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Im Lustgarten vor dem Dom - Kaisers Geburtstag - Sigsfeld-Gedenkfeier - Presseball - Am Genossinnentisch - Wie der Blüthner-Flügel gewonnen wurde - "Sie" wird modern - Meine Vernehmung.
Ein herbfrischer Sonntag. Nach dem Domgottesdienst. Nun ist die Zeit der Demonstrationen. Der ganze sogenannte Lustgarten, also der große Platz zwischen Dom und Schloß und Museum, ist von flatterndem Rot umsäumt. Man könnte meinen, es seien purpurne Königsstandarten. Marschmusik ertönt, Schalmeien locken, Hörner jubilieren, lange Kolonnen junger Menschen treten im Gleichschritt. Es sind - Kommunisten. Sie demonstrieren. Für wen oder gegen wen, das ist eigentlich ganz gleichgültig. Man sagt: gegen den schwarz-blauen Block. Aber was das ist, wissen die wenigsten. Ich frage einen jungen Radfahrer, was das alles bedeute, und da sagt er: "Wia sin Aabeeda un wia wolln den Aabeedastaat!" Schön. Die Arbeiter wollen den Arbeiterstaat. Ich könnte mir auch denken, daß die Landwirte den Agrarstaat wollen. Daß überhaupt jeder Stand, jede Klasse sich durchsetzen will. Aber mir ist nicht ganz klar, weshalb die Demonstranten wiederholt "Hoch Moskau!" rufen. Und warum auf verschiedenen Riesenplakaten steht: "Hände weg von China!" Es ist doch zu putzig, daß diese paar tausend aufgeplusterten Männerchen und Weiberchen aus der Viermillionenstadt Berlin glauben, irgendwo in der Welt, etwa in der Londoner Downingstreet, werde ihr Hände weg gehört. Daß sie sich überhaupt einbilden, Geschichte machen zu können. Den ungeheuren Schwindel, der Masse einzureden, sie sei was, hat schon Goethe in ein paar Versen glossiert,aber der Schwindel kommt immer wieder, denn die Masse will betrogen sein.
Gelegentlich sperrt einer freilich Mund und Augen auf, wenn er sieht, daß außerhalb seines Parteipferchs noch eine ganz andere Welt existiert. Da ist dieser Tage ein Kommunist "spaßeshalber" in den Dom selbst zu einem Gottesdienst gegangen und berichtet erstaunt und entrüstet darüber in seiner Zeitung. Ein paar Bourgeois in guten Pelzen seien dagewesen, aber alles andere, die große Masse: lauter Proleten, lauter Proleten! Daß es Millionen nichtsozialistischer christlicher Arbeiter gibt, ahnen die im Parteipferch zumeist nicht. Und erst recht nicht, wieviel Königstreue noch bei alten ganz armen Leuten zu finden ist, die niemals Bourgeois im Klassensinne waren. Auf dem Örtchen eines Bierkellers im Westen steht neulich, am 26. Januar kurz vor Mitternacht, der Aufwärter, den man in Berlin den Mann im Winkel nennt; oder mit wehmütigem leisen Spott den Sechserrentier, weil er von den Herren, die die Toilette aufsuchen, meist ein Fünfpfennigstück erhält. Der Alte hält in der einen Hand eine Flasche Bier, in der anderen seine Uhr, und wartet anscheinend gespannt. Da: es ist zwölf. Da setzt er die Flasche an, trinkt und sagt: "Nu is Kaisers Geburtstag!"
In dem Leibblatt der Berliner Angstrepublik lese ich zwei Tage später, noch nie seien so viele Briefe und Telegramme mit Glückwünschen in Doorn eingegangen wie diesmal. Merkwürdig, höchst merkwürdig. Und dasselbe Blatt trompetet um Hilfe, weil angeblich das alte Palais Kaiser Wilhelms I. monarchische Agitationszentrale werden solle. Davon ist freilich kein Wort wahr. Es bedarf dessen gar nicht, denn die Erinnerung allein ist mächtig genug und überdauert Geschlechter bis zur einstigen Erfüllung. Offiziell gepflegt wird die Erinnerung dabei kaum, meines Wissens hat nicht einmal der Nationale Klub diesmal am 27. Januar, wie er es noch vor wenigen Jahren getan hat, eine Feier veranstaltet. Man begnügt sich in der kargen Zeit mit größeren Zwischenräumen; und man feiert nicht, aber man vergißt auch nicht. Gelegentlich gedenkt man in schlichter Form des einen oder anderen Mannes aus den heroischen Tagen des deutschen Volkes. Da hat am 1. Februar mein verehrter alter Freund Major a.D. Kaehler von der Luftfahrzeuggesellschaft im Flugverbandshaus, Blumeshof 17, am Landwehrkanal, eine kleine Gemeinde um sich versammelt, die dann, nach seiner Gedenkrede im Saal, mit ihm Kränze an einem Gedenkstein im schmalen Vorgarten des Hauses, an der Ecke gegenüber dem Ufer, niederlegt. Autos rasen vorüber, Menschen hasten vorüber, kaum jemand in Berlin achtet sonst auf das Mal. Das Bronzerelief weist Züge eines Offiziers in Friedensuniform. Es ist der Luftschifferhauptmann Hans Bartsch v.Sigsfeld, der vor 25 Jahren auf einer Ballonfahrt verunglückte. Vor einem in unseren Breiten kaum je derart erlebten Orkan fegte er dahin und erlitt bei der Landung auf gefrorenem Sturzacker vor Antwerpen den tödlichen Unfall. Einer der vielen, die unter dem Kaiserreich, ohne daß Aufhebens davon gemacht wurde, selbstlos für deutsche Größe arbeiteten. Seinem Erfinderhirn entsprang der Drachenballon, den endlich im Weltkrieg die Entente den Deutschen nachmachte. Er war unter denen, den sehr wenigen, die sofort Zeppelin begriffen, und hat dessen erstes Luftschiff gestartet. Er hat als erster die Funkentelegraphie dem Heere dienstbar gemacht und es geschafft, daß sie draußen in Südwest das siegreiche Gefecht am Waterberg für uns ermöglichte. Wie Sigsfeld war, mag eine kleine Geschichte aus seinem Leben zeigen. Er hat die Kaiserparade auf dem Tempelhofer Felde mitgemacht und reitet an der Spitze einer Luftschifferkompagnie heim. In Gedanken versunken; der Kopf arbeitet immer. In der Kaserne legt er Schärpe und Epauletts nicht erst ab, sondern setzt sich, so wie er da ist, in Paradeuniform, sofort über seine Zeichnungen und Rechnungen. Abends um zehn meldet sich schüchtern der Bursche, ob der Hauptmann nicht etwas essen wolle. Morgens um fünf kommt der Bursche, seinen Herrn zu wecken, und findet ihn noch so über die Arbeit gebeugt vor; da erhebt sich Sigsfeld, zieht sich um und geht zum Dienst. Das ist der deutsche Militarismus gewesen.
Die Welt außerhalb der Kaserne sah nur seine "glänzende" Seite auf Bällen und Gesellschaften. Sie hörte Rosenmontagsgeschichten von jungem Blut. Sie ergötzte sich an den Leutnantskarrikaturen der Witzblätter. Dahin, dahin! Heute ist, tschingtara, klingling, Liliencrons "Schmetterling" aus der Öffentlichkeit so gut wie verschwunden. Auch auf der alljährlichen größten Gesellschaftsschau Berlins, dem Presseball, gab es diesmal nur sehr wenig Litzengrau. Die Republik liebt den großen Gleichmacher, den Frack, den alle tragen: der Prominente und der Kellner und der Schieber. Der Professor an der Universität und der sozialdemokratische Barmatstipendiat und Stresemanns Geheimpolizist haben ihren Frack vielleicht von derselben Stange gekauft.
Licht und Farbe bringt nur die Damenwelt herein. Der Presseball ist der große Modentag, an dem nicht nur die Damen, sondern auch die Modellfirmen einander auszustechen bestrebt sind. Diesmal sind sie uns mit Exzentrischem ferngeblieben. Ein ganz klein wenig kühn erscheint nur die Filmdiva, die sich Gräfin Esterhazy - nennt; mehr Ester als Hazy, und im Grafenkalender sucht man sie auch vergeblich. Vor vorn, man ist verblüfft, sieht man nahezu eine Nonne vor sich, hochgeschlossen in schwarzem Panne, lange Ärmel. Dafür entschädigt die Rückenansicht ungemein reichlich, die ein Décolleté bis zum Lendengrübchen zeigt. Im übrigen ist Stilkleid Trumpf. Jeder Dame ihr eigener Stil, in leiser Anlehnung an historische Moden. Am anmutigsten - Anmut ist bekanntlich die Schönheit in der Bewegung, und das haben nur vollendete Damen heraus - wirken die beiden Cousinen Mady Christians und Doktor Christa Tordy, beide in weißem Tüllgewoge (fast 200 Meter waren dazu nötig!) bis auf die Knöchel. Brigitte Helm, die jungentdeckte "Maria" des Metropolisfilms, in Weiß und Gold lang eingeschmiegt; bildhaft die zarte Heilige aus einem Miniaturenbuch. Unter den vielen Damen der Honoratiorenlogen nach meinen Begriffen die schönste des ganzen Festes die junge Frau v.Neindorff, die "kommende" Sängerin, die das Schluchzen der Nachtigall in ihrer Kehle hat. Sie stammt von drüben, aus dem ehemaligen Zarenreich, in dem so manche sinnbetörende Blüte sich erschlossen hat. Die Neindorffs selbst sind alter preußischer Offiziersadel. Auf dem Presseball, wo die Parole "Sehen und sehen lassen!" gilt, fallen einem so auf Schritt und Tritt die angenehmsten Erscheinungen oder wenigstens die geschmackvollsten Toiletten in die Augen. Ich denke aber nicht daran, mit den Modeschilderern zu konkurrieren und viele Dutzende bekannter Namen als Kleiderstöcke herzuzählen, wenn ich sie auch alle vergnüglich gemustert habe. Meine größte Freude ist doch nur der "rote" Genossinnentisch vorn an der Logenrampe im Marmorsaal gewesen, wo Herr Gradnauer und Frau Wallauer den lebhaften Ton angaben und Frau Reichstagspräsident Loebe, die zu solchen seltenen Gelegenheiten von Breslau herüberkommt, mit einem Messer die Mayonaise zu den vielen russischen Eiern geschickt in ihren Mund zu löffeln verstand, ohne sich zu schneiden. Das ist nicht leicht. Aber man lernt's, wenn man schon im achten Jahr zur regierenden Kaste gehört. Einmal hat bei einer Staatsgelegenheit Hindenburg sie als Tischdame bekommen und ihr nachher korrekt die Hand geküßt. Das ist ihm von altmodischen Leuten verübelt worden. Aber warum denn ? Soll er sich auf einmal anders benehmen, als er es schon als Kadett gelernt hat ? Frau Loebe ist doch sonst eine kreuzbrave Frau; und es hat in der alten Armee keinen Hauptmann gegeben, der beim Kompagnieball nicht den ersten Tanz von der Frau Feldwebel erbat. Nur ist jetzt die Geschichte freilich ein bißchen durcheinandergekommen. In der Honoratiorenloge sitzt ein früheres Mädchen für alles, jetzt Frau eines deutschen Diplomaten, und schüttet sich andauernd Sekt in den Hals. Der ausgehungerte Droschkenkutscher aber, der mich im Auto hergefahren hat, der war einmal Rechtsanwalt.
Die alte Erfahrung, daß in der Tombola der Blüthnerflügel fast immer einem jungen Ehepaar zufällt, hat sich übrigens auch diesmal wiederholt. Der Redakteur einer Berliner Tageszeitung - am 29. darf man schon knapp sein - sagt zu seinem Kollegen, Herausgeber einer Zeitschrift: "Du, pump' mir mal fünf Mark! Ich möchte auch ein Los nehmen!" Geht hin, kauft sich dieses eine Los und weiß zwei Minuten später, daß er den Blüthnerflügel für 3150 Mark gewonnen hat. Jetzt will er nebst seiner jungen Gattin bestimmt Klavierstunden nehmen. Gott segne die Kunst.
Im ganzen hat der diesjährige Ball der Sechstausend, jener Sechstausend, die zum Sehen oder Gesehenwerden verpflichtet sind, etwas unbedingt Ausgeglichenes gehabt. Nicht nur die Toiletten, sondern auch die Frisuren: es fehlt das Groteske. Kaum eine Perücke zeigt sich. Und der "Herrenschnitt" - nur der Bildhauerin Renée Sintenis steht er wie angegossen zu ihrem ganz männlichen Dantekopf - ist verschwunden; fast alle Kurzhaarmädchen tragen diesmal angesteckte Locken im Nacken. Umgekehrt versuchen es jetzt in Berlin auch Damen, die bisher bewußt am Alten hingen, sich den neuen Moden anzugleichen. In einem Parlament der Reichshauptstadt gibt es eine Parlamentarierin, von der man - als einziger ihres Berufes - wohl sagen kann: sie ist jung und schlank und knusprig. Auch aus guter Familie; ein Onkel war Generalleutnant in der Armee. Aber sie trug immer krankenschwesterhaft lange dunkle Kleider. Direkt zum Drauftreten. Ich habe schon manchmal gedacht: gebt mir sie für vier Wochen in Obhut, und ich mache Euch einen entzückenden Schmetterling aus ihr. Und nun beginnt schon das Wunder der Entpuppung. Im Parlament macht alles Stielaugen. "Sie" trägt ein kurzes Kleid! "Sie" hat ja ganz wohlgeformte Beine! Sonst ist es wahrlich kein Vergnügen, in diesen Kompromißhallen, in denen um Überzeugungen und Portefeuilles geschachert wird, stets denselben ausgepichten Politikern zu begegnen. Auch das neue Reichskabinett der Koalition mit der Rechten, in dem diese angeblich hat Urfehde schwören müssen, ist manchem antiparlamentarisch eingestellten Menschen einn Greuel. Da ist denn solch Anblick ein Labsal. Friedrich der Große hat einmal gesagt, set er die Menschen kenne, liebe er die Hunde. Heute könnte man auf den Gedanken kommen, das Wort zeitgemäß zu variieren: "Seit ich die Männer von heute kenne, liebe ich die Frauen!"
Hoffentlich werden mir solche Auslassungen nicht als Hochverrat gegen die Republik ausgelegt. Nach den vielen Haussuchungen bei mir sollte es den Leuten allmählich bekannt sein, daß ich niemals mit irgendeiner Verschwörergruppe etwas zu tun gehabt habe, überhaupt nichts Heimliches tue; was ich denke, das sage ich sehr offen. Trotzdem bin ich "in eigener Angelegenheit" dieser Tage zur politischen Polizei vorgeladen worden, unter der irrsinnigen Ausflucht, es werde ein kommunistischer Verbrecher meines Namens gesucht, und es gelte festzustellen, daß ich mit ihm nicht identisch sei. Dazu müsse ich - eine Schriftprobe hergeben. Bitte sehr.
Ein paar Barmatiden unterhalten sich über den Fall. Sie finden es unerhört, daß es der Republik noch nicht gelungen sei, mich unschädlich zu machen.
"Der hat eben kolossales Schwein!"
Jawohl. Der eine hat es. Der andere ist es. Das ist der ganze Unterschied.
3. Februar 1927 (Donnerstag)
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Verschwundene Witzblatt-Typen - Berliner Akkordmaurer - Schwerathleten des Handwerks - "Ich suche Stuttgart" - Unsere kleinbürgerlichen Wohnungen - Holländische Wohltätigkeit - Audienz beim Prinzgemahl - Mackensens Rede - Schuld und Tragik.
Die Schwiegermutter, der Leutnant, der Schusterjunge, der Professor sind als ständige Typen aus modernen Witzblättern verschwunden. Aus einem sehr einfachen Grunde: ihre manchmal grotesken Urbilder existieren auch im Leben kaum mehr. Die Damen von heute, die eine verheiratete Tochter haben, können oft für deren ältere Schwester gehalten werden, möchten es jedenfalls und machen nicht mehr das bekannte grantige Gesicht. Der Leutnant hat viel von dem göttlichen Leichtsinn glücklicherer Zeiten verloren, und sein "äh! äh!" und sein Monokel kultivieren heute die Börsenjünglinge. Der Schusterjunge heußt heute Laufbursche und stolziert im seidenen Selbstbinder einher, hat also Würde und keinen Spaß mehr am Gassenbubenton. Der Professor schließlich ist nicht mehr versonnen und zerstreut, sondern ein klarblickendes Weltkind mit vollem Verständnis für den Wert eines Regenschirms.
Aber wie steht es mit dem Maurer ? Mit dem Maurer unserer Witzblätter ? Mit dem Maurer, der zunächst schnupft, dann trinkt, dann frühstückt und nachher auf die Mittagspause wartet ?
"Die Arbeet ist keen Frosch, die huppt ja nich wech!", pflegte er früher zu sagen, wenner sie immer wieder verschob. Die Bauten wurden eigentlich nie zum angegebenen Termin fertig. Aber in der jetzigen Zeit fällt einem auf Schritt und Tritt das geradezu amerikanische Tempo auf, in dem sie aus der Erde wachsen und sozusagen gleich fix und fertig; im neuen Flügel des Europahauses am Askanischen Platz in Berlin werden im Erdgeschoß in den Läden schon Kunden bedient, während der erste Stock erst im Rohbau steht und der zweite und dritte nebst Dach noch gar nicht da sind. Amerikanisch mutet auch der Umbau der Oper Unter den Linden an, deren Bühnenhaus nicht aufgestockt, sonder - untergestockt wird: die zwei Stockwerke unten sind völlig wegrasiert, der massige Oberbau schwebt anscheinend in der Luft, wird durch ein paar Stahlmaste gestützt. Ganz amerikanisch sind wir freilich noch nicht geworden, wir kennen noch nicht das Schuften am "laufenden Bande", aber wir nähern uns dieser hetzenden Art. Der Lohnmaurer, der sein bestimmtes Wochengeld kriegt, ja, der arbeitet zuweilen noch "seine ruhige Kugel", wie er es nennt, aber trotzdem, wie ich es auf allen Berliner Neubauten feststellen kann, seine acht Stunden täglich durch fast ohne Pause. Da ist schon der Polier hinterher, denn seine Stellung hängt davon ab; und damit, da das Angebot an Maurern immer noch größer ist als die Nachfrage, auch die Stellung der Arbeiter. Geradezu Kampf, aufreibender wilder Kampf aber ist in der Großstadt das Schaffen des Akkordmaurers - das sind die meisten - mit seinen bis zu 1600 vermauerten Steinen im Achtstundentag. Wer nicht schnell genug mitkann, der wird von den Kollegen aus der Kolonne hinausgeworfen. Es geht wie ums Leben, ohne Rast, ohne Ruh, nur eine Flasche Bier nach der anderen wird eilig heruntergestürzt, verdampft aber sofort im Arbeitsschweiß. In der Umgegend Berlins gibt es ganze Dörfer, die von Maurern bewohnt sind, wo Vater, Sohn, Neffe und Verwandtschaft allesamt zu einer Akkordkolonne gehören und gemeinsam sich verdingen, wie der Artelj in Rußland, und einer von ihnen führt als sogenannter "Schieber" ihre Geschäfte, schließt mit den Baumeistern ab, bestimmt auch über Einstellung oder Entlassung von Akkordarbeitern, die den Polier nichts angeht. Sie sagen nicht mehr: Akkordarbeit, Mordarbeit. Sie haben sie sich frei gewählt, sie sind stolz darauf, daß sie durch die mit zusammengebissenen Zähnen und zum Bersten gespannten Muskeln erreichte Höchstleistung bis zu 120 Mark in der Woche verdienen. Sie lassen auch während der acht Stunden nicht locker, schwatzen nicht, denken nicht, hasten nur, sind dann, wenn die Schicht um ist, selbstverständlich totmüde und bedürfen am Abend sicherlich keines Schlafmittels. Dafür machen sie gelegentlich mal einen ganzen Regentag blau. Das können sie sich leisten.
Es sind ganz fabelhafte Leute, diese Großstadtmaurer von heute; wenn man sieht, wie Riesenbauten unter ihren Händen emporschießen, zieht man unwillkürlich den Hut. Sie sind die Leichtathleten des berufes, die Leute der großen Geschwindigkeit, das vollkommene Gegenbild zu dem bedächtigen Menschen, den unsere Witzblätter früher zeichnete. An körperlicher Kraft aber ihnen weit überlegen, sozusagen die Schwerathleten, das sind die "Akkordhucker", die Steinträger, die bis zu eineinhalb Zentnern schultern, und das unablässig immer wieder den ganzen Tag. Wie oft sah ich solche Steinträger früher die Gerüstleitern ruhig emporsteigen, mit einer verhältnismäßig kleinen Molle voll Ziegelsteinen auf der Schulter. Heute verliert man keine Zeit. Kaum stehen die Grundmauern da, so wird der Baufahrstuhl montiert: die eine Huckerkolonnen bringt an ihn die Steine heran, die andere nimmt sie oben ab und trägt sie auf wagerechten Bretterstegen weiter. Der Maurer sieht auf den bärenstarken und daher oft großmäuligen Hucker etwas herab und hält ihn für geistig zurückgeblieben, obwohl er erst recht Großverdiener ist. Aber lange kann er es nicht sein. Das Steinetragen nimmt einen arg mit; nach einigen Jahren wechseln die Leute meist ihren Beruf und werden einfache Lohnarbeiter.
Die Frau braucht, wenn der Mann das Seinige zusammenhält, nicht auf Arbeit zu gehen. Ein richtiges gesundes Familienleben, ein gutes Hausfrauenleben kann sich entwickeln. Es gibt glückliche Kinder. Es kommt Behagen herein. Bücher erscheinen und mehren sich, der Rundfunk als lebendiges Konversationslexikon regt an. Hält wohl manchmal auch schon zu sehr fest.
"Frau, gibt's noch nicht bald Essen ?"
"Einen Augenblick, ich suche gerade Stuttgart!"
"Das Kind hat sich bloßgestrampelt."
"Ja doch, gleich habe ich jetzt Stuttgart!"
Wenn nur das Wohnen in den eigentlichen Arbeitervierteln Berlins erträglicher wäre. Wir haben keine vollkommenen Elendsquartiere wie in London und New York und anderen Weltstädten, wo sie dem Fremden von Polizisten gezeigt werden, wir sind auch aus dem gröbsten Dreck nach Krieg und Revolution wieder heraus, aber es könnte vieles noch besser sein. Die Berliner Luft hat soviel Schwefelsäure, daß sie den Marmor unserer Denkmäler zerfrißt; und unsere Lungen sind nicht einmal von Stein. Dazun gibt es in den "billigeren" Wohngegenden noch viele Häuser ohne elektrischen, ja sogar ohne Gasanschluß, mit einem für eine ganze Anzahl von Familien gemeinsamen Abort auf dem Treppenpodest, unhygienish von oben bis unten, stinkend und doch zugig, dabei Verfall in allen Stockwerken. Die Hinterhöfe aber voll von Werkstätten und Fabriken, voll von Lärm und Ruß.
Private Wohltätigkeit kann diese Zustände nicht ändern, sie hat ihnen gegenüber fast einen leisen Beigeschmack von Lächerlichkeit, aber wo zu dem Eingepferchtsein noch wirkliche Not hinzukommt, da ist natürlich jede helfende Hand willkommen. Aus einem viel glücklicheren Lande, als es das unserige ist, aus den Niederlanden, hat unser sechs Jahre lang blockiertes Volk viel Gutes reichlich empfangen. Die Mynheeren haben um so nobler gegeben, als einer da war, der freundlich zu bitten und zu werben verstand, der deutsche Prinzgemahl der Königin Wilhelmina. Manche Holländer haben das Geben eingestellt, als die ersten deutschen Valutaschieber in ihre Bäder kamen und dort zu protzen begannen, aber der Prinz Heinrich selbst hat nicht nachgelassen. Er, der Mecklenburger, will uns zeigen, daß er in Holland sein Heimatgefühl für Deutschland nicht verloren hat. Zweimal jährlich nimmt er daheim Urlaub und kommt auf ein paar Wochen her, bringt ganze Wagenladungen von Lebensmitteln, Kleidern, Bargeld mit und läßt es von verständigen Helfern des Niederländisch-Deutschen Hilfskomitees verteilen. Dabei sieht er sich auch Berlin wieder mal an, besucht deutsche Theater oder sitzt fröhlich und unerkannt beim Bockbiertrubel im Kindlbräu an der Joachimsthaler Ecke. Er ist das, was der Berliner "eine Seele von Mensch" zu nennen pflegt. Und bei dem großen Wohltätigkeitsfest, das jeweils im Esplanade veranstaltet wird, ist er unermüdlich, obwohl ich mir vorstellen kann, daß es vergnüglichere Dinge für ihn gäbe, als hier den Jaques Bonhomme für tausend zum Teil wildfremde Leute zu spielen, die das Eintrittsgeld bezahlt haben. Vielfach ist es hier dassselbe Publikum wie auf den Baltenabenden; man sieht viel Johanniterkreuze. An äußerer Unterhaltung wird mehr, wird keckeres geboten, nicht nur nationale Ringelreigen rotbackiger holländischer Meisjes, sondern diesmal beispielsweise auch ein ganz übermütiger Grotesktanz Lilian Harveys. Man sieht außer dem Prinzen der Niederlande noch seinen Bruder Adolf Friedrich, den "Afrikaner", man sieht den Fürsten zu Wied, der einst ein kurzes Gastspiel als König von Albanien gegeben hat, man sieht viel weiße und sogar braunhäutige Diplomatie, und man hat ein herzliches Mitleiden mit dem geplagten Prinzen der Niederlande, der tausend Menschen, schließlich mit Schweißperlen auf der Stirn, die Hand schütteln und ein paar Worte mit ihnen sprechen muß.
Seine Königliche Hoheit, so wurde mir vorher von einem Komiteemitglied geschrieben, hege den Wunsch, auch die Prominenten des Schrifttums und der Presse, die zu dem Feste kämen, persönlich zu begrüßen. Sehr nett. Sehr lieb. Aber ich antworte, daß ich kein Prominenter sei, daß ich nicht an Festtafeln, sondern auf die Galerie gehöre. Außerdem wolle ich die auf mich entfallenden etwa zwei Minuten dem Prinzen gern ersparen, denn sowas sei doch für die hohen Herren schwere Arbeit. Selbst wenn "das Thema" vorher vereinbart sei, Was weiß ich: die Rembrandts in der Eremitage oder die Blumenzucht in Haarlem oder die Göttertänze auf Bali. Geschenkt, geschenkt! Auf dem Festabend selbst macht mir das verehrliche Komiteemitglied noch einmal denselben Vorschlag, ich wiederhole noch einmal die gleiche Begründung meiner Ablehnung, begegne aber erneut dem liebenswürdigsten Unverständnis. Es gibt immer noch Leute, die da glauben, jeder Mensch schätze sich glücklich, einmal einer Königlichen Hoheit lästig fallen zu können, um dann, wie die Amerikaner nach einem Empfang im Weißen Hause zu Washington, damit zu prunken: "Er" hat mir die Hand gegeben. Ich denke in solchen Sachen viel menschlicher, viel natürlicher. Noch ein drittes Mal, einem anderen Komiteemitglied gegenüber, mit dem ich durch den Saal schlendere, muß ich meine Litanei herbeten, weil der freundliche Herr mich durchaus zu den Honoratioren verfrachten will. Aber einen Moment später ist das Unglück schon geschehen. Mein Begleiter hat dem Prinzen der Niederlande etwas zugeflüstert, der steht auf, o du armer abgehetzter Festprinz, ich straffe mich - -
Handedruck. Verbeugung.
"Tja, so Stimmungsbilder schreiben, das ist wohl sehr schwer ?"
Hm. Prinzgemahl in Holland ist auch nicht leicht.
"Tja, aber manchmal, da ist es wohl auch recht lustig ?"
Hm. Berufsarbeit ist eigentlich selten lustig.
Handedruck. Verbeugung.
Seiner schlichten Art entsprechend ist der Prinz übrigens im Frack nur mit dem Johanniterkreuz erschienen, nicht etwa mit irgendeinem niederländischen großen Ordensstern. Außer zwei Reichswehroffizieren und einem pagenartig rosig-jungen Fahnenjunker, heute sagt man wohl Offizieranwärter, trug auch niemand Uniform. Um so mehr zweierlei Tuch war am Montag darauf im großen Saal des Kriegervereinshauses zu erblicken, wo am Vorabend des Tages, an dem vor fünfzig Jahren Wilhelm II. seinen aktiven Militärdienst angetreten hat, Generalfeldmarschall v.Mackensen die Ansprache an die tausendköpfige Menge hielt, alte Generale mit Adjutantenfangschnüren und junge Uböter-Kapitänleutnants, aber auch ungezählte Mannschaften im Bürgerrock, die dem alten Heere oder der Kaiserlichen Marine oder der Schutztruppe angehört haben. Ich stand neben dem bekannten Schauspieler und Vortragsmeister Platen, der es im Kriege bis zum Gefreiten gebracht hat; wie übrigens auch der - Bruder Ludendorffs, der Potsdamer Professor der Astronomie. Auf der Galerie hatten Damen Zutritt. Denen schlug, ob jung, ob alt, allesamt das Herz, als der Feldmarschall in seiner schwarzen Husarenuniform, federnd wie ein junger Leutnant, elastisch, der eleganteste schlanke Offizier, den man sich überhaupt vorstellen kann, quer über die Bühne an sein Rednerpult ging. Dieser hohe Siebziger, der als Einjährig-Freiwilliger einst das deutsche Kaiserreich gegen die Franzosen erstreiten half, ist strahlende ewige Jugend; und hat auch noch ein richtiges Jungenherz voll Begeisterung für den obersten Kriegsherrn. Was der von 1888 bis 1914 für unsere Wehrmacht getan hat, das war der Inhalt der Rede. Für Menschen der Republik etwas schwer verdaulich. Etwa in dem Sinne des Tagesbefehls des japanischen Admirals Nogi: "Durch die Tugenden unseres Kaisers haben wir Port Arthur erobert."
Man ist heute sehr kritisch in diesen Dingen, aber Gott sei Dank auch gerechter als vor dem Kriege. Wer zur Klarheit kommen will, wer noch unruhig ist, der kaufe sich für 1,20 Mark das Büchlein "Schuld und Schicksal. Die Tragödie Wilhelms II.", dieser Tage im Verlag von Fr. Foerster in Leipzig erschienen. Auf den neunundneunzig Seiten dieses Werkes, in glänzender Sprache geschrieben, strotzend von zum Teil bisher kaum bekanntem Material, ist alles enthalten, was wir unseren Kindern auf ihre Fragen antworten möchten. Ich kenne den ungenannten, persönlich bescheidenen Historiker, für den das Büchlein eine vulkanische Eruption aus tiefstem Innern gewesen ist. Meine Frau hat es auf dem Krankenbett mit glühenden Wangen gelesen, hat dann die Fäuste geballt und unter Tränen gestammelt:
"O wir dummen Deutschen! O wir dummen Deutschen!"
10. Februar 1927 (Donnerstag)
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Großvater kommt - Auf in die Barberina - Der deutsche Beamte - Wie man Polizeipräsidenten macht - Prophet Weißenberg - Fütterung im Zoo - Unter Schlangen und Krokodilen - Otto Wels.
Mein Großvater hat mich besucht. Er ist bloß zwei Jahre älter als ich.
Dieses Wunder der Natur erklärt sich übrigens sehr einfach. Er ist mein Biergroßvater, mein Leibgroßalter, er ist der Leibbursch meines Leibburschen. In jenen Jahren, da noch Kuno Fischer und Heinrich v.Treitschke und Hermann Grimm lehrten, habe ich nämlich auch eine Zeitlang auf deutschen Universitäten dem Wissensdrange gefröhnt und mich nebenbei in der studentischen "Bierfamilie" sehr wohl gefühlt. Man ist inzwischen auseinander gekommen, jeder hat sein eigenes Amt, seinen eigenen Hausstand, man ist durch Hunderte von Kilometern getrennt, man ist allenfalls noch umschichtig Taufpate gewesen, aber man schreibt einander nicht mehr. "Der eine schilt die sündige Seele aus, der andere flickt ihr zerfallenes Haus", ein dritter schreibt Relationen, ein vierter ist Kaufmann, ein fünfter kommandiert ein Kriegsschiff. Aber plötzlich kommt, nach Jahren, ein telephonischer Anruf. "Halloh, Leibenkel!" Und mir, dem Leibenkel, schießt jäh die helle Freude ins Gesicht, die Jugendzeit erwacht, und ich jauchze in den Fernsprecher: "Mensch, komm' sofort, du weißt ja, ich wohne Luftschifferparterre, nämlich im vierten Stock, aber wenn du unten am Fahrstuhl dreimal kurz klingelst und der liebe Gott dir besonders wohlwill, dann schlurft der Portier vielleicht heran und fährt dich aufi!" Also da ist er, mein Großvater. Zunächst wird daheim Abendbrot gegessen, das ist vernünftig und billig, und eine Kanne Münchener Hofbräu macht schnell die Erinnerungen flüssig. Gelegentlich muß man Gabel und Messer weglegen, um einander selig auf die Schulter zu hauen. Das "Weißt du noch ?" geht hin und her. Mein Biergroßalter ist Oberregierungsrat in irgend einer preußischen Provinz. Alle Oberpräsidenten haben gerade eine Konferenz in Berlin. Ich glaube, sie beraten über die Annehmlichmachung der Kirchensteuern oder dergleichen. O du gesegneter Konferenzort Berlin! Nun kriege ich die Bilder der Kinder zu sehen, die hat der korrekte deutsche Familienvater (ich selbst bin nicht so korrekt) natürlich immer im Taschenbuch bei sich, und wir ergänzen gegenseitig unsere Biographie bis zur Gegenwart. Dann geht es wieder zurück in die fröhliche Jugendzeit. "Weißt du noch ?" Natürlich weiß ich. Und ob das Lokal von de Roche noch existiert. Und ob bei Emberg noch getanzt wird.
Du lieber Himmel, diese alten Stätten existieren längst nicht mehr, der Großvater stellt sich Berlin also wahrhaftig noch so vor, wie es vor einem kleinen Menschenalter war. Mensch, Mensch! Die vielen elektrischen Lichtreklamen haben ihn allerdings gleich bei Ankunft verblüfft; so sei es sicherlich nicht einmal in New York, das sei ja eine fabelhafte Farbenorgie, das reine Flammenmeer. Aber de Roche ? Aber Emberg ? Jungchen, ich muß dich mal aufklären. "Tanzt Du noch ?" "Wie ein Wasserfall!" Na also, da komm' mal mit in die Barberina in der Hardenbergstraße. Schon sind wir da. Der Herr Oberregierungsrat in der schwarzen Hose zum schwarzen Schoßrock erregt fröhliches Erstaunen. Man ist lieb zu ihm. Am meisten ist er aber selber erstaunt. Er meint zwar, oho, meint er, sie "in der Provinz" wüßten auch zu leben, und er holt seinen Terminkalender hervor und zeigt mir, wieviel Ballfeste er mitzumachen habe, im Kaufmännischen Verein, im Akademikerverein, im Gewerbeverein, im Kolonialverein, was weiß ich. Aber das hat er doch nicht geahnt, daß hier in der Barberina 8 Einzänzer und 24 Tanzmädchen, allesamt gut gekleidet und äußerlich gepflegt, so daß sie von "Publikum" nicht zu unterscheiden sind, dem Publikum beider Geschlechter zur Verfügung stehen, wenn es sich mal austanzen will. Und daß man ein paar Schritte weiter im Palais am Zoo, in der Valencia, in der Königin-Bar und in Dutzenden anderer Lokale annähernd dasselbe haben kann. Und die Jazzmusik findet er unerhört und die Steptänzer einfach unheimlich grotesk.
Es ist etwas Rührendes um solch einen deutschen Beamten. Um diese Verkörperung des kategorischen Imperativs. Sein Haus und sein Amt sind seine Welt. Mit verhältnismäßig kargem Einkommen, das durch repräsentative Auslagen noch geschmälert wird, erzieht er einen Haufen Kinder wieder zu treuen Staatsdienern; und ist dabei so bescheiden wie Kant selbst, der ja in seinem ganzen Leben nicht aus Königsberg hinausgekommen ist. Allerdings gibt es alle Jubeljahre einmal eine Dienstreise nach Berlin, aber bei 12 Mark Diäten kann man da doch nur in einer kleinen Privatpension unterkommen und keine großen Sprünge machen, nicht wie so viele nachnovemberliche Größen, der Polizeipräsident Richter und andere, in den modernen Großstadttrubel tauchen. Man hat ja auch keine Beziehungen zu Judko Barmat oder Parvus-Helphand oder ähnlichen Menschenfreunden, die für derartige Politiker immer viel Geld locker hatten.
Der Aufstieg der Leute mit Parteibuch in hohe Staatsstellungen namentlich in Preußen hält immer noch an. Die zunehmende Verstaatlichung der Polizei ergibt da neue Möglichkeiten. So soll jetzt Elbing - "Albing, wo die Schnallpost um die Ack' jeht" - staatliche Polizei und damit einen Polizeipräsidenten erhalten, der natürlich auf Vorschlag des Ministers des Inneren, des ehemaligen Arbeiter- und Soldatenrats Grzesynski, ernannt wird. Sonst pflegt man, wenn irgendwo eine neue Behörde zu organisieren ist, einen der erfahrensten alten Beamten damit zu betrauen. Das ist jetzt anders. Man hat Anwärter unter den vielen kleinen und großen Partei- oder Gewerkschaftssekretären, die versorgt sein wollen. Also ist die Wahl auf einen von ihnen gefallen, der schon die erste Stufe zur regierenden Herrlichkeit erklommen hat, sozialdemokratischer Landtagsabgeordneter ist. Ein ganz unbeträchtlicher Abgeordneter aus der großen Masse, der im Wesentlichen nur "Hört! Hört!" ruft. Er hat auch noch nie in seinem Leben mit dem höheren Polizeidienst irgend ein persönliches Verhältnis gehabt oder irgend eine wichtige staatliche Verwaltungstätigkeit ausgeübt. Schadet nichts. Man hat den Genossen aber für einige Wochen ins Berliner Polizeipräsidium geschickt, damit er sich dort "belernt", und man hat ihm einen akademisch gebildeten Mann von Fach kommandiert, der ihm das Notwendigste beizubringen hatte, damit er in seinem neuen Amt Figur machen könne. Das hat nicht dem Herrn Landtagsabgeordneten, aber seinen Informanten viel Schweiß gekostet. Man sagte ihnen, sie sollten es doch mal versuchen, ihn kleine schriftliche Ausarbeitungen über polizeiliche Themata machen zu lassen, aber sie antworteten: "O Gott, o Gott, schriftlich ? Das kann er nun schon garnicht!"
Man sieht jedenfalls immer wieder, um mit dem alten Staatsmann Oxenstierna zu sprechen, mit wie wenig Weisheit die Welt sich regieren läßt. Vorausgesetzt, daß Fachleute die eigentliche Arbeit doch leisten, vorausgesetzt ferner, daß die Regierten dumm genug sind. Bei uns in Deutschland sind sie es bestimmt. Und nicht am wenigsten in Berlin, das nur der zivilisatorische, nicht der kulturelle Mittelpunkt des Reiches ist. Es gibt hier einen verkümmerten Rest der alten Gesellschaft, die noch Kultur hatte. Es gibt eine neue Schicht kaltschnäuziger Genießer, denen die Kultur Hekuba ist. Und es gibt die Riesenmasse der aus allen deutschen Ländern Zusammengeströmten, die von der heimischen Kultur losgerissen sind. Diese letzteren - eigentlich heimatlosen - Berliner haben den geringsten Halt und fallen den Charlatanen am leichtesten zum Opfer, in der Medizin, in der Politik, in der Kunst, in der Religion. Gelegentlich habe ich schon einen der unzähligen "Propheten", die Berlin ernährt, herausgegriffen und vorgeführt, zuletzt noch den Häusser. Sie sterben nicht aus, sie wachsen immer nach, denn der entwurzelte Großstädter ist das vergleichsweise dümmste Wesen, und das Geld liegt auf der Straße. Der neueste Prophet heißt Weißenberg, ein Mensch, der die hypnotischen Tricks kennt und besonders die Mädchen unter seinen Zuhörern schnell in Trancezustand zu versetzen versteht. Dann reden angeblich Weißenbergs Geisterfreunde aus ihnen, der Flieger v.Richthofen, der Fürst Bismarck, der alte Kaiser, Goethe und andere, oder man hört auch nur ein unartikuliertes Gebrüll, wenn "böse Geister" mit den guten kämpfen. In einem großen Saal in der Nähe des Polizeipräsidiums, der sicherlich an 2000 Besucher faßt, finden diese Heils- und Heilversammlungen statt, es ist immer drückend voll, der Prophet hat schon 42 angestellte Gehülfen, die durch Handauflegen und Bestreichen "wundertätig" wirken, und die Eintrittsgelder zu den geschlossenen Veranstaltungen ergeben so hohe Summen, daß Weißenberg sich bereits ein elegantes Privatauto leisten kann. Er "verlangt" kein Geld. Das sagt er immer ausdrücklich, denn sonst, das weiß er, könnte die Polizei ihm mit seinem ganzen Humbug einmal gehörig auf die Finger klopfen. Aber. so sagt er, er bekomme unaufgefordert so viele Geschenke, und dafür danke er herzlich. Es ist manchmal eine ganz artige Kassette voll Münzen und Papiergeld, die er sich zu seinem Auto tragen läßt, vor dem bis zu seiner Abfahrt die Gläubigen Spalier stehen.
Wenn mir die Menschen zu dumm sind, flüchte ich manchmal zu den Tieren. Es ist schade, daß man selbst als Berliner nicht noch viel mehr Zeit für den Zoologischen Garten hat, denn vor jedem Käfig kann man hier anregende Studien machen. Daß die Tiere nicht nur ein physiologisches, sondern auch ein psychologisches Ich haben, weiß jeder, der einmal seinem Hunde ins Auge geschaut oder den Blick irgend einer Tiermutter gesehen hat, wenn man ihr eines ihrer Kleinen wegnimmt. Aber auch das logische Ich möchte man zuweilen den Tieren zubilligen, wenn man sieht, wie sie sich geradezu Werkzeuge zusammenbasteln, um etwas Begehrenswertes damit heranzuholen. Der Durchschnittsbesucher hat selbstverständlich für das physiologische Ich der Insassen des Zoo das größte Interesse und sieht daher mit Vorliebe der Fütterung zu. Besonders der der Löwen und Tiger. Wenn die ihre Pranken in das ihnen gereichte frisch-blutige Rippenstück schlagen, dann gruselts dem Zuschauer so angenehm. Das ist aber eine Fütterung mit Fleisch. Eine Fütterung lebender Tiere mit lebenden Tieren ist schon etwas ganz anderes, und es ist vielleicht gut, daß das große Publikum, einschließlich der Kinder, so etwas kaum zu sehen bekommt. Ich verdanke den Anblick auch nur der freundlichen Einladung der Direktion des Zoologischen Gartens, und ich will es nur gestehen, ich habe nach diesem Aufenthalt unter Schlangen und Krokodilen sehr schlecht geschlafen, obwohl ich vom Kriege her doch an allerhand Grausiges gewöhnt bin.
Die Ratten, die Kaninchen, die Ferkel, die zu den kleinen und großen Schlangen hineingeschickt werden, sind ahnungslos. Sie tölpeln herum, sie spielen. Sie glauben an die Völkerversöhnung. Ein großes weißes Karnickel beschnuppert zutulich den Kopf der züngelnden Boa constrictor, schmiegt sich an sie, hoppelt nach einer Weile davon, kehrt wieder zurück und setzt sich dann friedlich auf die zusammengerollte Schlange. Hoppla, das bewegt sich ja! Aber bald hat das Karnickel sich wieder eingekuschelt. Träge blinzelt die Schlange hinüber und macht das Bett für den neuen Miteinwohner noch bequemer. Jetzt ist es schon fast eine Grube. Und nun zieht die Boa langsam sich zusammen, das Tierchen ist eingeklemmt; eine Weile später sind ihm die Rippen gebrochen, es jappt nur noch mühsam. Dann wird es eingespeichelt, am Kopfe gepackt und in bleiern lange lastender Zeit heruntergewürgt. Es sind immer noch 20 Millionen Kaninchen zu viel, denkt die Schlange beim Verdauen.
Die Krokodile und Alligatoren, darunter Burschen von 3½ Metern Länge, liegen bewegungslos wie die Baumstämme da. Front, wie immer, zum Wasser; denn nur da sind sie beweglich, nur da in ihrem Element. Einige haben den Rachen sperrangelweit auf. Das ist eine Art Zahnpflege. Sie haben ja keine Zunge, um störende Speisereste zu entfernen, also lassen sie diese an der Luft trocknen und spülen sie nachher unter Wasser weg. Die Kaninchen trollen sich unbekümmert an den offenen Mäulern vorüber. Klapp! Ein Alligator hat vorbeigeschnappt. Das Kaninchen springt ihm auf den Rücken, er rutscht ins Wasser, das Kaninchen schwimmt zurück ans Land. Klapp! Da hat es einer von der kleinen Entente, ein erst meterlanger Krokodiljüngling, an dem einen Hinterlauf gepackt. Das Bein ist sofort zermalmt und sitzt wie in Eisenklammern. Dann wird das Opfer ertränkt und zwischen den Zähnen des Untiers so lange gewalkt, bis es flach wie ein Handschuh ist. Nun dreimal, viermal ein schneller Ruck des Krokodilkopfes: das tote Kaninchen zerreißt in zwei Stücke, die eine Hälfte fliegt im Bogen weit hinaus aufs Wasser und wird nachher geholt, die andere sofort verzehrt. Wir schütteln uns. Brr. Es geht einem immer so, wenn man sieht, daß nur die Macht entscheidet, und daß der Schwächere, wenn er das Mißverhältnis nicht durch List ausgleicht, sondern an das Gute und die Weltvernunft glaubt, gefressen wird. Und man sagt sich, daß dies doch billionenfach in jeder Minute in der ganzen Natur sich wiederholt; nicht nur bei den großen Tieren, sondern auch bei den Infusorien im Wassertropfen. Vielleicht gibt es aber auch schon Kaninchen und Giraffen und Steppenesel, die einen Antrag auf allgemeine Abrüstung stellen.
Herr Otto Wels ist kein Steppenesel, sondern der sehr kluge Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Den Krieg hat er nur in der Etappe mitgemacht. Dort hat er sich einmal mit anderen Genossen zwischen vielen Sektflaschen auf einer Postkarte photographieren lassen und sie mit der Unterschrift verschickt: "So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage!" Jetzt ist er nach Paris gereist, um den Franzosen mit Hülfe eines Dolmetschers zu erzählen, daß Deutschland heimlich rüste, in Rußland für sich Waffen herstellen lasse. Das müßten die Franzosen verhüten.
Bei der Boa constrictor sahen die beiden großen Ferkel vergnügt zu, wie das Kaninchen gefressen wurde. Selbstverständlich wurden sie nachher auch gefressen.
17. Februar 1927 (Donnerstag)
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