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Dienstbotenwechsel - Familie und Gesinde - Hedwig im Lunapark - Urlaub für die Hausfrau - Vom Nicht-denken-müssen - Potsdamer Rundfahrt - Jubelfeier der ehemaligen Unteroffizierschüler - In Paretz - Das Schwein in der Mehrzahl - Das erste Ebert-Denkmal - Rassenmischung
Unsere Minna ist weg. Ihre Schwester hat im vorigen Monat geheiratet; und da mußte Minna nun zur Wochenpflege hin. Ein Dienstbotenwechsel in Berlin ist heute nicht schwierig, denn das Angebot ist groß, die Hausfrauen brauchen auch nicht mehr bei der Vermittlerin herumzustehen, sondern bekommen die Mädchen zur Auswahl ins Haus geschickt; das ist auch ein Anzeichen der sinkenden wirtschaftlichen Konjunktur. Im Durchschnitt haben wir, ebenso viele andere Familien der Reichshauptstadt, in denen man nicht nervös ist, geregelt wirtschaftet, wohlwollend und bestimmt sich gibt, unsere Dienstmädchen rund zwei Jahre. Mehr wäre vom Übel. Natürlich, gelegentlich ist man vorschriftsmäßig gerührt, wenn man hört, daß hie und da eine treffliche Küchenfee 25 oder gar 50 Jahre lang ununterbrochen in einem Hauswesen tätig gewesen ist, und redet dann einen Leitartikel über Treue herunter. Es gibt in solchen Fällen manche wundervolle Harmonie. Aber im allgemeinen sind da doch beide Teile zu bedauern: das Mädchen, weil es nicht geheiratet und eine eigene Familie gegründet hat, und die Herrschaft, weil sie - keine Herrschaft mehr ist, vollkommen der Tyrannis des Mädchens untersteht. Die ganze Familie hat Angst davor, daß das Juwel mal Gesichter schneiden könnte, richtet sich auf gute oder böse Laune des Faktotums ein und wagt kein Wort. Das alte Dienstmädchen bestimmt, was gegessen wird, wie es gekocht wird, was man anzieht, was sich schickt, welcher Gast vertrauenswürdig ist und welcher nicht. Jüngere Hausfrauen werden mit einem drohenden Blitzblick aus der Küche gescheucht. Die Herrschaft solcher "Langjährigen" wird zur schweren Kette. Also wir sehen es nicht ungern, wenn nach zweijähriger Schulung bei uns ein Mädchen für Alles sich anderswohin als Köchin verdingt oder ihren Schatz heimführt; auch das haben gerade wir schon häufig erlebt, sind Hochzeitsgäste gewesen und haben auch nachher Besuche ausgetauscht. Solch ein persönliches bleibendes Verhältnis ist sogar in der Großstadt nicht selten. Als während der Kapp-Tage Fritz Ebert mit samt dem Kabinett Bauer von Berlin ausriß, fand Frau Ebert ein gesichertes Asyl bei ihrer früheren Herrschaft in Eberswalde. Sie war da immer willkommen.
Also nun ist die dralle Hedwig bei uns eingezogen, frische schlesische Importe. Überhaupt die meisten Berliner sind ja bekanntlich Breslauer. Die Hannoveraner, die im Rufe stehen, das beste Deutsch zu sprechen, mögen mir die ketzerische Bemerkung verzeihen, daß ich, wenn man das "Volk" im Durchschnitt nimmt, doch den Schlesiern die Palme reichen möchte. Sie sagen zwar "gekrickt" statt "gekriegt" und haben auch sonst noch einige Provinzialismen, aber sogar die Dienstmädchen vom Lande sprechen ein reines Hochdeutsch. Dabei ist die Hedwig blitzsauber angezogen und ein großes Kind, das man familiär behandeln kann. Wir machen es zwar nicht so, wie der Hamburger Rechtsanwalt und frühere Reichstagsabgeordnete, der seine Dienstboten in altpatriarchalischer Art bei Tisch mit seinen Angehörigen mitessen läßt; das empfiehlt sich für beide Teile nicht, am allerwenigsten danken es einem die Dienstboten, die sich dann unfrei und gedrückt fühlen. Vor dem Kriege, wo man einen Dienstburschen und zwei Mädchen hatte, trat man einander nicht so nahe wie jetzt, wo wir auf nur ein Mädchen für Alles im nach wie vor großen Haushalt angewiesen sind, und da wird denn auch die Hedwig - wie schon ihre Vorgängerinnen seit 10 Jahren - ein wenig unter die Flügel genommen und gelegentlich auch ausgeführt, damit sie nicht auf das sonst einzige Dienstbotenvergnügen angewiesen ist, das Cläre Waldoff mit der Frage besingt: "Warum soll er denn mit ihr nich vor de Türe stehn ?" Also das Mädchen, das noch nie ein Feuerwerk gesehen, nie ein Konzert gehört, nie Eis gegessen, nie eine Droschke benutzt hat, tut jetzt zu ersten Mal unter sorgsamer Hut einen Blick in städtisches Vergnügen.
Wir sind - sie, ich, die beiden Primaner, die übrigens die "entwürdigende" Zumutung am liebsten abgelehnt hätten - im Lunapark, abwechselnd der eine und der andere der beiden Jungen muß mit Hedwig in eine der Attraktionen hinein, das große Gerüttel und Umstülpen auf Shimmytreppe, Wasserrutschbahn, eisernem See, Hexenkessel beginnt. Zuerst die Berg- und Talbahn. Hui, wie das hinauf und wieder in die Tiefen saust! "Na, wie war's ?", frage ich nachher unsere Donna. Und sie antwortet ehrlich: "Wenn es so losgeht, da fallen einem alle seine Sünden ein." Schon gut, schon gut, bist ja katholisch, kannst sie am nächsten Sonntag in Deiner Kirche beichten. Daheim aber erzählt Hedwig ganz begeistert von ihren Erlebnissen und meint treuherzig, sie wisse gar nicht, wodurch sie das verdient habe. Kommt noch, kommt noch. Wir wollen doch auch einmal, wieder im August, verreisen, und wenn man dann eine fröhlich-dankbare Hüterin des Hauses daheim weiß, fährt man mit erleichtertem Herzen und spart außerdem die Prämie gegen Einbruchsdiebstahl.
Das große Aufatmen für viele Hausfrauen des gebildeten Mittelstandes hat ja nun begonnen. Das ist doch auf Reisen oder in der Sommerfrische (falls nicht "eigene Wirtschaft" geführt wird) das schönste: das Nicht-denken-müssen. Nämlich darüber nachdenken, was zu Mittag gekocht werden soll. Wer es irgend kann, sollte gerade diese Erholung seiner Frau gönnen, lieber dafür etliche Tage weniger Ferien machen. Nicht denken müssen! Manchmal, wenn die Frau morgens - oder schon abends vorher - denkt und rechnet und dabei auch Vaters Geschmack oder Tantchens Magennerven berücksichtigen muß, fragt sie schüchtern, was es geben solle. Na, Kalbskotelett, sagt der Mann leichthin. "So, also Kalbskotelett ? Habt Ihr Männer eine Ahnung! Kalbskotelett - noch dazu morgen, wo die Waschfrau und die Schneiderin im Hause sind! Warum nicht gleich Huhn à la Stanley ? Dann wäre ich mit dem Wirtschaftsgeld sehr schnell zu Ende." Also dann Falschen Hasen, sagt lächelnd der Mann. "Haben wir doch erst gestern gehabt! Und was meinst du, wieviel frische Mohrrübchen dazu vertilgt werden ? Wo das Gemüse jetzt wieder teurer geworden ist! Und was für einen Pudding denn ? Am Ende woe Sonntag Erdbeersulz mit Sahne ?" Ja, man hat es nicht leicht. Ein paar Wochen Nicht-denken-müssen ist dann mehr Erfrischung, als Kraxeln oder Baden oder Waldspaziergang.
Gott und den einsichtigen Männern sei Dank: die Zahl derer, die Ferien mit Eigenwirtschaft machen, geht zurück. Die Hausfrauen, die das Jahr über nicht einmal einen Sonntag haben, sondern dann wie der Pastor verdoppelte Arbeit für doppelte Ansprüche, bekreuzigen sich insgeheim vor Ferien, die nur eine Ortsveränderung sind. Und sie sind froh, wenn sie schon in Berlin einen Vorschuß auf die Sorgenlosigkeit bekommen und hier einmal für einen ganzen Tag die Küche schließen können. Es gibnt diesmal weniger Ferienreisende, als die Reichsbahn erwartet hatte; aber Tagesausflüge auf dem wasser mit Verpflegung an Bord werden von den Berlinern immer häufiger unternommen.
Man wundert sich, wenn man morgens um ½11 Uhr Unter den Linden eines der riesigen Elite-Rundfahrt-Autos besteigt, wieviel Berliner neben den Deutschen aus dem Reiche und den paar Ausländern um einen sitzen. Die hören dann schmunzelnd die Erklärungen des Führers an: hier das Brandenburger Tor, das da der Rosengarten, dort die Charlottenburger Brücke. Und wenn in der stets folgenden englischen Übersetzung die Döberitzer Heerstraße den Amerikanern nicht als army street, sondern als hair street vorgetsellt wird, hat man noch seinen besonderen Spaß. In 25 Minuten prachtvoller Fahrt ist man an der Havel bei Pichelsdorf, geht auf eines der Elite-Motorschiffe und wird dort von der Mitropa ganz wie in den Speisewagen betreut, hat sein vortreffliches Essen ohne Weinzwang an gut gedeckten Tischen und ist in frischer Luft und schöner, belebter Umgebung während der Fahrt am ganzen Tage. Die einen machen die Tour nach Potsdam, sehen sich Sanssouci an, dann die Garnisonkirche mit der Gruft Friedrichs des Großen, schließlich das Neue Palais mit seinen Prachtsälen.
Häufig ist in Potsdam "was los", und das ganze liebe Städtchen, schwarzweißrot natürlich, beflaggt, so an diesem Dienstag, wo die alten Unteroffizierschüler ihr Jubiläum feierten und vor dem Antikentempel "ihrer unvergeßlichen Kaiserin" Kränze hinlegten. Aus ganz Deutschland waren sie da, die Ehemaligen; ein ehrenfestes, prächtiges Korps. Unter den Unteroffizieren unseres alten Heeres gab es ja sehr verschiedenes Menschenmaterial. Manch einer "kapitulierte" nach der Dienstzeit, weil er sich - zu haltlos für den Kampf ums bürgerliche Dasein fühlte; für ihn war die Armee mit gesicherter Wohnung, Nahrung, Kleidung sozusagen das Korsett. Von diesen Leuten, die der Vormundschaft bedurften, hatten wir nicht viel. Natürlich waren manche unter den Kapitulanten auch die geborenen Soldaten, die geborenen Vorgesetzten. So gut wie ausnahmslos aber fuhr man ausgezeichnet mit den ehemaligen Unteroffizierschülern, den "Schulapothekern", wie sie im Heere hießen, wo sie manchmal den Ruf genossen, etwas zu "kommissig" zu sein. Aber auf sie konnte man sich in allen Lebenslagen verlassen. Die Tradition brachten sie, die häufig Söhne von Feldwebeln waren, schon von Hause mit, das Gefühl für Subordination wie für Befehlen wurde dann weiter in der Unteroffizierschule gepflegt, und was da herauskam und der Armee überwiesen wurde, das war ein Menschenschlag, der für unser Volk in Waffen den besten Erzieher abgab und nachher, wenn er die 12 oder 15 Jahre Dienstzeit hinter sich hatte, unseren Beamtenstand wieder auffüllte: rauhbauzig, aber gewissenhaft; unnahbar, aber ehrlich und treu.
Während die einen, wie gesagt, Potsdam aufsuchen, machen die anderen, die mehr Erholung, weniger Besichtigung wünschen, einen weiteren Ausflug. Das Ziel wechselt allsonntäglich. In den Ferien werden auch wochentags solche Fahrten gemacht, - aus der lärmvollen Großstadt in den tiefen, tiefen Frieden, noch weit über das Sportgewimmel hinaus, wo die Mark Brandenburg ganz still wird und nur noch Menschen mit dem Blick Theodor Fontanes ihr Köstlichstes enthüllt. So sind wir am Sonntag bis zum Gutshof Paretz gefahren, dem Schloß "Still-im-Land" der Königin Luise, in dem keiner der üblichen Kastellane Erklärungen herunterplärrt, sondern ein Mann von gesellschaftlicher Kultur, der das Anwesen verwaltet, einen herumführt wie ein freundlicher Hausherr. Man möchte alles das streicheln, was man da so sieht, diese bescheidenen Möbel mit Kattunüberzug und die vielen einfachen Stiche an den Wänden, den kleinen Schreibtisch, die Spielkanone des Prinzen Wilhelm (des nachmaligen ersten deutschen Kaisers) und sein winziges Zimmerchen, das er schon im Sommer 1797 als Viermonatlicher bezog, und schließlich das zerfranste große Billard, von dem ich allerdings nicht weiß, ob auch die Königin Luise darauf gespielt hat; die Banden sind natürlich nicht aus Kautschuk, den man damals noch nicht kannte, sondern aus Filz. Hier ist ganz ländliche Stille. Die Ältesten im Dorf bewahren noch die Erinnerung daran, was ihre Großväter ihnen einst erzählt, wie die als kleine Kinder den König und die Königin sahen: ganz als Menschen, ohne höfische Etikette, gegenseitig ohne jede Scheu. Wie da Friedrich Wilhelm III. aus einem Körbchen, das mit Pflaumen und Weintrauben gefüllt war, einem kleinen Dorfbuben ein paar Pflaumen anbot und die verächtliche Antwort erhielt: "Nee, Plummen hebben wi alleen to Huus; wenn't noch 'ne Wiendruv wär'!"
Leider sind auch Berliner ohne geschichtlichen Sinn, Berliner ganz von heute, auf solchen Ausflügen nicht zu umgehen. unser Führer hat uns das Stübchen Alexanders v.Humboldt gezeigt und weist uns nun das Schreibzimmer der Königin. "Was for 'ne Königin ?" fragt mit seinem dümmsten Gesicht solch ein Berliner. Ich werde nie den gequälten Blick des Führers vergessen.
Für den Rheinsalm und die Rindslende an Bord des Motorschiffes hatten diese Leute mehr Verständnis. Dabei muß ich an das Wort eines einfallreichen süddeutschen Abgeordneten denken, der mir neulich sagte: "In Berlin ist das Schwein immer in der Mehrzahl!" Wieso, wieso ? Nun sehr einfach: in Süddeutschland sagt man korrekt Schweinskotelett, Schweinsbraten, auf Berliner Speisekarten aber steht ständig: Schweinekotelett, Schweinebraten. Im Reichstag haben neulich die Kellner versucht, gutes Deutsch einzuführen. Es gab kein Filet mehr, sondern nur noch Lende, und so ging es die ganze Speisekarte hindurch. Aber die Herren Abgeordneten beschwerten sich, das verstünde ja kein Mensch, und so mußte schließlich wieder das verballhornte Französisch und Englisch gedruckt werden. Die Herrschaften brauchen nicht mehr nachzudenken, was "Gebratenes Wiegefleisch" ist, sondern brüllen glückselig: "Herr Ober, ein deutsch Büffschtick!" Und stopfen dann, wie der strotzend gesund heimgekehrte Scheidemann, ihre Obsttorte mit viel Schlagsahne hinterdrein und pilgern schließlich zur Verdauung zu der "probeweise" aufgestellten Büste Fritz Eberts im Präsidialwandelgang. Sie ist aus vergoldeter Bronze. Man schaut und lächelt, denn sie steht da an Stelle des auf Löbes Anordnung "probeweise" entfernten Moltke, dessen unglaublich durchgebildeter Schädel einst das Entzücken Lenbachs war, so daß er es sich erbat, ihn ohne Perücke malen zu dürfen. Ebert hat Haare genug. Und Fleisch erst recht. Und es ist doch, wie der Berliner sagt, nur ein Pachulkegesicht; mit leicht negroidem Einschlag.
Die wirklichen Neger, die ""Chocolate Kiddies", feiern nach wie vor Triumphe im Admiralspalast. Und mehr noch nach der Vorstellung. Man sieht sie, so Männlein wie Weiblein, oft in intimer weißer Begleitung. Les extrêmes se couchent.
9. Juli 1925 (Donnerstag)
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Theaterdirektoren-Elend - Kunststätten vor dem Bankrott - Prominentengehälter und Konvention - Freie Bahn dem Tüchtigen - Avus-Rennen - Thea de Terras Autobrille - Im Klub für Bühne und Film - Professor Jeßner
Ein Herr von ausgesprochenem Unternehmertypus biegt auf dem Bürgersteig an der Kranzlerecke in die Friedrichstraße ein. Kurz zuvor hat er den rechten Arm wagerecht ausgestreckt und rundet so mit Ausleger die Ecke. Dann geht er in die Französische Straße in Richtung Borchardt; und dabei schnellt er den linken Arm seitwärts. Bei jeder Biegung wird so der Signalarm gereckt. Der Herr ist einbekannter Theaterdirektor aus Berlin, und als ihn einmal einer fragt, warumer mit den Armen so rusere, lächelt er unter leisem Seufzen und sagt milde:
"Das ist das einzige, was mir von meinem Auto nachgeblieben ist!"
Wenn sich nicht immer wieder Dumme fänden, die ein Theater finanzierten, weil Eitelkeit oder Anschlußbedürfnis oder Gewinnsucht sie blind machen, so gäbe es auch keine Direktoren mehr. Ein Geschäft ist das schon lange nicht. Auch fehlen selbst den größten Theatern nachgerade empfindlich die Könige und Fürsten, die früher aus ihrer Zivilliste oder dem Vermögen die Millionendefizite deckten. Nun haben die Theaterleiter sich zusammengefunden, um den Gründen ihres Finanzelends nachzuforschen. Das Elend ist unstreitig da und veschont nicht einmal die leichtesten Vergnügungsstätten. Sogar der Schwarze Kater, dessen Unternehmer der witzigste und begabteste Konferenzier Berlins ist, schlägt sich den ganzen Vormittag mit Gerichtsvollziehern herum. Und das riesige Billardcafé Zielka mit seinen zwei Kabarettbühnen wäre schon bankerott, wenn nicht, um seine seit Jahr und Tag ausstehende Gage zu retten, der an sich unbeteiligte Otto Reutter im letzten Augenblick noch mit 15 000 Mark bar eingesprungen wäre, was ihm bei seiner sprichwörtlichen - Zurückhaltung in Geldsachen besonders schwer gefallen ist. Weit größere Fehlbeträge buchen die großen wirklichen Theater. Und nun sagen ihre Leiter, daran seien nur die "Prominenten" schuld, die Stars, denn deren Forderungen gingen ins Ungemessene. Ein Prozeß, dessen Ausgang in den Bühnenkreisen mit begreiflicher Spannung erwartet wird, soll jetzt feststellen, ob die Notwehr der Direktoren berechtigt ist. Sie haben eine (inzwischen natürlich schon mehrfach gebrochene) Konvention abgeschlossen, wonach die höchste Gage, die ein prominenter Darsteller für den Abend beziehe, nicht mehr als 300 Mark betragen dürfe.
Als sie das zum ersten Male hörte, file Fritzi Massary vor Lachen fast aus dem Bett. Fritzi Massary bekommt für jede Vorstellung, in der sie auftritt, ein Viertel der gesamten Bruttoeinnahmen des Theaters. Auf jeden Fall, auch wenn es hundeleer ist, sind ihr 1750 Mark garantiert.
Ja, es hat sich viel gewandelt. Unmittelbar nach der Revolution setzte auch im Theater die große Gleichmacherei ein. Es gab nicht freie Bahn dem Tüchtigen, die man seit 1918 nur im Munde führte, sondern für den Tüchtigen einen Klotz am Bein und für den Nichtskönner das Normalgehalt. Aber dabei sank die künstlerische Leistung; und auch finanziell ging es bei übergroßem minderwertigen Personal rasend abwärts. Schnell lernte man wieder um und kam zum Gegenteil: zu der Riesengage für die Prominenten.
Warum ?
Weil sie allein das Theater füllen!
Natürlich ist es bitter, wenn irgendeine kleine Schauspielerin, die Episodenrollen mehr schlecht als recht hinlegt, für ihr winziges Gehalt knapp die Margarine für die Bratkartoffeln am Abend nach der Vorstellung daheim erschwingen kann, während Käte Dorsch beispielsweise schon zwei Landgüter sich hat kaufen können. Aber bitte, man stelle doch nur einmal fest, wie der Name Mäte Dorsch auf dem Theaterzettel die Leute elektrisiert! Da strömen sie nur so hin. Man geht in Berlin nicht in dies oder jenes Theater, nicht in dies oder jenes Stück, sondern eben zu Fritzi Massary oder Paul Heidemann oder Mädy Christians oder Max Pallenberg oder wie die Stars alle heißen. Sie sind die eigentlichen und einzigen Verdiener nicht nur für sich, sondern auch für das Theater. Sie sind es also, die auch die ganze Belegschaft in Lohn und Brot setzen, nicht die Direktoren. An diese harte Einsicht, daß die großen Talente ein Unternehmen vorwärts bringen, wird man sich allmählich auch anderswo als nur im Theaterleben gewöhnen müssen und die Talente dann - entsprechend bezahlen. Im Grunde müßte das ja auch der nachnovemberlichen Auffassung in gewissem Sinne entsprechen, weil also nicht mehr der Unternehmer (freilich auch nicht der kleine Angestellte) das Geld scheffelt, sondern eben der Tüchtige. Ist es der Unternehmer oder der kaufmännische Direktor, nun gut, dann mag er scheffeln, aber häufig ist es eben nicht er, sondern der Star. Auf anderen Gebieten mag das ein Chemiker, ein Ingenieur, ein Zeichner sein - so gibt es beispielsweise einen Berliner Witzblatt-Illustrator, der monatlich rund 16 000 Mark verdient, ein für Vorkriegsbegriffe unerhörtes Einkommen -, aber jedenfalls drängt die Entwicklung dahin, daß die Prominenten, die Leistungsfähigen, die Talente wirklich mit Gold aufgewogen werden. Zu ihren Vorstadien gehörte bei uns der Kampf gegen die herkömmliche Bevorzugung von Juristen oder Kaufleuten an leitender Stelle. Man schoß vielfach über das Ziel hinaus, aber der Grundgedanke hat sich doch in manchem Amt und mancher Unternehmung in unseren Tagen schon durchgesetzt.
Damit ist erst für den wirklich Tüchtigen die Bahn freigemacht. In Amerika war man schon längst weiter als bei uns. Allerdings muß man dort für den Erfolg blutig schuften.
Und nun haben unsere Prominenten von Bühne und Film am vorigen Sonntag ihre Visitenkarte bei der großen Welt abgegeben. Haben ein Autorennen auf der Avus veranstaltet. Man denke: die Bühnen- und Filmlieblinge des Publikums höchst eigenhändig am Steuer der im 100-Kilometer-Tempo auf der Rennstraße daherrasenden Kraftwagen! Dazwischen einige Außenseiter wie Theo Matejko, der im Hauptberuf doch Maler ist, oder Kurt Prenzel, der auch im Film in der Hauptsache doch boxt. Nun weiß es das Volk: unsere Künstler sind nicht nur schon längst gesellschaftsfähig, sondern sie gehören auch zu den "oberen Fünftausend", die ihr eigenes Auto lenken oder ihre eigenen Pferde reiten. Zunächst ist man freilich perplex. Alles ist so merkwürdig verdreht; nächstens werden umgekehrt wohl die Rennfahrer, der junge Opel an der Spitze, uns einen Hamlet vordeklamieren oder als Mime über die Flimmerleinwand huschen; oder die Universitätsprofessoren boxen; oder die Schwergewichtsathleten Ballett tanzen. Dann sah man, daß die ganz großen Prominenten sich auf der Avus doch nicht einfanden, weil sie im Juli fern von dieser Berliner 20-Kilometer-Rennstrecke in Garmisch oder Gastein, in Westerland oder Hiddensoe sich aufzuhalten pflegen. Immerhin hatte der Veranstalter, der "Klub Bühne und Film", Berlin, Hardenbergstraße, doch noch einen stattlichen Heerbann aufgebracht; und es war eine ganz aparte Sache.
Wer auf einer Tribüne Platz nimmt, der bekommt freilich wenig zu sehen. Das treffendste Urteil fällt einer vom Festkomitee, der seine Beobachtungen hier in den Seufzer zusammenfaßt:
"Ab und zu kommt stundenlang kein Wagen."
Das ist in den Pausen zwischen den vier Rennen. Aber auch während der Rennen selbst ist es nicht viel anders. Man hört von fern ein Getöse, man reckt die Hälse, da donnert etwas heran. Rrrt! Vorbei. Man hat nicht einmal die Nummer des Rennwagens erkannt, nur den flatternden Bubischopf eines Kleinchens von Mitfahrerin, die sich vor der Kurve weit - "lebensgefährlich weit" - hinauslehnt, nach der Innenseite natürlich, um der Zentrifugalkraft entgegenzuwirken. In den Kehren selbst, am Ende des Bahnhofs Eichkamp bei Charlottenburg oder 10 Kilometer abwärts bei Nikolassee, sieht man schon mehr. Den intimsten Einblick aber gewährt natürlich der Aufenthalt auf dem Startplatz, wo mit ihren Wagen und ihren Angehörigen die Wettbewerber dem kommenden Rennen entgegenfiebern. Ein gütiges Geschick plus Trinkgeld hat mich, den gänzlich Unbeamteten, der weder gelbe noch weiße Armbinde trägt, hierher geweht.
Gerade wird Fern Andra in schwarzem Seidenmantel mit kostbarem Pelz zum dritten Male in der Wagenburg photographiert. Dann steht ihr Mann, Kurt Prenzel, eine Viertelstunde wie eine Bildsäule da; er wird im Profil, das sein zerschlagenes Nasenbein besonders zur Geltung bringt, von einem Maler gezeichnet. An jeder Ecke wird "der historische Moment festgehalten"; Herren und Damen und Autos stehen immer wieder Pose. Nun, das gehört ja zum Beruf. Das Rennfahren aber eigentlich doch nicht, erklärt mir halblaut im Gespräch ein sorgenvolles Vorstandsmitglied: "Wir leben doch von unserem Äußeren, und wenn wir uns die Knochen kaputtfahren, dann ist es alle! Aber das darf man nicht sagen, sonst fragen sie einen gleich: Du hast wohl keinen Mut ?" Beim Training eine Woche zuvor ist schon Harry Piel ausgeschieden. Und gerade er ist doch als "Mann ohne Nerven" berühmt geworden. Zwischen dem ersten und zweiten Rennen gibt es, während sonst die Sonne scheint, eine kleine Regendusche, die Bahn wird glatt, der Wagen von Lambertz-Paulsen kommt ins Schleudern und überschlägt sich an der Fahrkante. Es geschieht nichts Schlimmes; immerhin wird der arg Gequetschte und Zerschundene bewußtlos weggetragen. Der Sieger des nächsten Rennens, der strahlend glückliche dicke Leo Peukert, besucht den Kollegen, der blaß und mit geschlossenen Augen in der Unfallstation liegt. Dann geht Leo Peukert hinaus, wird auf einmal selber kreideweiß und fällt um; so sehr hat ihn der Anblick erschüttert. Aber sonst hat es nichts Tragisches gegeben. Et hät jejange jot.
Höchst vergnüglich finde ich es auf dem Startplatz. Gerade ist Thea de Terra photographiert worden. "Fabelhaftes Weib!", sagen die Umstehenden. Sie bringt nachher das vierte Rennen als Siegerin heim, die einzige Dame, die selber ihr Auto lenkt und nicht nur als Mitfahrerin Sensation erlebt. Das ist gar nicht so einfach. Die vierrädrigen rasenden Kolosse machen manchmal Sprünge von mehreren Metern, und das Steuerrad hämmert einem in die Fäuste. Aber vorerst sind wir ja noch beim Photographieren. "Herrgott, wo habe ich bloß meine Autobrille!", ruft Thea de Terra plötzlich. Verloren. Üble Vorbedeutung. Es gibt nichts so Abergläubisches, als es das Künstlervölkchen ist, auch wenn wie hier der Aberglaube sich nicht bewahrheitet. Man leiht ihr eine andere Brille, die zufällig der ihrigen vollkommen gleicht, nun ist sie wieder getröstet und spreizt sich wohlig in dem Rennfahreranzug unter den Berufsgenossen und schlenkert die Hosenbeine.
Sie ist ganz sportgerecht angezogen: Kappe, Flieger-Hemdhose aus brauner Leinewand, derbe Schuhe. Die Hosen sind unten zugebunden. Nur zwischen ihnen und den Schuhen ist ein schmaler Streifen um den Knöchel frei. Da sieht man die hellgrauen Seidenstrümpfe.
Nur eines stört mich. Aus dem linken Hosenbein baumelt ein Riemchen. Ich mache meine Begleiterin darauf aufmerksam. Wir pürschen uns heran.
"Ob ich sie daran ziepen soll ?"
"Nicht doch, nicht doch, aber sag's ihr!"
Gut. Also Thea de Terra dankt, faßt das Riemchen an und zieht - ihre verlorengegangene Brille heraus! Alles strahlt. Natürlich, wie die Damen so sind: alles - vor allem Briefe und Taschentuch - stecken sie immer in den Ausschnitt. Und wenn sie dann Herrentracht anhaben, so rutscht es eben ins Bodenlose. Nun weiß man auch, warum Thea de Terra so geschlenkert hat. Nicht aus Eitelkeit, um mit ihren Beinen zu paradieren. Sondern einfach, weil die rutschende Brille sie juckte.
Am Abend im Klub ist natürlich großer Betrieb. Man ißt und trinkt dort gut. Ich habe zum stillen Beobachten mir ein Eckchen in einem der behaglichen Räume ausgesucht, sitze bei meiner Flasche Rheinwein unter den Wandbildern von Ria Jende und Ossi Oswalda. Die wenigen Berühmten, die ich überhaupt persönlich kenne, sind nicht da oder in dem Mittelsaal versammelt, in dem alle Plätze fest belegt sind. Nicht die großen Stars, aber ein paar Nebensternchen wimmeln in meiner Nähe herum; und die sind meist auch die entzückenderen. Nur kann ich als fernstehender Eintagsgast, wenn ich höflich sein will, mich nur von fern an ihnen erlaben, denn eine Jede und ein Jeder gehört hier zu einem geschlossenen Sonnensystem, eine Jede und ein Jeder ist hier im "Klub Bühne und Film" ganz unter sich und - fachsimpelt natürlich eifrig. Über Bühne und Film ? I Bewahre! Über Zündkerzen und Vergaser und Steuerpferdestärken und Kühlerhauben. Dazwischen wird getanzt.
Oder läßt frisieren, rasieren, maniküren, pudern. Der Herr Klubfriseur ist täglich, auch Sonntags, oben im ersten Stock anwesend, von sieben Uhr abends bis zwei Uhr nachts. Kommt man nach dem Abschminken auch noch so spät aus dem Theater, - hier kann man sich für Kollegen und Kolleginnen gleich wieder schön machen lassen. Natürlich braucht man in der Intimität des Klubs einen anderen Teint als im Rampenlicht der Bühne. Und auch auf das peinlich frische Rasiertsein in der Gesellschaft legt der männliche Darsteller großen Wert. Im übrigen geht es an der Bar ganz hinten in der Grotte sehr lustig zu, und vorn in der Tombola kann man den vierundzwanzigsten oder zweiunddreißigsten Teddybären dieser Saison gewinnen. Das ist das gut Bürgerlich-Banausische hier. Im übrigen ist der Klub viel behaglicher als die meisten bürgerlichen Gesellschaften. Auch die Umsätze sind manchmal hier sehr groß, freilich nicht gerade im Essen und Trinken. Dabei ist alles so nett und zwanglos. Den Smoking hätte ich gar nicht anzulegen brauchen, außer mir tragen ihn nur noch drei oder vier Herren, die meisten sind im Tagesanzug da, Peukert diniert sogar stolz in khakifarbener Rennfahrer-Kombination, noch mit gelber Binde um den Ärmel; nur die Damen legen zumeist Wert auf frohe, festliche Gewandung. Das Bizaare fehlt. Man ist auch unter sich hier im Klub durchaus gute Gesellschaft.
Politisch ist die Welt von Bühne und Film genau so geschichtet wie die bürgerliche da draußen. Hans Waßmann und andere Große stehen ganz rechts. Agnes Straub und Lucie Höflich haben den Aufruf zur Gründung eines galizierfreien deutschen Nationaltheaters unterschrieben. Aber Leo Jeßner, der Intendant des Staatstheaters, ist Sozialdemokrat. Er hat in diesen Tagen den Professortitel erhalten, obwohl die Verfassung der Republik die Verleihung von Titeln im Gegensatz zu der fluchwürdigen Monarchie - ausdrücklich verbietet.
16. Juli 1925 (Donnerstag)
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