"Rumpelstilzchen"

Berliner Funken
(Jahrgangsband 1926/27)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1927

Glossen 10 - 12
11. bis 25. November 1926


10

Der Dank vom Hause Doorn - Sechstagerennen - Kronprinz und Galerie - "Deutsche!" - Russischer Monarchistenball - Meine Hofdame - Zum Ankauf des Kaiserhof-Hotels - Reichstag und Volkes Stimme.

In einer Berliner demokratischen Zeitung zieht eine Schlagzeile mit großen Buchstaben die Blicke auf sich. Darunter etwas kleiner eine zweite Überschrift. Dieser amerikanische sogenannte Schrei-Stil ist ja auch bei uns Mode geworden. In der Art, wie es Ausrufer vor einer Jahrmarktsbude tun, wird der ganze Inhalt verkündet. Sogenannte eilige Leser brauchen die Artikel selbst gar nicht zu lesen, wenn sie die Überschriften schnell sich einverleibt haben. Der bedächtige Leser stellt aber oft fest, daß die Schlagzeile Tendenz ist, zu der der Artikel selbst gar nicht berechtigt. Also in dem Berliner demokratischen Sensationsblatt liest man:

Der Dank vom Hause Doorn!
Hermine will nicht zahlen!

und die ersten Zeilen des Textes bestätigen das auch, denn da steht, daß die Gemahlin des Kaisers sich weigere, die Rechnung für einen Stotterkursus zu bezahlen, den eines ihrer Kinder mit Erfolg in einer deutschen Stadt besucht habe. Eine filzige Gesellschaft, diese Doorner. Lassen sich behandeln und gehen dann wie Zechpreller durch. Pfui Deibel. So soll der gesinnungstüchtige Republikaner sich sagen; das ist der Zweck der ganzen Übung. Wer aber weiter liest, der erfährt zu seinem Erstaunen, daß der Stotterkursus normal 500 bis 600 Mark kostet, daß die Unternehmerin aber in diesem Falle, weil es sich eben um sozusagen wehrlose Leute handelt, - 2400 Mark verlangt hat. Das ist ihr abgeschlagen worden. Die Kaiserin will nur 1200 Mark bezahlen. Die Schlagzeilen hätten also richtig lauten müssen:

Neppversuch am Hause Doorn!
Eine smarte Stotterheilerin!

aber das hätte natürlich nicht im Sinne dieses Blattes gelegen, das nur bestrebt ist, alle Pöbelinstinkte zu reizen. Auch das ist Geschäft, mit solchen Schlagzeilen den Straßenverkauf einer Zeitung zu fördern. Immer wieder müssen die Angehörigen des Kaiserhauses dazu herhalten. Man bettelt sie täglich tausendfach an, man übervorteilt sie bei jeder Rechnung, dann beschimpft man sie obendrein. Jetzt ist wieder einmal der Kronprinz an der Reihe. Die sogenannten anständigen Leute rümpfen die Nase, weil er es überhaupt fertiggebracht hat, sich das "sattsam bekannte" Sechstagerennen anzusehen; und die Masse der übrigen Leute brüllt auf den Gongschlag der Schlagzeile los, weil er sogar eine Prämie im Sportpalast gestiftet habe, - wo es doch wahrhaftig rundum größere Nöte gebe. Es sind wirklich Gentlemen, diese Deutschen! Sie veröffentlichen voll demokratischer Genugtuung und mit anerkennenden Titeln ein Bild des Königs Georg von England, wie leger der sich in Zivil unter dem Publikum eines Pferderennens bewege, aber den eigenen Kronprinzen pöbeln sie in einem ähnlichen Falle an. Wie war denn in Wahrheit die Geschichte ? Also der Kronprinz hatte wie andere Menschen auch eine Eintrittskarte gekauft und sich unauffällig unter das Publikum gesetzt. Hätte er sich einen falschen Bart ankleben sollen ? Seine lange sehnige Sportfigur und seine charakteristische Fridericus-Nase fallen auf. Schon hat die Galerie ihn entdeckt: Brüllen, Zischen, Pfeifen, Heulen. Schon wird an langem Bindfaden ein Plakat heruntergelassen, auf das mit großen ungelenken Buchstaben gekritzelt ist:

Keinen Pfennig den Fürsten!
Alles Geld den Rennfahrern!

und dieses Plakat baumelt dem Kronprinzen vor der Nase, bis er es endlich abreißt und zerknüllt. Erneutes Toben auf der Galerie. Sollte man in solchen Fällen dummer Belästigung die Polizei anrufen ? O, was gäbe das für Schlagzeilen in der Sensationspresse! Außerdem ist unter den polizeiwidrigen Visagen dieses Tribünenpublikums wirklich "allerhand" möglich. Sogar im teuren Innenraum der Bahn habe ich es angesehen, wie ein Betrunkener einer Radi-Jungfrau ein Bierglas an den Kopf warf, und das Publikum, als zwei Schutzleute seinen Namen feststellen wollten, sich auf diese Schutzleute warf. Also der Kronprinz macht lieber gute Miene zum bösen Spiel, und nach einigen Minuten erscheint auf der transparenten Prämientafel oben im Saal die Inschrift: "500 Mark für die nächsten fünf Runden von einem alten Freunde der Sechs-Tage-Fahrer aus Oels." Für jedes europäische Publikum - ausgenommen das von Berlin - wäre dieser Akt das Signal zu einem Beifallssturm gewesen, um den Stifter für die vorhergegangene Belästigung zu entschädigen. Statt dessen wieder: Brüllen, Zischen, Pfeifen, Heulen! Aber als bald darauf die beiden bekannten dänischen Filmdarsteller, die unter dem Namen Pat und Patachon Landstreichertypen darstellen, eine Prämie von - 1000 Mark stiften, rast die Galerie vor Entzücken und verlangt, daß die beiden, die auch persönlich anwesend sind, eine "Ehrenrunde" um die Bahn machen, natürlich zu Fuß; das geschieht denn auch, und der Sportpalast erzittert unter dem Beifallstoben. Es gibt also doch noch Helden und Heldenverehrung! Der Herr aber ist die Galerie. Bei jeder sportlichen Veranstaltung gibt es ehrenamtliche Bahnrichter, Zielrichter, Ringrichter, Punktrichter, Schiedsrichter, deren Urteil sich Teilnehmer und Publikum zu fügen haben, hier aber entscheidet die Masse Mensch. So habe ich es diesmal wiederholt erlebt, daß die Richter eine Strafrunde diktierten, dann aber die Maßregelung ängstlich wieder zurücknahmen, als das Höllenkonzert der Galerie dagegen protestierte.

Als der Kronprinz, der sich für jede Höchstleistung in jedem Sport brennend interessiert, in der guten alten Zeit, noch unter dem Kaiserreiche, sich das erste Sechstagerennen angesehen hatte, petzte Ulrich Rauscher, der damals noch nicht "Genosse", sondern demokratischer Feuilletonist war. Er schrieb, es sei ein Skandal, daß der "Erbe der Krone" beim Sechstagerennen gewesen sei, dessen Publikum zum Teil aus Schiebern und Kokotten bestehe. Dieses Publikum kann man aber doch auch in Hoftheatern finden. Dem Reichskanzler v.Bethmann-Hollweg kam die Geschichte freilich sehr gelegen, der verpetzte den Kronprinzen weiter beim Kaiser, und es gab wieder eine der üblichen Disziplinarstrafen, wie sie der Kronprinz wegen eines zu hohen Litewkakragens erst kurz zuvor bekommen hatte; er erschien darauf mit einem absolut vorschriftsmäßigen Kragen und sah nun matürlich aus wie ein Kranich.

Wenn man sich vom Berliner Pack - dem mit Tätowierung und ebenso dem mit Brillanten - erholen will und doch von Berlin selbst nicht loskann, dann muß man schon fremdländische Gesellschaft aufsuchen. Auch da drängt sich manchmal noch dieses Pack herein. Als die Berliner italienische Kolonie neulich ihr herkömmliches Venti-Settembre-Fest feierte, den Jahrestag der Erstürmung von Rom, war auch eine Gruppe uneingeladener Kurfürstendammer gekommen. Herren und Damen. Hatten sich einfach grünweißrote Schleifchen angemacht, waren hereingerauscht, wogegen die Gastgeber aus Taktgefühl keinen Widerspruch erhoben, da es sich doch immerhin um Freunde Italiens handeln konnte, hatten sich um einen Tisch gepflanzt und Sekt bestellt. Sie verstanden kein Wort italienisch. Sie machten mitten während der Reden Witze und lachten laut. Sie lorgnettierten alles, als besähen sie im Zoo ein Negerdorf, und warfen Papierschlangen in den Saal. Achselzucken ringsum. "Tedeschi!"

Ganz für sich kann in Berlin nur die gute - die nichtbolschewistische - russische Gesellschaft bleiben, weil sie nicht nur aus einigen versprengten Künstlern und Geschäftsleuten besteht, sondern ein ganzes Volk im Volke ist, so gut wie unabhängig von den Berlinern. Gymnasium und Kirche, Zigaretten und Konserven, Arzt und Rechtsanwalt, Fremdenpension und Modehaus, Kabarett und Wirtshaus, Bäcker und Schuster, Buchhändler und Photograph: alles da, alles russisch. Heimat in der Fremde. Seit jeher war Preußen die Zufluchtsstätte um ihres Glaubens willen Vertriebener, von den Hugenotten bis zu den Salzburgern, von den französischen Emigranten bis zu den russischen Monarchisten. Man ist dankbar und lebt "für sich" still dahin. Wirklich für sich. Vor einiger Zeit wurde gegen diese "weißen" Russen in Berlin - während die roten nicht behelligt werden - sogar von gewisser rechtsstehender Seite der Vorwurf erhoben, sie seien nicht deutschfreundlich, sondern der Entente dienstbar. Einem russischen General mit dem deutschen Namen Lampe, der als Schildhalter des russischen Thronprätendenten, des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch, in Berlin lebt, ist es dann sehr bald gelungen, bis vor das Reichsgericht in Leipzig die Frage der internationalen Sauberkeit der Berliner russischen Kolonie zu bringen. Da sit jeder Verdacht zusammengebrochen. Die Herrschaften haben eine weiße Weste. Für die derzeitige rote preußische Regierung, die die bolschewistischen Ostjuden protegiert, haben sie natürlich keine Freundschaft übrig, aber die deutsche Gastfreundschaft erkennen sie dankbar an; hatte doch sogar der ehemalige russische Kriegsminister Suchomlinow, einer der Urheber des Krieges, in Deutschland ein Asyl und - einen Verleger gefunden. Diese "weißen" Russen nun haben am vorigen Sonnabend im Kaiserhof in Berlin ihren Jahresball abgehalten. Es ist der einzige von den sechs großen Bällen dieses Abends, über den die Berliner Presse überhaupt nicht berichtet hat; so sehr war es ein Familienfest. Die schönen Säle des Hotels waren dabei überfüllt. Russische Sänger und Sängerinnen, russische Tänzer und Tänzerinnen geben ihre Kunst zum Besten, russische Erzeugnisse zieren die Tombola, die Wahl der "Königin" der russischen Kolonie für das Jahr 1927 und zweier Hofdamen erfolgt. Eine strahlend blonde mit langen, vorn auf den Hals fallenden Ringellocken, eine Biedermeier-Schönheit ersten Ranges, erhält den Preis. Sie war mir ein wenig zu selbstbewußt in ihrem Leuchten. Wahre Schönheit muß ein bißchen Demut, ein bißchen was Rührendes haben. Während also am Tische der Blonden die Karten aus dem Publikum sich häuften, gab ich die meinige nach langem Suchen im Nebensaal einer stillen Rabenschwarzen. Und welche Genugtuung: just diese wird nachher wenigstens zur ersten Hofdame gewählt. Ich freue mich. Da sagt meine Frau: "Wie kann man nur so grausam sein!" Was, grausam ? Jawohl! Eine Frau nicht zu beachten, das ist nicht so schlimm; aber eine Frau offiziell zur "zweiten" Schönheit zu erklären und sie dann als Hofdame der Königin die Schleppe tragen zu lassen, der Siegerin zu solch einem Triumph zu verhelfen, das ist beinahe Mord. Man kenn sich in Weiberdingen wirklich nicht mehr aus. Auf einmal sind alle Damen im Saal, auch die, die selbst der Königin die Stimme gegeben haben, gegn die Königin, für die "verratenen" Hofdamen; und diese beiden gehen im Festzug aschfahl mit der Schleppe hinterher.

Lange wird es ja nun mit der Kaiserhof-Herrlichkeit nicht mehr dauern, wenn der Finanzminister Reinhold mit seinen Ankaufplänen im Reichstag wirklich durchdringt. Man regt sich schon auf, wenn den Hohenzollern ein winziger Teil ihres Eigentums zurückgegeben wird, obwohl diese Freigabe uns doch nichts kostet und neun Zehntel des Zollernvermögens an den Staat fallen. Aber das sollen wir plausibel finden, da0 300 Kaiserhofzimmer - mit fließendem kaltem und warmem Wasser - für die ersprießliche Arbeit unserer Ministerialbeamten nötig sind und dazu noch die Festräume, in denen dann wohl die "Königin" des Außenministeriums ausgetanzt werden soll. Die Deutsche Zeitung hat den Mut besessen, auf gewisse finanzielle Zusammenhänge hinzuweisen, die das Entstehen des Planes erklären, der den Steuerzahlern natürlich weit mehr als 8½ Millionen Mark kosten wird. Zahlreiche Ämter sollen verlegt und umgebaut werden. Es kommt Leben in die Bude. Gewisse Aktien sind auf einmal von 80 auf 200 Prozent gestiegen. Nun sitzen aber im Reichstage immerhin viele Leute, die an dem Geschäft nicht beteiligt sind, es auch vor ihren Wählern nicht verantworten möchten, daß rund 30 Millionen Mark für die bauliche Zentralisierung der Ministerien ausgegeben werden. Vielleicht - aber es ist wenig Hoffnung - scheitert der Plan noch am Reichstag. "Ach, der!" sagt man freilich im Volke. Im Volke hat der Reichstag keine gute Nummer. Kommt da dieser Tage aus irgendeiner Kleinstadt die Schwester eines mir befreundeten Abgeordneten nach Berlin. Kauft sich im Papierladen bei einer alten Frau ein paar Ansichtskarten. Will auch eine vom Reichstag. Kriegt sie.

Sagt die Frau: "Da sitzen - hä - die Klügsten von Deutschland!"

Sagt die Dame: "Mein Bruder ist auch Reichstagsabgeordneter."

Sagt die Frau: "Verzeihung, dann nehme ich alles zurück!"
11. November 1926 (Donnerstag)


11

Verschlagerung - Eine Revue für Kinder - Teatro dei Piccoli - Wie Arno Holz wohnt - Fregattenkapitän, Dichter, Historiker - Gute Bücher - Damenwahl an der Jannowitzbrücke.

Bei Bekannten von uns wird Fritzchen zu Bett geschickt. Nun soll Fritzchen die Hände falten und seinen Abendspruch beten. Und Fritzchen sagt: "Ich bin klein, mein Herz ist Heidelberg verloren, Amen."

So nisten sich die Schlager der vorigen Saison selbst in der Kinderstube ein. Es ist ein unausweichliches Schicksal. Bereits im Sommer hatte jeder Ferienreisende in ganz Mitteleuropa, zwischen Scheveningen und Helsingfors, zwischen Bergen und Ofenpest, feststellen können, daß alle sogenannten Stimmungssänger ihr Herz in Heidelberg verloren haben; und jetzt trällert das auch schon der japanische Student in Berlin und der malaiische Heizer in Hamburg. Den kleinen etwas rundlichen Komponisten dieser ansteckenden Sache kann man übrigens allabendlich im Faun des Westens in unserer Tauentzienstraße am Klavier sehen und hören, wo er allerlei sonst noch gefällige Dinge vorträgt. Schon der Herkunft nach sind diese Schlagerdichter und Schlagervertoner meist international. Und die Schlager haben dieselbe Internationalität wie der Film. Die Pariser haben seiner Zeit sofort von uns "Wenn du meine Tante siehst" übernommen, während wir ebenso schnell ihr "Je cherche après Titine" für uns übersetzten. Manche Liedchen, so gerade das Herz in Heidelberg, sind noch leidlich nett, aber sonst werden doch fast alle Schlager nach dem Rezept gebraut: Klingklang plus Blödsinn plus Erotik. Nächstens werden vielleicht gar die Abzählverse unserer Kinder verschlagert. Im Berliner Westen gibt es jetzt schon eine Revue für Kinder mit Jazzband und Tillergirls, die der Phantasie wirklich keinen Raum mehr läßt, weil sie schon alles Mögliche und Unmögliche konfektioniert. Die geputzten und geschniegelten Kinder, die mit ihren Fräuleins davor sitzen, tun mir von Herzen leid; sie sind ärmer als das ärmste Kind aus dem Berliner Nordosten, denn sie dürfen kein Kindergemüt haben.

Als unsereins Kind war, da gab es noch keine Märchenausstellungen in den Warenhäusern. Aus ein paar kleinen Steinen und einem Stückchen ausgestochenen Rasens bauten wir die herrlichste Königsburg. Ein Rosenblatt legten wir da zum Schlafen hinein, das war Dornröschen, und ein toter Mistkäfer war der Prinz. Und unsere eigenen Kinder, leider als Stadtkinder großgeworden, spielten wenigstens selber Rotkäppchen. Die Hauptsache war natürlich der gut gefüllte Speisekorb, den Rotkäppchen "der Großmutter"zu bringen hatte, aber den größten Jubel erregte der Wolf, der sich das grüne Ziegenfell umgebunden hatte, den Vorleger vom Truhenschrank. Der Spieltrieb ist vielfach Nachahmungstrieb. Man spielt die Großen, etwa Vater und Mutter. Mit Vorliebe war das erstere immer unser ganz Kleiner, den auch noch ein Kindermädchen betreute, und er war so "drin" in seiner Rolle, daß er einmal, als er notgedrungen das Spiel unterbrechen mußte, laut ins Haus rief: "Lilli, Vater muß auf den Topf!", was bei unseren Besuchern im Nebenzimmer einige Sensation erregte. Sind wir erst groß, so ahmen wir die Kleinen nach: daher der Böse-Buben-Ball. Oder wir freuen uns wie die Schneekönige, wenn in einer Operette eine lebendige Sängerin oder Tänzerin eine Puppe mimt. Daß Puppen Menschen mimen, das ist umgekehrt die Freude ganz kindlicher Völker. In diesem Nachahmen, ja Karrikieren, sind seit jeher die Italiener groß. Im Theater des Westens in der Kantstraße zu Berlin sind sie eben mit dem "Teatro dei Piccoli" Vittorio Podreccas eingezogen, dem putzigsten Unternehmen, das die Welt zur Zeit kennt, technisch geradezu vollendet, künstlerisch von hohem Rang, dazu durchpulst von Humoren. Wenn diese an Schnüren gezogenen Holzpuppen lässig den Umhang abwerfen, gravitätisch ein Bein übers andere legen, eifrig gestikulieren, kaum je wirklich hölzern sind, sondern in allen Gliedern von jener "körperlichen Beredsamkeit", die Lessing von dem guten Schauspieler verlangt, dann lacht dem Zuschauer das Herz im Leibe. Vögel flattern naturalistisch. Ein gespentischer Reigen von Spindeln, von Gesetzesparagraphen verfolgt, tanzt in das Märchen vom Dornröschen hinein. Wenn schließlich auch der Kater im Königsschloß sich zum Schlafen anschickt, ringelt sich noch einmal traumhaft sein Schwanz. So gibt es eine Anzahl entzückender Einzelheiten; und besonders lustig wird es, wenn in modernen Stückchen etwa der Klaviervirtuose oder die Primadonna karrikiert werden. Aber die hemmungslose Begeisterung unserer Kritiker über dieses Puppentheater kann ich doch nicht ganz begreifen. Nun ja, ich schmunzele auch, wenn ich da so sitze. Ich denke, ich bin noch Kind. Was war da das Hännesche-Theater für eine Herrlichkeit! Dessen Puppen waren viel, viel hölzerner, aber umso besser knallten die Ohrfeigen. Das waren nich an Schnüren gezogene, sondern Faustpuppen. Der vom Rheine - aus der Pfalz - stammende Friedrich Hussong hat noch bis vor ein paar Jahren, als sein Junge noch nicht Studiosus der Rechte war, diese Kunst zur Freude der Kinderscharen aus der ganzen Kaiseralleegegend geübt; und jetzt sitzt er mit Frau und Sohn selig eine Reihe vor uns im Teatro dei Piccoli und behauptet, so etwas Schönes gäbe es sonst in ganz Berlin nicht mehr. Da kann ich nicht mit. Wenn Agnes Straub die Minna von Barnhelm spielt, ist es mir lieber.

Das ganze Märchen von der schlafenden Prinzessin haben nach meinem Gefühl die Italiener schon dadurch entseelt, daß sie den letzten Akt in unserer gegenwärtigen Zeit spielen lassen: der Prinz kommt da im roten Rock der Parforcereiter an, das Einglas im Auge, und die ewigen Märchenwahrheiten werden ins Symbolistische umgebogen, indem "der Kampf des Prinzen April mit der Frühlingssonne" dargestellt wird. Ein deutscher Dichter hätte da die Stiltreue besser gewahrt. Gibt es überhaupt noch deutsche Dichter im alten Fliegende-Blätter-Sinne ? Ich habe es kaum mehr glauben mögen, bis mich in diesen Wochen der Akademiestreit wieder auf Arno Holz brachte, den wackeren Lanzenbrecher wider demokratische Bureaukratie und Phrasendrescherei. Kennt jemand seinen "Phantasus" noch nicht ? Schade. Vielleicht kauft sich der eine oder andere Wohlhabende jetzt die neue große Luxusausgabe seiner Werke. Aber bei Arno Holz selbst findet man von Luxus nichts. In einer verlorenen Straße Berlins haust er im sechsten Stock. Da sind zwei Bodenkammern voll unbeschreiblichen Durcheinanders: Wäsche, Bücher, Geräte, alles etwas angestaubt. Da ist auch "sein" Zimmer selbst, in dem er schläft, arbeitet, kocht, empfängt. Ein altes Plättbrett, quer über einem ausrangierten kleinen eisernen Ofen befestigt, dient ihm als Schreibtisch. Auf einem anderen Tisch neben dem Bett bilden Bücher, Manuskripte, Eßgeschirr, trockene Semmeln einen wirren Haufen. Ein Leitfaden für dieses Labyrinth müßte erst geschrieben werden.

Leider habe ich für lyrische Gedichte nicht mehr das Verständnis, das unsere Altvorderen dafür aufbrachten. Auch von Stefan George habe ich mir einmal einen Band nur deshalb gekauft, um nicht als ganz ungebildeter Mensch zu gelten. Aber gelegentlich lese ich die kleinen eingestreuten Verse in den Unterhaltungsbeilagen mancher Zeitungen. Da hat mich einmal etwas gepackt. Das schnitt ich aus. Das ließ ich aufkleben und einrahmen. Das hängt jetzt in der Stube unseres Jüngsten, den seine Lehrer mit List und Gewalt von der Reifeprüfung nach Weihnachten ausschließen möchten, weil er ("aber das ist ja ganz unmöglich") erst sechzehn Jahre alt ist. Das Gedichtchen lautet:

Es gibt ein Wort, das Tore sprengt,
Das sich durch alle Nebel drängt,
Das alle Mauern niederrennt
Und weder Schild noch Schranke kennt,
Es gibt ein Wort, das trotz und siegt,
Das jede Lanze niederbiegt,
Ein Wort, das Berg auf Berge türmt,
Bis es zuletzt den Himmel stürmt,
Ein Wort, das trotzig, stark und still;
Es heißt: Ich will.

Der Dichter heißt Bogislaw v.Selchow. Wohnhaft in Berlin. Bei seiner Mutter und seinen Schwestern, die er zum großen Teil selbst unterhält. Im allgemeinen können das Dichter nicht. Und doch ist dies ein richtiger Dichter, von dem schon mehrere Bände Verse im Druck erschienen sind. Hinwiederum kein richtiger Dichter: er ist Fregattenkapitän außer Diensten. Und hinwiederum kein richtiger Fregattenkapitän: er ist studierter Historiker und hat in Marburg seinen Doktor gemacht. Merkwürdige Leute gibt es unter Gottes Sonne. Dieser Bogislaw v.Selchow ist noch heute Junggeselle und verlegt doch niemals auch nur seinen Kragenknopf. Er hat einen mächtigen Schrank mit vielen, sehr vielen Schubladen und Schublädchen, und dazu einen Katalog. Ein Kragenknopf fehlt ? Mal nachsehen! Katalog her, K, Seite 8. Aha: Fach 37 c, da ist er! Gibt es in der Welt noch einen zweiten Dichter, der so Ordnung hält ? Der Mann ist Adjutant gewesen, der Mann ist Admiralstäbler gewesen, der Mann ist die lebendige Registratur. Er hat noch einen zweiten Schrank, da hat von Innozenz IV. bis Rumpelstilzchen jedes Geschöpf, das je im Wachen oder Träumen (denn dieser Dichter hat auch Gesichte) mit Bogislaw v.Selchow in Berührung gekommen ist, seinen Akt: Herkunft, Charakter, Taten und Meinungen. Den Kameraden ist dieser Selchow immer ein bißchen unheimlich gewesen. Den einen ein Spott, den anderen ein Ärgernis. Man denke: ein dichtender Seeoffizier, ein spintisierender Seeoffizier! Ich weiß ja, wie es einem so geht. Saß ich da im Kriege, auf einige Wochen zu den Marinefliegern kommandiert, auf Helgoland im Kasino dem bayrischen Oberleutnant Richard Euringer gegenüber, der eben aus Palästina gekommen war. Ein Flieger vom Suezkanal. Der sagte: "Ich habe fünf fertige Bücher im Kopf!" Und ich dachte: "Du Fatzke!" Nachher habe ich ihm diesen Gedanken im Geiste schon hundertmal abgebeten, wenn ich seither seine Skizzen voll Musik und Weltweisheit las. Ähnlich geht es uns mit Bogislaw v.Selchow, dem manch einer im Stillen schon die Nervenheilanstalt prophezeite. Da war er aber eines Tages, nach seinem Abschied, der anerkannte und umjubelte Führer der Marburger Studentenschaft auf dem Wege zu nationalem Stolz und Willen zum Wiederaufbau, unangreifbarer Zeuge in dem Prozeß wegen der Füsilierung der 23 Kommunisten; und heute liegt vor mir ein Geschichtswerk aus seiner Feder, wie wir trotz Treitschke bisher noch keines hatten: "Unsere geistigen Ahnen. Ein Weltbild von Bogislaw v.Selchow" (Berlin-Leipzig, Verlag von K.F.Koehler). Geschrieben von einem Historiker, der Dichter ist, geschrieben von einem Offizier, der Willensmensch ist. Als Selchow noch junger Seemann war und daran ging, sich allmählich an Land eine eigene Wohnung einzurichten, ging er auch da planmäßig vor. Was er schon hatte, stellte er hin. Und wo noch nichts war, da zog er auf dem Fußboden mit Kreide Grundrisse von Möbeln und schrieb hinein "Truhe" oder "Rauchtisch" oder "Ecksofa". Alles bei ihm ist Organisation. So hat er auch in einem Anhang zu seinem Buche die Stammtafel des Deutschtums, die geistige Ahnenreihe, ganz wundervoll graphisch aus den drei Wurzeln Jesus, Augustus, Walhall dargestellt und durch die Jahrhunderte durchgeführt. Das Buch selbst liest man mit glühenden Wangen und klopfendem Herzen. Das schönste darin sind die Charakterbilder großer Männer der Geschichte. Ich fürchte nur, Selchow wird nicht fertig. Einen Band haben wir nun. Aber zwölf der Art möchte man haben.

Natürlich kriegen unsere beiden Jüngsten zu Weihnachten das Buch. In dieser Zeit, wo die Geschichtswerke für die deutsche Jugend in pazifistische Schlaffheit umgefälscht werden, muß das deutsche Haus Widerstand leisten. Als die Jungen noch in Sekunda saßen, schenkte ich ihnen deshalb Rudolf Herzogs Preußische Geschichte. Durch die Jahre zuvor aber hatte sie treulich die Deutsche Geschichte von Kabisch begleitet, das volkstümlichste Geschichts- und Geschichtenbuch, das ich kenne. Mich jammert das heute so bewußtlos aufwachsende Volk; auch dem einen oder anderen Dienstmädchen bei uns habe ich schon gelegentlich den Kabisch gegeben und einzelne Kapitel durchgesprochen und quellenden Dank dafür geerntet.

Die bedauerliche Gedankenleere trifft man in der Großstadt wohl noch mehr als draußen auf dem Lande. Der "Betrieb" in Berlin, der Vergnügungsbetrieb, frißt alles. Die oberen Stände fangen ihn an, die unteren übernehmen ihn. Das Prisma-Kasino am Potsdamer Platz, wo man vor wenigen Jahren noch sogenannte erste Gesellschaft traf, ist heute schon ganz zur Domäne der kleinen Leute geworden. Und nun gar erst, wo Berlin anfängt, nördlich oder östlich zu werden! Im Königstadt-Kasino, nahe an der Jannowitzbrücke. Ein rauchiger Riesensaal. Ungezählte Hunderte von Paaren in drangvoller Enge. Unten am Eingang sitzt ein Hausbursche in grüner Schürze als Kassierer und erhebt Montags, das ist der billige Tag, nur 20 Pfennige Eintrittsgeld. Dafür kann man stundenlang schwofen. An meinem Tisch sitzen drei junge Männer und ein Mädchen. Sie fragen mich, was die Uhr sei; sie selber haben also keine. Ich frage den einen nach seinem Beruf. Da zieht er ein Eckchen der Versicherungskarte aus der Brusttasche und sagt: "Stempeln jeh' ick; sin Se ooch arbeetslos ?" Das Mädchen lacht und zeigt ebenfalls die Versicherungskarte. Also hier sind wir "unter uns", sind wir ganz Volk. Die dreie tanzen unentwegt und schwitzen. Ich wundere mich, daß sie sich so anstrengen, erhalte aber die beruhigende Auskunft: "Wenns Spaß macht, dann schwitzt man doch; und wenn man schwitzt, dann macht's doch Spaß!" Ein Teil der anwesenden Damen ist offenbar "dienenden Standes", wie es in den Heiratsanzeigen heißt, aber gekleidet wie die vom Tauentzien. Ich selber beobachte nur stundenlang und freue mich an der unermüdlichen Kapelle, bis sie in einer Pause singt:

Eins, zwei, drei, vier:
Die Musik hat kein Bier!
Fünf, sechs, sieben:
Wo ist das Bier geblieben ?

Aber da naht schon das Verhängnis: Damenwahl. Eine dralle blonde Schöne steuert auf mich zu. Eine von der Sorte, von der es in Fausts Osterspaziergang heißt: die Hand, die samstags ihren Besen führt, wird sonntags dich am besten karessieren. Im Ballsaal mag ich diese roten Hände nicht; so verehrungsvoll ich sie am Kochherd oder an der Waschbütte finde. Die Donna, die mich auffordert, hat an der linken Hand einen verbundenen Daumen; er sieht aus wie eine Aschinger-Bockwurst mit Haube. Gekleidet ist das Mädchen aber natürlich tip-top. Seiden Strümpfe, Abendkleid, großer Rückenausschnitt. Wozu dieser dient, lerne ich hier kennen: die Herren legen ihre schwitzende Rechte den Damen nicht um die Taille, denn das könnte das Kleid verderben, sondern oben auf den Ausschnitt. Ähnlich umhalst mich meine Konigstadtfee und drückt mit Daumen und Zeigefinger auf mein Genick, bis unsere Schläfen Anschluß haben. Nun kleben wir aneinander. Es ist dieselbe Adhäsion wie von zwei nassen Glasplatten. Leider will trotz meiner krampfhaften Versuche während des Tanzens ein Gespräch nicht zustandekommen. Nur einmal, als ich nach der Verwundung des Daumens frage, erhalte ich die karge Antwort: "Bei'n Fischeschuppen." Vergeblich schlage ich zehn, zwölf Themen an. Kein Wort. Tanzen ist eben eine rein körperliuche Funktion und wird durch Gespräche behindert. Wenn dieses stramme Mädchen auf dem Acker beim Kartoffelausnehmen stünde, wäre es eine in ihrer Kraft und Blondheit königliche Erscheinung. Hier im Tanzlokal ist es anders. Hier ist es eine dumme Pute. Als ich endlich meine Dame absetze, sage ich ihr noch eine kleine Höflichkeit. Da findet sie Worte. Da sagt sie: "Etwas verrückt is ja jeder, aber so verrückt wie mancher keener!"
18. November 1926 (Donnerstag)


12

Charleston überall - Baltischer Gesellschaftsabend - Im Exzelsior - "Wann ich gelebt haben möchte" - Die Schwiegermutter - Der alte Mann mit den Wundervögeln - Der bekannte Astrologe im Beethovensaal - Bacharach und Paul Loebe - Ein nationales Credo.

Natürlich weiß ich, daß sich gegen eine Weltmode nichts machen läßt. Natürlich weiß ich, daß ich den Charleston nicht wegspotten kann. Ich will nur sagen, was man nach ein paar Jahren, wenn anderes Mode geworden ist, erkannt haben wird: der Charleston ist eine Störung. Es ist so, als wenn einer in der Front falschen Tritt hat. Mitten in dem gleichmäßigen Fluß und Geschiebe der Tanzenden gibt es plötzlich eine Brandung, weil ein Charlestonpaar hampelt, auf der Stelle tritt, nach allen Seiten zuckt, eine Gruppe Freiübungen macht, kurz: turnt. Es ist nichts von der schlüpfrigen Bewegtheit, nichts von dem schlenkrigen Gelöstsein dabei, das bei der Josephine Baker oder anderen Negertänzern Natur ist. Es ist bei uns wirklich nur eine Art Turnen daraus geworden, und das stört, wenn nicht alle das Gleiche machen.

Nur ist es eben heute überall Mode. Und man will doch nicht in ihrem Gefolge fehlen. Sie dringt selbst dort ein, wo dreifach gepanzerte Konvention zunächst alles, was auffallend ist, als unschicklich fernhält, nämlich in die Bälle der alten guten Gesellschaft. Da hatte man neulich wieder den baltischen Gesellschaftsabend im Esplanade. Das ist eine wundervolle Sache für den sonst vom modernen Großberlin nicht sehr erbauten Zeitgenossen. Unter etwa fünfhundert Damen nur zwei, die Schwägerin eines vielgenannten Ministers und die Frau eines bekannten Generalmajors außer Diensten, deren Ahnen sicher nicht Wotan, sondern vermutlich Baal geopfert haben; unter fünfhundert Damen die große Mehrheit mit natürlichem vollen Haar, ohne Schnittkopf und ohne Perücke; unter fünfhundert Damen kaum eine, die ein Auto mit eingebautem Lippenstift besitzt, obwohl es neben vornehmer Armut auch an behaglichem Reichtum hier nicht fehlt. Nichts Angekränkeltes, fast durchweg nordischer reiner Typ, frische Mädchenblüten, hochgewachsene Frauen. Hier müßte man die erwachsenen Söhne hinschicken: "Sucht Euch Eure Zukünftige!" Es ist einem zu Mut, als wenn man, von den Krüppelkiefern der Ebene kommend, plötzlich unter den herrlichen Christbäumen des Hochgebirges stünde. Aber auch da gelegentlich: Charleston. Es staut sich. Man muß um solche Besessenen herum, sonst scheitert man an ihnen. Ich stehe gerade in der Türöffnung zwischen zwei Sälen und sehe mir das Getriebe an, da tut sich vor mir solch ein Stampfwerk auf, ein bekannter Industriemann mit seiner Frau, und exekutiert mit fast militärischem Hackenschlag seine Zuckungen. Der Mann sieht dabei über die Schulter nach mir zurück, ob ich auch merke, wie fabelhaft modern er ist. Er lächelt glückselig und vertraulich mir zu. Ich lächele wieder; ich mag den Guten nicht kränken. Im Grunde möchte ich ihm aber doch sagen: "Verehrter Herr Doktor, warum mensendieken Sie mit Ihrer Frau Gemahlin nicht lieber zu Hause, morgens immer gleich nach dem Aufstehen ?"

Manch einer, der vielleicht fernab von der Welt in einer stillen Oberförsterei haust, mag sich wohl wundern, weshalb ich so häufig vom Tanzen erzähle. Aber das gehört zum Zeitbild. Als letztes großes Berliner Hotel hat sogar das größte des Kontinents, das Exzelsior am Anhalter Bahnhof, sich diesem Geschmack anpassen müssen. Das Vestibül ist erweitert, ein ehemaliger Hof überdacht und zu einer spiegelnden Marmorhalle mit Palmen und Blumen umgewandelt worden, Festsäle und Weinrestaurant, Café und Bierhaus gehen jetzt ineinander über, alles wird von der Musik der Kapelle Schachmeister durchflutet. Der Besitzer, Kommerzienrat Elschner, von Herkunft Sohn eines armen thüringischen Landarbeiters, weiß, was er tut; und alles, was er tut, schlägt ein, auch seine beiden anderen Hotels in Oberhof und auf der Wartburg. Das Exzelsior ist seit dem Umbau, der im vorigen Monat fertig wurde, allabendlich überfüllt. Die Masse muß es bringen, und die Masse kommt auch, denn für eine Tasse Kaffee kann man hier stundenlang seine Lust haben. Natürlich kommt die Menschheit meist paarweise. Aber auch Vereinsamte finden Tanzanschluß. Ellen Key hat von dem Jahrhundert des Kindes gesprochen. Andere werden finden, daß es ein Jahrhundert des Tanzes sei. Und noch andere erklären: O Jahrhundert, es ist eine Lust, in dir zu leben, denn du bist das Jahrhundert der Frau.

Nach berühmten Muster hat kürzlich der Direktor einer Berliner Mädchenschule seinen jungen Damen das Aufsatzthema gegeben: "In welchem Zeitalter ich gelebt haben möchte". Ein einziges sinniges und tapferes Mägdelein schrieb: während der Befreiungskriege. Miterleben, wie ein Volk aus tiefster Not sich aufrafft! Mit der Königin Luise leiden und glauben und standhalten! Mit Blücher wettern und jubeln! Vor Kant und Goethe Ehrfurcht haben, mit Schiller und Körner sich begeistern! In einer Zeit mittun, in der die ganze Nation adlig war, wo es keinen Pöbel gab! In der einzigen Zeit, in der die Frau nicht für eine Modelaune, sondern für das Vaterland ihr Haar opferte! Dieses junge Mädchen, Tochter eines kleinen Beamten, stand also mit ihrer Sehnsucht allein. Eine zweite Schülerin, eine Hypermondäne, schwärmte für das Zeitalter der Renaissancemenschen Italiens, wo es noch "wirkliche Männer" gegeben habe, liebenswert und hassenswert, nicht bloße Gecken, wie vorher und nachher, und schrieb auf vierzehn Seiten eine glühende Verteidigung Cesare Borgias nieder. Eine dritte, Tochter eines weichen verträumten Musikers, im Gegensatz zu ihm kühl und willensstark und fest, pries die Jahrhunderte der Kreuzzüge, denn da habe die Frau, als alleinige Burgherrin, ungestört ihren natürlichen Herrscherberuf ausüben können, während der Mann jahrelang fern mit den Sarazenen sich herumschlug. Auch sei sie die alleinige Trägerin der Bildung gewesen, habe allein jeden Fortschritt erarbeitet, sei auch nicht durch dauerndes Kinderkriegen gelähmt worden. Die übrigen elf jungen Damen aber bekannten in ihren Aufsätzen, daß sie - nur heute leben möchten, denn das Heute geben den weiten freien Blick, das Heute überschütte uns mit Entdeckungen und Erfindungen, das Heute habe einen stürmischen Rhythmus der Erkenntnis, und vor allem: es sei das Jahrhundert der Frau, die endlich zum Menschentum erwacht, zur Gleichberechtigung mit dem Manne erwachsen, als nützliches Mitglied der Gesellschaft anerkannt sei. Auch die Redensart vom "schwachen Geschlecht" sei nun im Verschwinden. Nicht das Eintreten der Germanen in die Weltgeschichte oder die Entdeckung Amerikas, nicht die Abschaffung der Tortur oder das Verbot der Sklaverei habe so Epoche gemacht wie die Emanzipation des weiblichen Geschlechts in unseren Tagen. Auch in Kleidern und Sitten sei alles Dumpfe, Beengende fort: heute, erst heute, atme man auf.

Merkwürdig, daß jede Generation sich für besonders aufgeklärt hält. Fragt sich nur, ob auch für besonders glücklich. Ich gebe den jungen Berlinerinnen, deren Aufsätze allerdings etwas anders klingen, als die von irgendwelchen frischen Mädels vom Lande, unbedingt zu, daß sie mit ihrem Urteil in manchen Dingen Recht haben mögen. Ich könnte sogar hinzufügen: wir leben im Jahrhundert der Emanzipation der Schwiegermütter. Wo gibt es unter ihnen noch die bewußte grantige Person mit dem ständigen Ogottogott- und Übelnehmeblick ? Nahzu ausgestorben! Die heutige Schwiegermutter lächelt süß und hat einen Bubikopf und ein Tanzkleidchen, und der Herr Schwiegersohn findet sie mollig und gebildet und entzückend und macht sie zu seiner Seelenfreundin. Und doch sind wir nicht glücklicher, sondern abgehetzter als frühere Geschlechter. Und die Aufklärung ? Ich finde, wir waren noch kaum je so wirr- und abergläubisch.

In der Nähe des Gymnasiums in einer stillen Berliner Straße steht ein alter Mann, klein, stämmig, Dickkopf, silberner Ohrring. Man könnte sich vorstellen, daß er irgendwo an der Adria Netze flickt; oder mit einem Leierkasten herumwandert, auf dem ein Äffchen in französischer Vorkriegsuniform hockt. So was ähnliches ist es auch. Auf seiner Schulter sitzt ein zahmes Eichhörnchen, das von der herzuströmenden Schuljugend alsbald gestreichelt und betastet wird. Vor sich hat er ein offenes Vogelbauer, in dem sich zwei grüne Papageien befinden; daran ist eine offene Schublade befestigt, die voll kleiner Briefchen steckt. Ein Plakat aus geölter Leinwand aber verkündet:

Wunderbar dressierte Vögel, welche auf Kom-
mando jeder Person einen Planet ziehen, in dem
sein Lebenslauf, Gegenwart und Zukunft steht.

Für den Lebenslauf, die Gegenwart und Zukunft eines Planeten hat die große Masse sicher kein Interesse, aber das meint der alte Mann in seinem holprigen Deutsch auch nicht, sondern er läßt gegen ein Honorar von 10 Pfennigen durch die Vögel jedesmal eines der gedruckten Briefchen herauspicken, das dem Käufer seinen Lebenslauf prophezeien soll. Außerdem enthält jeder Umschlag das Miniaturbild iregndeiner hübschen jungen Dame. "Mensch, meine Braut!" juchzt ein Tertianer, der sich ein Briefchen erstanden hat, und liest dann vor, was ihm alles blühe: "In der Furcht, deine Unternehmungen nicht erfolgreich zu sehen, bist du immer in Unruhe!" (Mensch, Meyer, die lateinische Arbeit! ruft ein Kamerad.) "Du mußt dich beruhigen, deine Wünsche werden in einiger Zeit erfüllt sein; du wirst bald Nachrichten erhalten, welche dir Zufriedenheit verschaffen." (Paß uff, du kriegst zu Weihnachten ein neues Fahrrad!) "Du bist gerne gefällig und wirst schlecht belohnt dafür; die Absicht, deinem Geschäfte Ehre zu machen, wird dir manches Vergnügen rauben." So geht das Salbader noch eine Anzahl von Sätzen weiter. Selbstverständlich ist auch von hohem Alter und endlichem Reichtum, "aber nicht übermäßig", die Rede. Für die Gymnasiasten ist es ein Jux, ihr Schwarm hat sich bald verlaufen, aber nun sammeln sich Frauen und Mädchen aus der ganzen Gegend um den Alten und kaufen massenhaft die Schicksalsdeutung; es ist ein gutes Geschäft. Manch eine geht abseits und liest und liest mit brennenden Augen im nächsten Toreingang und bleibt stehen und denkt verwirrt oder beglückt nach, während derweil daheim vielleicht die Suppe anbrennt. Ich komme mit dem Prophetiehändler ins Gespräch. Er ist wahrhaftig aus Neapel gebürtig, von Kind auf mit aller Volksverdummung vertraut, lebt nun schon ein Menschenalter in Berlin, hat allerlei Einkömmliches betrieben, findet aber jetzt, daß die Berliner nun ungefähr die Bildungsstufe der Neapolitaner hätten und für den Vögelmumpitz reifgeworden seien.

Soll man die kleinen Leute verspotten, die dem alten schmierigen Kerl die Briefchen abkaufen ? In dem großen Beethovensaal drängt sich am Abend ebenso das "bessere" Publikum. Großer einmaliger Vortrag des "bekannten Astrologen" Radetzky. Es sind ein paar Lachlustige da, gewiß. Am Ende des ersten Teils sagt der Astrologe: "Ich brauche Erholung!", und diese Spötter antworten: "Wir auch!" Aber die Masse in dem gestopft vollen Saal hängt gläubig an den Lippen des Vortragenden, der aus der Mondopposition zum Saturn "starke Gegensätze der Volksmeinungen" prophezeit und dergleichen mehr, aber auch etliche sehr bestimmte Angaben für 1927 macht, so, daß die Medizin ein Mittel gegen die Schlafkrankheit (ist dank deutschen Gelehrten doch schon da!) finden oder daß der französische Frank vollends sich durch Inflation (er ist gerade wieder am Auferstehen!) verflüchtigen werde. Auch wird halb Irland nebst großen Teilen der britischen Flotte durch eine Springflut zerstört, Mussolini und Poincaré ermordet. In lauten Seufzern der Genugtuung machen die gepreßten Herzen sich Luft; es ist wirklich und wahrhaftig zum Gruseln schön.

Nein, ich verstehe doch nicht, weshalb die elf Schülerinnen gerade unsere Zeit so gelobt haben. Nicht Mars regiert die Stunde, nicht Jupiter oder Venus oder Saturn, sondern die Dummheit regiert. Und in aller furchtbaren nationalen Not daneben die parlamentarische Aufgeblasenheit, die gar kein Gefühl mehr dafür hat, daß unsere Lage Tatmenschen verlangt. Da hat man wieder über Thoiry, das doch Theorie bleibt, tagelang nur geseicht. Da ist man sich weiß Gott wie groß vorgekommen. Diese Helden von der Reichsredehalle dünken sich, sie seien die Welterhalter und Weltumschöpfer. Im "Alten Haus" in Bacharach am Rheine hat vor einiger Zeit der Genosse Paul Loebe etliche gute Flaschen getrunken. Dieses welthistorische Ereignis verdient natürlich einen Markstein, und so hat denn Loebe jetzt dem Alten Hause ein großes Bild von sich geschickt, das zur Erinnerung an den Aufenthalt des Reichstagspräsidenten dort aufgehängt werden soll. Da spotte noch einer über monarchische Eitelkeiten! Nein, ich finde die heutige Zeit nicht schön. Zum mindesten nicht in Deutschland, in dem Lande, dessen Angehörige, wie eine englische Statistik erzählt, seit 1918 viele Millionen Denunziationen, gegen "nationalistische" eigene Volksgenossen, der Entente übermittelt haben. Ich beneide Völker, die noch Freiheitsdrang kennen. Ich beneide sie um ihre Obrigkeiten, die den Freiheitsdrang fördern. In Berlin wird man als staatsgefährlicher Verbrecher gebrandmarkt, wenn man auf ein Wiedererstehen des Reiches in alter Kraft und Herrlichkeit sinnt. In Budapest, nur eine Tagereise weit, ist es schon ganz anders. Da klebt an allen amtlichen Gebäuden, an den Häuserecken, in den Wartehallen, in den Straßenbahnen das ungarische Credo:

"Ich glaube an Gott, ich glaube an mein Vaterland, ich glaube an die ewige göttliche Gerechtigkeit, ich glaube an die Auferstehung Ungarns!"
25. November 1926 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts