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Auf dem Anstand - Arbeitslose und Galizier - Unübersetzbares - "Tedeschissimi" - Allerlei vom Kanzlerumzug - Severing bei Raffkes - Schlechte Zeiten für Sargtischler.
Horridoh. Wir alle sind täglich auf dem Anstand. Weidmannsheil.
Aber daß es kein Mißverständnis gibt: Wir sind nicht in Wald und Heide, sondern zwischen Backstein und Asphalt. Meine gute Mauserbüchse hat seit neun Jahren nach keinem Rehbock mehr geäugt. Und meine treffliche Browningflinte, die nur wenig gebraucht ist, aber noch vor zehn Jahren, wo ich sie erwarb, immerhin Rebhühner, Fasanen, Schnepfen für den Familientisch lieferte, möchte ich am liebsten verkaufen oder vertauschen für Zigarren oder Schweinefleisch. Mit unserem Anstand ist es nämlich so: Wir alle stehen in der Großstadt nach irgend etwas an. Der Hausherr nach ein paar Mark Teilgehalt. Die Gattin nach einem halben Pfund - mehr auf einmal gibt es nicht - Reis oder Tabu oder Speck. Ein Kind nach einer Büchse kondensierter Milch, denn Frischmilch ist in Berlin für uns nicht zu haben, nur noch für Säuglinge. Ein anderer Junge nach Briefmarken auf dem Postamt. Ein drittes Kind kommt von der Gasanstalt nicht wieder, wo die Rechnung beglichen werden muß. Das Dienstmädchen ist zum zweitenmal wegen ungenügender Ausfüllung des Zahlzettels von der Krankenkasse heimgeschickt worden und kämpft jetzt zum drittenmal in der Menschenbrandung gegen die Beamtenflut. Man verliert schließlich jeden Anstand bei diesem ewigen Anstehen; man schimpft. Und unsere Politiker von der Rechten sind von allen guten Geistern verlassen, daß sie diese Gelegenheit nicht ausnutzen und in jede der Ansammlungen Zettel hineinwerfen, auf denen bloß die zwei Sätze zu stehen brauchen: "Wie war es einst? Wie ist es jetzt?" Eine Durchschnittsfamilie ist heute täglich rund 10 Stunden, die der Arbeit entzogen werden, nutzlos auf dem Anstand.
Dazu die vielen wirklich Arbeitslosen, die den ganzen Vormittag über an der städtischen Dienststelle herumlungern müssen, um endlich zwar nicht Arbeit, aber doch wenigstens die Erwerbslosenunterstützung zu bekommen. Vor dem Lokal werden sie von den modernen Berliner Harpyen erwartet, die die Herauskommenden sofort fragen, ob sie auch Rentenmark oder Goldanleihe oder Anweisungen darauf erhalten hätten; man wolle sie ihnen mit einem kleinen Aufgeld abkaufen. Das Bombengeschäft, das an ihnen gemacht wird, haben die Arbeitslosen bald gemerkt und in der Rosinenstraße in Charlottenburg und in der Invalidenstraße in Berlin und anderswo diese Galizier gottesjämmerlich verhauen. Nun lesen wir in den Zeitungen wieder von antisemitischen Ausschreitungen und von Pogromen gegn friedliche Mitbürger.
Das Ausland weiß von den Qualen des täglichen Lebens bei uns so gut wie nichts. Die deutsche Not überhaupt ist unübersetzbar. Man hat in den romanischen Sprachen wohl Ausdrücke für Mangel, Bedürftigkeit, Elend, Unglück, aber nicht für Not in unserem Sinne. Das ist nichts rein Materielles, da ist auch ein gut Teil Herzensbedrängnis dabei. "Aus tiefer Not schrei' ich zu dir, Herr Gott, erhör' mein Rufen!" läßt sich in keiner Sprache vollkommen wiedergeben. Wenn wir in der guten alten Zeit, unter dem Kaiserreich, behaglich beieinandersaßen und Trinksprüche schwangen, gab es immer irgendeinen, der selbstgefällig darauf hinwies, daß das deutsche Wort "Gemüt" sich nur bei uns fände. Inzwischen haben wir aber gemerkt, wie vieles sonst noch unübersetzbar ist, wie reich besonders unsere Sprache an Ausdrücken für allen Erdenjammer ist. Mit einem italienischen Publizisten von Ruf komme ich darüber ins Gespräch. Er erzählt mir von den Schwierigkeiten, die er bei jedem Telegramm an seine Zeitung habe. Soll man das deutsche Wort "Hakenkreuzler" immer nur deutsch in Gänsefüßchen bringen? Und wie überträgt man die Deutsch-Völkischen ins Italienische? Hin und wieder gebraucht er "tedeschi puri" in seinen Depeschen. Aber ich kenne Leute, die v. Podbielski oder v. François heißen, also nicht "Rein-Deutsche" und trotzdem Deutsch-Völkische sind. Nun, es gibt da noch einen Ausweg. Den Fiat-Autowerken, den größten auf der apenninischen Halbinsel, wurde von der Konkurrenz vorgeworfen, daß sie auch deutsches - also fremdes - Kapital hätten, während sie, die Konkurrenz, "italianissima" sei. Da haben wir das treffende Wort. Wie wäre es, sage ich, wenn man die Deutsch-Völkischen als "tedeschissimi" bezeichnete? Das würde von Turin bis Catania jeder einfache Mann verstehen. Nur das versteht er nicht ohne weitschweifige Erklärung, welche Not bei uns Männer wie Ludendorff zu diesem Superlativ treibt. Es ist die Not einer gefangenen, gefesselten, gepeinigten Nation in ihrer äußersten Welt- und Gottverlassenheit. Und sie führt, das ist das Erschütterndste, sogar zu Spaltungen unter den deutschen Superlativisten selber, die jetzt mitten durch das nationale Deutschland hindurch einen Trennungsstrich ziehen und alle diejenigen ausschließen möchten, denen man das "Paktieren mit der Untreue" vorwirft. Mussolini hat es anders gemacht. Er hat seine Sekte nicht verengert, sondern erweitert, hat die Arme weit aufgemacht und Massen an sich herangerissen, so daß er dann Italien erobern konnte.
Aber ich will als harmloser Berliner Flaneur nicht etwa ins Hochpolitische geraten. Auch an der Regierungskrise interessiert mich nur das Drum-und-Dran des Kanzlerwechsels. Jeder neue Herr der Wilhelmstraße - und wir haben seit der Revolution nicht weniger wie acht erlebt - erklärt zunächst, daß er eine sehr üble Erbschaft übernehme, denn der Vorgänger habe ihm Wirrnis hinterlassen. Aber in dieser "schwersten Stunde Deutschlands" werde er, der neue Kanzler, . . . ach du lieber Himmel, es lohnt gar nicht, das niederzuschreiben; das wissen wir alle ja nachgerade auswendig. Dann vergehen einige Wochen oder Monate - und der Kanzler ist körperlich und geistig am Ende seiner Kräfte. Besser hat es schon so eine Kamzlerfamilie. Die lieben Verwandten aus dem ganzen Reich kommen angereist und machen Stielaugen im Kanzlerpalais. Die Frau Reichskanzler, die ihr Guthaben in der Nähe der Privatwohnung in einer Depositenkasse hat, findet dort eines Tages eine Garnitur Klubmöbel vor, eigens von der Bankleitung hingestellt, damit die erste Dame des deutschen Beamtenstaates behaglich und würdig zur Ausfüllung ihrer Anweisungen sich installieren kann. Eines Tages hat sie ihr Konto überzogen (man kennt sich in den vielen Billionen gar nicht mehr aus) und verlangt doch wieder ein neues Päckchen Billionen. "Einen Augenblick, Exzellenz!" Und während Ihre Exzellenz die Frau Reichskanzler wartet, telephoniert der Herr Depositenkassenvorsteher an die Zentraldirektion der Kommerz- und Privatbank, was man tun solle. "Zahlen, selbstverständlich zahlen! Jeden Betrag! Das Weitere findet sich!" Sicherlich findet es sich. Eines Tages bleibt der Kanzler mit 155 Reichstagsstimmen in der Minderheit und legt seinen Feldherrenstab, Verzeihung, seine Flöte, nieder, und die Gattin, ach, die teure, kriegt eine ungeheure Zinsenrechnung von der Bankfiliale. Oder nicht? Ich weiß nicht, wie weit in diesen Dingen die Generosität geht und kenne das Ende der Geschichte noch nicht; auch ist in diesem Augenblick der Kanzlerumzug ja auch noch nicht perfekt und das Unmöglichste immer noch möglich. Natürlich kann im übrigen ein scheidender Kanzler nur aufatmen, wenn er, um mit Bülow zu sprechen, aus der "Drecklinie" heraus ist, nicht mehr von allen Seiten wie der heilige Sebastian mit Pfeilen gespickt und übleren Dingen beworfen wird, wieder als Doktor Soundso, Mitglied des Reichstages, in der Privatwohnung im Studierstübchen zwischen den 20 Bildern und Büsten seines vergötterten Napoleon I. sitzen und aus dem Nebenzimmer die Musik seiner beiden weltentrückten und doch so modernen Söhne hören kann. Der Flügel steht jetzt in der Wilhelmstraße. Er käme dann wieder in die Wohnung im Berliner Westen. Mit den Umzugskosten läßt das Reich sich nicht lumpen, und ein paar Monate lang gibt es auch noch das volle Kanzlergehalt. Und dann ist man nicht mehr Herrn Jedermanns Laufbursche und hat nachts seine Ruhe. Im Schlafzimmer des Reichskanzlers steht zwischen seinem Bett und dem Toilettentisch mit seinen hundert Büchschen und Fläschchen des Telephon. Das schrillt neulich, in den ersten kritischen Tagen, wie schon so oft, mitten in der nacht, um 2 Uhr. Ein hochgeschätzter Parteifreund in Köln, der mit ein paar Herren bei einer Flasche Wein dort sitzt, ruft an; die Herren möchten wissen, ob es wahr sei, daß die Reichsregierung die Separation des Rheinlandes billige.
"Fragen Sie die Herren, ob sie besoffen sind!"
"Soll ich wörtlich so fragen, Herr Reichskanzler?"
"Jawohl! Danke! Schluß!"
Ja, man hat es nicht leicht in dieser undankbaren Welt, wo nicht einmal der linke Flügel der Großen Koalition, die man doch selber geschaffen hat, in die Kanzlerfront einschwenkt. Der eine oder andere Genosse hat sich - und das gilt auch von solchen in amtlicher Stellung - nicht einmal die Mühe des Erscheinens im Reichstage gegeben. So hat Severing in der Zeit der entscheidenden Abstimmung, am Freitag Abend, einen Ausflug in einen Vorort bis hinter Spandau gemacht, im Dienstauto auf Staatskosten natürlich, um dort in der feinen Villa den Geburtstag seines Freundes Raffke mitzufeiern. Der ganze Ort war in das blendende Licht der vielen Autoscheinwerfer unserer hohen roten Würdenträger getaucht. Der Männergesangverein brachte ein Ständchen. Beim zweiten Gang des Festessens gab es einen Fisch von derartigem Umfange, daß man dem Verständnis des biblischen Wunders der Speisung der Fünftausend nahe zu sein glaubte. Und auch sonst "war alles da, nicht wie bei armen Leuten", nicht wie bei Parteisekretären von 1914 und sonstigen proletarischen Vorkriegsexistenzen; man sieht, daß das Geschäft in Deutschland doch wieder blüht.
Natürlich nicht überall. Die Sargmacher beispielsweise klagen sehr. Niemand will sich mehr begraben lassen, und wenn schon, dann in Pappe, nicht in Eiche; oder im Leihsarg. Immer häufiger findet man im Schaufenster den Aushang: "Hier werden Tischlerarbeiten jeder Art angenommen." Also man leimt Stuhlbeine und läßt das Sargbauen sein. Und da die Masse der deutschen Menschheit wegen der hohen Leimpreise - "Es ist schon ein Leim!", seufzt jeder - sogar dreibeinig zu sitzen gelernt hat oder im Notfall auf der Bettstatt; da auch in Wiegen und Kinderstühlchen kaum mehr Bedarf ist, weil alles sorgsam vererbt oder verliehen wird, hat mancher Berliner Sargtischler schon einen Tisch ins Fenster gerückt und darauf als kleiner Althändler sein eigenes Krämchen aus der Hinterstube aufgebaut, eine Meerschaumspitze, einen Photoapparat, einen perlengestickten Haussegen, einen Kaffeestürzer. Also die einen leben noch flott, die anderen verkaufen aus. Letztere sind stark in der Mehrzahl. Sogar die typische Friedrichstraßenmaid ist meist erwerbslos und grollt: "Et jibt keene Zavaliere mehr!" Wo sollen da die Sargtischler noch Lebensmut haben? Wo doch sogar einer unserer bestbezahlten satirischen Schriftsteller (was man heute so bestbezahlt nennt), der feingeistige Friedrich Hussong, erklärt hat, kein einziger von den ehedem gangbaren Särgen genüge ihm: wenn er einen brauche, wolle er einen mit gutem Innenriegel. Aber unsere heranwachsende Jugend sieht freilich noch mit blanken Augen ins Leben, rodelt in dicken Knäueln beim ersten Schnee den Berliner Kreuzberg hinunter, liest nach wie vor mit glühenden Backen "Zur See unbesiegt", "Zu Lande unbesiegt" und erhofft auf dem Weihnachtstisch den neuesten Band "In der Luft unbesiegt", glaubt zwar nicht an das heutige Deutschland, aber an sich selbst und ist gewiß, daß nach einem Menschenalter die schwarzweißrote Fahne wieder über einem männlichen und mächtigen Vaterlande wehen wird.
29. November (Donnerstag)
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Genesung mit Rentenmark - Professorenträume - Ehrendoktor Felix Bergmann - Keyserlings Vorträge - Im Auktionssaal - Die Zylinder-Kur.
Die Helfferichsche Rentenmark, die man schon vor Monaten einführen konnte, aber nicht wollte, hat wie ein Zauberstab gewirkt. In den Berliner Markthallen türmen sich Berge von Butter (leider auch ranziger, die lieber zur alten Jungfer werden, als von der Papiermark gefreit sein wollte), und man braucht nach nichts mehr anzustehen. Die Fischhändlerin schreit einen nicht mehr an, ob man denn kein Papier zum Einpacken mitgebracht habe, und fragt sogar: "Soll ich den Karpfen gleich abschuppen, gnädige Frau?" In den Läden wird wieder gefragt, ob gnädige Frau das Paketchen nach Hause geschickt haben wolle, und überhaupt ist in der Großstadt eine allgemeine Höflichkeit ausgebrochen, wie sie seit Jahren unerhört war. Die Tertianer, die noch Anfang November ihr Taschengeld sofort in Zigaretten anlegten, um überhaupt etwas dafür zu kriegen, sparen jetzt ihre Rentenmark für Laubsägeholz zu Weihnachten. Tausende von Elternpaaren, die bisher die "Jugend von heute" nur schalten, werden am Christabend ihre Rührung diesmal nicht bemeistern können; die Marlitt und alle anderen biederen Erzähler von ehedem kriegen noch im Grabe das Schluchzen. Der kleine Berliner Laufbursche in der hiesigen Vertretung der Chicago Tribune, Unter den Linden, tat am letzten Sonnabend einen Luftsprung, weil er zum erstenmal in seinem Leben mit wirklichen Dollars bezahlt wurde, die er bisher nur zur schwarzen Börse auszutragen hatte; und in der Tauentzienstraße bieten einem schäbige Elegants Devisen, soviel man will, noch unter Papiermark-Kurs an. Alle diese Wunder hat die Helfferichsche Rentenmark und, natürlich, die hinter ihr stehende und dafür bürgende deutsche Landwirtschaft vollbracht; der Kaufmann, der wieder kalkulieren kann, atmet auf, und der Käufer braucht nicht mehr die irrsinnige Risikoprämie für Papierschwund zu zahlen. Handel und Wandel werden wieder sauberer, - nur die Not derer, die auch in Rentenmark zu wenig haben, hört damit natürlich noch nicht auf, sondern erst dann, wenn mit sämtlichen sogenannten Errungenschaften der Revolution aufgeräumt ist und bei uns wieder wie in den Zeiten vor der Revolution gearbeitet wird. Dagegen bockt noch der störrische deutsche Parlamentsesel.
Aber sogar unsere hungernden Professoren träumen schon von besseren Zeiten. Nicht, wie ich alter Materialist, von pommerscher Spickgans, die mir sicher ein guter Freund zu Weihnachten schicken wird, oder von einer Büchse chilenischer großer Pfirsiche oder von einem Kistchen guter Havanas. Nein, unsere Professoren träumen davon, daß sie wieder Mäuse zu Impfversuchen und ausländische gelehrte Zeitschriften zum Studium sich halten können, was zuletzt unerschwinglich war. Sie haben alle Ursache zu dieser Hoffnung, meinen sie; denn ein Maecenas nach dem anderen spendet heute für Bildungszwecke.
"Die Studien blühen, - o Jahrhundert, es ist eine Lust in dir zu leben!" rief Ulrich von Hutten einst bgegeistert aus. Damals wurden unsere Humanisten von den Fürsten unterstützt. Die haben jetzt selbst nichts zu brocken. Aber es gibt edlen, hilfreichen, guten Ersatz, es gibt Menschen, die mit öffentlicher Meinung oder Wintersportkostümen oder Waggons Seife handeln und dann von ihrem Überschuß spenden. Zum Danke verehrt man ihnen Raritäten. In der Republik sind nämlich die Titel eine Seltenheit geworden, wenn man nicht gerade Abgeordneter ist und infolgedessen der schließlichen Erhebung zum Minister, zur Exzellenz nur durch Selbstmord entgehen kann. Für die Masse der Unpolitischen ist nichts da; wer nicht zum Parteisekretär oder Krankenkassenbeamten geboren ist, ist und bleibt Nulpe ohne Titel. Aber die Universitäten verleihen noch immer den Ehrendoktor! So wurde Mosse, so wurde Adam promoviert, so ist es jetzt einem dritten Berliner, Felix Bergmann, gelungen, dessen Name als Wohltäter der studierenden deutschen Menschheit durch die Blätter geht. Seine Freunde erzählen geflissentlich, er sei Neffe des verstorbenen großen Chirurgen v.Bergmann, also der Wissenschaft sozusagen schon verschwägert, aber leider ist dies ebensowenig wahr, als etwa die Verwandtschaft zwischen dem Fürsten Löwenstein und Herrn Max Löwenstein, Felle engros. Doch kurz und gut, Herr Felix Bergmann, der im Berliner Adreßbuch stets als "Architekt" verzeichnet war, tauchte als "Regierungsbaumeister" in München auf und begründete dort einen Freisaal für Künstler, was zu Fanfarenstößen namentlich in der Ullsteinpresse führte und ihm die Anwartschaft auf den Ehrendoktor in diesen nachnovemberlichen Zeiten zu sichern schien. Merkwürdigerweise gelang es nicht; der Schwerreiche hatte unnütz Billionen verpulvert. Da versuchte er es in Preußen. Er kaufte das Bellevue-Hotel an der Kieler Förde und stiftete es als Heim, und siehe da, schon ist er Herr "Doktor" geworden. Der Münchener Kultusminister, der bayerische Volksparteiler Dr. Matt, hat nämlich Einspruch erhoben, der Berliner Kultusminister, der deutsche Volksparteiler Dr. Boelitz, aber nicht. Das Preußen der großen Koalition ist eben viel weitherziger und großzügiger als das reaktionäre Bayern; es stößt sich also auch nicht an dem Nationale des freigebigen Doktoranden, das vom Polizeipräsidium Berlin-Schöneberg mit der lapidaren Auskunft gegeben worden ist: "Felix Bergmann (als Architekt bezeichnet), mosaisch; ist vorbestraft."
Welche märchenhaften Reichtümer dem Stifter zur Verfügung stehen müssen, geht aus seiner Absicht hervor, in dem "Bergmann-Haus der Universität" nicht weniger wie 200 Studenten, die sich durch "Fleiß, Begabung und Eifer" auszeichnen, also nicht einmal bedürftig zu sein brauchen, vollständig freien Unterhalt auf Jahre hinaus zu gewähren. Der Wunsch, dann auch nicht mehr in Berlin-Schöneberg, sondern in der Nähe der grandiosen Stiftung zu wohnen, ist begreiflich. Zu diesem Zwecke wollte Herr Dr.phil.hon.c. Bergmann eine Villa erwerben, das große Anwesen in Kiel, das früher dem Professor Harries gehörte, wofür der jetzige Besitzer, ein Norweger nur die Kleinigkeit von 168 000 Mark verlangt. Leider hat sich nur, wie man hört, der Kauf zerschlagen, weil der Herr Doktor diese Summe nicht gleich flüssig machen konnte.
Leute seiner Art werden heute immer intimer mit den Wissenschaften. Sogar mit der Philosophie. Man konnte diese Leute wenigstens zu Hauf in den Vorträgen beobachten, die der Begründer der Darmstädter "Schule der Weisheit", Graf Keyserling, jetzt in Berlin gehalten hat. Das ist nur etwas für gesättigte Existenzen. Man muß vorher ein gutes Diner im Adlon zu sich genommen haben, so daß das Deuten an des Seiens Knörkeln nachher zur Verdauung beiträgt; und zum Glück ist ja Keyserling, dessen Ideal innerlich der weltentrückte indische Nabelbeschauer und äußerlich der englische Gentleman in evening dreß ist, nicht sehr aufregend. Nichts weniger wie Tatmensch. Und um Gotteswillen "nix deutsch" in dem brutalen nationalen Sinne. Er sagte - als baltischer Edelmann darin eine Ausnahme - von sich selber noch vor wenigen Jahren, er sei "wie der wahre Adel von jeher und überall international". Er machte sich dadurch bei seinen Landsleuten unmöglich und ging, als die Deutschen ins Baltikum einrückten, schleunigst außer Landes. Nun träufelt er orientalischen Balsam. Die Düfte vom Katheder und die aus dem Publikum begegnen sich, ein kongenialer Prophet und ein kongeniales Publikum verstehen einander, es ist ein geschlossener Kreis von Leuten, die über vaterländische Not erhaben sind und sie von oben herunter nur mit Ästhetik streifen: Snobs des behaglichen Dahindämmerns mit verwässerten Adern. Es ist eine Mode, die bald von ehegestern sein wird; nach fünf Jahren wird man nicht mehr für ungebildet gelten, wen man von diesem Keyserling nichts mehr weiß und sein "Reisebuch eines Philosophen", noch das Interessanteste von ihm, ebenso verstaubt und vergessen irgendwo liegen hat wie die Bücher von Tagore.
Heute tun andere Dinge not als zu philosophieren. Während ein Graf Keyserling, früher großrussisch, dann international, nie in unserem Sinne deutsch gesinnt, für sehr zahlungskräftige Berliner Vorträge hält, verkommen unsere besten Kopfarbeiter im Elend. Wir Deutschen waren immer Bastler, Erfinder, Spintisierer. Jetzt hört auch das aus Mangel an Mitteln auf. Es ist bezeichnend, daß unsere Patentanwälte so gut wie gar nichts mehr zu tun haben, weil es den geborenen Erfindern an Arbeitsmaterial fehlt. Einer der meist beschäftigten Anwälte Berlins hat jetzt 80 Prozent seines Personals gekündigt. Die Bastler aber verkaufen ihre Modelle als altes Eisen oder stecken sie, falls sie aus Holz sind, in den Ofen und bringen Wertvolleres, etwa ein halbes Pfund Quecksilber oder eine Luftpumpe oder einen kleinen Motor oder einen Ballon Schwefelsäure, in das städtische Versteigerungslokal in der Schönhauser Allee. Dort trifft man auch Musiker, die in Verzweiflung ihr Instrument verkaufen und, wenn zu wenig geboten wird, das hartherzige Aufkäuferpublikum nur noch um eines bitten: zum letzten Male etwas vorspielen zu dürfen. Da schluchzt Brahms von den Saiten. Aber auch er rührt das Volk nicht, das vom Schachern lebt. Wer da in der nassen Zugluft der Auktionshallen solche Szenen erlebt, dem kriecht körperlich und seelisch die Grippe in die Stirnhöhlen.
"Dafür weiß ich ein probates Mittel," ruft mein Freund, unser Hausarzt, der ein wahrer Gemütsathlet ist, "machen Sie die Zylinderkur!"
Was denn das sei, frage ich.
"Ei, Sie nehmen den Zylinderhut, bürsten ihn und stellen ihn aufs Nachttischchen; dann legen Sie sich ins Bett und trinken so lange Grog, bis Sie den Zylinder doppelt sehen!"
6. Dezember 1923 (Donnerstag)
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Die Säsong beginnt - Novembergruppe - Vor dem "Erlebnis" in der Philharmonie - Alles sofort greifbar - Diplomatenball im Adlon - Französischer Einbruch - Frau Stresemann tanzt - Braun auf der Hirschjagd.
Das setzt wie mit einem Gongschlag krächzend urplötzlich ein. Diesmal hat - ausgerechnet an einem Freitag, am Freitag voriger Woche - die sogenannte Novembergruppe mit einem Kostümfest in der Philharmonie die Ballsaison eröffnet. Damit nur kein Irrtum entsteht: die Novembergruppe hat mit den Novemberpolitikern nichts zu tun, sondern mit anderen Pinseln; sie ist der letzte bizarre Novembersproß der alten Sezession. Ein bißchen frech, wie die mit Recht so verstorbene Urmutter, und mehr noch arm an Können. Immerhin hatten die vielen, die sich eine Karte zum Ball der Novembergruppe lösten, doch auf irgendwelche Künstlertollheit gerechnet. Auf eine Umstülpung der ganzen ehrbaren Philharmonie mit Hilfe von Rabitzputz und Leinewand und Farbe. So daß jede Tür Grimassen schneidet, die Fenster wiehern, die Säulen Maxixe tanzen, die Stühle kopfstehen. Nichts da. Man stürzt sich heute nicht in Unkosten der Erfindung.
Das Typische für Berliner öffentlichen Frohsinn ist, daß zunächst die Leute mit kolossal beleidigten Gesichtern dasitzen. Sie haben Angtreh bezahlt und warten darauf, daß sie nun amüsiert werden. Der rheinische Bourgeois geht hin, um sich zu amüsieren. Der Berliner zahlende Spießbürger, um amüsiert zu werden. An jeder Straßenecke, in jedem Plättkeller, an jedem Droschkenstand, in jeder Laubenkolonie Berlins gibt es mehr echten Humor, als auf den parodistischen Bällen, wo der wohlhabend gewordene kleine Mann mal aufdrehen will. Und da langt es diesmal doch kaum zum Plaudern, denn der Hauptgesprächsstoff der letzten Jahre ist plötzlich versiegt. Wer kann noch erzählen, daß ein Ei 550 Milliarden koste? Oder daß er hintenherum guten Kognak bekommen habe? Oder daß die Minna 3½ Stunden nach Butter habe stehen müssen? Oder daß nächste Woche wollene Socken wieder im Preise steigen würden? Oder daß man im Café Wittelsbach 11 Billionen Mark für den Dollar bekomme? Es ist auf einmal alles geradezu grauenhaft normal geworden, und kaum begegnet noch der neueste Ulk, ein Zehn-Trillionen-Schein auf echtem Banknotenpapier, der sonstigen Aufmersamkeit. Man sitzt also mit beleidigten Gesichtern stumm da und wartet. Etwa auf das Knallen des ersten Sektpfropfens. Aber auch das kommt nicht. Denn so viel Geld in Mark und Pfennig hat man denn doch nicht, obwohl wirklich nur Mark und Pfennige verlangt werden, nicht mehr Billionen. So fängt man denn endlich an, bei einer Flasche Surius mit Konfetti und Papierschlangen zu werfen, damit es einem wenigsten warm wird; und bald ist der ganze Fußboden bedeckt, und die Riesenräume sind von einer stehenden Staubwolke erfüllt, die die Nasenlöcher kitzelt.
Nun werden auch die ursprünglich Enttäuschten, die hierhergekommen sind, um einen fabelhaften Sinnesrausch zu erleben, etwas aggressiver. Die üblichen Knutschpärchen haben in der Garderobe die Ehrbarkeit abgegeben, spielen aber für den allgemeinen Frohsinn keine Rolle, da sie sich von dem übrigen Trubel separieren. Man gibt das Suchen nach originellen oder lustigen Kostümen auf. Es ist noch kein Dutzend da. Der Amüsier-Berliner glaubt schon Wunder was zu tun, wenn er sich ein daumengroßes Clownhütchen seitwärts auf die linke oder rechte Seite der Glatze klebt und im übrigen "korrekt" im Smoking erscheint. Oder er nimmt nur einen großen roten Bleistift zwischen die Zähne als Schnabel, sagt, er sei ein Storch und macht den Damen unerwünschte Angebote. Geschähe so etwas in lustigerer Art, so wäre wohl manche Ballbesucherin damit baß zufrieden, denn jede wartet doch nur auf irgendein Erlebnis. Da ist ein blondes Dingelchen, wirklich ein Nichtschen, das möchte so gerne als Bacchantin die Nacht durchtaumeln und hat sich schon so schön das Erschrecken einstudiert, mit dem es gestehen würde, es habe seinen Hausschlüssel vergessen; er ist aber natürlich draußen in der Manteltasche. Da ist eine schwarzhaarige, nach Papua-Art frisierte Sulamith, die darauf brennt, daß einer ihr das Hohelied singe; aber höchsten säuselt ihr ein Kollege zu, daß ihre vollen roten Lippen "reif zum Springen" seien. Da ist vor allem der Typ der möblierten Witwe in noch besten Jahren, die einen einzigen Vers der Dichterin Marie Madeleine aus Eydtkuhnen behalten hat und ihn nun, korybantisch angeregt durch ein Glas Schwedenpunsch, erregt hervorzischt:
"Ich möchte meine Zähne schlagen |
Meine Gnädigste, Sie irren sich. Ich bin kein Jüngling mehr und habe selber Wohnung und Möbel und Familie, außerdem bin ich hier nicht auf der Schürzenpirsch, sondern bei etwas weltschmerzlichem Kulturstudium. Ich nehme Ihre freundlichen Avancen, selbstverständlich "freibleibend", wie der Kaufmann sagt, dankend zur Kenntnis. Aber sehen Sie sich doch nur um: die Säle sind überfüllt, mit hungrigen Augen schwirren in Unzahl die verrücktesten jungen Kunstgewerblerinnen, die bestgepflegten gut aufgemachten Bankfräulein, die molligsten kleinen Haustöchter, die pagenhaft schlanken mondscheinblassen Musikstudentinnen umher, alle "sofort greifbar", und da muß ich mir die Sache mit dem Gebissenwerden doch noch überlegen.
Wenn die Leute doch ein bißchen weniger gemacht exzentrisch wären. Es geht auch ohne Marie Madeleine. Im Grunde seid ihr doch allesamt brave Bürgersleute. Amüsiert euch doch ein wenig ehrlicher und schlichter. . . .
Tags darauf tanzen die angeblichen upper ten der Gesellschaft. Natürlich im Adlon. Die Damen des diplomatischen Korps haben dazu eingeladen. Neutrale und auch Ententeexzellenzen unter Führung der amerikanischen Botschaft. Wohltätigkeit. Für arme deutsche Kinder. Zwei Dollar oder entsprechendes deutsches Papiergeld kostet der Eintritt. Etwa tausend Personen fassen die Gesellschaftsräume im Adlon bequem. Man hat aber 1600 Karten schon bis zum Donnerstag verkauft und dann den Verkauf geschlossen. Ein italienischer Attaché erzählt mir sogar von 8000 Karten; sehr viele Leute hätten sich dieser Steuer unterzogen, ohne den Ball auch wirklich zu besuchen. Jedenfalls ist überraschend wenig Kurfürstendamm auf diesem Fest zu finden. Ich glaube, noch keine fünf Prozent. Selbst der alte Herr Adlon strahlt: solch gute Gesellschaft habe sein Hotel schon seit Jahren nicht mehr beisammen gesehen. In der Hauptsache diplomatisches Korps und als seine Gäste deutscher Hochadel. Dazu allerlei "Spitzen" unserer Beamtenschaft, ein wenig Kunst und Literatur, ein ganz klein bißchen Finanz. Diese aber wirklich unaufdringlich. Ganz hinten an einem kleinen Tisch sitzt die née Friedländer-Fuld und hält sich sehr zurück, offenbar etwas mißgestimmt darüber, daß sie hier kaum eine Rolle spielt. Die Frauen unserer schlesischen und sonstigen Magnaten stehen doch im Vordergrunde. Sie tragen auffallend gute Toiletten und entsprechend viel edles Gestein.
Kurz vor dem Ball habe ich mit Exzellenz Helfferich über das Fest geplaudert. Er und seine Frau halten sich von derartigen Dingen fern. Und er grollt über die Leichtlebigkeit in der bitter ernsten Zeit, über das Zurschaustellen von Juwelen und nackten Schultern während des Zusammenbrechens der Nation. "In den Jahren nach 1871", sagt er, "trugen die Pariser Damen auf Gesellschaften keinen Schmuck und erschienen sogar auf Bällen in Schwarz."
Alle Achtung vor diesen Damen; wir werden ähnliche in ähnlicher Menge nie besitzen. Alle Achtung auch vor Helfferich, der nicht nur so spricht, sondern auch so lebt; der beispielsweise, obwohl er ein begeisterter Reiter ist, seit 1914 sich jeden Wunsch danach versagt hat, weil sich solcher Luxus einfach nicht mehr schicke. Also, wie gesagt, allerhand Achtung. Vielleicht bin ich aber nicht Politiker genug, um das ganz zu verstehen. Ich bin nun mal nicht für Trauer-Demonstrationen, es sei denn, daß sie Auftakt zur rächenden Tat sein sollen; und damit hat es in dem durch die Sozialdemokratie jahrzehntelang entmännlichten deutschen Volke noch gute Wege. Ich gönne auch den Magnaten-Damen ihre gute Aufmachung und - freue mich sogar als heimlicher Ketzer der umgekehrten Demonstration, die darin lag, daß wir Deutschen nicht nur noch ausschließlich aus Hungerleidern bestehen, sondern doch auch noch auf dem Parkett Figur machen können. Zum Glück war es im übrigen kein Protzenfest. Zwar bestand die Gesellschaft zu 60 Prozent aus Ausländern, die an einem solchen Abend sich ohne weiteres ein paar Flaschen Champagner leisten können und dies um so lieber taten, als der alte Adlon von jeder Flasche einen Teil des Erlöses ebenfalls für die Berliner Kinderhilfe abführte, aber man nahm Rücksicht auf die Zeit und auf die Gäste und aß an den vorbestellten Tischen bescheiden - wenn auch gut - für nur 7 Mark das Gedeck. Auch sonst gab es keinen aufdringlichen Wohltätigkeitsnepp. Es gab keine Ambassadrice, die etwa Rosen für Goldstücke verkaufte; niemand hatte es nötig, den in sieben fremden Sprachen eigens memorierten Satz "Verzeihung, ich bin selber ein armer Deutscher" irgendwo errötend als Entschuldigung vorzubringen. Im kleinen Weißen Saal wurde so ruhig und anständig getanzt, wie wir es schon lange nicht gesehen haben. Das Ganze hatte Stil. Es war das erste Fest seit 1918, das in seiner vornehmen Art wieder an die alten kaiserlichen Zeiten erinnerte.
Es ist ein eigener Kreis für sich, diese Welt der Botschafter und Gesandten und Geschäftsträger und Ministerresidenten in allen Erdteilen. Die Herren, zum Teil auch die Damen, kennen fast alle einander; oder haben wenigstens gemeinsame Bekannte; und wissen auf dem ganzen Globus Bescheid. "Gehen Sie in diesem Winter nach Luxor?" "Der war damals zweiter Gesandtschaftssekretär in Rio." "Wissen Sie noch, wie wir mit dieser Frau in Teheran auf Falkenjagd ritten?" "Der Kerl erinnert mich an meinen Konstantinopler Dragoman." "Was macht eigentlich die junge Schweizerin, die Sie in Washington hatten?" "Na endlich, seit Algeciras habe ich Sie nicht gesehen!" In dieser Welt werden die von uns seit einigen Jahren bestallten Auchdiplomaten natürlich manchmal mit einem gewissen Lächeln angestaunt. Da haben wir den fuchsigen Herrn Landsberg, den Berliner Rechtsanwalt und "Volksbeauftragten" der Revolution, als Gesandten nach Brüssel geschickt, der noch ein ganz annehmbarer Zeitgenosse ist, weil ihm schon sehr bald der Ekel über die Genossenpolitik zum Halse gestiegen ist, aber sogar den Brüsselern als "Lebemann" auf die Nerven fällt: die belgische Regierung hat erklärt, sie wünsche einen anderen; keinen Sozialdemokraten jedenfalls, und nach Möglichkeit einen Aristokraten, der im internationalen Verkehr Bescheid wisse. Fast dasselbe ist nach Herrn Mayers Abscheiden aus Paris uns übermittelt worden. Gewiß, die Pariser und Brüsseler Wünsche können uns Hekuba sein, aber - dort wird doch nur, da man jetzt schonungslos sein kann, ausgesprochen, was allüberall anderswo ebenso gefühlt, nur nicht gesagt wird.
Von den sogenannten "halbwilden" kleinen Gesandtschaften in Berlin, aus ganz neuen kleinen Staaten auch außerhalb Europas, ist an diesem Sonnabend kein Vertreter im Adlon. Neulich hatte ich in einer solchen Gesandtschaft zu tun, die ich endlich in einer "Pension für In- und Ausländer" im Berliner Westen aufstöberte. Ein Dienstmädchen sagt mir: "Jehn Se man ruff." Ich klopfe an der bezeichneten Tür, öffne, und - auf dem Sofa drüben fahren eine Frau in reiferen Jahren und ein dunkelhaariger Beau wie Raketen auseinander. Kinder, was könnte man da für Novellen schreiben! Aber im Adlon ist es ganz "seriös"; einfach prima, würden die Pensionsdamen sagen. Wir haben wirklich lange nicht mehr solch ein Fest gehabt.
Da, um 11 Uhr, plötzlich der Eclat.
Selbstverständlich hat man Franzosen und Belgier, die täglich mit einem Federstrich mehr deutsche Kinder in Not und Elend treiben, als daß das Ergebnis eines Wohltätigkeitsfestes es wieder gut machen könnte, nicht in den Festausschuß aufgenommen. Sie haben nur - wie es hieß, der Form halber - Karten gekauft und einige Tische belegt.
Und nun sind sie auf einmal da. Mit feistem Lächeln und reibenden Händen, als gehörten sie wirklich in eine honette Gesellschaft. Wenn die alte Lady Abernon unter ihrem stark geschminkten Gesicht noch blaß werden könnte, sie wäre es geworden. Man ist unter Diplomaten an Fassung auch in ungewöhnlichen Lagen gewöhnt. Aber nun entsteht doch so etwas wie Unruhe. "Man kann nicht gleichzeitig die Ruhr und einen Tisch im Adlon besetzen!", sagt vernehmlich ein Neutraler. Außer den französischen und belgischen Berufsdiplomaten ist auch der französische Professeur Haguenin erschienen, als Oberspitzeldirektor in vertrauten Kreisen als "der Lumpensammler Deutschlands" bezeichnet. Man schüttelt sich also doch ein wenig. Eine Anzahl deutscher Aristoktatinnen verläßt unauffällig den Weißen Saal und beteiligt sich nicht mehr am Tanze; das Hotel überhaupt verlassen will man nicht, denn man ist doch Gast, und den Gastgebern selbst ist die französisch-belgische Taktlosigkeit am allerpeinlichsten.
Nur Frau Stresemann tanzt unentwegt weiter. Sie repräsentiert hier ihren Mann. Der hat doch das Auswärtige.
Von der nachnovemberlichen Welt der Staatsmänner ist im übrigen wenig da. Also auch kein "Kontinentalpolitiker", der sich gleich mit den Gepuderten von der Seine anbiedern könnte. Unsere nachnovemberlichen haben für das Parkett nicht viel Verständnis. Lieber schießen sie den Hirsch im wilden Forst, was man jetzt so schön billig haben kann. Der preußische Ministerpräsident Braun, der Sozialdemokrat, der ehedem, soviel ich weiß, mit dem Setzkasten und der Tiegelpresse besser Bescheid wußte als mit Waidmannsdingen, hat sich schon gleich nach der Revolution als Elchschießer aufgetan. Dieser Tage läßt der neupreußische Grandseigneur nun an sämtliche sechs Berlin zunächst befindlichen staatlichen Oberförstereien die Ordre ergehen, er werde an den kommenden Sonnabenden und Sonntagen dasein und ersuche um Reservieren je eines kapitalen Hirsches.
Ich möchte einen Preis für denjenigen Historiker ausschreiben, der mir nachweist, daß der einstige preußische Ministerpräsident Otto v. Bismarck jemals ein solches Verlangen gestellt hat.
13. Dezember 1923 (Donnerstag)
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