"Rumpelstilzchen"

Berliner Funken
(Jahrgangsband 1926/27)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1927

Glossen 1 - 3
9. bis 23. September 1926


1

Großstadtluft - Die Flucht aufs Wasser - Ferienerinnerungen - Barberina - Im Flughafen - Berlin von oben - Auf dem Funkturm - Klabunds Cromwell.

Luft! Luft!

Wenn man noch den reinen Gletscheratem in sich hat, wenn man die vorletzte Nacht noch in 3100 Meter Höhe übernachtet hat, dann meint man in Berlin ersticken zu müssen, sowie der Zug in die Halle eingefahren ist und nachher auf der Straße der ölige Brodem einem ins Gesicht schlägt. Man hadert mit seinem Geschick. Man verflucht seinen Beruf. Man begreift unsere Stadtväter nicht, die so eifrig für neue Sport- und Spielplätze werben, daß Berlin jetzt damit besser als alle anderen Großstädte versorgt ist, aber derweil unsere Lungen zur Schuttabladestelle aus dieser gräßlichen Atmosphäre machen. Warum tragen die Häuser und Fabriken keine Schornsteine mit Rauchverzehrern ? Warum werden nicht alle stinkenden Autos, Motorräder, Traktoren von der Straße weg beschlagnahmt ? Es wird so vielerlei in Ordnung gebracht. Sogar das Brandenburger Tor ist zur Zeit bis zur Nase mit Baugerüsten umkleidet, weil man doch die letzten Revolutionsspuren tilgen will: der vierspännige Siegeswagen da oben ist von Schüssen durchlöchert und infolgedessen das Eisengerüst darin von Rost zerfressen; die Ausbesserung kostet ein ungeheures Geld. Unser Auge soll also nicht durch Verfall beleidigt werden. Nur für uns selber ist das bißchen Sauerstoff zum Leben immer spärlicher geworden.

Da hilft nur sofortige Flucht, auch wenn man nur noch einen Ferientag hat, den man zum beschaulichen Einfühlen benutzen wollte. Die Koffer sind noch nicht ausgepackt, aber ich rolle schon im großen Rundfahrauto davon. Berolina, Käse, Thieme, Elite und noch einige Touristenverfrachter harren Unter den Linden. Die Elitegesellschaft darunter ist die einzige, die über eigene Motorschiffe verfügt, die einen dann in Pichelswerder aufnehmen und bei guter Mitropa-Verpflegung zu Wasser nach Potsdam oder Paretz oder sonstwohin bringen. Man hat Luft, man hat Sonne, man hat ein ständig wechselndes schönes Landschaftsbild, man gleitet über den Griebnitzsee an Wasservillen von gesättigter Schönheit entlang, man wird am Sarge Friedrichs des Großen von Geschichte Überschauert und von der letzten Tragik am Antikentempel, um dann auf der Rückfahrt, auf einer anderen Strecke, sich wieder vom Zauber der Gegend umfangen zu lassen, auf Fluß und See, zwischen Schwänen und Möven, Wäldern und Schlössern und Kirchen, Sportfahrzeugen und Luxusbooten.

Der Stuttgarter neben mir ist begeistert und will unbedingt zu solch einer Fahrt seine ganze Familie einmal herkommen lassen. Und die Amerikanerin mir gegenüber faltet beseligt die Hände und sagt immer wieder: "Simply lovely!"

Das ist - ich sage es alle Jahre wieder - die eigentliche Schönheit von Berlin, die Seenwelt da draußen. Zwischen Bodensee und Luganer See habe ich in diesem Sommer manches berauschend Schöne gesehen, aber ich bin nicht blasiert heimgekehrt: die stille Anmut unseres Havelparadieses ergreift die Herzen. Herrlich war es ja in der Bernina-Gletscherwelt und in den Walliser Alpen. Und dazwischen gab es ein tiefes Ausruhen neun Tage lang am Lago Maggiore, wo man allmorgendlich in der lauen Flut angesichts der alten Seeräuberburg bei Cannero schwamm, staatlich sich auf italienischem Boden unter Wein und Feigen, zwischen steilem Bambusrohr und mächtigen Bananenblättern befand, in Wirklichkeit aber in deutscher Umgebung hauste: in der Casa Fritz Müller am Bergabhnag in Cannero zu - im Vergleich zu St. Moritz vorher - märchenhaft billigem Pensionspreis. Ich mag Pensionen sonst nicht. Ich schätze den kleinen Einzeltisch im Hotel, an dem man eine Woche lang sitzen kann, ohne Konversation machen zu müssen. Aber auch bei Müllers in Cannero (es ist der bekannte Erzähler Fritz Müller-Partenkirchen) ist man darin ganz zwanglos. Wer Anschluß sucht, findet Anschluß. Wer Stille sucht, der stellt sich seinen Liegestuhl ein paar Serpentinen höher im Berggarten und ist dann unauffindbar. Aus der lustigen Hausordnung hier eine Kostprobe: "Barigraph 1. Das Gescheitdaherreden ist im Räuberhäusl nicht erlaubt. Barigraph 2. Gschaftlhuber sind im Räuberhäusl überflüssig. Barigraph 4. Im Räuberhäusl kann ein jeder so fad sein, als er mag. Barigraph 6. Im Räuberhäusl werden nur die allernotwendigsten gesellschaftlichen Lügen verbuttert." Die Hausfrau ist eine ungemein kluge, gebildete, anregende ältere Dame, die einst in Zürich studiert hat. Und so taktvoll, daß sie mich, den Schriftsteller, nicht ein einziges Mal nach meinem Geschriebenen fragte. Was für eine Wohltat das ist, werden besonders Ärzte mir nachfühlen können, die so oft in der Sommerfrische bei Tisch konsultiert werden. Es war wirklich ein Aufatmen. Das alles geht mir durch den Sinn, die ganzen Ferien ziehen in lockenden Bildern an mir vorüber, während unser Motorschiff still über die Havel schlürft und gluckst, die Abendsonne das Schloß Babelsberg vergoldet und die Pfaueninsel ruhevoll ihr Märchenwunder birgt.

Am späten Abend dann in der Barberina in der Hardenbergstraße am Zoo. Da ist Neuberlin am neuberlinischsten. Die Blaßgesichter aus Heringsdorf - diesmal spielten die Mücken dort ohne Sonne - sind wieder vollzählig da. Und sonst das übliche bunte Gemisch. Am Nebentisch vier Herren aus Cuba. Drüben an der anderen Wand ein deutscher Universitätsprofessor, den ich kenne und nachher begrüße. Schon ist man mitten im modernen Veitstanz, dem Charleston: Achtung, Schienbeine! Kellner balancieren erlesene Köstlichkeiten an die Tischchen der wenigen Verschwender; man hat wieder alles in Deutschland, man hat es vielfach sogar schon eleganter und besser als rundum im Auslande, aber während früher die wenigen Genießer in der großen Zahl der Schlemmer verschwanden, ist man heute allgemein bescheidener und vornehmer geworden. Als braungebrannter Gesundheitsprotz falle ich natürlich auf. Leider auch durch etwas anderes, wenigstens aus der Vogelschau. Der Scheitel wird licht. "Die Haare fliehen pfeilgeschwind", heißt es ja schon in Schillers Glocke. Und aus einer der koketten kleinen Logen kichert eine Schöne auf mich herunter und wispert - ich bin sehr hellhörig - auf mich zeigend einer anderen zu: "Bubikopf mit Spielwiese!"

So weit hat man es also wirklich gebracht. Zu einer angehenden Lichtung auf dem Denkerhaupte. Woher das kommt ? Ich sage selbstverständlich: vom Sturzhelm, den ich im Kriege als Flieger immer aufhatte. Der Krieg adelt vieles. Jeder von Geburt an Hinkende ist heute von Veteranenglorie umweht. Ein alter Bauer, der vor 20 Jahren drei Finger in der Häckselmaschine verloren hat, ist heute Held, dem sie bei Verdun abgeschossen wurden. Den Sturzhelm werde ich wohl nie wieder aufsetzen. Ich fliege nicht mehr, sondern ich werde geflogen, und in der bequemen Kabine des Verkehrsflugzeuges kann man im Dineranzug barhäuptig sitzen; kein Luftzug verwühlt einem den Scheitel. Es ist gar kein Wagnis mehr dabei. Eine Dame von 79 Jahren saß dieser Tage neben mir im Flugzeug und plauderte unterwegs, wie wenn sie den Sophaplatz beim Damenkaffee innehätte. Schon der Besuch im Zentralflughafen Berlin-Tempelhof beruhigt. Mit verblüffender Regelmäßigkeit wie auf der Eisenbahn kommen und gehen die Luftvehikel; die Dienstschalter, die Warteräume, die Zollabfertigung, alles macht eine so eingearbeitet-sachlichen, gänzlich unabenteuerlichen Eindruck. Die "Bahnsteigkarte" kostet hier 20 Pfennig. Dafür steht man nicht in Ruß und Rauch herum, sondern sitzt im Freien und hört und sieht Erstaunliches. Ein Gesprächsfragment, das ich auffange:

"Können Sie mir sagen, wo Blümchen eben ist ?"

"Ich weiß nicht, heute morgen traf ich ihn in Paris."

Man kann in Wien morgens Kaffee trinken, in Prag frühstücken, in Berlin Mittag essen, in Kopenhagen abends ins Tivoli gehen. Man kann sonnabends seinen Ausflug nach Zürich oder Ostende oder Stockholm machen und Montags wieder in seinem Bureau sein. Die Sicherheit ist, wenigstens auf den nicht von Franzosen betriebenen Strecken, schon so groß wie die auf der Eisenbahn. Die Lufthansa organisiert jetzt die Strecke nach Ostasien; in 5 Tagen wird man von Berlin nach Peking gelangen können. Schon jetzt erlebt man im Berliner Flughafen die märchenhaftesten Dinge. Da kommen vier Herren aus London an. Es gibt 30 Minuten Aufenthalt, Essenspause. Dann geht es weiter. Über München, Konstantinopel, Alexandria, Aden nach - Indien. Wo noch kein Streckendienst ist, in Sonderflugzeugen. So etwas können sich natürlich nur sehr wenige Leute leisten. Was aber jedermann einmal in seinem Leben wenigstens unternehmen sollte und könnte, das ist ein Rundflug über der eigenen Heimatstadt, sofern sie einen Flugplatz hat. Die Landkarte bekommt dadurch Leben. Man erhält zum ersten Mal einen Überblick über das Ineinanderwachsen von Land und Stadt, von Natur und Technik, und ist dann meist über die Kleinwinzigkeit alles von Menschen Geschaffenen im Vergleich zu der ewigen Erde erstaunt. Wer sich viel in der Luft getummelt hat, der stimmt freilich nicht in den Chorus der Neulinge ein, die alles für wunderherrlich erklärt. Wunderherrlich wird es erst über der geschlossenen Wolkendecke, wenn das große Leuchten den mißfarbenen Erdendunst abgelöst hat. Sonst ist die Welt aus der Bodenperspektive zwar enger, aber viel schöner. Blicke ich am Kölner Dom hinauf, so bin ich ergriffen von dem zum Himmel jubilierenden gotischen Rankenwerk. Schaue ich auf ihn aus tausend Metern Höhe hinunter, so ist er ein braunes Schmutzpünktchen in einem dunklen Häusergewirr. Manchmal gibt es Überraschungen. Erst der Blick aus der Vogelschau hat mich beispielsweise einmal darüber belehrt, daß Bremen weniger als Hafenstadt denn als Gartenstadt charakteristisch ist. Nun der Rundflug über Berlin. Kostenpunkt: 15 Mark. Das kann man sich schon mal leisten. An jedem Sonnabend Nachmittag von 2 Uhr ab werden diese Flüge vom Hafen auf dem Tempelhofer Felde aus veranstaltet; andere kann man - über das westliche Seengebiet - von Staaken aus unternehmen. An jedem Sonnabend stehen die Leute in dicken Haufen an, werden zu fünft abgeteilt, und je fünf können dann jede Viertelstunde mit einem der Flugzeuge fliegen. Eine Runde, um Höhe zu gewinnen, über dem Felde. Dann über Neukölln und Hallesches Tor bis zum Wittenbergplatz und über Schöneberg zurück. Es geht in einem Hui. Man kann sich nicht schnell genug sattsehen. Und da geschieht auch das Absonderliche, daß man nicht von der Winzigkeit, sondern von der Großmächtigkeit dieser Viermillionenstadt verblüfft ist. Auch gegen den Rauch und Dunst da unten wird man versöhnlicher. Da ist gigantisches Menschenwerk. Da dröhnt Arbeit herauf. Da schaffen in jeder Minute hunderttausende von Fäusten unbeirrt in unserer großen Not, wo andere Leute vielleicht mutlos die Arme sinken und alles verfallen ließen, während dies da unten immer noch wächst und sich dehnt. Man möchte still den Hut abnehmen und sich vor seinem Volke verneigen.

Wer von einem festen Punkte aus den Blick über ganz Berlin genießen will, der kann es jetzt auch, denn der 130 Meter hohe Funkturm im Messeviertel Charlottenburgs ist eingeweiht und zur Benutzung freigegeben. Ununterbrochen saust der Fahrstuhl auf und nieder. Ein bißchen geschwollen und überheblich und superlativisch waren ja nach schlechter deutscher Manier die Taufreden auf diese "Siegessäule des Westens", von der der Oberbürgermeister Böß erklärte, solch ein gemeinsam von Reich und Land und Gemeinde erbautes Riesenwerk wäre "früher unmöglich" gewesen. Erstens sind unter dem Kaiserreich immerhin ganz achtungswerte Dinge entstanden; und wenn wir noch das Kaiserreich hätten, wäre der Funkturm vielleicht noch stattlicher geworden. Und zweitens sollten wir den Mund nicht so voll nehmen, nachdem die Franzosen schon über ein Vierteljahrhundert lang ihren 300 Meter hohen Eiffelturm haben. Aber hübsch ist es oben, das läßt sich nicht leugnen. Es hat sich auch sehr schnell herumgesprochen. Schon frühmorgens - wenisgtens jetzt, wo es noch den Reiz der Neuheit hat - stehen Hunderte da und wollen Fahrstuhlkarten, bekommen einstweilen aber nur Wartenummern. Ich hatte, während Nummer 85 bis 94 hinauffuhr, Nummer 346 erhalten. Als ich ein paar Stunden später nachfragte, war bereits Nummer 366 bis 375 dran, meine Nummer also verfallen. Aber man kann das Vergnügen auch binnen fünf Minuten haben. Man braucht dazu nur vorher an dem Kiosk für eine Mark, die einem nachher überdies von der Zeche abgerechnet wird, eine Eintrittskarte für das Restaurant zu kaufen; dann kommt man mit dem nächsten Schub mit. Im Restaurant ist alles zu haben und nicht allzu teuer. Noch bis 1 Uhr nachts sitzen und bechern dort Leute und träumen auf das Berliner Lichtermeer hernieder und in die Unendlichkeit darüber hinaus. Auch große Diners werden da serviert. Und daß die Unternehmer auf mitunter starke "Feuchtfröhlichkeit" rechnen, beweist eine Einrichtung in der großen Herrentoilette, die man sonst nur von Studnetenkneipen her kannte: ein brustbreites Speibecken mit zwei festen Handgriffen an den Wänden.

Wie man sieht, unterscheidet sich "kulturell" die neue Zeit kaum von der alten. Auch sonst fällt es schwer, trotz bombastischer Reden einen Fortschritt zu entdecken. Der Rückschritt ist viel eher mit Händen zu greifen. Helfe, was helfen mag: nun müssen die Dichter heran. Auf Reklamekonto der Republik. Der alte Gerhart Hauptmann allerdings ist nicht mehr zuverlässig genug, der hat sogar seinen Eintritt in den republikanischen Salon der Unsterblichen, die Dichterakademie des Kultusministers Becker, verweigert. Aber wir haben ja noch junge Talente! Also ist es klar, daß Klabund-Henschke, der Mann, der sich am subtilsten in alles Fremdartige einfühlen kann, sogar in das Chinesische, der Mann, dessen "Kreidekreis" den Erdkreis umläuft, uns nun republikanisch kommen muß. Ich denke, mich trifft der Schlag. Ich lese: Cromwell. Cromwell von Klabund. Der einzige nichtdeutsche Held der Geschichte, für den ich in Begeisterung vergehen könnte. Die Première habe ich dem Premièrenpublikum überlassen. Das ist das Publikum, das heute in und mit der Republik gute Geschäfte macht; es hat natürlich vor Entzücken gerast, als Cromwell-Klöpfer in der knalligen letzten Szene in das Parkett herunterbrüllt: "Es lebe die Republik!" Aber am nächsten Tage, o weh, die Kritik der Ullsteiner und der übrigen republikanischen Maßgebenden! Noch selten ist ein Dichter so schonungslos verrissen worden. Die Gesinnung sei ganz brav. Die Ausführung aber hundsmiserabel. Zähneknirschend wird da gesagt, daß da doch die Dichter der anderen Seite, die Wildenbruch und Lauff, in monarchischem Sinne ganz andere Effekte erzielt hätten.

Das glaube ich auch. Vielleicht liegt das aber weniger an den Dichtern, als an dem Objekt. Man kann vielleicht die Logarithmentafel in Musik setzen. Aber aus einem Cromwell nicht gut ein Scheidemännchen machen. Und gar einen Pazifisten vom Jahrgang 1918 mit allen Schlagworten aus dieser Zeit. Es war eine unmögliche Aufgabe. Dem Manne im Eisenharnisch, dem gewaltigen Puritaner Gottes, paßt der neudeutsch-republikanische Cutaway nicht. Nur deshalb hat Klabund versagt.

Eine der weiteren Aufführungen habe ich mir angesehen. Sie war schwach besucht, das Publikum, nicht mehr das der Première, teilnahmlos. Ich bin nicht voreingenommen gegen Klabund, ich habe wieder dankbar seinem Talent gelauscht, ich finde, daß einzelne Szenen in seinem Stück an shakespearesche Genialität erinnern, zum mindesten genial frech in der Erfindung sind. Im übrigen ist das kein historisches Drama, sondern eine historische Fälschung, - im Politischen, im Persönlichen, im Kulturellen; und die auf das Jahr 1649 transponierten Scherze, wo Unterhausmitglieder nach Diäten schreien, Volksversammlungen nach Butter, wo von einem Konversationslexikon die Rede ist, auf die heutige Magdeburger Gerichtsaffäre angespielt wird und ein britischer Feldwebel eine karikierte Musterung im Stile von 1914 abhält, sind platt. Trotz alles Phosphoreszierens im einzelnen ist da nichts mehr zu retten. Klabund ist an seiner 8-Uhr-Abend-Republik gescheitert. Im ganzen fünf bezahlte Claqueure und deren mitgebrachte Freibillettler klatschen Beifall. Die übrigen Zuschauer bleiben stumm.

"Es soll der Dichter mit dem König gehn", hat einer mal gesagt. Der wußte mit Dichtern und mit Weltgeschichte Bescheid.
9. September 1926 (Donnerstag)


2

Die Jagd nach der Nuance - Auflehnung wider Berlin - Wo bleibt der Reichskunstwart - Schillers Räuber von Piscator - Berliner Revuen - Blasphemisches im Kabarett - Graf Reventlow in der Valencia - Potsdamer Skandal - Ludendorffs neue Frau - Nach der Sportsensation Peltzer.

Die Nuance ist alles. Man muß mit Nuancen verblüffen, wenn man weder schöpferisch noch nachfühlend ist. Man züchtet hellblaue Rosen. Dackel mit Pinscherköpfen werden Mode. Auf der Kunstausstellung hängen Mädchenporträts mit violetter Stirn und grünen Backen. Katzenmiauen in der Musik. Fausts Gretchen mit schwarzer Papuafrisur. Hamlet als Stotterer. Alles um uns herum wird zur Fratze, zur Karikatur verzerrt, bis das Scheußliche als schön gilt. Es ist ein Affentanz von Nichtskönnern, denen die Seele fehlt, die deutsche Seele. Der Widerspruch der Gesunden wird erstickt. Die Berliner Lemuren vom Kurfürstendamm überkreischen uns.

Es ist ein tolles Treiben, scheinbar ohne System, angeblich entfesseltes Genie. In Wahrheit ist es bewußte Zerstörungsarbeit. Jedes Ideal wird zertrümmert, jeder lebendige Quell aus Volkstiefen verstopft. Sind wir erst an allem irre geworden, haben wir erst Glauben, Schönheit, Treue niedergetrampelt, dann hat man es leicht mit uns. Dann tanzen wir in Politik und Wirtschaft und Kunst nach dem Taktieren der Artfremden.

Das Arbeiten mit der "Nuance" ist Kampf um die Herrschaft über uns.

Das Eigene wird uns entwunden. Wir sind ja so unerhört reich, auch wenn wir nur Luther und Bach und Goethe und Kant und Bismarck hätten, aber man lehrt uns diesen Reichtum verachten. Wir sollen verniggern: da stecke Wahrheit und Schönheit und Kraft. Wir sollen alle internationalistisch-synkopisch-kubistisch verwurstet werden. Berlin stopft mit dem Daumen nach. Berlin stößt uns immer tiefer hinein. Alles, was unter hundert Namen sich gegen die Vorherrschaft Berlins empört, ist letzte Auflehnung dagegen, daß die deutsche Seele gemordet wird. Seelenlose haben keine Kraft mehr. Wir haben ja jetzt einen Reichskunstwart, der dafür sorgen müßte, daß uralt-heiliges uns erhalten bleibt. Aber der ahnt nichts von dem Vordringen der Lemuren und Halbaffen, der ist republikanischer Beamter und hat reichlich mit dem Entwerfen von Einheitsflaggen und von Ausschmückungen zu Verfassungsfeiern zu tun. Er kann oder will es nicht einmal verhindern, daß unser Friedrich Schiller, in dem deutscher Idealismus am hellsten lodert, im Staatstheater eine Ludenmütze aufgestülpt bekommt und nach Jazzbandklängen umherhüpfen und fremdartiges blöken muß.

Soweit ist es also wirklich gekommen. In der Räuber-Aufführung des Staatstheaters regnet es nur so von "genialen" Nuancen des Intendanten Jeßner sowie des Regisseurs Erwin Piscator. Die Leipziger Studenten um Karl Moor sind in Maske und Kleidung vierzig- bis fünfzigjährige Bolschewiken von heute. Moor selbst in Lackschuhen und Pullover. Spiegelberg mauschelt und näselt als leibhaftiger Trotzki. Amalia ist eine häßlich rasende und rasend häßliche Rosa Luxemburg. Mit einem quäkenden Saxophon an der Spitze ziehen die Räuber im Foxtrott in die böhmischen Wälder, einige von ihnen mit heutigen Soldatenmützen auf dem Kopfe. Der Pater, der ihnen zur Unterwerfung gut zuredet, ist bei Jeßner "eine Magistratsperson" mit Stehkragen im Talar eines Staatsanwalts. Die wichtigsten Szenen sind ausgelassen, andere bis zur Unkenntlichkeit verballhornt, die Irrlichterei der Kreislerbühne ist die Hauptsache, in Lärm und Effekthascherei geht das flammenprächtige Wort Schillers verloren, ja stellenweise wird ihm ganz Fremdes untergeschoben. Daß Karl Moor seinen Räubern, wie hier im Staatstheater, vor dem letzten Kampf zuruft: "Geht hin und opfert eure Gaben dem Staat, der für die Rechte der Menschen eintritt!", nämlich der Republik selbstverständlich, während das Wort "König" dem wehrlosen Schiller regelmäßig gestrichen wird, ist eine Fanfare. Auch im Szenischen Nuance über Nuance, Verblüffung über Verblüffung. Das "Schloß" der Grafen Moor ist ein Wochenendhaus, das aus zwei übereinanderliegenden Zimmern mit flachem Dache besteht, zum Publikum zu offen, so daß - gleichzeitig vor dem Hause, auf dem Hause und in den zwei Zimmern des Hauses gespielt werden kann. Und es wird auch gleichzeitig gespielt! Nur daß freilich jeder Sprecher nach einem oder einem halben Satz Atem holt, so daß der andere inzwischen eine Kraftstelle hinausschmettern kann. Man sitzt also da, sieht Amalia vor dem Hause, Franz drinnen, den alten Moor im Oberstübchen, Hermann auf dem Dache und hört etwa folgendes:

"Und all das von zwei Kindern voll Hoffnung, daß dünn Bier und Kartoffeln ein Traktement für Festtage werden, itzt hat die betrogene Liebe ihre Freistatt gefunden, auch euer Oheim, verratet mich nicht, wer war's, der seinen Sohn jagte in Tod und Verzweiflung, wird nicht sein erster Jubel Amalia sein, in diese Liverei will ich Euch kleiden, Gott erbarm sich unser."

Naive Leute könnten sagen, das sei schon irres Lallen. Nein, es ist ganz bewußte Zerstörerarbeit; wir sollen entwurzelt werden, kopfüber gestürzt werden, sollen nicht mehr wissen, was unten und oben, was wahr und falsch, was Aufgang und Niedergang, was schön und häßlich ist, bis wir - ganz konfus geworden - uns der Führung durch diese Neutöner ergeben. Goethe hat noch die einzelnen Schauspieler vor Mätzchen gewarnt. Er hat einst geschrieben: "Soll jene erste Explosion des Schillerschen Genies noch ferner auf den deutschen Theatern ihre vulkanischen Wirkungen leisten, so lasse man dem Ganzen Gerechtigkeit widerfahren und muntere die Schauspieler nicht auf, einzelne Teile gegen den Sinn des Verfassers zu behandeln." Goethe ahnte noch nicht, daß es einst Intendanten geben könnte, die alles umstülpen und es so weit bringen, daß der Zuschauer nach zweieinhalb Stunden nichts, aber auch gar nichts von dem ungeheuren sittlichen Rhythmus dieses Stückes empfindet. Das ist alles mit Stumpf und Stiel ausgerodet. Nur Bild und Farbe, Krach und Lärm stürmen auf uns ein, nur spielerische Nuancen, von der unmittelbaren Gegenwart abgefärbt, fallen ins Auge. Stumpf und dumpf harrt man des Endes, kein Herz taktiert mit, keine Hand rührt sich, nur ein einziges Mal reißt ein Schillerwort uns empor und mit, das ist da, wo den Räubern von Ergebung geredet wird. Karl Moor selbst stellt sie ihnen in lockenden Farben dar. Er redet ihnen zu. Es sei doch alles verloren. Draußen aber winke ihnen Frieden und Glück. Nun, sie zauderten noch ?

Eine kurze schwüle Pause.

Dann bricht Karl Moor los und donnert: "Wer ist der Erste, der seinen Hauptmann in der Not verläßt ?"

Ein einziger Aufschrei antwortet ihm, alles schart sich um ihn, und dieser Aufschrei wird vom Parkett aufgenommen, Jubel durchbraust das ganze Haus.

Gute brave deutsche Berliner sind hier nur eine kleine Minderheit. Besucher aus dem Reiche, die sich einen hervorragenden klassischen Kunstgenuß im Staatstheater leisten wollen, sind schon mehr da. Und in den Logen sieht man Direktoren und Intendanten, die mit geblähten Nüstern, eifrig und lernbegierig, die Berliner Nuancen einsaugen, um sie "in der Provinz" wieder von sich zu geben. So verbeitet sich die Seuche.

Man kriegt die große Sehnsucht nach einem Vandalensturm wider Berlin.

Wenn das Staatstheater schon Schiller fälschen darf, so braucht man sich nicht zu wundern, wenn sonstige Unterhaltungsstätten noch frecher sind. Von den sieben Revuen dieser Saison, von denen ich drei gesehen habe, will ich im einzelnen nichts erzählen. Es ekelt einem. Ich bin nie pharisäerhaft gewesen, ich habe sogar in der "Nacktkultur" von heute das Gute gefunden, daß sie uns - abgebrüht werden läßt. Unsere heutige Jugend ist immuner als die frühere; die Astlochgucker sind verschwunden, seit es Familienbäder gibt. Ich könnte es sogar verstehen, wenn die kecke Sinnlichkeit der Revuen an jene Lüsterneit streifte, wie sie etwa für das Zeitalter des Rokoko bezeichnend war. Auch damals war man nichts weniger als prüde. Aber was schier unerträglich ist, das ist die Zote, die platte Schweinerei, die anscheinend in sämtlichen Revuen dieses Jahres geboten wird, als fiele ihren Schöpfern nichts anderes ein. Auch das aber gehört zu dem Programm, Deutschland von Berlin aus zu infizieren. Es ist immer dieselbe Gilde, die das macht. Und nach dem Theater oder nach der Revue mordet sie im Kabarett Seelen und Gemüter. Im Charlott-Kasino am Kurfürstendamm bin ich nur einmal in meinem Leben gewesen und gehe nie wieder hin, weil es ein Verbrechen ist, diesen Leuten auch nur ihren Neppgewinn an einer einzigen teuren Flasche Wein in den Rachen zu werfen. Jetzt hat sich ein alter Kriegskamerad von mir, in Berlin ansässig, dahin verirrt; natürlich: als Begleiter von Besuchern aus dem Reiche, die mondänes wünschen. Es ist ihnen übel geworden. Der Konferenzier tritt mit einer "Bibel" unter dem Arm - dem Adreßbuch - auf und parodiert das Vaterunser. Dann erzählt er eine "Weihnachtsgeschichte": wie er am Heiligabend in Hamburg eine Dirne zu sich genommen und ihr wie der heilige Joseph ein Kind gezeugt habe. Der Kurfürstendamm wiehert. Der Staat sieht gleichmütig zu. An seine Tore werden einst Vandalen mit Streithämmern schlagen.

Einstweilen sehe ich aber deren Häuptlinge noch nicht, die im Kampf um die Reinigung unseres öffentlichen Lebens voranstürmen könnten. Die Alten werfen noch hie und da Feuerbrände in Wort oder Schrift unter das Volk. Aber unter den Jungen sind viele seit der Revolution entnervt; und wer noch - in der Schar der Frontkämpfer - sich seinen Idealismus bewahrt hat, der wird vom Staate verfolgt. Die Hoffnung früherer Zeitalter auf den Adel deutscher Nation ist dahin. Wir werden kaum mehr Junker zu Führern haben wie in alten Zeiten. Zu viele von ihnen haben ihren Verständigungsfrieden mit der Schieberwelt gemacht und mischen heute ihre Namen mit denen des Tauentzienviertels. Manche von ihnen gehören schon zu den Gemieteten dieser Welt, zu den gemieteten Zugkräften natürlich. Jetzt hat die Barberina in der Hardenbergstraße einen Ableger bekommen, die Valencia in der Kantstraße neben dem Theater des Westens. Das ist seit dem 1. September die "erste" Tanzstätte Berlins, gleich von Anfang an mit Glasparkett ausgestattet, unter dem 77 elektrische Lampen das rote Rosenmuster erstrahlen lassen; darauf tanzen nun die Damen mit rosig angehauchten Knien und die Herren mit flatternder Oxfordhose nachmittäglich und allabendlich in konvulsivischen Zuckungen. Das ist freilich nichts ausgesucht berlinisches mehr. Der Charleston als Entfettungstanz hat die ganze Welt erobert. Früher sagte man auf die Frage "Wie ist Ihnen der Sommerurlaub bekommen ?" gewöhnlich etwa: "O, sehr gut, ich habe fünf Pfund zugenommen!" Heute dagegen brüstet man sich damit, daß man leichter geworden sei; und den Rest schaffe man durch Punktroller, Paraffinpackung, Charleston. Tut man das letztere in der Valencia, so findet man auf jedem Tisch Kärtchen mit der gedruckten Inschrift:

Graf Reventlow
ist gern bereit die verehrten Gäste mit den Tänzern des Hauses bekanntzumachen.

An dem Tisch halblinks hinter mir ist eine Gesellschaft von fünf Personen eifrig in englischer Unterhaltung begriffen. Die meisten in Deutschland reisenden Engländer sind natürlich Deutschamerikaner aus Frankfurt am Main. Diese hier drehen und wenden das Kärtchen - und da steht auch schon Marie Eugène Stephan Roger Graf v.Reventlow vor ihnen, dienert und empfiehlt den Damen Tänzer. Unmittelbar nach dem Kriege war er die junge Leuchte des Schwarzweißklubs, sehr elegant, bestenfalls Etappe; auf keinen Fall ist er jemals in die Fußtapfen seines Vaters getreten, des - deutschvölkischen Reichtagsabgeordneten Grafen Ernst Reventlow. Immerhin, er hat doch jetzt wenigstens einen Beruf, wenn es auch gerade kein adeliger Beruf ist, Grußaujust in der Valencia zu sein. Aber die Zahl der Berufslosen aus seiner Schicht ist Legion. Und die Entgleisten, von der Demokratenpresse sorgsam und hämisch registriert, nehmen anscheinend ständig zu.

Der junge Graf Roger v.Reventlow hat eine sehr lebhafte französische Mutter, eine geborene Comtesse d'Allemont. Es wäre vielleicht ganz lehrreich, so etwas immer festzustellen. Die Mutter der Gräfin zu Leiningen, deren Testamentsfälschung den neuesten "Potsdamer Skandal" ausmacht, hieß Meyer. Ein anderer Leiningen, auch zeitweise von den Seinen nach Amerika spediert, hatte ein Dienstmädchen geheiratet und war dann eine "Namensehe" eingegangen, wofür er von der neugebackenen Gräfin ein Monatsgeld von 800 Mark erhielt. In den Kreisen der alten Gesellschaft kennt man natürlich diese Ausnahmeerscheinungen, die Tagespresse aber sagt: so ist der Adel. Noch mehr als der eine oder andere "Potsdamer Skandal" ist in dieser Gesellschaft übrigens Ludendorffs Heirat das Tagesgespräch. Ich bin vor einigen Monaten von dem besten Freunde Ludendorffs irre geführt worden, als ich schrieb, er denke nicht an einen neuen Lebensroman. Er ist der dritte Mann seiner jetzigen Frau, der Ärztin und Schriftstellerin. Von Herrn v.Kemnitz wurde sie seiner Zeit geschieden. Dann war sie, die blonde Germania, die Amazone, die Frauenrechtlerin, mit einem Major Kleine verheiratet, der ihr gegenüber sehr klein, wirklich sehr klein war. Sie ist immer Kämpferin gewesen, nie so recht Hausfrau; hoffentlich findet ihr dritter Mann bei ihr und mit ihr den Frieden.

Nur in engen Zirkeln der Reichshauptstadt erregt man sich noch über alle diese Dinge. Die große Masse denkt nur an Brot und Spiele, wie es die Masse aller Völker und aller Zeiten immer getan hat. An dem Abend des entscheidenden Wettlaufs zwischen Peltzer und Nurmi und Wide hörten sogar die Barbiere auf zu schaben und standen einträchtig und gespannt nebst ihren eiligen Kunden vor dem Rundfunk und erwarteten das Ergebnis. Drei Tage lang war Peltzer in aller Munde. Dann ist es - bis zur nächsten Sensation - wieder ganz still geworden. Berlin ist wieder in etliche Dutzend Kleinstädte mit ihren bescheidenen Freuden zerfallen. Nach Feierabend sitzt man beim Glase Bier und ist stillvergnügt, wenn einer irgendeinen der unsterblichen "Stumpfsinnverse" klampft und singt:

Der Eskimo
Lebt irgendwo,
Denn irgendwo muß er doch leben;
Denn lebte er
Nicht irgendwo,
So könnt' es kein' Eskimo geben.

16. September 1926 (Donnerstag)


/3

Der Knotenpunkt - Hotel Kaiserhof als Regierungspalast - Prominente am Ladentisch - Polizeiaufmarsch - Jetzt ham wa Republik - Radrennen auf der Avus - Vom Haarfärben - "Vandalismus".

"Sie sind wohl von einer wilden Henne beniest ?", würde eine gewisse deftige Hamburgerin sagen, wenn jemand ihr erzählte, er wolle in Bebra oder Eichenberg aussteigen und dort eine Woche bleiben. Dort steigt der normale Mitteleuropäer nur um, nicht aus. Das sind Knotenpunkte, über die man mal kommt; aber was um den Punkt herum, den Bahnhof, etwa noch an Sehenswertem und Erlebenswertem vorhanden ist, das wissen nur die Bebraer und Eichenberger selber.

So ist Berlin für den kommenden Weltverkehr zu Luft ein bedeutender Knotenpunkt. Leute aus allen Erdteilen werden im Flughafen auf dem Tempelhofer Felde mal umgestiegen oder mit kurzer Frühstückspause durchgeflogen sein, aber die Stadt selbst nur vom Hörensagen kennen. Europäisches Touristenzentrum - Sehnsuchtsziel für Millionen in allen Erdteilen - bleiben die Schweiz und Italien. Frankreich ist daran nur mit Paris und der Riviera beteiligt. Deutschland nur mit dem Rhein und Oberbayern. Was gar östlich von Berlin liegt, das ist ganz "aus dem Wege": von der herrlichen Marienburg an der Nogat wissen selbst die meisten Deutschen nichts, und eher machen sie noch eine Reise nach Finnland als an die Masurischen Seen in Ostpreußen, und in das Riesengebirge - sprich: Uaisendschebödsch - geht kein Engländer. Die Ungunst der Lage Berlins wurde nun früher dadurch wettgemacht, daß es Kaiserstadt war. Jetzt ist der große Magnet zerschlagen. Noch kommen die alten Besucher aus der vorrevolutionären Zeit aus aller Herren Länder hierher, noch ist ihre Gesamtzahl annähernd dieselbe, aber man nimmt nur noch ganz kurz Aufenthalt. Amerikanische Ehepaare, die früher mit ihren Eltern vierzehn Tage blieben, verweilen jetzt mit ihren Kindern nur drei Tage. Dann haben sie das Sehenswerte einschließlich Potsdam abgegrast; um einen Ausritt des Kaisers oder den Vorbeimarsch eines Garderegiments zu sehen, legte man einst noch ein paar Tage zu, aber um eine politische Demonstration im Lustgarten zu erleben, opfert man heute keinen Sonntag.

Das kann man in jedem Gasthaus hören. Auch der Kaiserhof am Wilhelmsplatz ist um gut ein Drittel weniger belegt als in den alten Zeiten, obwohl die Gesamtzahl der in Berlin verfügbaren Betten verhältnismäßig nicht gestiegen ist. Er war bei seiner Errichtung im Jahre 1875 das erste Hotel "ersten Ranges" in der Reichshauptstadt und degradierte durch sein Dasein sofort alle übrigen; einzelne von ihnen, so das damals weltbekannte Hotel de Rome unter den Linden, das einst den Vorzug hatte, jeden Sonnabend dem alten Kaiser Wilhelm I. eine Badewanne zu stellen, die es in dem Palais nicht gab, gingen sogar ein. Jetzt soll auch der Kaiserhof seine Pforten schließen. Nicht etwa, als ob Adlon und Esplanade und Exzelsior und Eden daran schuld wären, sondern weil eben Berlin nicht mehr genügend zieht. Modern ist der Kaiserhof wie die anderen auch. Das Wiener Café im Erdgeschoß, in dem in früheren Jahren Bruno Wille und Ernst v.Wildenbruch und Gerhart Hauptmann und überhaupt das ganze "geistige Berlin" der neunziger Jahre bei einer Tasse Kaffee für 25 Pfennige Zeitung lasen oder Schach spielten, ist längst hocheleganten Gesellschaftsräumen gewichen. Aber selbst das Mokkagedeck zu 2,50 Mark bei Jazzmusik schafft es nicht, wenn über die Hälfte der Fremdenzimmer leer stehen. Nun kommt das Bedürfnis der republikanischen Regierung nach "repräsentativen Räumen" dem Kaiserhof sehr gelegen; für etwas über 8 Millionen Mark will ihn das Reich erwerben. Der vor zwei Jahren aufgetauchte Vorschlag, an das Auswärtige Amt in der Wilhelmstarße einen großen Fest- und Tanzsaal anzubauen, verschwand in der Versenkung, - dafür hätte man jetzt im Kaiserhof mehr als Ersatz und dazu noch gleich bei der Hand im Untergeschoß die hervorragenden Küchenanlagen und wohltemperierten Weinkeller. Der Kaiserhof würde sozusagen das Königliche Schloß der Republik. Und nebenbei böte er, was in der Begründung wohl als Hauptsache hervorgehoben werden wird, noch mehr als 300 behagliche Bureauräume. Je mehr wir zum "Volk ohne Raum" in Europa werden, desto mehr werden wir durch Raum für unsere Regierenden entschädigt.

Also die Zeiten sind einstweilen dahin, wo man nach Hofkutschen mit einem Prinzeßchen darin die Hälse verdrehte; oder wo fremde Monarchen durch ihren Besuch ganze Heerscharen anlockten; oder wo man Männer wie Cecil Rhodes oder Theodor Roosevelt am Schloßplatz vorfahren sah. Nur die Schaulust ist geblieben. Vielleicht wird sie durch die künftigen republikanischen Bälle im umgestellten Hotel Kaiserhof einigermaßen befriedigt.

Vorläufig - der Hotelkauf ist noch nicht perfekt - stillt man sie noch anderswo, hat für sie auch noch andere Objekte. Alle die Sterne von Bühne und Film hat jetzt der Kommerzienrat Jandorf in seinem Kaufhaus des Westens den lieben Berlinern gratis vorführen wollen. Sie sollten am Montag nachmittag an den einzelnen Ständen als Verkäufer wirken; ein Teil der Einnahme war als milde Gabe für beschäftigungslose Künstler bestimmt. Der Erfolg ist der, daß alle Beteiligten sich etwa sagten: "Nie wieder Krieg!" Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen. Ein Drängen, Schieben, Stoßen, Quetschen. Jeder gaffte, niemand kaufte. Um ein Haar wäre die schöne Lucy Doraine wie ein wirkliches Porzellanpüppchen zerklirrt. Der Komiker Hans Waßmann sah aus, als wolle er die Klagelieder Jeremiä rezitieren. Einige Filmlieblinge gelangten überhaupt nicht bis zu ihrem Verkaufsstand, sondern standen zitternd in einem Chefkabinett, dessen Tür von den Belagerern gesprengt zu werden drohte. Käte Dorsch und Harry Liedke wurden zu ihrer Rettung in ein Warenauto gepackt. Auf der Tauentzienstraße schaffte eine ganze Hundertschaft Schutzpolizei nur mit Mühe Luft.

Es ist eine kleinstädtische Narrenwelt mit amerikanisch-hysterischem Einschlag. Wir sind nucht nur Volk ohne Raum, sondern auch Volk ohne Ziel, Volk ohne Fahne, Volk ohne Ideal, das sich überall mit Ersatz behelfen muß. Die Heldenverehrung ist in das Kaufhaus und auf den Sportplatz verlegt und muß polizeilich gezügelt werden. Fast könnte man sagen: militaristisch gezügelt. Die einzigen Berliner, die in solchen Augenblicken ihren kühlen Kopf behalten, sind die Schutzleute. Es ist ganz prachtvoll, diese Mensch gewordene Idee der Ordnung zu beobachten, wenn sie in ihren hergebrachten und notwendigen Formen "in Erscheinung tritt", kurze Kommandos erschallen, sinnvoll das Chaos entwirrt wird. Da kommt ein Halbzug anmarschiert, schwenkt ein, richtet sich aus. Augen gradeaus! Augen rechts! Wie eine Eisenmauer stehen die Blauen, der Führer meldet sie einem höheren Polizeioffizier, der hebt dankend die Hand zur Mütze. Der Führer macht kurz Kehrt, stakt zur Truppe zurück. Rührt Euch! Ruck, zuck. Dann werden halblaute Befehle gegeben, Gruppen abgeteilt, und sie schwärmen aus, im Schnellschritt. Daneben stehen ein paar rote Oberarbeitslose aus dem Berliner Publikum und machen hilflos-erstaunte Augen, bis einer von ihnen in die kläglichen Worte ausbricht: "Det alte Lied. Janz det alte Lied. Et is zum Verzweifeln."

Diese Leute begreifen nicht, wozu wir überhaupt eine Republik haben, wenn es "das" noch gibt. Was heißt für sie überhaupt Republik ? Im November 1918 stellte sich ein Lümmel von etwa 19 Jahren in Berlin-Zehlendorf auf den Bahnsteig und verrichtete öffentlich seine Notdurft. Als einige empörte Herren auf ihn eindrangen, sagte er nur gelassen: "Wat wollt a denn ? Jetzt ham wa Republik!"

Ganz unter sich sind die Berliner solcher Art auf den billigen Stehplätzen oder eintrittsgeldfreien Zaunplätzen bei dem populärsten Sport der breiten Masse, bei den Straßenrennen für Berufsradfahrer. Ich wette, daß es lauter "Republikaner" waren, die am letzten Sonntag für 60 Pfennig die Nordschleife der Berliner Automobilstraße umsäumten. Man sieht gleich, daß man eine Zunft, eine geschlossene Gilde vor sich hat: Männlein und Weiblein unterschiedslos in der gleichen Schiebermütze und mehr oder weniger prallen verschwitzten Hosen; Stullen und Bananen im Marktnetz, die Cognacflasche in der Jackentasche oder im "Zwetter". Das ist Volksfest. Und das ist deshalb der volkstümlichste Sport, weil er eine gewisse Erziehung zur Rücksichtslosigkeit mit sich bringt; man kann ja immer davonflitzen. Ich weiß nicht, wie es in anderen Städten ist, aber in Berlin sind namentlich die Zeitungsradfahrer, deren Beruf Schnelligkeit und Sichdurchsetzen verlangt, eine rüde Gesellschaft. Drei von ihnen kommen neulich hart am Bürgersteig entlanggefegt, einer fährt einen dort stehenden Herrn an. Ihr meint nun wohl, er habe im Davonfahren "Paddong!" gesagt ? Bewahre! Alle drei springen von den Rädern und traktieren den Herrn, der "im Wege stand", mit Faustschlägen ins Gesicht. Das Ganze dauert nur wenige Sekunden, dann sind sie auf und davon, und wir zu Hilfe eilenden Passanten können uns nur noch als Zeugen anbieten. Diese Berliner Radfahrer gehören also nicht zu den angenehmsten Zeitgenossen, aber das Radfahren selbst schätze ich natürlich besonders für den Großstädter als Wohltat. Das "Auto des kleinen Mannes", wie man das Fahrrad früher nannte, ist ein neues Kapitel Volksgesundheit für uns geworden. Nur die Rennen, so notwendig sie auch als Leistungsprüfung für die Fabriken sein mögen, sind nicht gerade ein "gesellschaftliches Ereignis". Das am letzten Sonntag war ein Mittelding zwischen Bahn- und Straßenrennen, zum erstenmal hier auf der "Avus" versucht und sicherlich ein Erfolg, aber so langweilig wie nur denkbar. Auf der Bahn im Sportpalast, beim Sechstagerennen, kann wohl einer mal ausreißen und die anderen überrunden, hier draußen aber beträgt die "Runde" 8½ Kilometer, daran erlahmt jeder Durchbrenner, und so bleibt die glitzernde Schlange denn beisammen und rollt in ermüdender Eintönigkeit die 275 Kilometer ab. Im wesentlichen haben drei große Fabriken die Mannschaften gestellt. Man radelt nicht zu eigenem Ruhm, auch nicht zum Ruhme des eigenen Landes, sondern - sie alle, auch die Schweizer, Franzosen, Belgier, Italiener - zur Reklame für die Fabrik, von der man bezahlt wird. Die Opelwerke blieben Sieger. Man gönnt es ihnen. Sie haben sowieso die größte tägliche Produktion an Fahrrädern nicht nur Deutschlands, nein, der ganzen Erde. Aber der Sieg ist nicht weiter aufregend. Sogar ein großer Teil der Zunft, der Gilde auf den Stehplätzen, hat diese schon längst zu Liegeplätzen gemacht, es entwickelt sich das übliche Picknick, und nach dem zwölften Cognac umfassen sich zwei "Herren", tanzen nach der Musik auf dem grünen Rasen und gröhlen dazu den untergelegten Text: "Valenci-a, deine Augen, meine Augen, Hühneraugen, Kukirol!"

Ich habe sehr bald wieder meinen Tribünenplatz aufsuchen müssen. Wer nicht zur Zunft gehört, für den ist es auf dem Promenadeplatz nicht geheuer: die Blicke spießen den Eindringling, und manches Bein schiebt sich unauffällig vor. Wenn es nur "Volk" wäre, dann ginge es noch, mit Berliner "Volk" verständige ich mich vortrefflich, aber es ist Hefe. Einige hundert Jährchen Gefängnis sind da wohl in jeder größeren Gruppe beisammen. Ich kann nur noch schell feststellen, daß auch hier die Mode sich verändert hat. Man sieht kaum mehr das aufreizende Wasserstoffsuperoxydblond der letzten Jahre bei den Mädchen. Die meisten tragen ihre natürliche Farbe, etliche dunkeln sogar schon ihr Haar. Es ist dieselbe Beobachtung, die man jetzt auch in den Sälen der Gesellschaft überall machen kann. Man ist konsequent. Eine Frau, die sich einen Negerwuschelkopf zulegt, findet blond fade; dann schon lieber gleich schwarz. Nur manche alte Damen färben sich neuerdings - rot. Ich vermute als Motiv: Ruine in Flammen.

Natürlich ist das alles eine gänzlich ungermanische Afferei. Die römischen Damen des Altertums benutzten Puder und Schminke, um die rosigweiße Haut der germanischen Nordländerin zu kopieren; und trugen aus dem gleichen Grunde gelbe Perücken. Noch Rafael malte seine Madonnen blond. Unser Ausdruck "blaues But" als Kennzeichen edler Geburt ist ursprünglich die Bezeichnung für deutsches Blut, Vandalenblut, denn das zartblaue Geäder unter der weißen Haut, das "sangre azul", fiel vor anderthalb Jahrtausenden den braunhäutigen Spaniern so auf, wenn sie es bei den Vandalen sahen; sie erklärten dieses blaue Blut als typisch für Herrenmenschen, Adelsmenschen, deutsche Menschen. Es ist ein Zeichen für unser Versinken in Knechtschaft, daß unsere Berlinerinnen jetzt künstlich sich einen dunklen Schnittkopf zulegen und die Gesichter sich tünchen. Ehemalige Sklaven - von den Romanen bis zu den Semiten - diktieren das neue Schönheitsideal. Und der germanische Adelsmensch läßt sich nicht nur Boche und Hunne schimpfen, sondern beschimpft sogar selber seine Vorfahren, indem er von "Vandalismus" spricht. Die Vandalen sind nicht als wüste Zerstörer über das alte Rom gekommen, sondern haben im Gegenteil mit derselben Sorgfalt, mit der wir es noch 1915 in Belgien und Frankreich taten, die klassischen Kunstschätze konserviert. Nur der öffentlichen Schweinerei des dekadenten Römertums gingen sie zu Leibe. Wo sie etwa auf Landstraßen Denkmäler des Phalluskultes fanden, da zerschlugen sie sie. Ein Zeitgenosse, der römische Bischof Salvianus von Massilia, dem heutigen Marseille, schreibt denn auch in seinem Werke "de gubernatione dei" wörtlich: "Die Vandalen verunreinigten sich nicht durch Berührung mit dem Greuel, und was sie verabscheuten, entfernten sie auch; wo Goten herrschen, ist niemand unkeusch, außer Römern, doch wo Vandalen herrschen, sind sogar die Römer keusch geworden."

Dem heutigen Geschlecht ist jede Erinnerunmg an die sittliche Hoheit jener Adelszeit geshwunden; und unsere Gedankenlosen empfangen gierig das Brandmal der Besiegten von ehedem.
23. September 1926 (Donnerstag)



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Glossen 4 - 6

© Karlheinz Everts