"Rumpelstilzchen"

Haste Worte?
(Jahrgangsband 1924/25)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1925

Glossen 40 - 42
18. Juni bis 2. Juli 1925


40

Eingehende Tanzdielen - Schluß der Atempause - Ein Abend in der Barberina - Wanderfahrt und Hauskränzchen - Die Buntseidenen - Künstlernot, Ärztenot - An der Briefwechsel-Ecke

Sollte es wirklich . . . nein, unmöglich . . . doch, doch, es ist so.

Frelich, die Tanzlust hat sicher nicht abgenommen. Aber die Tanzdielen nehmen ab. Die Tanzgelegenheit nimmt ab. Das Geld zum Tanzen nimmt ab. Seit einigen Wochen merken wir, unter welcher Hypertrophie, unter welchem Wuchern von Tanzdielen - keines mehr von ihnen so recht verdiente. Jetzt hat das Prisma-Casino, vorläufig für den ganzen Sommer, geschlossen. Dem Union-Palais am Kurfürstendamm ist die Luft ganz ausgegangen; eine Konditorei hat die Räume übernommen. An anderen Tanzstätten knistert es auch schon gefahrdrohend im Gebälk.

Das hat weder mit Moral noch mit Sport etwas zu tun, sondern ist nur eines der vielen kleinen Anzeichen dafür, daß die "Atempause" für Deutschland sich ihrem Ende nähert. Auch viele alt-solide Industriewerke versuchen sich heute durch Wechselreiterei über die Not hinwegzuhelfen. Die Reichseisenbahngesellschaft macht kaum mehr Bestellungen. Die Reiherstiegwerft in Hamburg muß ihre Pforten schließen. Die Direktoren bei Krupp verzeichten freiwillig auf einen Teil ihres Gehalts, um mit bitterem Beispiel voranzugehen, und die Familie Krupp selbst will, wie es heißt, ihre Residenz auf Villa Hügel aufgeben. Eine Berliner Großbank kündigt ihren 80 Prokuristen, um die Sonderverträge über hohes Jahresgehalt mit ihnen loszuwerden und sie insgesamt in die Tarifklasse 3 der einfachen Angestellten zurückversetzen zu können. Die Rütgerswerke schlagen für die Öffentlichkeit ihre Bücher auf und weisen nach, daß sie 84 Prozent ihrer ganzen Reineinnahmen als Steuer abführen. Phönix Bergbau zahlt monatlich über 1 Million Mark gepumpten Geldes zu, um nicht schließen und die Arbeiter auf dei Straße setzen zu müssen. Mit ähnlichen Verlusten arbeiten andere große Unternehmungen. Jeder Tag bringt solche Nachrichten, und das alles, während die "Atempause" noch nicht einmal abgeschlossen ist; erst vom nächsten Jahre ab soll uns ja der Dawes-Strick um den Hals ein wenig angezogen, erst von 1928 ab fest zugeschnürt werden. Wer den Dawes-Pakt nicht annähme, der sei ein Landesverräter, erklärte im vorigen Sommer die Sozialdemokratie. Nun aber verlangt trotz erhöhten Steuerbedarfs alle Welt nach höherem Lohn, also macht sich die Not bemerkbar; wieder in der gleichen Art wie zu Beginn unserer jammervollen Inflationszeit.

Noch tanzen wir.

Von den geschlossenen Tanzdielen wandert ein Teil der bisherigen Stammgäste dorthin ab, wo der Betrieb noch aufrechterhalten wird. Und da wird es nun mollig und voll. Dieser Tage habe ich in der Barberina in der Hardenbergstraße mich umgesehen, in der jeder Tisch und jedes Plätzchen besetzt war. Wieder die bekannte Mischung der Stände. An meinem Tisch sitzt neben mir ein Legationsrat, aus Bayern gebürtig, mit einer Lettin, die in Geschäften - ich möchte wissen, in welchen - kürzlich in Neuyork war und demnächst nach Stockholm geht. Die beiden sind augenscheinlich befreundet. Ein Russe kommt von der gegenüberliegenden Seite des Saales und wechselt ein paar schwedische Worte mit der Dame. Links von uns entdecke ich eine Sehenswürdigkeit. Da sitzt ein gutgekleideter Provinzler, starrt zur Musik hinüber und sagt: "So etwas Verrücktes habe ich noch nie erlebt!" Offenbar hört er zum ersten Male eine Jazz-Band miauen; über das Saxophon und die verstopfte Posaune muß er so lachen, daß er für andere Vorgänge kaum mehr etwas übrig hat.

An den meisten Tischen zu vier Plätzen im Saale sitzen je zwei befreundete Ehepaare vor der Flasche Wein oder der Bowle und nippen gelegentlich, aber tanzen, tanzen, tanzen ist die Hauptsache. Die Damen vielfach in Abendtoilette, die Herren im Straßenanzug. Berlin W ist unverkennbar: von hinten erkennt man schon am Hosenschnitt die Rasse. Dazwischen wirkliches Ausland, auch einzelne junge Herren. Vor mir sitzt ein hochgewachsener, schlanker, hübscher blonder Junge, den man für einen deutschen oder englischen Aristokraten halten könnte; es ist aber ein Franzose. Ein alter Engländer, der sehr gut deutsch spricht, beklagt sich über "Nepp", weil er 2,50 Mark für einen Champagner-Flip bezahlen soll, was wirklich nicht teuer ist. Am nächsten Tisch ein kugelrundes Knoppchen, Typ Kneipwirt aus Berlin N, mit seiner Gattin .Er will trinken und den Berufstänzerinnen zusehen, die sich hier produzieren. Sie möchte selber tanzen und barmt, während sie mit den Füßen zum Takte wippt: "Et schimmiet mir so in de Beene!"

Ich bin allein und kann reichlich und in Muße mich einmal umsehen und umhören. Der fletschende Nigger-Boy, der den Herren Rosen, Schokolade, Zigaretten, Teddies "vor Ihre gnädig Frau" anbietet, hat bei mir nichts zu tun. Aus den koketten kleinen Logen rundum sehen, unbemannt und beutelüstern, einige Mädchen in den Rokokosaal hernieder, sprungbereit, um sich "alleinstehender" Herren als Tanzpartnerin zu gesellen. Aber es ist nichts auffallendes dabei, Welt und Halbwelt streifen sich gleichmütig, und die formvollendet gewachsene baltische Baroneß drübern in orange Samt mit Straußfeder-Büschel an der Hüfte sieht achtlos darüber hinweg. Ein etwas exotischer Herr sitzt neben ihr. Ganz zitternde Bewegung, shimmyzapplig selbst beim Walzer, zuckt in auffallendem Silber-Lamé und violetter Seide die Frau Direktor aus WW an ihr vorüber, bald im Arm des Gatten, bald im Arm des Hausfreundes. Alles ist im Banne des Synkopen-Rhythmus. Man tanzt sich gesund, man tanzt sich schlank.

Aus der Parterreloge über mir, in m einem Rücken, kommt ein Seufzer hergeweht. Da sitzt - vorhin bei einem Rundgang habe ich es gesehen - ein Ehepaar, das etwa den fünfziger Jahren sich nähern mag. Und die Frau haucht:

"Jetzt Weinlaub im Haar . . . und wieder achtzehn Jahre alt sein . . . und dann müßte einer die Barcarole geigen . . ."

Schade, daß ich die Herrschaften nicht kenne. Ich würde der Frau schon beibringen, daß man nicht achtzehn Jahre alt zu sein braucht. Solange man geschmeidig ist und hämmerndes Blut hat, ist man heute nicht alt. Es kommt nur auf den Entschluß an. Im ganzen Saale ist keine Achtzehnjährige.

Die junge Welt gehört ja such nicht auf die luxuriöse Tanzdiele, selbst wenn sie begüterte Eltern hat. Sie soll ins Boot, auf den Tennisplatz, aufs Fahrrad - und dann allenfalls ins Tanzkränzchen. Unsere beiden Primaner begreifen mich da nicht ganz. Andere Väter seien moderner. Und "alle" anderen Primaner besäßen schon einen Smoking-Anzug. Das stimmt sicherlich nicht; schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort, und das Wort "alle" wird sehr leichtfertig gebraucht. Dafür haben unsere Buben mit den Kameraden in den Pfingstferien eine Woche lang eine herrliche Wanderruderfahrt gemacht und sind noch ganz voll von Sonne, Armkraft, Indianerleben und Poesie des Übernachtens im Zelt. Neun Mann hoch sind sie im alten Dollensechser, einer wahren Arche Noah unter den Sportbooten des Gymnasialrudervereins, losgefahren, hatten also genügend Ablösung, da zweie als "Kielschweine" verstaut waren. Es war so schön, o, so schön, daß einstimmig beschlossen wurde, die Erinnerung daran - durch ein Tanzkränzchen am vorigen Sonnabend zu begehen, bei irgendeinem Elternpaar, das genügend große Räume hat. Jeder von den neun lade eine Augusta-Gymnasiastin dazu ein, mit deren Ruderklub man sozusagen im Kartellverhältnis steht, und gebe von seinem Taschengeld 3 Mark für die Verpflegung an dem Abend her. Ich weiß schon, ich weiß schon; laßt nur Euren Taler, wir machen es einfach und schaffen es alleine für euch 18 Kälbchen. Und nun ist die große Sache also wirklich gestiegen und war "das aller-, allerschönste Fest bisher".

Ein klein wenig Schuld daran trägt - die Strumpf-Fabrik von Heinrich Helm in Chemnitz.

Irgendwann einmal habe ich in meinen Plauderbriefen, die doch eine einzige lächelnde Pädagogik sind, die Putzsucht der jungen Leute von heute erwähnt, dabei wie immer das Beispiel aus Erlebtem genommen und erzählt, daß unsere Buben, nicht zufrieden mit ihren schwarzen Socken, sich für ein paar Groschen eigenen Taschengeldes (Obst wäre besser gewesen) bunte Strümpfe gekauft hätten, billig und schlecht, die schon tags darauf Loch an Loch wiesen. Das also kommt Herrn Helm vor Augen und er schickt mit den Begleitzeilen, daß die Fußbekleidung meiner Herren Primaner - wegen scheinbaren Geizes des Vaters - offenbar mangelhaft sei, eingeschrieben durch Vermittelung des Verlages an Rumpelstilzchen, man höre und staune, vier Paar bunte seidene (wahrhaftig: seidene) Socken hervorragender Güte! Fast habe ich den Verdacht, daß um ihretwillen das Tanzkränzchen veranstaltet ist. Am liebsten hätte ich für den mir persönlich unbekannten Wohltäter die beiden Primaner photographiert, wie sie da im Sessel saßen: Beine lang, Hosen auf Halbmast, Shimmyschuhe, die Knöchel leuchtend in Seide.

Es war wirklich eine runde Sache. Auch sonst. Und eine harmlose Sache. Als sie um 12 zu Ende war, ist die ganze Gesellschaft, 9 Knäblein, 9 Mägdlein, Arm in Arm in einer Kette zum Gymnasium der ersteren gezogen und hat ein dreifaches donnerndes "Kukirol" auf die alte Penne ausgebracht.

Freut Euch des Lebens, meine Lieben. Der Ernst kommt noch früh genug. Eine Andeutung davon habt Ihr in der Schule mit ihrer tüchtigen Arbeit. Bald seid auch Ihr im Beruf und schlagt Euch mit Sorgen herum. Ein älterer Sohn von uns, der nach der Gymnasialzeit die Ingenieurlaufbahn einschlug, hat sie aufgegeben, weil das Künstlertum in den Fingern so kribbelte. Er ist Bildhauer und hat leider Talent. Aber wer läßt heute noch eine Bildnisbüste von sich machen ? Sogar auf figürlichen oder ornamentalen Schmuck an Neubauten verzichten heute die Bauherren. Nach dem kurzen Rausch von 1924/25, daß alles wieder werde wie einst, muß man erneut in äußerster Sparsamkeit sich durchwinden; die Nützlichkeit allein hat bei Neubauten das Wort. In der Akademie der Künste haben wir jetzt die neue Ausstellung. In langen bangen Wochen ist aber - erst ein einziges ausgestelltes Bild verkauft. Und auf den Kunstauktionen sind die Preise gedrückter denn je.

Am empfindlichsten macht sich die rückläufige Bewegung wie immer in dem Einkommen der Mediziner in der Großstadt bemerkbar. Sie haben am meisten unter der Inflation geliiten, weil ihre Rechnungen stets in entwertetem Gelde bezahlt wurden, und jetzt legen die Patienten wiederum lange Kunstpausen ein und gehen überhaupt zum Arzt vielfach erst dann, wenn sie - kaum mehr gehen können. Nur der und jener Zyniker von Frauenarzt hat noch reichlich zu tun und erklärt gleichmütig: sein bißchen Geld kratze man sich noch so leidlich zusammen. Die Masse der praktischen Ärzte aber hat kaum Privatpatienten mehr und kann von den Groschen der Kassenpatienten nicht leben. Es ist erstaunlich, was heute alles "zur Kasse gehört". Leute, die Sonntag für Sonntag im Auto zum Rennen fahren; Leute, die im Frühling in Sizilien waren oder jetzt ans Nordkap reisen. Und die Privatpatienten ? Sie haben immer etwas "nötigeres" zu bezahlen als den Arzt. Und wenn der zu mahnen anfängt, am Ende gar durch einen Rechtsanwalt, so geht man eben zu einem anderen Arzt, um den Mahner - für seine Rücksichtslosigkeit zu bestrafen. Ich glaube, in keinem Lande der Welt wird in dieser Hinsicht so gesündigt wie bei uns. Seine Miete und seine Steuern muß man bezahlen, in den Läden gibt es Nahrung nur gegen bares Geld, pumpende Schneider und Schuhmacher existieren kaum mehr, aber wenn man den Arzt nur ein halbes Jahr warten läßt, kommt man sich schon sehr anständig vor.

Es ist überhaupt eine faule Sache mit den "studierten" Berufen heutzutage. Wer nichts erheiratet und nichts ererbt, der bleibt ein armes Luder, bis er sterbt. Bei sinkender wirtschaftlicher Konjunktur mehren sich daher die Heiratsgesuche unter den Zeitungsanzeigen. Nur überragt der kleine Mittelstand hier noch bei weitem die "studierten" Herrschaften und feinen Leute.

Das bequemste und erfolgreiste ist die Daueranzeige in einem Aushang. In der Lindengalerie, der sogenannten kleinen Passage, existiert eine Briefwechsel-Ecke, an der man immer eifrige Leser beiderlei Geschlechts findet. Für 10 Pfennig kann man sich nebenbei aus dem Amor-Automaten die vorgedruckte Karte ziehen, die gegen eine verhältnismäßig geringe Gebühr nachher, wenn man sie ausgefüllt hat, durch den Menschenfreund und Aushangpächter Friedrich Schulze (Berlin S 42, Oranienstraße 44) angeheftet wird. Der Vordruck lautet:

Ich wünsche Briefwechsel zwecks Ehe, ich
bin . . . . . habe Geld . . . . . Einkommen
. . . . . Beruf . . . . . Alter . . . . . Größe
. . . . . Haare . . . . . Figur . . . . . Religion
. . . . . Ich wünsche . . . . . kennenzulernen.
     Geld . . . . . Einkommen . . . . . Beruf
. . . . . Alter . . . . . Größe . . . . .
Haare . . . . . Figur . . . . . Religion . . . . .
     Schreiben Sie bitte gleich an . . . . .

Leichter kann es einem wirklich nicht gemacht werden. Die Leute sind, zumal da sie ja eine Postlageradresse angeben können, ganz offenherzig, schreiben auch noch zwischen die Zeilen allerhand Wünsche. Da lese ich z.B.: "Geld kein, Einkommen gering, Beruf Händler"; unter den gesuchten Eigenschaften seiner von ihm ersehnten Zukünftigen steht kurz und bündig "Äußerlichkeiten Nebensache" und dann, dick unterstrichen: "Bescheidene, tiefempfindende, sehr treue Lebensgefährtin." Das wird sie nötig haben bei dem geringen Einkommen. Das seinige offenbar zu verbessern wünscht ein Musiker, der eine Klavierlehrerin "mit eigenem Klavier" ehelichen möchte. Besonders viele Stenotypistinnen vertauschen gerne das Bureau mit eigenem Haushalt und sind mitunter bereits im Besitz eines Schlafzimmers und weißlackierter Küche. Einige von ihnen nennen auch ruhig Namen und Adresse, man könnte sich also, ehe man dem Mädchen selber naht, bei der Portiersfrau im Hause nach Vorleben und Wirtschaftlichkeit erkundigen; diese voll unterzeichneten Karten haben, wie Herr Friedrich Schulze versichert, den meisten Erfolg und werden oft schon nach wenigen Tagen herausgenommen. Ein einziger Herr hat für den Aushang seinen Namen hergegeben, ein Freiherr v.Manninger, angeblich Kaufmann mit 200 Mark Monatseinkommen; ich möchte wetten, daß es - kein Freiherr ist, aber jedenfalls ein Mensch mit guter Witterung für Sparkassenbücher.

Merkwürdigerweise spielt das Finanzielle in dem Aushang eine verhältnismäßig geringe Rolle, es sind andere Vorzüge, die hervorgehoben werden, und ganz besonders vermerken fast alle Damen, daß sie Temperament hätten. Das scheint heutzutage der gesuchteste Artikel zu sein. So ganz zuverlässig ist die Aussage aber auch nicht immer, wenigstens erzählt mir ein Telegraphenarbeiter, der gerade seine eigene neueste Anzeige im Aushang studiert, über seinen letzten Versuch mit einer angezeigten Heiratslustigen enttäuscht:

" 'n bißken Jeld hatte se nu ja, aber Temperatur jar keene nich!"
18. Juni 1925 (Donnerstag)


41

Das Siechenhaus - Abends auf dem Potsdamer Platz - Der Blick in den Sternenhimmel - Die "Hellseherin" Madame Karoly - Bonbonnière - Berliner Mundwerk - Versteigerung der Volksoper - Turmhäuser - Erinnerungen an August Scherl

Rettender Regen hat die schier verdurstete Mark wieder getränkt. Der undankbare Großstädter, der diesmal den seit Jahren sonnigsten Frühsommer erlebt hat, mault schon wegen der zehn feuchten und kühlen Tage und macht die herkömmlichen Bemerkungen über die Verlagerung des Nordpols nach Berlin. Er hat vergessen, wie er noch vor zwei Wochen geschimpft hatte, weil in Charlottenburg schließlich sogar die Wasserleitung nichts mehr hergab. Nun blaut nach der von den Landwirten sorgenvoll ersehnten Unterbrechung wider der Himmel und ist nachts sternklar, soweit der Dunst der Vier-Millionen-Stadt diesen Ausdruck überhaupt zuläßt. Auf dem Potsdamer Platz hat sich denn auch der Mann mit dem Teleskop wieder eingestellt, auf dem Bürgersteig neben dem ehemaligen "Siechenhaus", das aber mit Kranken und Siechen nichts zu tun hatte, sondern - Bier aus der Brauerei Siechen in Nürnberg verzapfte. Ein imposantes Gebäude, fast schon Turmhaus; und hoch oben prangte eine mächtige Erzfigur, Bacchus wohl oder Gambrinus oder ein sonstiger vergnüglicher Heide. Im Kriege mußte er "daran glauben", wurde beschlagnahmt und eingeschmolzen, an seiner Stelle wurde nur eine Fahnenstange eingepflanzt. Nach dem Kriege, in der beginnenden Inflationszeit, nisteten sich eine tschechoslovakische Bank und eine Reiseagentur in die Haupträume ein, und jetzt wird der Palazzo für eine Münchener Konkurrenz des Siechenbräus erneuert und erweitert, für das Pschorrbräu, das angeblich 360 000 Goldmark Miete alljährlich entrichten muß. Drüben von der Josty-Ecke her wird der Potsdamer Platz allabendlich und allnächtlich durch die eilende Reklame der elektrischen Wanderschrift erhellt. Da erhascht man das Allerneueste in geblendeten Augen: "Morgen 3 Uhr Trabrennen in Ruhleben",   "Die Unruhen in China verschärfen sich, ein französischer Kaufmann getötet",   "Du darfst nur Walasco rauchen, also wird Walasco geraucht",   "Juni - Oktober 1925 Deutsche Verkehrsausstellung München",   "In der Ulap große Bubikopf-Konkurrenz",   "Heute beginnt im englischen Unterhause die Sicherheitspakt-Debatte",   "Steiners Paradiesbetten-Filiale Leipziger Straße 123a",   "Avus-Autorennen prominenter Film- und Bühnendarsteller 5. Juli". Hier aber auf dem Bürgersteig vor dem Siechenhaus lauert gelassen der Mann mit dem Riesenfernrohr darauf, daß Du Deine Augen danach in dem dunklen Himmelsraum ausruhst. Für 20 Pfennig kannst Du heute Albireo, den Doppelstern im Schwan, 48 Lichtjahre von der Erde entfernt, erschauen, wovon der eine in gelbem, der andere in magischem blauen Lichte erstrahlt. Der Zuspruch ist reichlich. Auch die über den Potsdamer Platz daherstreichenden Mädchen wollen unbedingt solch einen Blick in die Ewigkeit tun. Auf eine kleine Weile ist ihnen dann so fromm zu Mute.

Die Sehnsucht nach dem Unbekannten, nach der Erkenntnis dessen, "was die Welt im Innersten zusammenhält", die Sehnsucht nach Gott, den man nur zu nennen sich scheut und durch "geheimnisvolle Kräfte" ersetzen möchte, treibt in der Großstadt die wunderlichsten Blüten. Von der bruchstückhaften Befriedigung dieser Sehnsucht leben hier Tausende von Charlatanen, zeigen ihre Künste und ihre Experimentalvorträge an den Anschlagsäulen an und laden durch Handzettel in ihre muffigen Hinterhäuser ein oder produzieren sich sogar im grellen Lichte der Variétés.

Erschauernd sitzen die "aufgeklärten" Berliner jetzt vor der sogenannten Seherin Madame Karoly, deren Gatte - er ist gleichzeitig ihr Impresario - durch allerhand Brimborium sie angeblich hypnotisiert. Diese Madame Karoly - recte wohl Frau Silberstein aus Kischinew - errät, mit verbundenen Augen, vom Publikum abgekehrt, "jeden Gegenstand", den ihr Mann im Publikum sich zeigen läßt. Den - üblichen Gegenstand. Uhr, Taschentuch, Ring, Paß, Handtasche, Spiegel, Puderdose und dergleichen. Ich weise stumm einen Zeitungsausschnitt vor. "Das ist kein Gegenstand!", erklärt Herr Karoly und geht eilends an den Nebentisch weiter. Aha, mein Junge, - nun ahne ich schon die Technik! Dann kommt die Hauptsache. Nun wird es schauerlich spannend. Frau Karoly-Silberstein will in ihrem "Trancezustand", der natürlich keiner ist, jeden vermißten Angehörigen der p.t. Besucher des Lokals hellsehen. Bitte Vornamen und Jahreszahl aufschreiben! Man tut es, man gibt den Zettel ihrem Gatten-Impresario, er fragt nach dem ersten, zweiten, dritten Buchstaben des Namens, bis seine Sybille das Ganze errät, nachdem sie die ersten paar Buchstaben genannt hat. Wie er fragt, das ist es. "D e r  erste Buchstabe!"   "Z w e i t e r  Buchstabe!"  "D e n  dritten Buchstaben!"  "B i t t e  den vierten!"  Die Frageform kann man also variieren, beliebig variieren, besonders, wenn man noch gelegentlich mit "Äh" und "Hm" oder sonstwie sich räuspert, die Stimme hebt oder senkt. Wir haben die "Hellseherin" in kleinem Komitee geprüft und dabei alle Räusperarten klassifiziert. Es ist bloß Gedächnissache. Madame Karoly muß so die unauffälligen Zeichen für 24 Buchstaben und 10 Ziffern intus haben, das ist alles. Ich habe auf meinem Zettel "Woldemar 1917" aufgeschrieben. Name und Jahreszahl sind schnell erraten; nach dem vierten Buchstaben. "Wo vermißt ?", fragt der Mann. "Frankreich!", antwortet sie. "Falsch!", erkläre ich. "Wo noch ?" (wahrhaftig so!), fragt er schnell. "Rußland!", ertönt ihre Grabesstimme. "Wo da ?", inquiriert er weiter. "Wolhynien!" Und dann: "Lebt er ?" Und die Antwort: "Gefallen!" Alles ist falsch. Unser Vetter ist nicht in Wolhynien gefallen, überhaupt nicht im Weltkriege (nur den Boxerfeldzug hat er früher mitgemacht) Kämpfer gewesen, sondern kurz vor Kriegsausbruch von den Russen - er war gerade als Direktor einer chemischen Fabrik von Höchst nach Warschau versetzt - nach Orenburg am Ural verschleppt und dort schließlich als "vermißt" im Gefängnis gemeldet worden. Solche kleinen Schönheitsfehler werden in der Aufregung nicht bemerkt. Ich selbst habe auch keinen Krach geschlagen. Die Scharen der Unbelehrbaren aber pilgern nach wie vor zu der "geheimnisvollen Seherin", um sich angebliche Gewißheit durch ihre übernatürlichen Kräfte zu holen. Alle während des Krieges Vermißten läßt sie in Frankreich oder Rußland gefallen sein. Kunststück. Wenn seit so langen Jahren keine Nachricht mehr kommt, beträgt die Wahrscheinlichkeit des Todesfalles 99 v.H. Ist aber einer früher, vor dem Kriege, schon vermißt, so sagt sie: Amerika. Stimmt auch in 99 von 100 Fällen. Über die Technik der Artistin wundere ich mich gar nicht; nur über die Dummheit dieser Großstädter, die hier wirklich an geheime Kräfte glauben.

Dabei sind die Leutchen doch sonst so gewitzt, freilich auch unter politischer Beeinflussung oft haltlos, ganz anders als der selbstsichere Mann aus der Landstadt, aber gewitzt im gegenseitigen Verkehr. "Wer mir vor dumm vakooft, der is keen Jeschäftsmann", hört man doch immer wieder. An Selbstbewußtsein fehlt es dem Berliner nicht. Er glaubt an seine Klugheit und an seine Kraft und bringt das auch - wie er meint, in jovialer Art - zum Ausdruck. Da bin ich neulich in der Bonbonnière, der Tanzdiele des Biedermannes der Friedrichstadt. Hier wird man nicht geneppt, hier braucht man bloß seinen Schwedenpunsch oder sein Glas Bier zu bezahlen und hat dafür alles. Der Geschäftsinhaber der Gegend, der um 7 seinen Laden schließt, ißt dann zu Hause Abendbrot und kommt nach 9 mit seiner Gattin her. Auf einen Topp Bier. Auf ein paar Foxtrotts. Der Feinkosthändler. Der Herrenwäscheverkäufer. Der Papierwarenkaufmann. Dazwischen wie verloren ein paar jungen Gents, ein dienstfreier Feuerwehrmann, ein Banklehrling, einige unternehmungslustige Lehrerinnen, etliche Tänzerinnen. Ein junger Mann pürscht sich zu einem erhofften Abenteuer an die Frau eines der ehrbaren Kaufleute heran und sagt ihr irgend etwas Nettes. Da erhebt sich der Mann und äußert "in wohlwollendem Tone" nur die Wort:

"Mensch, mach' Dir dünne, dettste durch det Abflußrohr wutschen kannst, wenn ich Dir in de Badewanne schmeiße!"

Das genügt, und man trennt sich in aller Herzlichkeit; tätlich zu werden, liegt nun nicht die mindeste Veranlassung mehr vor. Geschieht auch in Berlin seltener als anderswo. Höchstens erhebt solch ein Selbstbewußter die Hand, schlägt aber nicht zu, sondern hält sie ruhig ausgestreckt und sagt nur: "Loof mal jejen!" Fast alles wird durch ein paar derbe Redensarten ersetzt. Schade, daß ich nicht häufiger Zeit habe, auf Auktionen zu gehen, denn da kann man solche Urwüchsigkeiten am besten studieren, weil sich am Versteigerungstisch alle Stände mischen. Im Theater des Westens, wo jetzt der ganze Fundus der verkrachten Volksoper unter den Hammer gekommen ist, war freilich der Mann aus dem Volke kaum vertreten. Nur Männer und Frauen vom Fach saßen mit der ernsten Miene kalkulierender Geschäftsleute herum, die Abgesandten der Stadttheater von Plauen, Greifswald und Halle, ferner etliche Maskenverleiher, dann der dicke Kugelballon Herr Ernst, der sämtliche historischen Filmaufnahmen mit Kostümen aus seinem Lager versorgt, auch ein Aufkäufer der Theaterfirma Verch & Flotow und noch so ein paar Leute vom Bau. Neben der Unzahl von Revue- und Operettentheatern hat die Große Oper bei uns sowieso einen schweren Stand. Und nun gar vier Große Opern in Berlin - so etwas kann sich doch nicht einmal London oder Newyork heute leisten. Aber da Fritz Ebert sich höchstperönlich "an die Spitze gestellt" hatte, um auch einmal etwas für die Kultur zu tun, glaubte der und jener, daß eine Große Oper "für das Volk" sich durchsetzen werde. Keine Ahnung. Das Volk geht lieber in das Metropoltheater zu den "Tausend süßen Beinchen", erstens um der Augenlust willen, zweitens um des Minimums an Denkarbeit willen, drittens um der paar angequälten Lockverse willen:

"Sei doch schmiegsam, sei doch fügsam
Und nicht zimperlich,
Bin als Mann nicht so genügsam,
Bin ganz scharf auf Dich!"

und überläßt die Große Oper, mit ganz wenigen Ausnahmen, dem musikverständigen gebildeten Mittelstand. Also die Volksoper ist nicht nur verkracht, sondern hat auch ihre darstellerischen Kräfte und sonstigen Angestellten etwas plötzlich auf dem Pflaster sitzen lassen, obwohl die regierende Sozialdemokratie hinter ihr stand. Nun soll die Versteigerung der Kostüme und Requisiten noch ein paar Bettelgroschen für die Getäuschten einbringen.

Es ist oben im dritten Stock, in dem Ankleideraum der Choristinnen. Mit aufreizend heiserer Stimme brüllt der Auktionator, mit um so kälterer Miene taxieren die Bieter. "Lohengrin, wer bietet ? Fünfzehn zum ersten . . ." O, die schöne silbergleißende Rüstung! Und der stolze Schwanenhelm! Aber die Angebote klettern nur langsam. Fünfzig, fünfundfünfzig, sechzig. "Na ?" fragt der Gehilfe des Versteigerers und klopft einen der Hochmögenden auf die Schulter. "Nie sollst Du mich befragen!" kräht der zur Antwort. Für 110 Mark gehen Kleidung und Rüstung samt Schwert schließlich ab. Der ganze Kram aus Haendels melodienherrlicher Oper Rodelinde kommt in eine Hand. Stückweise werden die Kostüme aus dem Caesar abgenommen. Da, das ist Cleopatras Gewand, das hat sich über Melanie Kurts wogenden Busen gespannt, das muß ich mal in die Hand nehmen, da weht vielleicht noch ein Duft von der begnadeten Sängerin her. Jawohl: Naphthalin! Zehn Rüstungen, bestehend aus Harnisch, Beinschienen, hartes Metall, bringen 400 Mark, und ganze siebenundzwanzig Damenchorkleider, es ist direkt aufregend, werden zusammen für nur 120 Mark erstanden. Telramund, Carmen, Bajazzo: dahin, dahin. Nun wird König Heinrichs Gewand versteigert. Ein Bieter vermißt dazu den Mantel. "Wo habt Ihr denn den Mantel ? Den habt Ihr wohl nicht nötig ? Ihr seid wohl bloß Sommeroper ?" Mit zuckenden Lippen und brennenden Augen steht eine kleine Choristin dabei. Sie weiß von jedem Kostüm, wer darin gesteckt hat. Da - "Das ist vom Hagedorn!", sagt sie und seufzt. In zwei Tagen ist die ganze Herrlichkeit in alle Winde zerstoben. Und war doch eine so schöne, lockende, erfolgversprechenede Welt für sich.

Trotz aller üblen Erfahrungen sterben die Theatergründer nicht aus. Das gleiche gilt von den Zeitungsgründern und von den Wolkenkratzer-Projektierern. Die seit Jahren bestehende älteste Turmhaus-Gesellschaft am Bahnhof Friedrichstraße hat noch immer nur ihren leeren Bauplatz. Den ersten wirklichen Wolkenkratzer hat die Maschinenfabrik von Borsig in Tegel bei Berlin errichtet. Im Innern Berlins folgt hier als erste die August Scherl G.m.b.H., der große Zeitungsverlag, der einen ganzen Häuserblock angekauft hat und hier ein amerikanisch-modernes Geschäftshaus von im Mittelbau 14 Stockwerken erstehen läßt. Natürlich, ein alteingeführtes Zeitungsunternehmen kann sich so etwas schon leisten. Von allen täglich zweimal erscheinenden großen deutschen Blättern, hat der "Berliner Lokalanzeiger" die meisten Abonnenten. Und hat doch einst ganz klein-winzig angefangen.

Zuerst war es nur ein Wochenblättchen, das umsonst verteilt wurde, aber einen so zugkräftigen Roman, "Pistole und Feder", brachte, daß die Leute sich darum rissen; und sehr bald gab es dann auch Inserate, auf denen als erster deutscher Verleger Scherl sein Einkommen basierte, während er den Abonnementspreis unter den Selbstkosten hielt. Am 3. November 1883 hatte er, der vorher nur kleiner Buchhändler gewesen war, so angefangen. Binnen Jahresfrist war er schon ein gemachter Mann, ein genialer Kerl voll von Einfällen, nicht nur auf seinem eigentlichen Berufsgebiet, sondern bis zum Problem der Einschienenbahn und der Erschließung der Arktis. Schon nach kurzem Bestehen des Berliner Lokalanzeigers konnte Scherl - seine erste Frau, eine Schauspielerin, war schon vor längerer Zeit gestorben - zum zweiten Male sich einer Frau antragen, die in ihrer Art eine Berühmtheit war, und ihr alles, was man sich damals zu wünschen pflegte, zu Füßen legen. Es war "die schönste Tirolerin", Therese Zoettl aus Kufstein, die beim Bundesschießen in Innsbruck dazu ausersehen gewesen war, dem alten Kaiser Franz Josef den Ehrentrunk zu reichen. Der Kaiser hatte sie dann malen lassen; ihr Bild wurde in seinem Jagdschloß Neuberg in Steiermark aufgehängt. Ihre Photographie erschien gleichzeitig in der Leipziger Illustrierten Zeitung. Die sah August Scherl bei gelegentlichem Blättern und sagte zu seinem Intimus v.Kupffer sofort:

"Das Mädchen heirate ich!"

Man schüttelte den Kopf, man lächelte hinterrücks über Scherl, aber der war ganz der Mann, durchzusetzen, was er sich vorgenommen hatte. Er ließ alle Minen springen, das junge Mädchen kam schließlich mit ihren Eltern nach Berlin und - heiratete ihn. Die Ehe war so glücklich, daß August Scherl es sich leisten konnte, nach außen hin sich immer mehr abzuschließen und zuletzt in den Ruf eines menschenscheuen Sonderlings zu kommen. In einundzwanzig Jahren ist das Paar auch nicht einen einzigen Abend getrennt gewesen.
25. Juni 1925 (Donnerstag)


42

Nach der Volkszählung - Die Notspeisungen gehen ein - Annenstraße 25 - Sport- und Spielwoche - Im neuen Geländehindernispark - Onkel Toms Hütte - Aida-Geplauder

Das durfte nicht kommen. Nein, auf eine solche Entthronung war man nicht gefaßt. Berlin ist gar keine Vier-Millionenstadt! Nach dem vorläufigen Ergebnis der Volkszählung heißt es, daß noch rund 30 000 Menschen dazu fehlen, obwohl die "fortgeschriebene" Einwohnerzahl die 4 Millionen erheblich überschritt. Es sind also in den letzten Jahren offenbar sehr viele Leute aus Berlin verduftet, ohne besonderen Wert auf ordnungsgemäße Abmeldung und auf Bekanntwerden der neuen Adresse zu legen. Ihr Verbleiben wäre uns allerdings wohl noch weniger wert gewesen.

Für die große Masse der Bevölkerung bedeutet eine Zählung heute nicht mehr etwas so Außergewöhnliches und Aufregendes wie etwa noch vor einem Menschenalter, denn die behördliche Wißbegier weht einem ja jetzt alle paar Monate irgendeinen Fragebogen auf den Tisch; man ist das Eintragen nachgerade gewöhnt. Aber die Arbeit der ehrenamtlichen Zähler ist schwieriger geworden, weil das Publikum seit der Revolution nicht gerade vernünftiger geworden ist. Man erschwert diesen Zählern - eigentlich sind sie nur Nachprüfer - unnütz ihr Amt, legt zunächst die Liste nicht rechtzeitig heraus, man bleibt auch selber tagelang unauffindbar, obwohl man vielleicht ganz genau weiß, daß der Zähler schon dreimal vergeblich dawar. Der Staat kann mir sonstwas, sagt die Kontoristin und geht direkt vom Bureau aus tanzen. Bisher bin ich glücklich von allen Ehrenämtern verschont geblieben, weil meine Mitbürger mir wahrscheinlich zutrauen, daß ich doch nur Unfug anrichten würde. Ich bin nie Zähler, Wahlbeisitzer, Schöffe, Schiedsmann, Geschworener oder etwas ähnliches gewesen. Aber ich höre alle diese Herren gern seufzen.

Haben sie nämlich eine Weile ihr Amt ausgeübt, dann kennen sie das Volk und dann sagen sie mir unaufgefordert, - ich hätte ja sooo Recht. Bei allen mir bekannten Zählern habe ich diesmal, soweit es mir möglich war, ihr Material durchstöbert und ihre Erlebnisse mir mitteilen lassen. Da ist eine Frau, die durchaus ihren Beruf nicht spezialisieren wollte, sondern in beide Rubriken einfach "Arbeiterin" schrieb. Auch bei einem persönlichen Besuch des Zählers wollte sie nicht mit der Sprache heraus, weil es ihr "zu schanierlich" sei. Ach was, ehrliche Arbeit schändet nicht, sagt ihr freundlich der Rektor mit dem Fragebogen in der Hand; nach Aussage des Portiers arbeite sie doch täglich ihre 8 Stunden in einer Fabrik, also deswegen geniere man sich doch nicht! Nun gut, ihr solle es recht sein, meint die Frau entschlossen. Nimmt den Bogen und schreibt: "Wanzenpulverpackerin". In einem anderen Stadtviertel hat ein durchaus Klassenbewußter unter Religion eingetragen: Dentist. Er meint natürlich Dissident. Das beste Stück aber hat ein Bekannter von uns in Steglitz in seiner Sammlung, allwo ein älteres Mädchen unter Beruf kurz und bündig geschrieben hat: jetnen. "Jetnen ? Was ist das ?" In der Familie des Zählers kann ihm keiner heraushelfen. Also wieder hin zum Portier der Mietskaserne, in der die Frau eine Stube und Küche bewohnt. Der setzt sich die Brille auf, liest, sieht den Zähler kopfschüttelnd an und sagt dann in ruhigem Ernst:

"Aba da steht et doch! Janz deutlich! Se jeht nähn! Nähterin is se!"

Manche von den freiwilligen Helfern bei der Zählung, die zum ersten Male dabei einen Blick in sämtliche Haushaltungen einer Straße tun konnten, sind durch ihre Beobachtungen tief erschüttert. Es gebe doch noch unendlich viel mehr Not, als wir ahnten. Ach, das weiß ich von manchen meiner Gänge her, auch ohne daß sie amtlich waren. Wer helle Augen hat, der sieht allerlei. Am 30. Juni haben verschiedene Volksspeisungen aufgehört, darunter die des gebildeten verarmten Mittelstandes durch holländische Deutschenfreunde im Charlottenburger Schloß. Berliner Großkonfektionäre haben in Scheveningen so auffällig gelebt, daß den Holländern ihre Gebefreudigkeit vergällt worden ist. Auch die Amerikaner hören mit ihren Spenden jetzt vielfach wieder auf. Die Deutschamerikaner; sie vor allem waren es, die unermüdlich gaben, obwohl sie an Deutschland schon so viel verloren hatten durch Ankauf von Papiermark und sonstigen "Werten". Von ihnen lebt unter anderem die Baltenschule in Misdroy, das unter der Leitung des Revalensers Dr. Hunnius stehende private Gymnasium, das ein großer Segen nicht nur für vertrieben Balten, sondern für deutsche Flüchtlinge aus allen Teilen der Welt geworden ist. Mehr als die Hälfte der Kinder, die hier auch ein Heim im Internat gefunden haben und dem Deutschtum erhalten bleiben, betseht aus kleinen Reichsdeutschen, die ganz in dem glühenden Nationalgefühl erzogen werden, wie es der Auslandsdeutsche in sich trägt. Auch diese Arbeit ist gefährdet, wenn die Spenden versiegen. Sie sickern nur noch. In Berlin aber habe ich an diesem 30. Juni viele alte Leute mit hellen Tränen in den Augen ihre "Henkersmahlzeit" einnehmen sehen. Die sogenannte Winterhilfe der evangelisch-lutherischen Kirche, die in Berlin S, Annenstraße 52, auf dem Hofe des Kirchengrundstückes, und ebenso an zwei anderen Stellen in Berlin W und Berlin N das Jahr über jedem Bedürftigen der Gegend, ohne Ansehen von Person und Konfession, täglich ein gutes warmes Mittagessen, in zwei Sommermonaten statt dessen in Natura Mehl, Zucker, Hülsenfrüchte und sonstige Lebensmittel verabfolgte, muß nun auch ihr Werk aufgeben. Sie hat es ohne jede Reklame, ohne jede Heilsarmee-Allüren getan. Natürlich nicht wahllos. Man führte Listen, die man mit anderen wohltätigen Unternehmungen austauschte, man hatte seine Kartothek, man durchlochte täglich die Monatsscheine der Esser. So half man in wirklicher Not, so begegnete man der Praxis mancher "Armer" seit dem Jahre der großen Unordnung, sich überall ein Eimerchen Essen zu holen und es dann - als Hundefutter zu verkaufen. Hier in der Annenstraße aß man wirklich vortrefflich. In den städtischen Berliner Volksküchen muß man 25 Pfennig bezahlen, und es ist - ich habe ihn selber probiert - ein Fraß, hier aber gab es beste Hausmannskost aus bestem Material. Da brodeln in einem Feldküchenkessel 40 Pfund Reis, 60 Pfund Kartoffeln, 16 Pfund Fleisch, 10 Pfund Spargel zu einre nahrhaften dicken Suppe. Jawohl, sogar Spargel! Oder es gibt Makkaroni mit fettem Rindfleisch. Oder Graupen mit Gänsepökelfleisch. Und wenn es süßen Reis gibt, ist es wirklicher Milchreis, denn auf je 200 Portionen kommen 10 Büchsen amerikanischer Sahne. Da sitzen die alten Leutchen und löffeln behaglich oder tragen ihren Topf nach Hause oder bekommen ihn, wenn sie ausgangsunfähig sind, hingeschickt. Es sind Menschen aller Stände, meist natürlich sogenannte kleine Leute, aber auch ein Arzt mit seiner Frau, ein Musikprofessor, ein ehemaliger Fabrikdirektor mit seiner Frau und mancher verarmte ehedem wohlhabende "Privatier" sind darunter. In der Kartothek blättere ich durch, was diese Leute an nachgeprüften eigenen Einnahmen haben. Monatlich 24 Mark Kriegselterngeld die einen; 18 Mark Sozialrente die anderen; 31 Mark Armenunterstützung die dritten. In diesem Rahmen alle Beträge. Und es gibt auch Leute, die lediglich eine freie Schlafstelle haben, für Essen und gar Kleidung überhaupt nichts. Nun versteht man auch die dicken Tränen an diesem stillen Abschiedstage.

Schade, daß die Stadt nicht das Geld, rund 3500 Mark monatlich, für dieses Liebeswerk hergibt. Hier geschieht alles wirklich nur aus Liebe. Auch die Kartoffelschälerinnen, darunter manche Hausfrau, tun abwechselnd unentgeltlich hier ihre dreistündige Arbeit. In den städtischen Volksküchen ist ja alles Beamtung. Aber die Stadt hat nicht nur die 3500 Mark oder einen Teil davon nicht übrig, sondern nimmt der Kirche sogar die hergeliehenen Feldküchen wieder weg. Sie werden auf den Sportplätzen, heißt es, dringender gebraucht.

Natürlich ist ja auch das eine schöne Sache. Für die heranwachsende Jugend geschieht sehr viel, der Oberbürgermeister Böß sieht die Neuanschaffung von Sport- und Spielplätzen als sein Lebenswerk an, alljährlich macht - wie augenblicklich wieder - eine Berliner Sportwoche dafür Propaganda. In jedem Stadtviertel, zu Lande und zu Wasser, sind Wettbewerbe. Vom einfachsten Volks-Rasensport bis zu dem exklusiven Pferdesport zeigt alles, was es kann. Nur sind die Einnahmen aus den öffentlichen Vorführungen gering, denn wochentags muß doch auch de Berliner arbeiten, - und er arbeitet tüchtig, macht weniger "blau" als andere Großstädter.

Ein Stündchen habe ich mir erürbigen können, um etwas für Deutschland ganz Neues zu besuchen, das während dieser Sportwoche gezeigt wurde, nämlich den Hindernispark bei Onkel Toms Hütte im Grunewald, wo unsere Springpferde getummelt werden. Alte Erinnerungen tauchen auf: die große Schlucht auf dem Truppenübungsplatz Jüterbog. Hei, war das eine Lust, wenn zum Schluß die Schwadronen oder reitenden Batterien da hindurchgejagt wurden, Bügel an Bügel knirschte oder auch jedes Pferd sich einzeln Luft schaffte, sprang und rutschte! Man war dafür natürlich nicht besonders trainiert; nach jedem Galopp durch die Schlucht gab es reiterlose Pferde. Einen kleinen Teil der Schuld daran trug natürlich der "militärische" Sitz, der sein Gutes hatte und hat, aber vielleicht nicht das Geeignetste ist, um Hindernisreiter heranzubilden. Die Leute flatterten in den zu langen Bügeln. Oder sie saßen wie die Klammer auf der Wäscheleine. Die Rennreiter in der Armee, die sich allmählich eine äußerlich mehr legere Haltung angewöhnt hatten und im Sprunge weit vornübergeneigt mit ihrem Pferde sozusagen mitflogen, wurden nicht recht ernst genommen, und als gar der Kronprinz den "amerikanischen" Sitz zu bevorzugen begann, galt er als leichfertiger Revolutionär, der die Zucht untergrabe. Inzwischen haben sich die Anschauungen gewandelt, nicht zuletzt deshalb, weil auf internationalen Springkonkurrenzen Deutschland sich rückständig erwies. Vor allem machten unsere Herren große Augen, wenn sie zum ersten Male die italienische Reitschule, Tor di Quinto, zu sehen bekamen. Freilich hat unsere alte Schule mit ihrem System der Bearbeitung des Campagnepferdes durchaus Recht und ist unübertroffen darin, hat uns auch ein Feldzugspferd von unerreichter Qualität in ganzen Generationen erzogen, aber das leichte Hindernispferd war es eben nicht, das mit heller Begeisterung wie im Spiel an jede Mauer und jeden Zaun und jeden Graben forsch herangeht. In der Reitbahn gab es nur Stange und Hürde. Draußen höchstens den irischen Wall. Auf Konkurrenzen aber immer nur "aufgelegte" Balken oder Attrappen, so daß der gewitzte Gaul sich ein saloppes Springen in der Gewißheit leisten konnte, daß er sich ja doch auf keinen Fall weh täte. In dem neuen Gelände-Hindernispark im Grunewald ist es anders: wenn man da ein Hindernis nicht ganz rein nimmt, liegt man alsbald auf der Nase oder kugelt kopfüber 20 Meter tief in die Schlucht.

Das ist nicht ganz angenehm. Auch da bricht man sich nicht gleich die Knochen, denn es ist doch märkischer Sand, weich und tief, aber auch unsere Pferde kriegen Maul und Nüstern nicht gern voll Sand. És war ein prächtiges Bild an diesem Dienstag, hier unsere Reiter in rotem Rock oder in Reichswehruniform bergauf und bergab, über Stapel von Scheitholz, über Mauern und Zäune hinweg, zwischen den Kiefern hindurch galoppieren oder eine richtige Treppe hinunterklettern und an ihrem Ende aus dem Stand einen Graben nehmen zu sehen. Alles in einer geradezu schwebenden Leichtigkeit. Dazwischen gab der Schöpfer der ganzen Anlage, Graf Goertz-Brunkensen, dem wir auch eine Reihe von Turnierplätzen in Deutschland verdanken, vom Pferde herab seine Erklärungen. Hell klingt von der Waldwand die Stimme. Jedes Wort versteht die Zuschauermenge in Hunderten von Metern Umkreis rund um die große Schlucht. Noch drei Jahre ernster Arbeit hier, sagt Goertz, dann können wir Deutschen in der Hindernisreiterei führend sein. Pferd und Reiter sind gut. Es fehlte nur an der Ausbildungsstätte.

Eine schönere als diese läßt sich bei Berlin kaum denken.

Die dürren märkischen Kiefern sind an sich ja nicht berückend, aber wenn sie als Hochwald über tief eingerissenem Tale stehen, die Stämme womöglich rot überflammt von der Abendsonne, dann wirken sie bildhaft und stark. Und dicht dabei Onkel Toms Hütte, die trotz gelegentlichen Massenbetriebes idyllische Waldwirtschaft im Schatten mächtiger Buchen, an denen zahme Eichhörnchen auf- und abhuschen, - das ist doch noch etwas urwüchsigeres, als die Laiterie im Brüsseler Bois de Cambre oder als die Restaurants im Boulogner Gehölz von Paris. Jetzt sind hier 29 Boxen für Springpferde und 25 Gaststuben für Reiter angebaut, so daß Mann und Roß morgens frisch zum Training da sein können; manch einer vom Lande wird auch wohl hier sich und sein Pferd gelegentlich für ein paar Wochen in Pension geben. Aus der Stadt selbst, aus Berlin, bringen elegante Autos fröhlichen Besuch hierher zum Vetter aus Pommern oder Hannover und entführen ihn wohl auch umgekehrt in den Großstadtbetrieb. Das alles läßt einen kurze Zeit freier atmen und vergessen, daß nächstens vielleicht eine Note der Botschafterkonferenz - auch diesen Sprunggarten verbietet, damit wir nicht eines Tages das arme Frankreich überrennen.

Drinnen in der Stadt habe ich am späten Abend am Wittenbergplatz ein Rendezvous mit einer verheirateten Frau. Nämlich mit meiner eigenen. Wir gehen schnell noch auf einen Happen Risotto und auf ein Glas Frascati in die "Aida" ganz in der Nähe. Wir sitzen unter Mussolinis Bild.

Ringsum gibt es Geplauder in allen möglichen Sprachen. Italienisch herrscht natürlich vor, Verständigungssprache ist außerdem deutsch, aber wir hören auch englisch, französisch, russisch, tschechisch, rumänisch, spanisch.

Da: eine flüchtige Bekannte vom letzten Diplomatenabend im Adlon. Engländerin. Raffzähne, Tizianhaar. Also selbstverständlcih spricht man, sehr höflich, über die Küche hüben und drüben, dann über nationale Eigenheiten. Wir Deutschen verstünden das Flirten nicht, höre ich wieder einmal. Wir wüßten auch immer noch nicht, was Liebe sei.

Doch, doch, erwidere ich treuherzig; die Liebe ist ein linker Nebenfluß der Nogat.

Und das Kritisieren hört sofort auf.
2. Juli 1925 (Donnerstag)



Glossen 37 - 39

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Glossen 43 - 44

© Karlheinz Everts