7
Der blaue Amtsrichter - Neue City im Westen - Richard-Strauß-Woche - "Geh' ich zur schönsten Frau" - Das Zusammenhanglose bei Filmaufnahmen - Henny Porten möchte gern zur Sprechbühne - Der fröhliche Kreuzberg.
Wie ein gesundes Kind hochgewachsener Eltern ist Berlin früher aufgeschossen. Bei dem Tempo hatte es sogar Kleider "auf Zuwachs" nötig: mehrere tausend Wohnungen standen leer, da überall eilig gebaut wurde. Jetzt ist Berlin ein wenig verkümmert, schießt nicht mehr, wird nur langsam etwas breiter. Trotzdem erkennt man manche Stadtteile gar nicht wieder, wenn man Berlin etliche Jahre nicht gesehen hat; so stark ist die Veränderung, die der Zug nach dem Westen hervorruft. Der Westen war bis vor kurz vor dem Kriege reines Wohnviertel, der alte Westen am Tiergarten still und vornehm, der neue hinter der Kaiser-Wilhelm-Kirche aufdringlich und protzig, - Geschäftszentrum und Sündenbabel aber war die Friedrichstadt. Die Kantstraße, deren Anfang heute schon der reine Broadway ist und an deren Ende der Funkturm zum werdenden Coney Island lockt, ist uns noch als Geheimratsgegend bekannt. So vor fünfundzwanzig Jahren fuhr da in die Unendlichkeit hinein, bis zum Charlottenburger Amtsgericht, eine Pferdebahn mit blauer Laterne. Man brauchte damals in Berlin noch keine Nummern, man kam mit Farben aus. Und wenn bei Siechen oder bei Habel der im Treppchen der Staatsanwalt, der Oberstleutnant a.D., der Großkaufmann, der Dramatiker, der Oberingenieur beisammensaßen, dann hieß es wohl kurz nach zwölf Uhr schleunigst aufbrechen, - denn der letzte "blaue Amtsrichter" fahre nach zehn Minuten ab.
Jetzt ist die Kantstraße bei Tage und bei Nacht von Autolärm erfüllt. Laden reiht sich an Laden, dazwischen machen Gasthöfe, Kinos, Weinstuben feurige Reklame. Gegenüber dem Theater des Westens ersteht der Rialtopalast, ein Lichtspieltheater für mehrere tausend Besucher, dessen Vorhalle allein 30 Meter hoch werden soll, und neben dem Theater des Westens wird, obwohl auf der anderen Seite schon die Valencia existiert, ein neues Tanzpalais mit aufklappbarem Dach gebaut, so daß im Sommer der Oberstock als Freiluftparkett dienen kann. Die Gegend Unter den Linden, Friedrichstraße, Jägerstraße wird trotz aller Anstrengungen der alten vornehmen Hotels und der ehedem berühmten Kabaretts und Trinkstuben zu einem Vergnügungsviertel zweiten Ranges, gut "für die Provinz". Kempinski hat schon eine elegante Filiale im Westen, Ecke Kurfürstendamm und Fasanenstraße, die großen Läden der Leipziger Straße siedeln sich ebenfalls im Westen an, und nur um den Potsdamer Platz herum blüht das Geschäft und der Jocus wie früher, weil hier der Wannseebahnhof die ganze Menschenfracht der westlichen Vororte absetzt und wieder heimführt.
Freilich, die guten alten Theater befinden sich zum großen Teil noch in der Stadtmitte. Auch die beiden staatlichen Opernhäuser. Und wenn wir, wie jetzt, in einer Richard-Strauß-Woche stehen, der Meister selbst seine Schöpfungen dirigiert, dann bemüht auch der Westberliner sich noch bis zum Brandenburger Tor, das er sonst kaum mehr sieht, wenn er nicht beruflich in Ministerien oder Parlamenten zu tun hat. Richard Strauß ist noch ganz die alte große Zugkraft, wenn er auch persönlich in der Art seiner Stabführung nichts "Fortreißendes" mehr hat, sondern sehr still und abgeklärt dirigiert, ein Wimpernzucken genügen läßt, wo er einst vielleicht in den Kniekehlen einsackte oder die Arme warf. Immer noch vollbringt das Orchester unter ihm besondere Wunder. Es ist so, wie früher bei der Kaiserparade, wo auch der faulste Musketier seine Beine ganz anders emporschnellte, als unter den Augen nur des Leutnants oder Hauptmanns; die allerhöchsten Herrschaften, auch in der Kunst, elektrisieren immer. So wird man beschenkt, wenn man sich einen "echten" Richard-Strauß-Abend gönnt. Man wird wieder des ungeheuren Reichtums gewahr, den auch musikalisch das kaiserliche Berlin heranzog. Wie dürftig läßt sich demgegenüber unser neues Schreker-Zeitalter an! Wenn Strauß am Pult, während der Vorhang sich teilt, als scharfe Silhouette gegen die Bühnenhelle steht, nicht mehr wildumbuscht, sondern mit jetzt ganz kurzgeschnittenem Haar, wenn dann der erste Satz anhebt: "Wie schön ist die Prinzessin Salome heute abend!", so durchrieseln uns schon alle Wonnen. So frei sind wir jetzt schon, daß wir manchmal über die verblüffende Illustrationstechnik, über das virtuose Nachmalen aller Geräusche, über all das Spielerische in Richard Strauß lächeln können, das auch in seinen Symphonien, von denen er neben den Opern diesmal vier dirigiert, uns mehr denn je auffällt. Aber das Köstlichste von Richard Strauß ist nicht etwa dem Großstädter vorbehalten, der Opernhäuser hat, sondern steht als Gemeingut dem ganzen Volke zur Verfügung. Dieses Köstlichste sind seine Lieder, aus denen manchmal an unscheinbarer Stelle jäh die Künstlerschaft emporflammt. Da ist ein Stübchen in der Kleinstadt, da ist anderswo vielleicht ein Pfarrhaus, ein Gutshaus. Jemand sitzt am Klavier und intoniert Strauß' "Traum in die Dämmerung" und singt. Da kommt eine, wie mancher Tenor oder Sopran sagen würde, prachtvolle Kraftstelle: "geh' ich zur schönsten Frau!" Nicht wahr, das von der "schönsten" Frau, das wird jubelnd, triumphierend hinausgeschmettert ? Aber Richard Strauß hat bei diesem Wort über der Notenzeile vermerkt: pianissimo. "Schönsten!" ganz scheu und zag. Das muß man nur zu hauchen wagen. Höchste Verzückung, höchste Ehrfurcht lärmt nicht. Ganz still. Überwältigt still. Und wer dergleichen in sich aufgenommen hat, der weiß, daß Richard Strauß noch nach Jahrhunderten unser Seelenkünder sein wird. Berlin will jetzt dem Titanen Beethoven ein Denkmal setzen. Einst wird ja auch Richard Strauß an der Reihe sein. Ich wüßte schon eins. Man nehme des Bildhauers Kruse "Junge Liebe", diese unendlich keusche und zarte Mädchengestalt, der ein Jüngling tief in die Augen sieht, als würfe er ein untrügliches Lot in ihre Seele, und man meißele den Namen "Richard Strauß" in das Postament; dann werden die Herzen später Geschlechter noch wie Musik erklingen.
Ob sie die Lieder selbst dann auch noch sozusagen aus erster Hand auf sich wirken lassen werden ? Ich fürchte, nein. Alle Achtung vor dem Rundfunk und dem Grammophon und anderen Konservengeschäften. Aber es fröstelt einen doch, wenn man sich die weitere Entwicklung vorstellt. Die Hausmusik ist nur noch seltene Oase; unsere jungen Mädchen wollen sich das Rauchen nicht durch Singen unterbrechen. Und das alte Konzertleben versiegt auch mehr und mehr. Man geht nur noch zu Sensationen hin, und die kann auch nur noch der Wohlhabende bezahlen. Das Volkslied liegt im Dornröschenschlaf, rundum wuchern Gassenhauer- und Schlagerhecken, und im übrigen ist die Menschheit an das Mikrophon des Senderaums angeschlossen. Mit dem Theater geht es uns ja ähnlich. Es will nicht mehr erheben und erfreuen, sondern durch Monstrositäten verblüffen, damit neugierige Zahler kommen. Für die übrigen 99 Prozent der Benölkerung ist das Kino da.
Und das Kino läßt immer noch eine letzte Sehnsucht offen: bei dem Zuschauer die nach dem lebendigen Wort, nach einem wirklichen Jubel, einem wirklichen Schluchzen; und bei dem Darsteller die Sehnsucht, "einmal eine dramatische Handlung von der Exposition, langsam schauspielerisch steigernd, bis zum Schluß entwickeln zu können", wie kürzlich Henny Porten wörtlich sich geäußert hat. Der Filmschauspieler gibt nur unzusammenhängend einzelne Szenen je nach dem Aufbau, der gerade fertig im Hauptatelier steht. Da werden etwa zuerst alle Szenen heruntergemimt, die "Vor der Kirche" sich abspielen, ganz gleich, ob sie zu Beginn oder in der Mitte oder am Ende des Stückes stehen. Dann folgen vielleicht, wieder einfach hintereinander summiert, die Szenen im "Mondänen Tanzsaal". Ist man damit durch, so wird von den Leuten des Filmarchitekten der Tanzsaal abgebrochen und vielleicht die "Schlucht im Walde" aufgebaut, in der wiederum Bruchstücke dargestellt und gekurbelt werden. Der Regisseur hat sozusagen den Klavierauszug vor sich. Da steht beispielsweise:
Mondäner Tanzsaal. |
Es fängt also gleich mit der siebenten Szene an, die ersten sechs spielen in anderer Umrahmung, und man rasselt zunächst alles herunter, was im Tanzsaal spielt. Von dem Inhalt des Stückes haben die Darsteller ungefähr eine Ahnung, denn er ist ihnen erzählt worden oder sie haben die Stichworte des Manuskripts gelesen. Da sie aber nie das ganze Stück, allmählich selber in die Rolle hineinwachsend, im ganzen geben können, sondern nur die herausgerissenen einzelnen Szenen kunterbunt durcheinander, so sind sie abhängig vom Regisseur, der ihnen die jeweilige Stimmung einzugeben versucht und jede Bewegung mit ihnen exerziert. Schon deshalb wird der Film, obwohl er es auf anderen Gebieten übertrifft, in der Menschendarstellung nie das Sprechtheater erreichen. Der "holde Wahnsinn" ergreift nur den Darsteller auf der wirklichen Bühne. Da gibt sich der Mensch ganz aus, da gerät er "außer sich", da kommt es zur dämonischen Seelenwanderung. Im Filmtheater dagegen kann Fräulein Müller, auch wenn sie eine Carmen agiert, immer Fräulein Müller bleiben; und die Flimmerleinwand verrät es nicht, wenn Fräulein Müller im Atelier, mitten in einer Liebesszene, unter süßem Lächeln giftig gezischt hat: "Pfoten weg, Sie dummer Affe, das gibt ja Schatten!"
Gebt Ihr dem Volke wieder eine Sprechbühne, zu erträglichen Preisen, mit handfester Moral, ein wenig Derbheit und gut bürgerlichem Humor, da läuft es in hellen Scharen hin. Es braucht kein Moissi oder Krauß oder Thimig zu spielen. Es kann ruhig "Provinz" sein. Ihr mögt es auch Vorstadtbühne oder Liebhabertheater nennen. Da ist das Theater in der Lützowstraße. Also alter Westen, dort, wo nicht mehr der Geheimrat, sondern der kleine Angestellte und die Gemüsefrau typisch sind. Lützowstraße 112, nahe an der Flotwellstraße, sozusagen verbotene Gegend, die "man" nur im Auto durchrast. Es gibt zar bei Wertheim einen Vorverkauf der Theaterkarten auch für dieses Kunstinstitut, aber es spart sich die teuren Zeitungsanzeigen; nur in der ganzen Umgegend liegen in jedem Laden die Reklamezettel aus, bei deren Vorweisen man sehr billig, bis zu 45 Pfennig herunter einschließlich Garderobengebühr, den Eintritt erhält. Einst war das hier in der Lützowstraße 112 ein in ganz Berlin bekanntes Gartenlokal, in dem die Stettiner Sänger auftraten. Dann wurden Festsäle daraus, die auch gut gingen. Im Kriege hauste hier das Garnisonregiment Nr. 1. Nachher installierte sich in dem inzwischen von Wertheim gekauften Hause ein Kino, das schließlich Bankerott machte. Und jetzt ist es, wie das ganze Lützowviertel stolz erzählt, ein "richtiggehendes" Theater, in dem allabendlich die Gesangsposse "Der fröhliche Kreuzberg" die Besucher entzückt. Sie hat nichts mit einer ähnlich klingenden Saftigkeit Zuckmayers zu tun. Es ist hier eine Modernisierung des alten Kyritz-Pyritz-Motivs, nur daß diesmal nicht Kyritz an der Knatter, sondern Havelberg an der Havel die abenteuerlustigen drei Spießbürger hergibt, die nach Berlin reisen, heimlich gefolgt von ihren eifersüchtigen Gattinnen. Natürlich gibt es in dem Stück auch "Schlager", ohne die es nun einmal nicht geht. Wenn der lange Lulatsch von Hausbursche im Hotel am Kreuzberg, Fritz Kalmann, der in seiner schnoddrigen Eleganz beim Rixdorfer an den seligen Giampetro gemahnt, mit seinem kleinen Pusselchen von Stubenmädchen tanzt und beide singen:
"Küß' mich doch, noch und noch, |
dann ist das Publikum selig, der Reichswehr-Obergefreite neben mir drückt seinem Mädel heftig die Hand, und die Portiersfrau zwei Reihen vor mir - sie hat sich für 45 Pfennig ungestraft auf den Sechs-Mark-Platz gesetzt - wackelt im Takt mit dem Kopfe und meckert. Natürlich wird unter verständnisinnigem Gejauchze auch derb berlinert. "Pape oder Pupe, det is mir Piepe!" "Ihre Tugend is nich in Gefahr, olle Qualmtute!" "Brechen Sie sich man keene Verzierungen ab, - wenn Ihnen zu heeß is, denn rin in die Badestube!" Und wenn der Schirmmacher aus Havelberg beim Abschied seiner Frau sagt: "Dein Bild trage ich sowieso immer auf dem Herzen!" und die Photographie dann aus der Gesäßtasche hervorholt, werden Tränen gelacht. Selbstverständlich siegt die Tugend in dem Stück, selbstverständlich machen auch die Lasterlüsternen sich lächerlich, zum Schluß gibt's auch noch Verlobung im nächtlichen Viktoriapark am Kreuzberg, - Herz, was verlangst du noch mehr ?
"So richtig Theater, det 's doch ville scheener, als Schaplin und so!", sagt glücklich aufseufzend jemand halblinks hinter mir. "Haste jesehn, eene feste Backfeife hat der olle Astlochgucker jekricht!", triumphiert eine andere Stimme halbrechts. "Kieke mal, jenau so een Jesichte wie die da macht imma unse Madam!", stößt atemlos ein junges Dienstmädchen aus. Nach der Schlußapotheose leert sich das Theater unter den Foxtrottklängen der Kapelle; ein eisgraues Mütterchen geht schmunzelnd und im Tanztakt sich wiegend im Hüpfschritt hinaus.
Und ich fahre mir mit dem Taschentuch über den Nacken. So sehr hat ein junger Mann hinter mir vor Lachen geprustet.
21. Oktober 1926 (Donnerstag)
8
Eine überdeutliche Wedekind-Aufführung - Der Kongreß für Sexualforschung - Frauen und Probleme - Die Bildungsschicht verarmt - Gneisenau im Deutschen Theater - Unser Kartoffelmann - Im Literaturcafé - Else Lasker-Schüler - Das dämonische Weib.
Am Ausgang des Theaters höre ich kurz wie Peitschenknall die drei Worte. Es ist die Antwort, die ein Mann seiner jungen Frau auf eine Frage erteilte, die ich nicht gehört habe. Auf seiner Stirn steilt sich eine Falte empor. Nachdenklich, ungläubig, verwirrt starrt die junge Frau ins Weite. Die beiden haben die Nervenqual einer besonders realistischen Wedekind-Aufführung hinter sich. Die letzte Szene: Jack der Aufschlitzer hat die homosexuelle Gräfin Geschwitz abgestochen, schleift dann Lulu, die vergeblich zu fliehen versucht, an einem Bein in den Hintergrund, schlachtet die schreiende und zuletzt röchelnde Dirne, kommt dann wieder nach vorn an die Rampe und wischt sich die Hände am Unterrock der toten Geschwitz ab. O Kunst, o Kultur, o Menschheit! Der Kongreß für Sexualforschung, der neulich in Berlin beisammen war, hat seine Tagung mit einem solennen Ball abgeschlossen. Bitt' schön, warum denn nicht ? Zwar hat Professor Steinach, der sich selbst nicht verjüngen kann, dort nicht Charleston getanzt, um so fideler aber die anderen. Na, und derweil ist die Sexualforschung eben auf die Bühnen gezogen. Wedekind ist ja nicht der einzige. Noch ein Dutzend anderer Dramatiker, mit einer lesbischen Tragödie auch ein Franzose, bilden uns zur Zeit in Berliner Theatern in diesem Sinne. Was sagt die junge Frau zu "Erdgeist" und "Pandora" ? Sie schüttelt den Kopf ? Doch, so was gibt's. So was gibt's.
Es ist eine Qual. Die Zeitungen sind voll von solchen Dingen. Nun geht man abends in eine Vorstellung. Wieder der ganze Unrat! Manchmal wird er lockend dargestellt, manchmal ganz gemein. Man kann sich nur noch schütteln und sagen: so was gibt's. Freilich, früher gehörte dergleichen in den Gerichtssaal oder ins Krankenhaus oder in die Irrenanstalt. Heute sehen und hören es sich unsere jungen Damen im Theater an und erörtern die "Probleme" dann am nächsten Vormittag zwischen zwei Zigaretten im Café mit einer Hundeschnäuzigkeit, daß einem das Blut zu Eis gerinnt. Ich bin durchaus kein Asket, obwohl es so aussehen mag, weil ich vor mir begegnenden Damen meist die Augen niederschlage; ich tue dies aber doch erst, seit es keine langen Kleider mehr gibt. Warum soll man sich an wohlgeformten Pedalen nicht freuen ? Warum soll man auf gottgeschenkte Sinnenfreude verzichten ? Aber das ist es ja eben: alles Schöne wird heute zum biologischen Problem zerfasert, alles Gesunde wird krankhaft, alles Verschwiegene öffentlich, alles Poetische zur Karrikatur. Die Frauen "machen mit". Damit streifen sie das letzte ab, das sie begehrenswert erscheinen läßt. Sie sind zu aufgeklärt. Es gibt viele, mit denen man entzückend flirten kann, viele, mit denen man das Gewagteste sachlich erörtern kann, aber heiraten will man sie nicht. Vielleicht gibt es noch eine Kleinstadt, in der jemand an das Glas klopft und anhebt: "Ehret die Frauen, sie flechten und weben himmlische Rosen ins irdische Leben!" In gewissen großstädtischen Kreisen würde das nur Heiterkeit erregen. Auch bei den Damen selbst, denen mit Herrenschnitt, den lackierten Mikrocephalen. Da gibt es solche Anbetung nicht mehr. Da hat man eher Verständnis für den Kehrreim des modernsten Berliner Liedchens:
"Und er haut se, und er haut se |
denn das ist doch, sagt man, nicht so verlogen wie der alte Schillervers; das hat doch, sagt man, wirklichen Erdgeruch. So was gibt's. Und alles, was es gibt, das wird breit ausgerollt. Wirklich alles ? Ach, es gibt ein zerschlagenes Volk in der Mitte Europas, das zuerst seine staatliche Freiheit verlor, dann sein wirtschaftliches Gedeihen preisgab, zuletzzt sich geistig knebeln ließ. Auch das gibt es, aber davon sollen wir nichts hören. Auch nichts von den Idealen, die uns großwerden ließen. als wir noch eine männliche Nation uns nennen durften. Die Bulgaren haben einst, als sie waffenlos noch in türkischer Sklaverei schmachteten, in Dorfscheunen heimlich Schillers Räuber gespielt, das erste Theaterstück Europas, das sie in die eigene Sprache übersetzt hatten. Da traten wenigsten auf der Bühne Männer mit Waffen auf! Männer, denen die Freiheit über alles ging! Daran hat sich das ganze Volk entzündet, bis dann die Flamme offen emporloderte und 1877 die Freiheit erkämpft werden konnte. Unserem Volke aber reden undeutsche Führer ein, es sei schon eine Schande, wenn ein Genie wie Friedrich der Große (ohne den es noch heute kein Deutschland gäbe) auf die neue Zehn-Pfennig-Marke kommt. Denn der Mann ist doch, pfui Teufel, ein König gewesen. Berliner rote und rötliche Blätter verlangen deshalb, daß der gute Europäer und Pazifist statt dessen zweimal Schiller zu 5 Pfennig auf seine Briefe pappe. So ist die Republik noch zu retten. Mit Geduld und Spucke.
Wann aber retten wir Land und Volk ? Wann machen auf der Bühne die Sexualprobleme endlich dem Nationalproblem Platz ? Es ist schwer in diesen Zeiten, in denen der gebildete Mittelstand so verarmt ist, daß er als Theaterbesucher nicht mehr entscheidend ist. Das ist ja der Kern der Frage. Aus der Statistik unserer städtischen Oper erfahren wir, daß der Besuch im 1. Rang und 1. Orchester nur um 8,4, der im 4. Rang nur um 5,3 Prozent, also kaum nennenswert, gegen früher zurückgegangen ist. Dagegen im Parkett und im 2. Rang um 47,3 und 36,2 Prozent. Das bedeutet, daß für den Kassenerfolg und infolgedessen für das Repertoire der Geschmack der ganz Reichen und zum Teil auch der Proletarier maßgebend wird, während die Bildungsschicht immer mehr ausfällt. Ist es da ein Wunder, daß die Theaterdirektoren - sie sind doch Geschäftsleute - mit "ausgefallenen Sachen" auf Nervenkitzel aus sind ?
Da wirkt wie ein elektrischer Schlag plötzlich die Anzeige: im Deutschen Theater wird "Neidhart v.Gneisenau" gegeben.
Man erinnert sich dunkel. daß dieses Schauspiel schon vor Jahr und Tag und in Breslau aufgeführt worden ist, auch wohl noch in anderen deutschen Städten. Wirklich Gutes erlebt ja selten in Berlin seine Uraufführung; das wissen wir von Richard Strauß bis Friedrich Freksa. Bringt uns nun das Gneisenaudrama den erlösenden Schrei ? Wird Wolfgang Goetz mit dieser Arbeit eine neue deutsche Epoche so einleiten, wie einst der auf Napoleons Befehl erschossene Buchhändler Palm durch Verbreitung der Schrift "Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung" ? Ich gestehe es, in bin mit klopfendem Herzen hingegangen. Ich war bereit, diesem jungen preußischen Regierungsrat und Filmzensor Goetz zu Füßen zu fallen. Die Fanfare, die Fanfare! Wenn die einmal, von der Bühne herab oder vom Katheder oder in der Volksversammlung, so erklingt, daß unser ganzes Volk auffährt, dann können wir uns noch helfen.
Aber es ist nicht das Drama des deutschen Volkes, nicht das Heldenlied von Zusammenbruch und Auferstehen, von Knechtung und von Zerreißen der Ketten. Es ist ein Gneisenaudrama, wirklich, ein gutes Gneisenaudrama. Die Geschichte vom verkannten Genie, die zufällig in Uniform gespielt wird. Die sonstigen darin handelnden Personen sind gut gesehen, alle blutvoll, die Charakteristik auch des letzten Leutnants oder Soldaten ist folgerichtig, es gibt nicht eine einzige bläßliche Nebenfigur. Ich denke an die Szene im Feldherrnzelt. Da ist der romantisch-scheinheilige Reußenzar mit ein paar Sätzen so umrissen, als hätte ein Treitschke ihn in mehrstündiger Vorlesung geschildert; da ist, schaun's, der biedere Lackl von österreichischem Kaiser, der mit dem goldenen Wiener Herzen und der habsburgischen erblichen Treubrüchigkeit; da ist der hölzerne Friedrich Wilhelm III., der, an dieser Stelle allein, doch durch einen Strahl gesunden Menschenverstandes sich von den anderen abhebt. Da sind zahlreiche volkstümlich packende und bühnenmäßig durchschlagende Szenen, wie sie von Shakespeare bis Shaw, von Wildenbruch bis Klabund nicht besser gemacht werden konnten. Aber der Preußenkönig ist, was er in der Geschichte nie war, ein gänzlicher Trottel in der Hand eines Hofgenerals, und der alte Blücher, der Flammengeist, der einst das Volk hinriß, eine lediglich lächerliche Figur vom Kasperletheater. Und das preußische Volk, das damals - wie der dänische Gesandte nach Hause berichtete - nötigenfalls revolutioniert hätte, um den Krieg gegen die Franzosen zu erzwingen, hat bei Wolfgang Gotz auf der Bühne, in Zivil oder in Uniform, nur Schwächemomente. Nun gut, zu einem Gneisenaudrama mag das als Hintergrund gehören; immer hat das Genie sich nur gegen die blöde Masse durchgerungen und wurde erst später von ihr getragen. Aber das, wonach wir lechzen, hat eben diese Aufführung noch nicht gebracht. Es ist im übrigen eine wundervolle Aufführung, besonders um des Gneisenau von Werner Krauß willen, wenn er auch nicht, wie exaltierte Kritiker behaupten, nunmehr als "der größte Darsteller Europas" zu gelten hat. Sie übertreiben überhaupt ein wenig, die von Mosse und Ullstein, die das Stück in den Himmel erheben. Man merkt zu deutlich heraus, welche Angst ihnen von der Seele gefallen ist, da dieser Neidhart von Gneisenau als dramatisch Auferstandener nicht die vaterländische Werbekraft hat, die der Lebende besaß; und wie sie sich über den kleinen Zwishengewinn freuen, daß Männer, die Großes in unserer Geschichte bedeuten, hier veralbert werden - und der Krieg gelegentlich ein Blödsinn genannt wird, den man eben blöde mitmache.
Und dennoch! Und dennoch danken wir Wolfgang Goetz. Und wenn es auch nur um der zwei erschütternden Szenen willen wäre, in die noch der letzte überlebende Feldmarschall aus des alten Fritzen Zeiten hereingeistert. Kein Mensch, der die deutsche Geschichte nicht kennt, wird aus dem Gneisenaudrama auch nur eine Ahnung von unserem damaligen Erleben bekommen. Immerhin: man bekommt Lust, sich in die Geschichte zu versenken; und es ist kein Pestilenzgeruch in dem Stück.
Noch versagt sich bei uns die geistige Führung. Aber im "Volke" in des Wortes ureigenster Bedeutung regt es sich. Es spricht sich herum, was wir verloren haben. Auf Schritt und Tritt läßt sich das sogar in Berlin feststellen. Lauter "kleine Leute" rundum, die darauf harren, daß Schwarzweißrot sich wieder entfalte. In jeder Straße: Krämer, Handwerker, Arbeiter. Nur daß sie die Zähne noch zusammenbeißen und sich kaum je offenbaren. Da bringt unser Kartoffelmann uns den Wintervorrat. Das Mädchen ist gerade zum Einholen, meine Frau muß hinunter in den Keller und nestelt etwas lange am Schloß. "Det macht woll sonst der Chef ?", fragt der Kartoffelmann. "Wie meinen Sie, meinen Sie meinen Mann ?", bekommt er zur Erwiderung. "Na ja doch, aber ick kann doch nich eefach sagen: Ihr Mann. ick weeß doch, wat sich schickt." Ach so. Nun lacht meine Frau. Nein, ich ginge kaum je in den Keller. "Sie, nun muß ick mal janz dumm fragen: wat macht er eejentlich ?" Ich schriebe für Zeitungen, erklärt meine Frau; in Berlin nur für die Großberliner Ausgabe des Tag. "Wat, - für een Scherlblatt ? Denn es er ja national!" Der Riese schreit es strahlend und packt meine Frau wie mit Schraubstöcken an die Arme. Und nun kann er sich nicht halten. Er selber sei ganz radikal rechts. Im Kriege und nachher habe er sein Vermögen verloren - "eenen janzen Sack voll Joldsticke" - aber wenn er es nochmal hätte, er gäbe es sofort wieder her, wenn das alte Deutschland wiederkäme und "die Bande da oben" verschwände. Er sei mal Vorsitzender des Kriegervereins gewesen. Jetzt überlasse er das anderen Leuten. Seine ganze Arbeit gelte jetzt der Jugend. "Und wenn die jroß sind, denn atjeh Heilmann und Barmat!"
Von dieser Stimmung ahnen unsere Kurfürstendammer noch nichts; die ersticken vorläufig noch in ihrem Fett. Auch die mageren Intellektuellen ahnen davon nichts, die, nachdem das alte "Café Größenwahn" eingegangen ist, eine neue Bleibe in dem "Romanischen Café" an der Kaiser-Wilhelm-Kirche gefunden haben. Da hocken sie beieinander, stundenlang bei nur einer Tasse Kaffee, aber vielen Zigaretten. Und sprechen tiefgründig vom neuen Stil des Lebens und tausend anderen Dingen, nur nicht von Deutschland, denn das ist wieder lediglich ein geographischer Begriff. Erich Mühsam, der ungekämmte, ist nicht mehr da, die Leutchen sehen überhaupt durchweg sauberer aus als vor fünfzehn Jahren, aber die alte Else Lasker-Schüler kommt noch regelmäßig für halbe Tage und Nächte her und so mancher andere aus der früheren Bohème. Unglaublich viel Genialisches hockt an den Marmortischchen; jeden Abend dieselben Gesichter. Geblieben ist den meisten, auch dem Nachwuchs, der frühere Geldmangel. Mitunter merkt man das schon an der sonderbaren Kleidung, namentlich der männlichen Besucher, während die Frauen zum Teil sogar unauffällig elegant sind. Da ist ein Mensch mit einem fabelhaft interessanten, wie holzgeschnitzten Kopf, dem Kopf eines katholischen Bauerngeistlichen etwa. Er mag vielleicht filmen oder malen oder dichten - oder nur Kaffee trinken und Zigaretten rauchen. Aber er trägt einen Bratenrock über karrierten Hosen zu ungeputzten Stiefeln. Manchmal kommt einer herein, verschwindet wieder, kommt nach einer halben Stunde aufs neue, geht wieder ab, und so immer wiederholt: er schaut nach einem Bekannten aus, den er um eine Mark anpumpen könnte. Hunger tut schließlich weh; und der Mann sieht schon aus wie ein Gespenst.
Dieses Literaturcafé ist eine Sehenswürdigkeit Berlins. Aber man findet hier nur schwer Anschluß. Alles an diesen Tischchen, Männlein wie Weiblein, ist Clique, ist versippt untereinander und gegeneinander. Man muß geduldig tagelang regelmäßig herkommen und Stammgast werden, ehe man auch nur an einen der Zirkel sich anschließen kann. Gelegenheitsbesucher greifen leicht fehl. So ist es offenbar einem Mosseblatt gegangen, das etwas schleimig-sentimentales über die Lasker-Schüler gedruckt hat: sie sei von einem Rudel von Sorgen gehetzt und bemale jetzt Briefumschläge für 5 Mark das Stück. Ach, was Sie sagen! Ganz Berlin W. horcht auf. Diese Frau mit ihren Essais und Gedichten war einst das brünstig-bräunliche Genie der Wüste, eine Große in Israel. Da muß man als Arrivierter doch mal hin und ihr einen Briefumschlag abkaufen.
Nun steht sie in der Telephonzelle und ruft den Feuilletonredakteur an und heult vor Wut. Widerrufen solle er, sofort widerrufen! "Sie wissen ja nicht, was Sie mir zerbrochen haben! Nun kommt das Drecksvolk vom Kurfürstendamm und legt mir einen Taler hin! Irgendeine Frau Meyer will einen Briefumschlag! Weil ich arm sei! Ich habe sie die Treppe hinuntergeworfen! Ich brauche keine Almosen! Gewiß, ich male auch, aber für 200 bis 500 Mark das Bild! Was soll mein Junge denken, wenn er Ihre Notiz liest! Da könnte ich ja gleich zum Revolver greifen!" Und sie schluchzt und schreit, und der ganze Korridor steht voll Menschen und hört den Gefühlsausbruch mit an.
Ich besitze nur ein Buch von ihr. Es ist ein ganz tolles Buch. Ein bißchen überhitzt vielleicht. So was sollte der Kurfürstendamm kaufen. Das ist besser als Briefumschläge.
Aber ich habe nie die persönliche Bekanntschaft von Else Lasker-Schüler gemacht. Auch Börne und Heine wären mir, hätte ich zu ihrer Zeit gelebt, nie ins Haus gekommen. Es gibt für mich interessantere Gestalten im Literaturcafé. Da ist vor allem "das dämonische Weib". Solche Dämonie findet man wohl auch anderwärts, aber selten derart rein kristallisiert. Alles, was die Dame sagt, ist "bedeutend" und eigenartig. Die Jüngeren überschauert's, wenn sie lässig erklärt: "Zu Mittag brauche ich bloß eine Sardelle und zwei Arsenikpillen." Dabei hat sie mit gutem Appetit zweimal Eisbein gegessen. Als die leidige Geldfrage besprochen wird, meint sie: "Ich pumpe von niemand ein paar Mark. Für mich läßt man Herzblut oder Vermögen." Ich habe weder das eine noch das andere für die Dämonin übrig. Ich gab ihr gegen 3 Uhr morgens einen blanken Taler. Sie sagte nicht Danke, sondern nur:
"Vielleicht sind Sie mein Typ. Sie haben hoffmanneskes Seelenformat."
27. Oktober 1926 (Mittwoch)
9
Hinter der Halenseer Brücke - "Mit meiner Braut von fuffzehn" - Das Gerede von der Weltausstellung - Kunstgewerbliche Greuel - Bei den Autos - Neffe Hans in Amerika - Das Neueste: Vorderrad-Antrieb - Valeska Gert - Frau Bankdirektors Pech.
Draußen hinter der Halenseer Brücke beginnt sehr bald das vornehmste Villenviertel Berlins, die Kolonie Grunewald. Dir Königsallee dort ist etwa das, was in Hamburg der Harvestehuder Weg ist. Nur daß uns die Alster fehlt. Der Halensee am Eingang dieses Viertels ist zum Rummelteich geworden, seit mit dem Lunapark der großstädtische "Betrieb" hier Bresche geschlagen hat, und alle die übrigen Gewässer der Gegend, diese Gletscherreste aus der Eiszeit, Lietzensee, Herthasee, Königssee, Grunewaldsee, Hundekehlensee, sind bald allesamt durch Häuser blockiert. Man hat es einst versäumt, sie untereinander zu verbinden und an ihnen entlang schmale Parkstreifen zu erhalten. Hätte man es getan, so wäre heute Berlin mit diesem Idyll einzig in Europa. Man wollte stille Wohnviertel. Aber der Großstadtlärm überflutet sie allmählich nun doch, vor allem ist der Sonntagsfriede draußen schon längst zur Sage geworden. Die jungen Leute aus dem innersten Berlin - die "kessen" - spielen herausfordernd die erste Rolle, und es fällt gar nicht mehr auf, wenn solch eine Kette daherkommt und im Chorus singt:
Mit meiner Braut von fuffzehn |
Der Lunapark ist nur der erste vorgeschobene Posten gewesen, jetzt ist schon eine breite Front für das Vergnügen ausgebaut, und wenige Minuten ab davon, am vorläufigen Ende eines anderen Großstadtradius, nicht des Kurfürstendamms, sondern der Kantstarße, wird schon mit dem neuen Weltrummel gerechnet. Das Wort "international" hat für gewisse Geschäftskreise immer noch etwas Berauschendes; und ein unabsehbares Heer "interessierter" Berliner bis zur letzten Vermieterin möblierter Zimmer erhofft von einer Berliner Weltausstellung die große Wirtschaftswende und das Aufhören allen Elends. Arme Schwärmer! Die letzte britische Reichsausstellung in Wembley, die doch so gut wie eine Weltausstellung war, hat zwar den Nimbus des Empire wieder erhöht, aber mit einem Fehlbetrag von 21 Millionen Mark abgeschlossen. Eine große Internationale in Berlin würde ein noch fürchterlicheres Ergebnis haben und nur der Eitelkeit von allerlei Gschaftlhubern und Komiteefexen etwas einbringen. Es scheint, daß auch innerhalb der Regierung die Bedenken überwiegen, hoffentlich überwiegend bleiben, und daß man schließlich zu der ersten Anregung zurückkehren wird, im Jahre 1930 hier in der Gegend des Funkturms und der drei Riesenhallen nur eine deutsche Ausstellung zu veranstalten, die das Bauwesen zum Gegenstand hat, einschließlich Innenarchitektur und Kunstgewerbe, kurz: eine Heerschau des guten Geschmacks. Das läßt sich hören. Die ähnliche Pariser Ausstellung im vorigen Jahre war ein großer Erfolg, und doch reicht das, was dort gezeigt wurde, vielfach nicht an die möglichen deutschen Leistungen heran. Über die Zeit der ärgsten Geschmacklosigkeiten sind wir schon hinaus, auch über jene um 1900, die uns als künstlerischer "Jugendstil" von der stets charakterlosen zünftigen Kritik aufgeschwatzt wurden. Vater des Ausstellungsgedankens ist Bruckmann-Heilbronn, der Vorsitzende des deutschen Werkbundes. Die Firma Bruckmann ist weltbekannt. Wenn in einem Balkanstaat ein neuer König den Thron besteigt, liefert sie das 8 Pfund schwere silberne Krönungsschwert. Wenn irgendwo in Südamerika ein erster Preis bei einem Riesensportfest nötig ist, bezieht man von ihr den goldenen Ehrenpokal. Ach, überhaupt diese Pokale. Mir tun sie ebenso leid, wie die vielen ungeborenen Kinder in der Welt: alle Vereine haben die Schränke voll von solchen Ehrenpreisen, aber nie wird aus ihnen - getrunken. Sie bleiben eine zwecklose und daher sinnwidrige Sache, genau so dumm, wie die vielen "Nippes", die einst auf jedem Möbelvorsprung das deutsche bürgerliche Heim verunzierten. Den Bruckmanns in Heilbronn kann ich es nachfühlen, daß sie von der Berliner Ausstellung 1930 eine völlige Gesundung des deutschen Geschmacks erhoffen, denn was manchmal bei ihnen bestellt wurde, das konnte wahrhaftig einem künstlerisch empfindenden Menschen die Haare ergrauen lassen. Eines der greulichsten Beispiele ist das Ehrengeschenk, das der General Keim einst zu einem Jubiläum bekam. Ein silbernes Tintengestell in Form einer Reliefkarte Deutschlands. In der Mitte, in den bayerischen Bergen, eine stehende Germania, die "symbolisch" auf Kiel hinschaut, den Sitz des Flottenvereins. Zu beiden Seiten kleine silberne Kriegsschiffchen mit aufklappbarem Verdeck als Briefmarkenbehälter. Wenn man so ein Ding, nachdem die Rührung des Jubiläumstages verflogen ist, jahrelang in seiner Wohnung sieht, muß man ja vor Wut die Gelbsucht kriegen. "O mei, o mei, o mei, kurz ist die Gaudi, und saudumm die Reu'", sagt der Müchener.
Einstweilen ist es also Gott sei Dank nichts mit der Weltausstellung, aber so langsam und allmählich wird der Berliner schon daran gewöhnt, daß draußen im Funkturmbezirk immer was "los" ist. Polizeiausstellung, Gastwirtsmesse, Herbstblumenschau. Es reißt nicht ab, das Berliner Messeamt ist rührig. Augenblicklich pilgern täglich Zehntausende hin, um ihren Damen mit Motorkenntnissen imponieren zu können. Theoretisch ist schon jeder kleine Berliner Rotzlöffel ein gewiegter Autosportsmann. Nimm solch kleinen Dreikäsehoch an der Hand und sag' ihm: "Sieh mal, der schöne Tut-Tut-Wagen!" Er antwortet sicherlich: "Quatsch, det is eene Viersitzer-Innensteuerlimousine!" Ein Auto zu besitzen, das erscheint heute manchen schon wünschenswerter, als ein Landhäuschen zu erwerben. Dann ist man doch ein freier Mann. Nicht gebunden an die Scholle; und die ganze Welt steht einem für das Wochenende offen. Ein junger Neffe von mir ist für ein Jahr auf die Farm seiner Schwester im westlichen Nordamerika gegangen. Er hat, während er bis zu seinem 17. Jahre Großstadtschulkind war, jetzt auf dem Lande feste mitgeschuftet und dafür vom Schwager richtigen Lohn bekommen, neben freier Verpflegung natürlich. Was tut er am Schluß des Jahres ? Kauft sich ein Auto und töfftöfft allein nach San Franzisco, etliche hundert Meilen weiter. Er hat ein paar Schinken, einen Sack Mehl, einen Sack Kartoffeln und sonstige Lebensmittel "an Bord", in der Tasche aber nur noch 12 Dollars. Wo es schön ist, rastet er und kocht er. Er pfeift auf Hotels. Er ist ein freier Mann. Aber eines Tages gibt es eine schwere Panne, mit Bordmitteln ist das Auto nicht mehr zu flicken. Da nimmt der Junge in der nächsten Holzsägemühle Arbeit an, erliegt in den ersten Tagen fast unter den schweren Baumstämmen , paukt sich aber durch, läßt von dem verdienten Gelde den Wagen ausbessern und braust nun doch zum Goldenen Tor nach Frisko. Jetzt schwimmt er gerade auf dem Atlantik. Wieder heim nach Europa. Zu Muttern. Und da sage einer noch, daß das Maschinenzeitalter die Poesie ertöte! Auf der diesjährigen Berliner Automobilausstellung sieht man viele Leute mit poesiehungrigen Augen. Wenigstens in Gedanken brausen sie durch die Welt. Den werdenden kleinen Geschäftsmann, der von Millionen träumt, zieht es zu den starken Wagen. Da so ein Maybach - mm - letzter Schrei der Technik. Allerdings 31 500 Mark. Sache. Im Auge behalten. Aber andere Firmen stellen schon für 6490 Mark einen passablen Wagen her. Schon etwas ganz anderes sind diese soliden deutschen Wagen als etwa die kleinen amerikanischen Blechkästen von Ford. Den werdenden kleinen Ingenieur aber locken mehr die Neuheiten, die man hier bewundern kann, obwohl im allgemeinen die Vereinheitlichung auf wenige Typen kennzeichnend für unsere Aera ist. Da gleißt silbrig der Aluminiumwagen Rumplers, das neue Auto mit einzeln schwenkbaren Rädern und - Vorderradantrieb. Einfach fabelhaft, so sagt man heute. Heute, im Jahre 1926. Aber schon 1908 ist das erste Auto mit solchem Antrieb in Berlin gebaut - und sehr bald wieder vergessen worden. Was doch gute Ideen für Zeit brauchen! Ein simpler Leutnant vom Feldartillerieregiment Frankfurt, Raabe, ein sehr anschlägiger Kopf, kam 1902 auf die Idee und trug sie damals dem Feldmarschall Grafen Haeseler in Harnekop vor. Die Armee müsse die Idee durchdrücken. In engen lothringischen Städtchen etwa werde in Kriegszeiten der Verkehr viel schmiegsamer, wenn ein Auto, das mit Vorderradantrieb an den Bürgersteig heranfahre, dann mit den Hinterrädern einfach herumschwenke. Und nun gar erst draußen, wenn man in einen Graben geraten sei! Sitze der Antrieb hinten, werde das Auto also gestoßen, so gerate man immer fester hinein; bei Vorderradantrieb aber werde doch gezogen, was das natürliche sei, und da gelinge in neun von zehn Fällen das Herauskrabbeln mit eigener Kraft.
Gute Ausstellungen beleben den Verkehr, das läßt sich nicht leugnen; dem Rheinland hat die diesjährige "Gesolei" in Düsseldorf mehr Besucher eingebracht, als alle Werbeplakate und Hotelanzeigen vermocht hätten. So hat nun auch die Autoausstellung das, was wir noch an wohlhabendem Deutschland besitzen, nach Berlin gezogen. Nicht nur der "Schnauferl-Ball" ist zahlreicher denn je besucht gewesen, sondern auch alle sonstigen Veranstaltungen dieser Wochen haben etwas davon. Manche Erinnerungen an dieses Berlin wird der Fremdling aus dem Reiche freilich nur mit Kopfschütteln heimtragen. Noch zittert in uns das reine Glücksempfinden anch, das wir an etlichen wenigen Tagen in den letzten Jahren hatten, wenn Niddy Impekoven tanzte, das schier überirdisch liebliche Elfenkind. Nun kommen neue "Sterne" über den Horizont, und die Plakate schreien: "Valeska Gert!", und es werden uns getanzte und gesprochene Grotesken versprochen. Der Kenner sagt sich sofort: "Grotesken ? Aha! Dann ist die Dame mordshäßlich." Ach, das ist noch sehr gelinde gesagt. Diese Tänzerin mit dem Künstlernamen Valeska Gert, die in Wirklichkeit vielleicht Veitelberg heißt, war sicherlich einmal jung, begabt, einfallsreich, ist heute noch gelenkig und von großer karrikaturistischer Begabung, außerdem mit allen Salben der verruchtesten Erkenntnis gesalbt und, wie gesagt, mit ihrem struppigen schwarzen Straßenjungenkpf so garstig, daß sie für den perversesten Teufel ein Gelüste sein könnte. Ich will ihr gar nicht "zu nahe treten", ich stelle bloß fest. Vielleicht ist es sogar Heroismus, daß sie sich vor dem Publikum exhibitioniert; vielleicht läßt sie dafür einen Sohn studieren oder unterhält eine Mutter im Sanatorium. Jedenfalls ist die Mossepresse ganz aus dem Häuschen und veröffentlicht lüstern-lockende Essais über sie. Jenes Publikum, das man in Mitteleuropa Mischpoke nennt, füllt dicht den Blüthnersaal und klatscht rasend Beifall, tobt wie irrsinnig, weil einmal das zutiefst in ihm Schlummernde ausgelöst wird: die satanische Freude an der Kulturzertrümmerung durch den Kult des moralisch Häßlichen. Einmal tritt Valeska Gert als das Mädchen "aus dem Mumienkeller" auf, als Tertiärdirne, bei deren Anblick es einen nur wundert, daß sie in dem angelweit aufgesperrten Munde überhaupt noch Zähne hat. Dieser Mund ist eine ganze Lasterhöhle. Mit ein bißchen Sentimentalität in den Ecken natürlich. Dazu die Jodkali-Stimme, die etwas von dem nicht mehr schönen Leben erzählt. Faßt mich der Menschheit ganzer Jammer an ? Oder ist diese Darstellung nur eklig ? In der Stuhlreihe hinter uns bricht eine ganze Gesellschaft voll innerer Empörung mitten während eines solchen Tanzpoems auf, aber umso wilder rast für Valeska Gert der Beifall ihrer Leute.
Nachmittags am Teetisch, im kleinen Kreise, ist es vielleicht eine im heutigen Sinne "entzückende" Frau von Welt. Auch Marie Madeleine - recte: Sarah Günther aus Eydtkuhnen - ist ja nur in ihren Gedichten das gespielte Laster, im Leben aber dick und hausbacken. Mag sein, daß die Gert in anderer Aufmachung auch nichts Abstoßendes hat. Im Gegenteil manche äußere und innere Vorzüge hat. O, eine Frau ohne irgend einen Vorzu gibt es ja überhaupt nicht! Und wenn ich einer gänzlich unmusikalischen, reichlich fetten Dame sage, sie hätte am rechten Ellenbogen ein reizendes Grübchen, - dann lernt sie sicher Violine spielen, um das Grübchen recht häufig zu zeigen.
Für unsere Berliner Großstadtdamen ist so etwas durchaus typisch. Da ist eine Frau Bankdirektor, gute deutsche Familie, standesgemäß konfektioniert, nicht mehr ganz jung, aber nicht übel erhalten. Sie wohnt im Vorort und kommt zu Einkäufen herein, läßt das Auto draußen warten und setzt sich im Erfrischungsraum von Wertheim an ein Tischchen. Da fixiert sie ein "anscheinend den besseren Ständen angehörender" Herr am Nebentisch. Er verschlingt sie fast mit den Augen. Peinlich. Dann erhebt er sich, kommt heran, macht eine weltmännische Verbeugung, überreicht seine Karte, auf der er als Professor Dr.med. Soundso verzeichnet ist, und sagt: "BItte verargen Sie mir das Anstarren nicht, gnädige Frau, aber ich bin Dermatologe und habe etwas ungemein seltenes bei Ihnen entdeckt: fast immer sind Warzen braun, aber sie haben auf Ihrer Wange da eine blaue, und dafür habe ich mich als Fachmann eben so begeistert." Natürlich verzeiht Frau Bankdirektor dem Professor nun alles. Sie kommt nach Hause und findet da ihren Gatten in sehr aufgeräumter Stimmung, weil er an der letzten Hausse gut verdient hat. Also nun kann sich Mausi, die Gattin, etwas wünschen, eine neue Persianerjacke oder so. Ach, sagt sie, am liebsten möchte sie ein Bild von sich malen lassen. Meinetwegen, brummt der etwas erstaunte Herr Gemahl. Es geschieht nach ihren Wünschen. Hingegossen auf ein Ruhesofa wie die Recamier wird Frau Bankdirektor porträtiert; die Malerin wird wochenlang getriezt, daß sie nur ja die richtige blaue Farbe für die Warze wähle. Das fertige Bild bringt die Malerin dann aus ihrem Atelier zum Einrahmen. Ein Geselle macht den Rahmen fertig. Am Abend sieht der Meister das am nächsten Morgen abzuliefernde Bild. "Igittigitt, da hat der Lausebengel ja eenen blauen Klecks uff det scheene Bild jemacht." Vorsichtig schabt der Meister mit einem Federmesser das Tüpfelchen ab. Am Tage darauf feierliche Enthüllung des Bildes bei Frau Bankdirektor. Sie sieht es an, schlägt die Hände zusammen: die berühmte Warze ist nicht da, der letzte schöne Traum des Lebens vernichtet. Die Frau heult und heult und heult.
Vielleicht heult sie heute noch.
4. November 1926 (Donnerstag)
Glossen 4 - 6 |
Jahresinhalt |
Glossen 10 - 12 |