"Rumpelstilzchen"

Berliner Funken
(Jahrgangsband 1926/27)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1927

Glossen 4 - 6
30. September bis 14. Oktober 1926


4

Großstadtlärm - Alles nur Nervenausschaltung - Auf der "Arbeitsgemeinschaft" der Primaner - Woher das Saxophon stammt - Etté - Vom Rhythmus der Zeit - Berliner Fortbildungsschülerinnen - Schwester Aquila und die Seidenwäsche - Polizeiausstellung - Antwort an einen Schnüffler.

Tausendfacher Lärm geht dem Großstädter zum einen Ohr herein und unbemerkt zum anderen wieder hinaus. Es gibt Leute, die an einer Kurve der Straßenbahn wohnen, ihr Kreischen und Quietschen aber gar nicht empfinden, sondern seelenruhig dabei einschlafen. Man hört nicht auf das Hupen der Automobile. Man schaltet seine Sinne aus, wenn ein Leierkasten gröhlt, wenn "Bluuumenerrde" für den Balkon angeboten wird, wenn "Lumpen, Alteisen, Papier, Wein- und Bierflaschen" es auf dem Hofe erschallt, wenn Zeitungen ausgerufen werden, wenn das Feuerwerk von Ulap, Lunapark oder Neue Welt herüberkracht, wenn bei irgend einer Buddelei der Preßlufthammer knattert. Man hat sich an das Klaviergepauke rundum und an das Tonleitergesinge drüben gewöhnt; in dem allgemeinen Lärm geht alles unter, so daß man genau so seine gesunden Nerven behält, wie der "friedliche" oder "einsame" Strandwohner bei dem ständigen Rauschen oder Donnern der See. Unruhig wird man erst, wenn der gewohnte und daher gut verdauliche Lärm aufhört, etwa in stiller Villenstraße, in der man dann nicht schlafen kann, wenn ein Hahn kräht oder ein Hund bellt. Bei klirrenden Fenstern - denn draußen saust alle fünf Minuten der zweistöckige Autobus vorbei - tagt irgendwo der berühmte Berliner Anti-Lärm-Verein, der sich durch seine zahllosen Eingaben an Behörden bemerkbar macht. Manchmal wird die Debatte erregt, und dann schwingt der Vorsitzende seine Glocke so energisch, daß die Biergläser zu tanzen anfangen: "Aber ich bitte um Ruhe, meine Herren, nicht alle gleichzeitig sprechen!" Der wackere Verein wird nie etwas erreichen, selbst wenn er auf allen öffentlichen Plätzen - durch Lautsprecher gegen den Lärm agitierte, denn dieser gehört nun einmal untrennbar zur Großstadt und fällt tatsächlich nur Provinzlern auf die Nerven. Wir haben doch auch im Felde bei achttägigem Trommelfeuer uns nicht etwa das Schlafen abgewöhnt; aber wenn in dem Höllenradau ein Meldegänger an unsere Strohschütte trat und "Pst! Pst!" raunte, dann fuhren wir sofort auf. Das ist es eben: jedermann ist nur auf "sein" Signal eingestellt. Das Mädchen hinten in der Küche überhört die schrille Hausglocke, weil es gewohnheitsmäßig im Unterbewußtsein empfindet, daß die Herrschaft vorne doch selber aufmachen könne. Aber wenn vormittags auf der Straße Bimmel-Bolle sich naht, der Milchwagen, dann wird schon vor dem Bimmeln das Gerumpel, das kaum vernehmbare, auf dem dritten Hinterhof gehört, und die ganze Gesellschaft strömt mit ihren Kannen heraus zum Wagen.

Unser innerer Schaltapparat funktioniert wirklich vortrefflich. Da haben unsere Oberprimaner mit den Kameraden und dem Studienrat für Latein wieder einmal "Arbeitsgemeinschaft" bei uns. Das wechselt bei den zweien unter den Elternpaaren der 12 jungen Leute, die die nötigen Räume dafür haben. Bei dem anderen Elternpaar, das ein richtiges Sitzungszimmer mit mächtigem Konferenztisch hat, dürfen die Jungens sich Bier holen. Wir mögen das nicht. Wir stellen in der Halle den großen Samowar mit Tee hin und ein paar Schüsseln mit leckeren belegten Schnittchen, sobald der "offizielle" Tiel beendet ist und der Schwatz beginnt. Dazu gab es vorgestern - Jazzmusik. Einer der Herren Jungen spielte Klavier, einer Geige, einer Banjo, einer Pauke und sonstiges Schlagzeug. Es war wie in einem Kaffernkraal. Trotzdem habe ich im Nebenzimmer ungestört bei meiner Schreibtischarbeit gesessen. Aber wenn meine Frau im vierten Zimmer, hinter drei verschlossenen Türen, meinen Namen haucht, - das höre ich sofort und sause als wohldressierter Ehemann dahin. Daß die Musik "oft störend wird empfunden", weil sie "meist mit Geräusch verbunden", das konnte Wilhelm Busch nur als typischer Kleinstädter erklären. In Berlin ist jedermann auf jegliches Gebrüll geeicht. Nur der falsche Ton fällt auf, wenigstens anfangs, nur das ungewohnte Instrument. Jetzt ist das Saxophon vor einigen Tagen sogar im Orchester der Staatsoper eingeführt und damit endlich legitimiert. Das ist ürbigens niemals etwa ein Negerinstrument gewesen, sondern eine alte aus dem vorigen Jahrhundert stammende Pariser Erfindung, als Clown- und Variétéinstrument auch erst 1908 im Londoner "Empire" zu quietschendem Vergnügen der dortigen Kulturwelt gespielt.

Die Neger, die ja die geborenen Clowns sind, haben dann alles nur noch weiter ins Frantzenhafte verzerrt und Teufelsgeigen, Knarren, Miau-Apparate, Hupen und sonstige "meschuggene" Instrumente hinzugefügt. Man hört das Zeug schon ganz gleichmütig selbst bei wichtigen geschäftlichen Besprechungen in den ersten Hotels. Aber selbst die Verrücktheit ist meist nur zeitweilig. Schon ist die Reaktion da, und sie geht von dem besten Jazz-Orchester aus, das wir in Berlin haben, der Kapelle Etté. Der junge blonde Etté, dessen Vorväter einst um ihres evangelischen Glaubens willen aus Frankreich flüchten mußten, ist in Kassel geboren, sollte Lehrer werden, fand sich aber übermächtig zur Geige hingezogen. Er spielte zuerst heimlich in einem Kasseler Kientopp. Schließlich gab der Vater nach, Etté machte schnell seine Laufbahn, dirigierte die Kurkapelle in Garmisch, machte 1924 Studien in Amerika und hat heute in Berlin ein Jazz-Orchester von 36 Mann: 7 Geigen, 2 Bratschen, 2 Celli, 1 Baß, 4 Trompeten, 3 Posaunen, 4 Saxophone, 2 Klaviere, 2 Schlagzeuge, Harfe, Banjo, Bandonion, Zither, Guitarre, Duba, Klarinatte, Oboe, Fagott. Aber die Königin bleibt die Geige, alles andere dient nur ihr. Ettés Wahlspruch ist: "Weniger Klamauk! Mehr Musik!" So kann er sich mit seiner absonderlich zusammengesetzten Kapelle sogar an Symphonien wagen, die wohl den Rhythmus unserer Zeit, aber nicht deren Mißklang haben. Auch dieser Rhythmus ist natürlich kein Zufall. Wir leben nicht in einer Periode sanften Friedens, sondern in einer höchst kriegerischen Zeit, die Damenkleidung ist amazonenartig geworden, die Herrenpaletots waren in den ersten Jahren nach dem Kriege ohne militärischen Rückengurt undenkbar, die Pullovers selbst über Dickbäuchen werden noch heute von einem Lederriemen umspannt, und der drängende Marschrhythmus des Foxtrotts, gesteigert bis zum Laufschritt nach Art der Bersaglieri, beherrscht den Tanzsaal. Freilich, deutsch ist er nicht. Der Deutsche ist von Natur viel zu sanft und verträumt für kriegerischen Rhythmus, der ihm nur dort ins Gebein fliegt, wo er am Platze ist: beim Militär. Uns liegt der wiegende Walzer viel mehr als ein Ausdruck des Hingegebenseins und des Losgelöstseins. Das andere ist Spuk, ist bewußte Ausgelassenheit für besondere Gelegenheiten gewesen, und so allerdings hin und wieder schon immer dagewesen, so der heutige Zappel-Charleston schon vor Jahrhunderten, gelegentlich sogar an deutschen Höfen. Als deutsch sind schon Mazurka und Czardas nicht empfunden worden. Nun ist die Jazzmusik aller Mischlingsvölker der Welt mit ihrem Rhythmus von 1914 über uns gekommen - und Etté versucht sich mit seiner deutschen Geige in ihr zu behaupten, sie zu führen, setzt aber an die fremden Instrumente allerlei fremde Leute, denen sie "liegen". Unter seinen 36 Mann gibt es Russen, Franzosen, Yankees, Ungarn, Italiener. Einen südamerikanischen Zigeuner hat Etté in einem Montmartrelokal in Paris vom Harmonium weggeholt; überall sucht er sich Virtuosen zusammen, die mit ihrem Blut zu ihrem Instrumente passen. Und sein Stolz ist, wie er selber sagt, nicht etwa der, "ein deutscher Whiteman zu werden", sondern - der Deutsche Etté zu sein.

Er ist unermüdlich. Nachmittags und spät abends bis in die Nacht hinein spielt er im Hotel Esplanade, dazwischen im großen Theatersaal in einer Revue, und wenn dies die einzige gutbesuchte ist, so verdankt sie es zu großem Teile Etté. Mit leuchtenden Augen sitzen da die kleinen Mädchen im Zuschauerraum und zucken mit den Beinen. Je weniger wirkliche Männer es in unserer Zeit gibt, dest mehr zwickt die Mädchen der männliche Rhythmus unserer Zeit. Es ist nicht mehr auszuhalten. Im Reichsausgleichsamt, in der Filiale in der verlängerten Hedemannstraße, klagten schon vor Jahren die Beamten darüber, daß die jungen Dinger von sechzehn Jahren, Hilfskontoristinnen, immer "so ewig" und immer zu zweit auf einem gewissen Örtchen sich aufhielten: sie übten dort Boston und Blues. Und in den Berliner Fortbildungsschulen für weibliche Wesen ist keine Aufmerksamkeit zu erzielen, weil alles immer mit den Fingern irgend einen Rhythmus trommelt. Es ist da sowieso unter den Berliner Rangen nicht leicht. Die "Bollen" - die Milch-Bolle-Mädchen - gelten als ausnehmend frech, ebenso die Kürschnerinnen, weil beide zusammen mit Männern ihrem Tagewerk nachgehen und schon zur Abwehr die freche Schnauze kultivieren. Aus einem anderen Grunde nahezu unerträglich sind die Friseurinnen, weil sämtliche Wohlgerüche der Welt, sehr ausgiebig benutzt, einen da fast ohnmächtig werden lassen; das ist übrigens ein Beruf, in dem es heute noch ausnahmsweise gut steht, und er hat noch einen neuen erzeugt, den des Modells, das sind junge Mädchen, die für 75 Pfg. die Stunde in einer der zahlreichen Friseurschulen geduldig mit ihrem Haar herumwirtschaften lassen. Am gesittetsten von allen Fortbildungsschülerinnen in Berlin sind die Modistinnen. Das sind besinnliche Mädchen, die weniger an sich als an die Toiletten für andere denken und ganz in ihrem Berufe aufgehen.

Heute gehören die Arbeiten an Frauenkleidung ja als Lehrfach auch in alle möglichen höheren Schulen. Auch in konfessionelle Frauenschulen. Auch in Klosterpensionate. Die Nonnen, die als Lehrschwestern fungieren, müssen natürlich ihre Prüfung als Gewerbelehrerin ebenso wie andere Sterbliche machen und dazu das "praktische Jahr" in irgend einer Wäschfabrik oder bei einem Zwischenmeister der Konfektion. Da sitz die Schwester Aquila von dem Dominikanerorden bei Herrn Dreyfus und stichelt eifrig an einem Sealpelz für eine Bühnenschönheit, wie umgekehrt ja auch die Berliner evangelische Stadtmission in ihrer Nähstube am Johannistisch seidene Hemdhöschen für die Luxuswelt in fremdem Auftrage anfertigt und durch diese Arbeitsvermittelung mancher gescheiterten Existenz wieder aufhilft. Übrigens ist es nichts mehr mit "der schneeigten Wolle, dem schimmernden Lein", die Schiller noch besingt. Das Seidentrikot siegt. Macherlohn 18 Pfennige die Hemdhose. Die Heimindustrie kann das nicht schaffen, sondern nur der Arbeitssaal, denn der gewebte Trikotstoff wird nicht zusammengenäht, sondern von einer Knüpfmaschine, die ihre 500 Mark kostet, zusammengestrickt. In Paris hat es einmal einen Skandal in der Öffentlichkeit gegeben, als es herauskam, daß in einem Kloster derartige seidene Wäsche fabriziert wurde, wie sie "anständige" Frauen sich gar nicht kaufen können. Wir sind über dergleichen Bedenken schon hinaus. Von Flanellunteröcken kann keine Arbeitsstube leben. Auch Schwester Aquila fragt, solange ihr praktisches Jahr dauert, nicht nach der Bestimmung ihrer Mäntel. Ebensowenig können jene katholischen Lehrschwestern, die an der Berliner Universität neue Sprachen studieren, es vermeiden, zwischen jungen Männern zu sitzen. Sie tun es mit stillem Dulderblick. Sie sind ja, auch wenn sie noch jung sind, in dieser Beziehung schon jenseits von gut und böse. Und zu jedem Schritt seitlich vom Wege fehlt ihnen das Geld, denn in die Hand bekommen sie nur abgezählt die Groschen Fahrgeld, und wenn sie einmal etwas dringend zu telephonieren haben, müssen sie sich die 15 Pfennig erst leihen. Sonst hat die katholische Kirche eine fabelhafte Anpassungsfähigkeit, in Klosterpensionaten gibt es heute sogar schon Tanzunterricht, aber eines behält man sich aus den Klausurvorschriften unangetastet: noch nie hat ein Berliner Student eine Klosterschwester - frühstücken sehen. Diese menschliche Hantierung wird nie vor Laienaugen ausgeübt.

Es ist ganz lehrreich und unterhaltend, auch in solche Kreise einmal hineinzusehen. Für mich jedenfalls lehrreicher als die vielbeschrieene Berliner große Polizeiausstellung, die ein einziges politisch-proletarisches Protzen mit der großstädtischen Unterwelt und ihrer Bekämpfung ist, und dabei voll von ekelerregenden Geschmacklosigkeiten, so dem "im Original" hier aufgebauten Zimmer des Lustmörders Haarmann samt Original-Leichenzerstückelungsmessern. Das Ganze ist trotz der für den Fachmann wertvollen Einzelheiten phantasievergiftende Verbrecherromantik schlechtesten Stiles, zu der gegen nur 30 Pfennig Eintrittsgeld auch alle minderjährigen Volksschüler höflichst eingeladen sind. "Erscheint in Massen!" Und die Großstadtjungen schauen sich satt an allem Schaurigen und schauen sich die Augen aus nach den Typen, die es angeblich hier unter dem Publikum geben soll: nach Knacker-Ede, nach Mulatten-Karl und nach dem glibbrigen Emil.

Derweil wird in der politischen Polizei und in parlamentarischen Ausschüssen nach der "vergiftenden Atmosphäre" geschnüffelt, die - von rechts ausgehen soll. Man schnüffelt bis in die letzten Gehirnfältchen hinein. Von einem linksstehenden Parlamentarier wurde da ein vorgeladener Deutschnationaler gefragt, welche - Ansicht er über eine bestimmte Sache habe, und warum er sie habe, und seit wann er sie habe. Die darauf erfolgende Antwort ließ den Frager verstummen und das gesamte Auditorium hell auflachen. Die Antwort lautete: "Ich bitte den Herrn Vorsitzenden um Entschuldigung, wenn ich mit einem Scherzverse diese Frage beantworte, und ich bemerke gleichzeitig, daß darin keine Anzüglichkeit gegen den Fragesteller liegen soll:

Den Dichter fragt ein Dummer,
Wieso, weshalb, warum er.
Fragt man denn auch die Rose,
warum, weshalb, wieso se ?"

30. September 1926 (Donnerstag)


5

Freie Verpflegung für jedermann - Hasard im Kriege - Herr General Vertreter aus Berlin - Bei Krotoschiner an der Ponte - Ecarté ist erlaubt - Damen am Spieltisch - "Mitgenommen" für 30 Pfennige - Frühklubs - Unter zwei Polizeipräsidenten.

Feine Sache. So etwas, meint man, gäbe es nur in Berlin. Es ist sozusagen die Lösung der sozialen Frage. Ein edler Menschenfreund - er heißt Krotoschiner, und ich kenne ihn gar nicht - schickt mir eine Einladung in seinen Klub. Jahresbeitrag 10 Mark. Dafür steht mir das Klubauto jedesmal umsonst zur Verfügung, wenn ich zu zu Herrn Krotoschiner will. Und in dem Klub kriege ich täglich umsonst den Nachmittagskaffee, das Abendbrot, die Nachterfrischung, das Frühstück. Einfach Schlaraffenland.

Es gibt Hunderte von Krotoschiners in Berlin, Dutzende auch in anderen Großstaädten.

Natürlich weiß ich, daß es sich - um Spielklubs handelt. Nichts für mich. Seit meiner Volljährigkeit heißen meine Lebensregeln: "Viel rauchen, wenig (aber gut) trinken, gar nicht spielen." Wenn wir im Felde mal in Ruhestellung lagen und die Einladerei rundum ging und ganze Nächte hindurch die Karten zischten, habe ich nach Möglichkeit eingegriffen und den jüngeren Herren scharf vorgehalten, daß es eine Gemeinheit sei, Gäste mit der Absicht zu sich zu bitten, ihnen das Geld abzunehmen. Denn die edle Absicht, an seine Gäste zu verlieren, hat wohl niemand. Außerdem brauchten wir unsere Nerven für die Front. Manch einer denkt freilich anders. General Hoffmann, der bekannte, sagte einmal, er habe Spieler gern: wer nie auf eine Karte sein Letztes gesetzt habe, der werde nie ein großer Feldherr. Nun gut; das mag für einzelne genialische Menschen gelten. Für uns von der großen arbeitenden Masse ist der Spielteufel derselbe wie der Saufteufel. Und die beiden haben ein Kompagniegeschäft.

Aber immerhin, fahren wir einmal zu Krotoschiner. Ich kenne von früher her die internationalen Spielsäle in Frankreich, in Belgien, in der Schweiz, die allesamt in vielen Romanen so gräßlich verzerrt dargestellt sind. Im Club du Coursaal in Ostenbde wollte ich mir einmal den Betrieb ansehen, hatte aber, um als "Mitglied" aufgenommen zu werden, irgendeine Art Legitimation nötig. Ich suche in den Taschen: nichts. Da pumpt mir ein Herr, auch ein Deutscher, seine Visitenkarte. Darauf steht: General-Vertreter Soundso der Werke Soundso. Das gebe ich ab und erhalte darauf, in Genehmigung meines "Aufnahmegesuches" nach angeblichem Ballotemant, eine Mitgliedskarte mit der Eintragung: "Monsieur le Général Vertreter, de Berlin." Als Herr General Vertreter konnte ich gleich darauf am Baccaratisch neben einer zaundürren Berliner Kommerzienrätin Platz nehmen. Bei Herrn Krotoschiner ist es noch einfacher. Ich berufe mich auf die gedruckte Einladung, die ich erhalten habe, nenne einen beliebigen Namen und schon habe ich meine Karte. Also schlagen wir uns mal eine Nacht um die Ohren, setzen wir uns zum Ecarté an die Ponte der Mitmacher und sehen wir zu, was in dem heutigen Deutschland möglich und rechtens ist. Spielklubs hat es vor der Revolution bei uns kaum gegeben, sondern nur Klubs, in denen auch gespielt wurde. Immer in gleichgeschichteter Gesellschaft. In dem einen Klub hockten die Konfektionäre beieinander, im anderen der Landadel, im dritten die Automobilisten, im vierten die Pressemenschen usw. Man siebte die Besucher. Wo es nicht geschah, wie etwa in dem berüchtigten Klub der Harmlosen, in dem "der olle ehrliche Seemann" und ähnliche dunkle Existenzen eine Rolle gaben, da griffen Polizei und Gerichte über kurz oder lang ein. Heute aber ist die Zahl der nahezu öffentlichen, jedermann zugänglichen Spielklubs Legion, und Polizei und Gericht haben mit ihnen einen Verständigungsfrieden geschlossen. Man läßt sie unbehelligt bei ihrem Geschäft des Rupfens und Ablederns, solange sie nicht "reine Glücksspiele" wie etwa Roulette betreiben, sondern solche Spiele, bei denen es auf "Intelligenz" ankommt. Als solch ein Spiel ist Ecarté anerkannt, weil das Kombinationstalent eines guten Spielers genüge, um durch seine Berechnung das Spiel entscheidend zu beeinflussen.

Gut. Das gilt für den Chouetteur und seinen Gegenspieler, die einander gegenüber an dem grünen Mittelstück des langen Tisches sitzen. Links und rechts aber sitzt und steht in Haufen die Ponte. Da legen die Leute ihr Geld oder ihre Chips - die geldwerten Spielmarken - einfach auf irgendein Fach des großen Nummernfeldes. Auf das Kartenspiel der beiden haben sie so gut wie gar keinen Einfluß. Nach jeder Partie, und das sind nur wenige Minuten, ist ihr Einsatz bestenfalls verdoppelt (in Monte Carlo gibt es unter Umständen des zweiunddreißigfache Geld am Roulettetisch) oder sie gewinnen einen Bruchteil des Einsatzes oder sie verlieren ihn ganz. Meerschtendeels dieses; denn die Herren, die Krotoschiner oder so ähnlich heißen, wollen auch leben, ihr Bankkonto vergrößern, und müssen doch auch die Croupiers, die Pagen, die Aufpasser, das Küchenpersonal, den Chauffeur bezahlen.

Nur für Schlepper hat man heute kaum noch Auslagen, da das Publikum zu den von der republikanischen Staatsgewalt geschützten Spielklubs von alleine strömt. Namentlich weibliche Schlepper sind nicht nötig. Daß junge Kokotten in großer Aufmachung dasitzen, das steht nur noch in Zeitungsfeuilletons.

In dieser Nacht bei dem Menschenfreunde Krotoschiner habe ich nur ältere Semester feminini generis gesehen, sehr wohlbeleibte oder ganz ausgenergelte. Sie setzten an der Ponte meist den Mindestsatz von 1 Mark. Da kann man schon stundenlang spielen, bis 100 Mark alle sind, die man eigentlich am nächsten Morgen als Miete daheim bezahlen wollte. Ein junger Portokassendachs setzt jedesmal 10 Mark und ist nach einer halben Stunde blank. Ein Spieler, der in seinem Zivilberuf vielleicht Fassadenkletterer ist und übertrieben elegant aussieht, wirft 1000 Mark hin. Gegen 3 Uhr morgens werden einigen Damen die Mundwinkel schlaff. Ich sitze zwischen zweien, von denen die eine nichts mehr hat, die andere nur noch 30 Pfennige.

Die eine sagt: "Jetzt muß ich bis 8 Uhr morgens hierbleiben, denn ich kann nachts nicht zu Fuß nach Hause laufen, ich wohne anderthalb Stunden weit in Berlin-Dahlem."

Die andere sagt: "Ich war gleich anfangs in der Brenne, jetzt bin ich tot, nehmen Sie mich doch für 30 Pfennig noch einmal mit!"

Schön, ich "beteilige" sie mit ihren drei Groschen, die schweißverklebt in meine Hand gleiten. Die eine Mark, die ich setze, gewinnt. Also kriegt die Frau 60 Pfennig. Sie läßt sich wieder "mitnehmen", gewinnt wieder. Nun kann sie selber den Mindesbetrag setzen. Fünf Minuten später hat sie nichts mehr, denn den Rest von 20 Pfennig ist sie schon dem Zigarettenfräulein schuldig. Da holt sie aus ihrem Täschchen ihre Garderobenmarke hervor und bettelt mit flackernden Augen:

"Kaufen Sie mir die Marke für 20 Mark ab, es ist ein ganz neuer Mantel, Sie haben doch sicherlich eine Frau oder ein Verhältnis, der Mantel hat 150 Mark gekostet!"

Pfui Teufel. Ich habe genug von der Ponte. Herr Krotoschiner, der überall herumschleicht und hier und da mit seinen Aufpassern wispert, fragt mich, ob ich nicht selber mal chouettieren wollte. Ich denke nicht daran. Ich kann Gott sei Dank überhaupt nicht Karten spielen und will es auch nie lernen. Ich bin ein ganz unnützes Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Außerdem komme ich mir gegen 4 Uhr morgens so vor, als säße ich in einer Räuberhöhle in einem ganz fremden Lande. Auf einmal fällt es mir auf, daß unter den vielleicht fünf Dutzend Herren, die hier anwesend sind, etwa die Hälfte unter sich - russisch flüstert. Manchmal auch berlin-hausvogteiplätzisch, mit Chuzbe und so, was ich überhaupt nicht verstehen kann. Ich ziehe mich also für eine Weile aus den beiden großen Spielzimmern in den Speisesaal zurück. Da steht ein riesiges Buffet, das so aussieht, als sei es das Portal eines romanischen Domes. Da stehen kleine Tischchen und bequeme tiefe Ledersessel. Mir gegenüber sitzt eine Dame von etwa 30 Jahren, gut gekleidet, schlicht und anständig, mit echtem Perlenkettchen, sie könnte die Frau eines Rittergutsbesitzers oder Chefchemikers oder eines höheren Beamten sein, und starrt mit verlorenen Augen an die Decke. Hin und wieder kommt ihr Mann aus einem der Spielsäle herbeigeeilt, stellt ihr einen Teller frisches Obst oder sonst etwas hin, sagt "Schatzi" und "Liebling" und fügt, wenn auch nicht mit ganz so klarem Ton, hinzu: "Wir sind gerade am Gewinnen, ich habe, alle Spesen abgerechnet, eben schon 32 Mark Plus!" Ein eleganter alter Herr, Bekannter der beiden, kommt gerade, um ein Glas Bier herunterzustürzen, und wird als Zeuge angerufen: "Nicht wahr, ich bin jetzt in der Gewinnserie ?" Er antwortet nicht, wendet sich nur zu der Dame und fragt: "Gnädige Frau, macht es Ihnen denn gar keinen Spaß ?"

Und sie sagt: "Ich bin so furchtbar abgespannt!"

Es klingt wie Schluchzen.

In allen diesen Hunderten von Klubs fängt das Treiben am Nachmittag an und schläft am Morgen ein. Der stärkste Zufluß kommt nach Mitternacht. Die wenigen, die gerade an der "Glückssträhne" sind, möchten tagsüber, statt zu schlafen, weitermachen. Unter den vielen Rittern von der Pechsträhne wohl auch der und jener, um wieder hochzukommen. Um diesem "Bedürfnis" zu genügen, gibt es in Berlin jetzt auch sogenannte Frühklubs, die um 8 Uhr morgens beginnen und um 6 Uhr abends schließen. Wer einmal in diese Mühle gerät, der kommt nicht mit heilen Knochen heraus, der ist unter Umständen schon nach wenigen Tagen nur noch eine Ruine. Dann liest man etwa in der Zeitung, der Herr Generaldirektor X.Y., bisher ein hochgeachteter Mitbürger und treusorgender Familienvater, habe, um Spielverluste zu decken, Unterschlagungen gemacht und sei mit seiner Privatsekretärin ins Ausland geflüchtet. Auch der feigste aller Teufel, der Selbstmordteufel, sieht die polizeilich erlaubten Spielklubs natürlich gern. Da kann er häufig ernten. Und er hat doch heute sowieso schon so viel: Erwerbslose, die der Dawespakt ihm in die Arme getrieben hat, liegen entseelt vor seinem Opferaltar, und dazwischen junge Primaner, die von der Revue und dem Straßenbummel danach geistig und körperlich verseucht nach Hause gekommen sind. Der Großstadtmoloch ist unersättlich. Und über die Spielklubs stolpert man fast in allen Straßen. Nur aus dem Handgelenk seien hier die "vornehmsten" genannt: Klub im Eden, Klub im Marmorhaus, Gesellschaft Fasan, Industrieklub Borussia, Kurfürstendammklub, Metropolklub, Ressource Kurfürstendamm, Sportklub Kurfürstendamm, Tiergartenklub, Kasinovereinigung Westen, Gesellige Vereinigung Tellus, Gesellige Vereinigung von 1926, Gesellschaftliche Vereinigung Bohème, Trocaderoklub, Vereinigung Berliner Künstler, Klub am Wittenbergplatz, Klub Berolina, Klub der Sportfreunde, Klub Monte, Courbièreklub, Exzelsiorklub, Internationaler Filmklub, Picadillyklub, Wilmersdorfer Ressource von 1924, Casinoklub, Concordia, Klub A.B.G., Klub Bayrischer Platz, Europaklub, Wittelsbachkasino, Klub Zentrum, Klub Wilhelmstraße von 1925, Lindenklub, Primusklub, Mercatilia, Klub am Alexanderplatz. Es gibt manche, die ich hier nicht genannt habe, die mangels kapitalkräftiger Unternehmer und Spieler schon wieder nach einigen Tagen schließen, weil das angezeigte Gratis-Eisbein-Essen die verfügbaren Gelder erschöpft hat, es gibt aber auch andere, die ihrem Herrn Krotoschiner schätzungsweise täglich - jawohl, täglich - rund 2000 Mark an Kartengeldern und Bankeinnahmen bringen.

Der frühere Berliner Polizeipräsident, der rote Herr Richter, der Mann, der von Barmat Geschenke nahm, kannte eine Anzahl der Klubs aus eigener Erfahrung. Der letzte Berliner Polizeipräsident, der rote Herr Grzesynski, der einst Vorsitzender eines Arbeiter- und Soldatenrats war, ist auch nicht ganz kenntnislos.

Jetzt ist Grzesynski Minister des Innern im Freistaat Preußen geworden. Von Beruf war er ursprünglich Metalldrücker. Schade, daß er es nicht fertiggebracht hat, Spielunterdrücker zu werden.
7. Oktober 1926 (Donnerstag)


6

Im Lachkabinett - Private Gemäldegalerien - Bei Lenbachs Tochter - Filmregisseure - Waschnecks "Brennende Grenze" - Olga Tschechowa - Roda-Rosenfeld und Schlicht-Baudissin - Der "zu'ne" Brautkranz.

Am Vormittag ist bekanntlich sogar in Berlin "nichts los", es sei denn gelegentlich sonntags eine Aufführung der Jungen Bühne, wo es bisweilen herzerfrischenden Krach gibt. Was fängt man da mit einem Besucher von außerhalb an, der, wie er sagt, seinen Spaß haben will ? Ich sage: auf ins frühere Kronprinzenpalais. Denn das ist neuerdings unser Lachkabinett. Kein Zerrspiegel kann so das Zwerchfell kitzeln wie jene moderne Kunst, deren verwegenste Erzeugnisse im nachnovemberlichen Deutschland hier ihre Gaststätte gefunden haben. Auch die alten Galerien und Museen bleiben von diesem Zug der Zeit nicht unberührt. Alljährlich verschwinden daraus immer wieder uns liebgewordene Bilder und werden "magaziniert", irgendwo im Keller verstaut, oder gar ins Ausland verschoben, um ganz wilden neuen Platz zu machen. Aus anderen Gründen, namentlich aus materieller Not während der Inflationszeit, haben sich auch die privaten Sammlungen stark gelichtet. Mit großer Andacht habe ich einst, lange vor dem Kriege, die größte Böcklingalerie der Welt mir angesehen, bei der gütigen alten Frau Simrock. Jetzt blüht das berühmte Musikaliengeschäft der Familie unter dem Sohne wieder auf, jetzt braucht man sich der überkommenen Schätze nicht mehr zu entäußern, aber 1923 sind doch einige Böcklins verkauft worden.

Mit manchen Bildern geht es einem so, daß sie einem jahrzehntelang in Herz und Hirn brennen. Wie gut kann ich mir vorstellen, daß man schmerzvoll in irgendeine Marmorstatue verliebt ist! Nicht in das Modell dazu, nein, in das Kunstwerk selbst. Im Wachen und im Träumen sehe ich so stets Lenbachs Bild seiner zehnjährigen Tochter vor mir. Aus flirrendem Goldhaar starren ein paar Märchenaugen. Man kann sich nicht losreißen. Tiefe ist darin und Trotz, glückhaftes Träumen ist darin und doch auch Wissen um das Leid, Reichtum ist darin und doch auch Herzenshunger. Wenn das Bild früher einmal irgendwo ausgestellt war, saß ich bestimmt davor, vergaß die Welt um mich her und verlor mich in diese Augen. Und nun zeigt mir Lenbachs Tochter selbst in ihrem Berliner Heim - sie ist die Gattin eines mir seit Jahren sehr lieben hohen Seeoffiziers, ist eine junge Exzellenz - schier achtlos dieses Bild. Sie ahnt nicht, welche Erschütterung das für mich bedeutet. Ich kenne jeden Lenbach, der jemals ausgestellt war. Um der Lenbachs willen gehe ich, wenn ich in München bin, sogar in die Schackgalerie, die ich sonst nicht besonders schätze. Und da in der behaglichen Wohnung im Berliner Westen hängen ihrer 30 "echte Lenbachs" an den Wänden - und eine "echte Lenbach" führt mich zwischen den Schätzen umher. Was denn weiter dabei sei, mag mancher sagen. Ich solle mich doch nicht so haben, mag mancher sagen. Aber es ist nun einmal so: für mich ist das heiliges Land. Die Modegrößen aus Tschechien und Frankreich und Galizien wühlen mich nicht auf, aber wenn ein Prinz aus deutschem Genieland durch seine Werke zu mir spricht, für mich der größte Seelenkünder unter allen Malern, dann leuchten mir die Augen. Dann bin ich glücklich, ein Deutscher zu sein. Dann ist mir so zu Mut, wie damals, als ich zum erstenmal in meinem Leben den Händedruck des Altreichskanzlers Fürsten Bismarck empfing; oder zum erstenmal Beethovens Eroica verstand; oder zum erstenmal im Kriege unter deutschem Siegeswillen feindliche Divisionen zusammenbrechen sah. Nach dem Kaffeestündchen in der Ecke des Herrenzimmers, auf die von den Wänden herab auch wieder lauter Lenbachs, große Männer aus Deutschlands Geschichte und kluge Frauen, auf uns schauen, hole ich fast beschämt den letzten eben im Buchhandel erschienenen Sammelband meiner Berliner Plauderbriefe hervor und schreibe für die Dame des Hauses nur die paar Worte ein: "Dem Königskind - ein Kärrner."

Am nächsten Tage bin ich mit dem Manne, dem Vizeadmiral a.D., draußen in Tempelhof. Auf dem Ateliergelände des Eikofilms. Kopfüber sozusagen der Sprung von stillen Ewigkeitswerten in die atemlose Augenblickskunst. So ist das Leben. Heute in der Erhabenheit eines mächtigen Domes. Morgen in tänzerischem Wirbel.

Wie es in dem Aufnahmeraum beim Werden einer neuen Flimmerschöpfung zugeht, wie da der Regisseur seine Schlachten schlägt, hat, auch mit allem Schlachtendonner getreu, Rudolf Stratz in einem Roman geschildert. Sozusagen onomatopoetisch getreu. Dieser Krach, diese Aufregung, dieses Getue sind mir unangenehm. Das ist schon fast zoologischer Garten oder entgleister Viehzug, gräßlich exotisch, gräßlich undeutsch, neun Zehntel davon aufgeblähte Pose von Direktoren, Regisseuren, Atelierleitern, Operateuren, kurz, entfesselter "polnischer Korridor", wie man neuerdings den Kurfürstendamm nennt. Theater im Theater, all dies Schreien und Schwitzen, dieses pompöse Armwerfen und dieses Auffallenwollen schon in der Kleidung der Dirigierenden: Reitstiefel, Tennishemd, Monokel. Es ist fabelhaft, welche Ruhe - trotz gelegentlicher scharfer Kommandoworte - demgegenüber in den Räumen des Eikofilms herrscht. Natürlich hört man immer wieder von irgendwoher Klopfen, Hämmern, Sägen, denn während gerade in der prächtig aufgebauten "Halle eines Herrenhauses" gekurbelt wird, wird hinten in der "Waldschänke" der mächtige Lehmofen gesetzt, anderswo im "Biedermeierzimmer" das Mullgardinchen angebracht, der "Ausblick in den Park" dioramaartig durch ein paar davor festgestampfte Bäume ergänzt, die "Kleinstadtstraße" vorgeschoben, die "Räucherkammer" mit Nägeln für Würste und Schinken versehen, aber der Feldherr - hier ist es der Regisseur Waschneck - brüllt nicht, gestikuliert nicht, macht nicht die Leute nervös, posiert nicht vor den Besuchern und den Scheuerfrauen, sondern gibt nur hier und da freundlich und ruhig und bestimmt den Künstlern und Künstlerinnen seine Anweisungen, markiert eine Stellung, läßt einen Gesichtsausdruck aufflammen. Als er zum erstenmal das Manuskript zu dem Film, der da eben entsteht, zu "Brennende Grenze", verfaßt von Fey und Erich Waschneck, vorlas, standen den Hörern die Tränen in den Augen. Und selbst ein so kapriziöses Frauenzimmerchen wie die Tschechowa sieht gläubig und dankbar zu ihm auf, und weil er so ist, so gütig und sachlich, nur Künstler, nicht Poseur, nennen die Diven ihn, obwohl er noch jung an Jahren ist, Vati und du. Der neue Film, der im Dezember herauskommt, dieser Film von den brennenden Grenzen, ist ein zeitgeschichtliches Thema aus dem unglücklichen Oberschlesien; aus der Zeit, wo wilde Horden da über die Grenze kamen und die deutschen Höfe überfielen, ein Stück aus dem Drama des nach dem Kriege zerschlagenen ohnmächtigen Deutschlands. Unser Volk liest ja bestenfalls nur noch Leitartikel, meist nicht viel mehr als Lokalchronik und Verbrecheraffären, hat keine Ahnung von seiner eigenen jüngsten Geschichte. Im Film wird sie ihm wieder aufgebaut. Auch die "Eiserne Braut" und "In Treue stark", die beiden Marinefilme der Eiko, gehören zu diesem Programm. Man kommt anders doch nicht mehr heran an die Massen. Natürlich wird die Weltgeschichte anekdotisch aufgelöst und bildhaft zurechtgemacht. Das ist ja auch der große Geschäftstrick des Vielschreibers Emil Ludwig, der in dieser Form uns seine von anderer Seite her tendenziösen Biographien nahebringt. Gift und Gegengift kommen so in Plauderart zu uns. Es ist ein stummes, zähes Ringen um die Volksseele; und siegen wird der, der - die beste Leistung aufweist.

Die Insurgenten zechen an der großen Tafle in der Halle. Darunter ihr Führer, von Hans Schlettow gemimt, und der Kommissar, den Fritz Alberti darstellt. Ich wußte bisher noch nicht, wie schwer es ist, jemand plebejisches Fressen beizubringen. Waschneck muß sich alle Mühe geben, damit die Freischärler die gebratenen Hühnerbeine, soeben vom Restaurant Traube geliefert, richtig mit beiden Fäusten durch die Zähne ziehen und die Knochen richtig auf den Teller spucken. Halt, abblenden! Noch mal zurück die Schüssel mit den Kartoffeln! Die Kartoffel dampfen ja nicht, sind schon zu sehr abgekühlt; auch die geringste Kleinigkeit darf für die Bildwirkung nicht vergessen werden. Die Freitreppe herunter von der Galerie kommt mit stillem, stolzem Dulderantlitz die Gutsherrin geschritten. Das ist Jenny Hasselquist, die schwedische Gräfin, die in "Gösta Berling" einen so hinreißenden Augenaufschlag hat. Und da kommt, tänzelnd, kokett in den Hüften sich wiegend, in seidenen Reithosen und langen Lackstiefeln, die Geliebte des Bandenführers: Olga Tschechowa. Jenseits des Aufnahmeraumes sitzt ein Musiker am Flügel und spielt. Vier Balalaikaspieler zirpen dazu. Ein notwendiges, im Film später unsichtbares Hilfsmittel: so kommt Rhythmus in die Bewegung der jungen Wildkatze. Sie fährt dem einen Freischärler mit der Hand in den Schopf, setzt sich dem Führer auf den Schoß, trinkt, wird übermütig, und während die besoffene Bande sich damit vergnügt, die Glühbirnen des Kronleuchters einzeln auszuschießen, ist sie plötzlich auf dem Tisch und tanzt, - tanzt, je nun, wie eben nur solch losgelassene slavische Wildkatze tanzen kann. "Eine entzückende Frau!", sagte neulich, als er zusammen mit ihr filmte, sogar Harry Liedke, der doch wahrhaftig verwöhnt ist; und hatte dies Wort, das er ehrlich und absichtslos aussprach, sicherlich nachher, zu Hause bei Frau Käte Dorsch-Liedke, erheblich zu büßen. Schadet nichts. Recht hat er doch. Wenn die Tschechowa, diese biegsame Gerte, sich wiegt, dann wippen alle Füße mit; und wenn sie lächelt, dann schmunzeln selbst die ältesten Garderobièren. Sie ist eine Nichte der berühmten Schauspielerin ihres Namens, eine Nichte des Schriftstellers Anton Tschechow. Ein anderer Onkel von ihr, russischer General, erschoß sich nach Aùsbruch der Revolution. Als junges Kind hat sie die Kunstakademie besucht und ihr Diplom als Bildhauerin bekommen. Nachher lernte sie in Stanislawskijs Moskauer Theater mimen und tanzen. Heute reitet sie morgens von 7 bis 8 im Tattersall des Westens und filmt dann bis zum Abend. In der kurzen Mittagspause setze ich mich zu ihr. Sie stichelt an einer Richelieuarbeit und unterhält sich mit einem richtigen Mongolen, der eine Episodenrolle in der "Brennenden Grenze" hat, mit dem von alten Jakutenfürsten abstammenden Mamai Erbechtai Terebasa, der als sibirischer Oberleutnant zuletzt 1919 Seite an Seite mit uns im Baltikum gegen die Bolschewiken focht. Er sieht natürlich so aus, als produziere er sich im Varété an der Bambusstange oder als jongliere er dort mit fünf Tellern, aber in Wirklichkeit ist dieser schlitzäugige Gelbe ein mehrsprachig gebildeter Mensch mit ariostokratisch feinen Händen. Natürlich kriege ich Lust, die Tschechowa nach ihren Erlebnissen während der Revolution zu fragen. Aber ich weiß schon: Politik ist verboten. Man ist jetzt zwar deutsche Reichsangehörige, man fühlt sich durchaus wohl in Berlin in der prächtigen Elf-Zimmer-Wohnung, man muß eigens seine freundliche Mutter ("sie ist mindestens so hübsch wie ich", sagt der Spitzbub) dazu anstellen, um an Anbeter und Anbeterinnen Autogramme verteilen zu lassen, man ist also ganz eingebürgert, - aber man hat noch Verwandte in der Sowjetrepublik, die bitten immer um Vorsicht in allen Äußerungen.

"Außerdem, ganz ehrlich heraus," sagt mir die Tschechowa, "ich möchte die Revolution in meinem Dasein nicht streichen. Ich bin doch Schauspielerin, ich habe sie menschlich stark erlebt. Dieses Losgelassensein, dieses Um und Um starker Affekte und großer Ereignisse war für mich ein unglaubliches Erlebnis. Es hat mir neue Bilder, es hat mir Inhalt gegeben. Sehen Sie, eine rechte Schauspielerin muß nicht nur unglücklich geliebt, sie muß auch richtig Not gelitten haben, gehungert haben, auf allen Höhen und in allen Tiefen gewesen sein!"

Spaß hat es ihr gemacht, in Roda-Rodas "Feldherrnhügel" als richtiges Bildhauermädel aufzutreten, wieder, klitsch, klatsch, am Ton modellieren und mit dem Spachtel arbeiten zu können. Der Inhalt eines Stückes, die Idee, ist Schauspielern ja meist Nebensache, nur die Figur ist alles. Die Figur muß vom Leben durchpulst werden. Die Idee ist Sache des Dichters und des Publikums. Ich habe mir den Feldherrnhügel des pschütten Herrn Roda-Rosenfeld nicht angesehen. Ich mag diese Stücke nicht, in denen der Soldat ein Trampeltier, der Leutnant ein Fatzke, der Oberst ein Trottel ist; niemals etwas anderes ist. Diese sogenannten Selbstzeugnisse, meist aus dem "Simplizissimus" gesammelt, hat die feindliche Propaganda während des Krieges unter dem Titel herausgegeben: So sind die Deutschen. Ja, so sind wir. Nicht, wie wir da abgemalt sind. Aber wir haben immer gern unser Stärkstes uns verspotten lassen. Wir hatten auch in Deutschland einen Roda-Rosenfeld, nur daß es ein wirklicher Deutscher war, sogar vom alten Militäradel, der unter dem Namen Freiherr v.Schlicht seinen Stand veralberte. Mit seiner Familie, den Grafen Baudissin, war er seit einem Menschenalter zerfallen. Seine Humoresken las man auch nicht mehr, denn das alte Heer ist doch zur Strecke gebracht. Jetzt ist er in Weimar, von eigener Hand, wie es heißt, aus dem Leben gegangen.

Fürs Sterben und fürs Heiraten, sagt die Statistik, gibt es zweimal im Jahre Hochsaison, im Frühling und im Herbst. Das ist denn auch die Hochsaison für die Blumenhändler. Gelegentlich steh ich gern bei ihnen in der Markthalle. da läßt sich gut Kulturgeschichte treiben. Dieser Tage kommt zögernd eine Berliner Frau an den Blumenstand und sagt: "Ick mecht' 'n Brautkranz für mein' Dochter, aba hinten offen!"   "So, offen, also is schon wat anjekomm' ?", fragt die Händlerin. "Ja, schon vorichten Monat hamwa se jetooft!", erwidert die alte Frau bekümmert. Und die Händlerin tröstet sie: "Ach wat, nehmse en zu'en, seit die Reflution fragt doch keen Aas mehr nach!"

So hat die Revolution also ein Verdienst um die Berlinerin. Sie windet ihr den Jungfernkranz. Der Ruf ist gerettet.
14. Oktober 1926 (Donnerstag)



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