn man nun im Theater vor seinem "Bonaparte" sitzt, wird es einem allerdings klar, weshalb die Intellektuellen der Internationale sich von ihm abwenden, denn Schuld und Schicksal, Größe und Verfall der Persönlichkeit dröhnt da über die Bretter, - und die Masse der Vielzuvielen, auch wenn es nur fünf napoleonische Regimentskommandeure sind, kriegt einen dichterischen Fußtritt, nicht eine politische Beweihräucherung. "Die Revolution war der notwendige Düngerhaufen." O, o. "Das Volk, - weiß Volk überhaupt, was es will ?" Aber, aber, Herr v.Unruh! Oder folgendes Zwiegespräch:
Talleyrand: Wem sind wir treu ? |
Sagen die beiden, nachdem sie 200 000 Franken in die Tasche gesteckt haben, obwohl es damals noch keine Barmats und Kutiskers gab. Und selbst der reinste und lauterste Republikaner in dem Drama, Carnot, bricht in die erschütternde Klage aus:
"Hätten wir Glockengeläut wie die Enghiens . . . Reims! Rouen! Wir haben keine Versailles! . . . Jeder Stein trägt noch die Wappen des Königs! Jeder Beamte seinen Geist! Das macht die anderen so unbändig stark! Darum herrschen sie über uns - selbst aus ihren Gräbern!"
Aus dieser Erkenntnis heraus kommt Carnot zum Angebot der Kaiserkrone an Napoleon. Nicht etwa mit dem Weimarer Eberttriumph "Zerbrochen ist die schimmernde Wehr! Für immer dahin der Kaiserismus und Militarismus!" klingt Unruhs Drama aus, sondern mit der Krönung seines Helden. Und wenn Fritz v.Unruh nicht Kotau macht und gleich hinterher ein Stück schreibt, in dem Napoleon als Feind der demokratischen Menschheit zusammenbricht, dann hat er es mit den Ullsteinern und Genossen für immer verschüttet. Schon jetzt ist sein Publikum ein ganz anderes, nicht das, welches man sonst meist im Deutschen Theater sieht. Die Fonds-, Produkten- und Intellektbörse fehlt fast ganz; man sieht viel gläubige Gesichter der besten alten Gesellschaft über bescheidenen Toiletten. Ich denke nicht daran, deswegen Unruh etwa jetzt für uns "vom alten System" reklamieren zu wollen. Nur das sei bemerkt: Er ist nicht Parteimann geworden; er ist Dichter geblieben.
Die große Menge ahnt von diesen Kämpfen um einen, ach, nur offiziellen Poeten der Republik kaum etwas. Das ist für sie nicht gegenständlich genug. Zum letzten Akt des "Bonaparte" bin ich auf die Galerie gegangen. Die etwas gekürzte Bühnenausgabe schließt mit Napoleons Worten: "Grenadiere! Jagt den Pöbel aus meinen Höfen!" Auf der Galerie weiß man nicht recht, was man dazu sagen soll, lehnt aber in der Gruppe vor mir die demokratisch-republikanische Erläuterung ab. Man ist innerlich unsicher. Man möchte sich nicht blamieren. Am Ausgang gibt es noch eine laue Debatte, die mit der berlinisch-versöhnlichen Apostrophierung abgeschnitten wird: "Mensch, seit du geboren bist, braucht die Familie wahrhaftig nicht mehr in den Zoo zu gehen!"
3. März 1927 (Donnerstag)
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Mein Nachbar Friedensburg - Das Wunder Schermann - Empfangsabend im Bühnenklub - Sensation - Beim Eishockey - Die Wahl der deutschen Schönheitskönigin - Um den Bubikopf - Die neue Titelseuche.
Neulich auf einer Gesellschaft, beim Zusammenrücken gegen Schluß, ist plötzlich der Berliner Polizeivizepräsident Friedensburg, jetzt Regierungspräsident in Cassel, mein Tischnachbar. Interessanter Kopf, netter Plauderer, verblüffender Freimut; im übrigen: der Teufel hole ihn lotweise! Vermutlich denkt er so ähnlich auch von mir wie ich hier von ihm. Grund genug, um uns lächelnd zu unterhalten. Leute, die urprünglich dem monarchisch-nationalen "Verein deutscher Studenten" angehört haben, dann aber Novemberdemokraten oder Novembersozialisten geworden sind, sind mir unsympathisch, so sympathisch sie auch sein mögen. Und daß ich umgekehrt als unerschütterlicher Anhänger des "verruchten" alten großen Deutschlands, der das Theater der neuen Herren lächerlich findet, von ihnen ins Pfefferland gewünscht werde, ist ebenso erklärlich. Friedensburg erzählt von dem Phänomen, von dem zur Zeit alle Welt in Berlin spricht, von dem Psychographologen Raphael Schermann. Der hat der Polizei, die ihm allerlei Handschriftliches von Untersuchungshäftlingen vorlegte, in verschiedenen Kriminalfällen die fabelhafteste Aufklärung gegeben. Kürzlich habe die politische Abteilung des Polizeipräsidiums, sage ich da, ja auch von mir eine Schriftprobe verlangt; die möge sie nun doch dem Raphael Schermann geben, um endlich hinter meine Staatsgefährlichkeit zu kommen. Wird gemacht, sagt Friedensburg. Dieser Psychographologe sei wirklich geradezu Hellseher. Von ihm, Friedensburg, habe er nur die Namensunterschrift gesehen und daraufhin sofort überraschende Erklärungen gegeben. Erstens, daß Friedensburg außerordentlich musikalisch sei. Das stimme. Dann, daß er in einem besonders lieben Verhältnis zu seiner Mutter stünde. Stimme ebenfalls. Ferner, daß er für Diplomatie Neigung habe und auch schon längere Zeit diplomatisch beschäftigt gewesen sei. Auch das stimme. Weiß ich, weiß ich; Friedensburg ist im Kriege als Austauschgefangener nach Bern gekommen und, wie auch viele andere, dort in der Nachrichtenabteilung der Gesandtschaft verwendet worden. Nett, was ? Dieser Raphael Schermann wird nächstens von Hand zu Hand gegeben werden und allen Nachnovemberlichen bescheinigen, was für immense Staatsmänner sie sind; und daß nebenbei in ihnen ein Goethe, ein Klinger, ein Cagliostro schlummere.
Also überall hört man von Raphael Schermann. Es gibt schon ein Büchlein über ihn, ein begeistertes. Die Reklame läuft vor ihm her, wie einst vor Barmat. Er, der ursprünglich ein kleiner Versicherungsagent in Wien war, wird "gemacht". Binnen kurzem ist er vielleicht ein großes Geschäft. Unter allen Umständer ist er schon heute mondän; bei reichen Leutem wird er vor dem Kaviar und nach dem Benediktiner serviert.
Vor ein paar Tagen habe ich ihn zum ersten Mal gesehen. Im deutschen Bühnenklub, der ihn weiter managen will, bis er im Herbst öffentlich in Berlin auftritt. Großes Beisammensein in den schönen Klubräumen in der Joachimsthaler Straße von 11 Uhr abends ab. Alles da, Paul Heidemann, Erika Gläßner und andere Leute vom Bau, in der Hauptsache aber , um Justizrat Werthauer herum, die Alliierten und Assoziierten von Berlin W. Die erste Enttäuschung: jedem Ankömmling wird gesagt, daß heute nicht experimentiert werde. Es handele sich nur um eine Einführung des berühmten Gastes. Nicht weniger als fünf Redner besorgen das ausgiebig, darunter der Vorsitzende des Verbandes wissenschaftlicher Handschriftendeuter, und erzählen Wunderdinge von den Fähigkeiten und Taten Schermanns. Vor langen Jahren hat einmal ein junges Mädchen, eine pommersche Pfarrerstochter, das Bruchstück eines Briefes von mir an den damals bekanntesten Graphologen, Herrn P. Liebe in Augsburg, geschickt, der ihr mit meiner ausführlichen Charakteristik diente. Einen Satz habe ich noch behalten: "Hang zur Verschwendung bei notgedrungener Sparsamkeit." Vielleicht ist es deshalb, daß wir uns nicht geheiratet haben. Jedenfalls habe ich vor der Menschenanalyse nach Handschrift allerhand Hochachtung und verstehe es durchaus, daß große Unternehmungen niemand anstellen, ehe er so analysiert worden ist.
Aber Raphael Schermann ist nach den Erzählungen seiner Anhänger weit mehr als bloßer Graphologe. er kündet nicht nur Charakter und Anlagen, sondern auch Aussehen, Milieu, Schicksal, Pläne, Absichten. Sagt einem Defraudanten eine Mordabsicht zu, nachdem er ein paar Zeilen von ihm gesehen hat; prophezeit einem österreichischen Seekadetten während des Krieges das Kommando eines Unterseebootes und dessen Rettung durch ihn. Ja, er braucht - angeblich - nur mit der Hand über einen verschlossenen Briefumschlag zu streichen und - weiß schon, wie die Handschrift darin aussieht und was der Schreiber ist und was er tut und was er will. Mir ist nur eins unbegreiflich: warum dieser Wundermann nicht sich selber Tips an der Börse oder für die Klassenlotterie gibt und schon längst Millionär geworden ist. An seiner Stelle wäre ich sicherlich nicht ein langes Leben hindurch kleiner Versicherungsagent geblieben. Nun spricht auch Raphael Schermann selber und schildert einige Reklamefälle aus seiner Praxis. Toll, einfach toll. Den anwesenden Damen sträuben sich die Bubihaare, und die Schminke platzt von trocken fiebernden Lippen: endlich hat man wieder seine große Sensation. Der Mann selber ist es nicht. Er sieht gar nicht wie ein Fakir oder Prophet oder Hypnotiseur aus, er ist kein Mensch mit tiefliegenden Augen, der eine Trilby zum willenlosen Werkzeug macht; nein, vor uns steht ein behagliches Männchen mit Glatze und kurzem grauen Haar und Schnurrbart und Hängenase; das man, wenn man nicht um seine "Wunder" wüßte, allenfalls unter dem Typ Häusermakler einrangieren würde. Aber auf einem privaten Abend bei Werthauers hat Schermann neulich schon mehr prickelndes Aufsehen erregt, als wenn Richard Strauß oder die Großfürstin Anastasia oder Mussolini herumgereicht worden wäre. Das Unbegreifliche, hier wird's Ereignis; das Wunder ist nicht nur des Glaubens liebstes Kind, sondern erst recht liebstes Kind des modernen Unglaubens.
Nur lechzt man nicht nach Erkenntnis. Man lechzt nur nach Erregung.
Und es ist in der Großstadt ein gesellschaftlicher Triumph, wenn man eine Erregung gehabt hat und davon erzählen kann, die andere noch nicht gehabt haben. Das Dabeigewesensein ist alles. Man geht als Premièrentiger zu jeder Erstaufführung, denn man ist es seiner Reputation schuldig. Man hockt nie auf dem Rade, aber im ersten Rang bei jedem Sechstagerennen. Man bezeichnet sich als Sportsmann, obwohl man nicht Sporttreibender, sondern nur Sportzuschauer ist. Mit flatternden Nerven. Das ganze Geheimnis des Massenbesuchs dieser Veranstaltungen, bis zu 6000 Besuchern in den Sporthallen, bis zu 30 000 im offenen Stadion, ist der Massenwunsch nach einem Erregungszustand. Wir hatten vor dem Kriege drei Eispaläste in Berlin. Einer dient jetzt der Revue, einer dem Variété, nur der dritte, der Sportpalast in der Potsdamer Straße, sieht noch das fröhliche Getümmel des Jungvolks auf der blanken Bahn. Eine Viermillionenstadt, meint man, könnte mehr Eislauffläche vertragen, besonders in einem so milden Winter wie dem diesjährigen, in dem alle Freibahnpächter Bankerott machen. Weit gefehlt. Schon der Sportpalast allein kann nur mit Mühe den Betrieb aufrechterhalten, und nur dann, wenn er den Zuschauern allabendlich ein farbenprächtiges Ballett und alle paar Tage einen aufregenden Wettkampf vorführt. Darunter das schönste: Eishockey. An beiden Schmalseiten der glitzernden, frisch gesprengten und frisch gefrorenen Fläche die Tore wie auch beim Fußballspiel, nur daß keine "Elf" hüben und drüben die Mannschaft bildet, sondern eine "Sechs": je ein unförmlicher Torwächter, je zwei Verteidiger, je drei Stürmer; diese von einer gleitenden Beschwingtheit, die das ästhetisch Entzückendste unter sämtlichen Sportarten ist. Der Unparteiische wirft den handtellergroßen flachen Kegel aus Hartgummi zwishen die Spielführer beider Parteien, die mit ihren Schlägern - den Krummstäben - wartend dastehen. Klippklapp! Schon fliegt die Scheibe daher, schon hat einer sie zurückgeschlagen, schon stößt ein dritter sie seitwärts, spielt sie einem vierten zu, der sie in windender Fahrt vorwärts schiebt, in blitzschneller Volte um einen Verteidiger herum, schon gleitet der Stürmer in die Nähe des feindlichen Tores, dessen Cerberus sich strafft, da steht aber auch schon das ganzen Publikum, Parkett und Rang und Loge und Galerie, aufrecht da, ohne auf fallende Stühle, verschütteten Mokka, zerdrückte Toiletten zu achten, und brüllt, 5000, 6000 Mann, unisono:
"Schuß! Schuß!"
Der Schrei kracht, der Schuß fliegt, die Halle fiebert in Paroxismus. Da, da: der Schuß sitzt im Tor! Nein: der Gralshüter hat ihn abgewehrt, mit dem Schläger, mit dem Fuß, mit dem Bauch, was weiß ich. Bravogebrüll. Toben. Eine Dame im ersten Rang wird blaß, preßt die Hand auf das wildschlagende Herz, nimmt eine Beruhigungspille mit einem Schluck Prince of Wales. Ein Herr stippt weltvergessen den Daumen in seine Portion Halbgefrorenes und brüllt noch immer unentwegt sein Bravo. Sensation, Sensation! Der große Rausch überkommt alle. Dann geht das Spiel weiter. Ob die Prager, ob die Berliner Mannschaft besser ist, das ist der Masse gleich. Man sieht nicht Prag, nicht Berlin, man stiert nur auf den fabelhaft schnellen Wechsel von Chance, Abwehr, Angriff, Erfolg, Fehlschlag, Fall, Stoß, Entwischen, Vorprellen. Man kann kaum folgen. Bunte Eidechsen flitzen über spiegelnden Marmor, so sieht es aus. Ein Mückenschwarm tanzt. Eine Fliegerschlacht braust. In alten Zeiten fragte man in Berlin: "Was ist schneller als ein Gedanke ?" Und die Antwort lautete: "Een Droschkenjaul zweeter Jüte; man denkt, er fällt, un da liecht er schon!" Heute ist das Eishockey wirklich schneller als das Auge und als der Gedanke und als - das Herz. Hämmernd und keuchend galloppiert es hinterdrein. O, o! Glückstrahlend ob der unerhörten Erregung verlassen die Massen allmählich den Saal.
Über Nacht ist er mit Parkett überbaut. Am nächsten Abend findet vielleicht ein großes Ballfest hier statt. Am übernächsten Vormittag läuft man wieder Schlittschuh. Der Kontrast peitscht auf. Eine Omelette aux surprises schmeckt an sich nicht besonders; aber daß in dem heißen Backwerk sich Gefrorenes birgt, das ist es. Und wieder eine neue Sensation: im Sportpalast wird die deutsche Schönheitskönigin gekürt. Die Sommerkönigin, die Modekönigin, die Filmkönigin, die Schönheitskönigin, es ist immer dasselbe. Höchste Zeit, daß die republikanische Beschwerdestelle eingreift. Überall werden von jedem amtlichen Porticus die Kronen und Adler weggemeißelt, weil die neuen Herren uns vor der gefürchteten Verführung bewahren wollen. Aber hier werden jungen Damen Kronen aus schimmerndem Blech mit gläsernen Edelsteinen aufgesetzt und Hermelinmäntel aus - chinesischer Ziege umgehängt und Hofdamen gestellt. Skandal. Ewig der gleiche Skandal. Kaum hatten wir unsere Flotte verloren, da nahm das Wort "verankern" von uns Besitz; und seit unsere wirkliche Königin im Exil gestorben ist, demonstrieren wir uns heiser für allerlei Pseudoköniginnen. Also Hilde heißt das kleine, nette Pusselchen, das erwählt worden ist. Stammt aus Ostpreußen, aus der Familie eines braven Volksschullehrers, hat bisher als junge Stütze sich in Berlin durchgeschlagen. Knapp siebzehn Jahre alt. Dunkelblond. Und - darf ich's sagen ? - unverschnitten, kein Kurzhaar, sondern dicker Knoten im Nacken. Ist es "die" deutsche Schönheit ? Weiß nicht. Glaube Schönere zu kennen. Aber die stellen sich nicht im Badetrikot stundenlang vor messende und abtastende Preisrichter und nachher noch vor ein tausendköpfiges Publikum. Hilde ist mit einem Berliner Konditorsohn "so gut wie verlobt". Der arme Kerl. Über ein Kleines wird er seine Hilde wohl nicht mehr wiedersehen.
Übrigens muß ich lachen, wenn man mir nachsagt, ich hätte eine Idiosynkrasie gegen Bubiköpfe. Bewahre; ich habe mit manchem Bubikopf schon köstliche Stunden vertanzt und verplaudert, ich weiß auch bestimmt, daß ein hübsches Gesichtchen von jeder Frisur umrahmt sein kann, nur schickt sich eines nicht für alle, und besonders möchte ich meine lieben Leserinnen, die noch nicht geschoren sind, vor einem Irrtum bewahren. Nämlich vor dem, daß die Herrenwelt auf Bubiköpfe "fliegt". Daß es nicht so ist, sieht man ja - wieder einmal - im Fall Hilde Quant. "Aber der Bubikopf ist ja so bequem!", sagt mir eine junge Dame. Jawohl, sehr bequem. Diese junge Dame ist berufstätig, muß täglich um acht im Bureau sein und will immer nett aussehen, nicht wie ein geschorener Hammel, also läßt sie sich jeden Morgen, buchstäblich jeden Morgen, um einhalb acht beim Friseur ondulieren, sowie die Ladentür geöffnet und die Reinmachefrau noch nicht einmal verschwunden ist. Sehr bequem. Eine andere, eine junge Lehrerin, war im vorigen Herbst vier Wochen im sogenannten Kinderland, der Schulkolonie auf dem Schießplatz Zehrensdorf. Bilder von dieser Berliner Freiluftschule erscheinen in den Familienblättern. Jetzt bekommt das "Daheim" unter Bezugnahme darauf einen Brief aus - Brasilien; mit der Bitte um Weiterbeförderung an die "nette junge Lehrerin mit dem blonden Haarknoten." Der Schreiber, ein vermögender Farmer, sucht eine echt deutsche Frau. Ei, ei.
Über alles weitere: Diskretion Ehrensache.
"Pö, Farmer!", höre ich sagen. Ausgerechnet Farmer im Kaffeelande Brasilien. Man kann doch nicht "Frau Farmer" auf die Visitenkarte setzen. Na, dann nicht; aber vielleicht auf gut Deutsch: Frau Gutsbesitzer. Wenn überhaupt ein Titel nötig ist. In England ist man nur Frau Soundso, auch wenn man einen Mann von vielen Graden hat.
Aber bei uns ist man leider auf das Aushängeschild erpichter, als auf die Persönlichkeit. Zwar hat die Republik verfassungsgemäß die Titel abgeschafft, dafür aber für Dienststellungen eine Menge neuer hinzuerfunden. Es gibt da ganz wunderbare Sachen: Schiffahrtspolizeibetriebsassistent, Polizeipräsidialoberinspektor, Schiffsingenieurschuloberlehrer. Es ist mindestens so wie in der guten, verrückten, alten Zeit. Da lernte ich mal in München ein sehr liebes Mädchen kennen, das mit Stolz erzählte, es sei eine königliche Hofbodenwichserstochter.
10. März 1927 (Donnerstag)
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