"Rumpelstilzchen"

"Bei mir - Berlin!"
(Jahrgangsband 1923/24)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1924

Glossen 10 - 12
8. bis 23. November 1923


10

Mein Mäzen - Otto Erichs Nachlaß - Aspasia bei Diogenes - Professor Süßenguth - Schwarze Börsen - Z'à la mort!

Es gibt noch Mäzene. Leute von einer fürstlichen Freigebigkeit gegenüber Künstlern und Geistesarbeitern. Ein solcher Mäzen - heute nennt man sie Verleger - empfängt mich wider alle Gewohnheit mit einem großen Allasch. Wir gießen ihn feierlich hinunter. Dann teilt mein Mäzen mir mit, daß von einem kleinen Schriftchen von mir, das im Frühling herauskam und sehr gut ging, nachträglich noch im August und September 4000 Exemplare verkauft seien. Nun bin ich wahrhaftig gerührt. Kinder, Kinder! Meine stille Hoffnung hat sich erfüllt, der Wolf-Dieterich - wieder ein Sohn, der herangewachsen ist und das Elternhaus verläßt - kann also einen neuen Anzug mitkriegen, und für das übrige Geld wird ein Fest gefeiert, an das er noch denken soll, wenn er selber sieben Kinder aufzieht. Mein Mäzen belehrt mich über die seitenlange Abrechnung. "Also hier, am 2. August, da sind 11 Stück verkauft, Index 30 000, das macht für Sie 9900 Mark." Und so weiter durch alle Indexe bis zum 30. September.

Schlußergebnis für mich, bar abhebbar: 94 Millionen Mark.

Mil - li - o - nen!

Verdammt, der Allasch ist doch stärker, als ich dachte, oder man ist den Likör am Vormittag nicht mehr gewöhnt, jedenfalls habe ich einen roten Kopf gekriegt: mir ist so heiß, daß ich mir den Kragen abknöpfen möchte. Dann fange ich furchtbar an zu lachen. Man denke sich: Horaz kann seinen Mäzen beschenken! Also stolz werfe ich mich in die Brust und erkläre in gehobener, wenn auch etwas heftiger Rede, ich hätte es ja nicht so nötig, also ich verzichte gänzlich auf die 94 Millionen Papiermark. Mein Sohn könne sich mit meinem väterlichen Segen und mit dem Bewußtsein begnügen, daß ich einen großen Allasch auf die Gesundheit aller Beteiligten getrunken hätte. So wie mir in diesem Falle (bei der Buchausgabe des Berliner Allerleis habe ich mich besser vorgesehen, da wird gefälligst bei jeder Zahlung "aufgewertet") geht es ungezählten anderen Kopfarbeitern in Berlin. Überhaupt in Deutschland. Ein Berliner Arzt veröffentlicht gerade in der Zeitung die fabelhafte Tatsache, daß er von einer Krankenkasse für die Behandlung eines Patienten endlich die Bezahlung bekommen habe. Ins Wertbeständige umgerechnet: ein Tausendstel Pfennig! Heute sterben nicht mehr die Patienten, sondern die Ärzte, sobald die Behandlung erledigt ist. Einer hat dies alles schon vorausgeahnt, ein deutscher Dichter, mein lieber alter Otto Erich Hartleben, als er vor langen Jahren einmal, ich glaube, es war 1897, auf eine Bierkarte die Verse hinwarf:

"Irgendwo und irgendwann
Geht's nicht mehr im Gleise,
Und Europa segelt dann
Mächtig in die - Tinte."

Damals lachten wir alle über den ulkigen Bruder Dichtersmann, dem es doch gar nicht so schlecht ging; zum mindesten galt damals noch das Wort: "Ist kein Geld in Bänken, ist doch Pump in Schenken." Und seine famose kleine Frau, das Moppchen, muß nun doch jetzt als Witwe das graue Elend kennenlernen. Es gibt zwar noch hie und da - siehe oben - etliche Prozente für verkaufte Bücher Otto Erichs, es gibt auch noch hie und da Tantiemen für Aufführungen seines "Rosenmontag", aber es langt nicht hinten und nicht vorn. Haben unsere Bühnen nicht tüchtig an Otto Erich Hartleben verdient? Könnten sie jetzt nicht deshalb Selma Hartleben helfen? Nur bitte: keine Almosen! Aber wie wär's, wenn Otto Erichs hinterlassenes "Diogenes-Fragment" aufgeführt würde? Man denke: Aspasia ist ihrer girrenden Gents und der ganzen goldenen Jugend überdrüssig, sie sehnt sich - wie Salome nach Jochanaan - nach dem wunderlichen Propheten Diogenes in seiner Tonne, besucht ihn, plaudert mit ihm, lädt ihn ein, - und er kriecht wahrhaftig aus der Tonne und macht sich fein für die Visite. Herrschaften, das ist Nektar und Ambrosia! Das ist mehr als Offenbach; das ist ein Stück Shakespeare. Aber Raffkes sind wohl zu dumm dafür. Die werden erst nach zehn Jahren, wenn es zu spät ist, Geist schätzen lernen. Für viele zu spät. Alle Tage verhungert der oder jener akademisch gebildete in Berlin oder schiebt nur mühselig dies Ende hinaus. Einer der größten Architekten, die wir je in Berlin gehabt haben, so einer aus der Klasse Schinkel, Wallot, Messel, ist der Professor Süßenguth, der das neue Charlottenburger und das Spandauer Rathaus und andere Monumentalgebäude und viele Brücken und sonstiges in Berlin gebaut hat. Heute gibt es solche Aufträge nicht mehr, heute ist seine Firma eingesargt, heute ist der zweiundsechzigjährige Professor Süßenguth für Kantinenverpflegung und 20 Goldmark monatlich - als Geldzähler bei einer großen Berliner Bank untergebracht und ist dankbar und glücklich, so vor dem äußersten Hunger bewahrt zu sein, bis die Zeiten sich ändern und wieder stattliche Bauten erstehen.

Und dabei liegt das Geld in Berlin doch auf der Straße. Oder wenigstens in den Kaffeehäusern. Die sogenannten schwarzen Börsen sind dank der weisen Devisenpolitik unserer hohen Regierung wieder ganz üppig emporgediehen. Vorgestern stand das Pfund Sterling in Berlin künstlich, aber amtlich auf 1,9 Billionen Papiermark, gleichzeitig notierten aber in London Wechsel auf Berlin das Pfund mit 37,5 Billionen Papiermark. Irgendeine arme Witwe, die von einem Verwandten in Südamerika oder Ostasien in der üblichen Weltrechnung ein Pfund überwiesen bekommt, trägt es getreulich zur Bank und erhält da ihre 1,9 Billionen abzüglich etwa 6 Prozent für Courtage, Stempel, Provision. Der kundige Thebaner aber handelt anders. Ich habe also vorgestern ein Pfund für solch eine arme Witwe einzulösen übernommen. Ich gehe in ein großes Kaffeehaus im Westen, nicht etwa zu den schmierigen Leuten in der Grenadierstraße, setze mich hin und entfalte den "Daily Chronicle". Schon rutscht ein vertrauenswürdig wohlbeleibter Herr an mich heran und sächselt: "Have you pounds?" "Aber nadierlich!" erwidere ich. "Wieviel?" "Eins." "Wollen Sie verkaufen?" "Ja, was geben Sie?" "Fünf Billionen." "Nichts zu machen." "Wieviel wollen Sie?" "Zwölf." "Ausgeschlossen!" "Na denn nich." "Nehmen Sie acht!" "Quatschen Sie mich nicht an, mein Herr!" "Was ist Ihr letztes Wort?" "Elfeinhalb!" "Gemacht!" Das ist ein Gespräch von noch nicht zehn Sekunden. In weiteren zehn wird mir das Geld aufgezählt. Mit dem Pfund verschwindet ein Helfer sofort oben in den Speisesaal, ein zweiter trägt es über die Hintertreppe hinunter auf die Straße, dort saust ein Radfahrer damit weg. Es geht alles glatt und schnell; wenn die Polizei einfällt, ist nicht ein einziger Dollar im Lokal. Die Spesen rentieren sich. Die gesammelten Banknotenpäckchen eines Tages sausen gen Westen, wobei man sogar auf die Bahn verzichten und im Auto fahren kann, und zurück kommen aus dem besetzten Gebiet Trillionen Papiergeld, vielleicht das Pfund zu 37,5, aber doch mindestens zu 17,5 eingelöst, zurück und dienen zu neuen Käufen. Wieder fremder Valuta. Aber auch Waren. Für ein Spottgeld werden die Läden ausgekauft, die ihre angeblichen "Goldpreise" nur nach dem amtlichen Berliner Kurse ausschreiben. Zu Zehntausenden werden gute Zigarren, die mit 45 Goldpfennigen ausgezeichnet sind, in Wahrheit für 10 Goldpfennige das Stück oder weniger erstanden. Ganze Tuchlager verschwinden. Im Auto fahren Leute umher und kaufen Dauerwürste und Speck. Und wenn dann eines Tages die amtliche hochwohlweise Devisenpolitik zusammenbricht, die im besetzten Westen, wo englische und holländische Banken jedes verbotene Geschäft machen, sowieso ausgeschaltet ist, dann ist Heulen und Zähneklappern. Dann sind soundso viele deutsche Kaufleute ruiniert, weil sie sich zu den dann durchgebrochenen neuen Preisen nicht mehr eindecken können. Und es gibt soundso viele neue Goldmillionäre, die nur in Kaffeehäusern gesessen haben.

Das sind - wir hören es oft genug - natürlich "unerträgliche" Zustände. Daher wartet ja auch jedermann immer noch, treu und geduldig, auf die kommende Explosion; wartet wie das Publikum im Theater vor dem eisernen Rollvorhang. Nicht etwa in Angst. Angst haben in Berlin ganz andere Leute. Die schreckhaften Zeichen der Zeit sind ja auch ganz absonderlich. Da steht vor vierzehn Tagen an allen Anschlagsäulen mit fußhohen Buchstaben die lapidare Anzeige:

"Z'à la mort!",

weiter nichts, das bedeutet in Poilu-Französisch "Bis zum Tode!" Bis zum Tode? Ha! Schon zittern den Überwachungsfranzosen, deren Hauptquartier im Hotel Saxonia in der Budapester Straße liegt, die Heldenknie. Bleich, aber gefaßt beruft Monsieur le Colonel eine dienstliche Besprechung ein. Etwas verschwiemelt kommen die Herren Leutnants und Unterleutnants zur befohlenen Stunde. Auch die Sekretäre finden sich ein. Was soll das Plakat bedeuten? Niemand weiß es. Man muß es aber wissen! Das Schicksal der äußersten Vorposten Frankreichs steht auf dem Spiel. Und ihres heldenmütigen weiblichen Anhangs. Die schöne Yvonne, die eigentlich nie schön war, oder wenn sie es war, dies unter der dicken Puderschicht verbarg, die die Geruchsnerven so beizt, fürchtet für ihr Leben und ihre so billig eingekauften Schätze. Und Madame Dubois muß sich doch auch ihrem Vetter erhalten. Und die kleine Golette hat wahrhaftig schon einen Grünen hämisch grinsen sehen. Also, koste es, was es wolle (im übrigen: le boche payera tout), man muß herauskriegen, was die Inschrift bedeutet. Alle Agenten werden mobil gemacht. Die gut Deutsch sprechenden Franzosen. Die Elsässer. Die bezahlten deutschen Lumpen. Sie kommen tags darauf ohne Ergebnis heim, verlangen sehr große Spesen in Goldfranken, um durch Bestechung an deutsche nationalistische Kreise sich heranpirschen zu können, sie kriegen das Geld, sie traben ab. Am nächsten Tage wieder die Schreckensanzeige:

"Z'à la mort!",

Und endlich kommt atemlos, erschöpft, schweißtriefend der beste Agent und verkündet: in einer einzigen Bartholomäusnacht werden alle Franzosen in Berlin erschlagen! Nun gilt es, sofort zu handeln. Vor acht Tagen sind sämtliche französischen Damen der Überwachungskommission nach Frankreich abgereist. Natürlich mit Bergen von Koffern, deren Inhalt nicht untersucht werden darf. Seit acht Tagen schlafen die männlichen Angehörigen der großen Nation im Hotel Saxonia nur noch mit der entsicherten Pistole an der Seite.

"Z'à la mort!" ist in Wirklichkeit der Titel eines kommenden neuen Films, in dem die Fern Andra auftritt.
8. November 1923 (Donnerstag)


11

Verhaftungen - Willy brummt für Walter - Die Hochzeit der Portierstochter - Ladenstille - Fehrenbachs Stammtisch - Bei Exzellenz wird es fadenscheinig - Pro Ochse ein Schutzmann - Die Reichswanknote.

Das Münchener politische Erdbeben hat sich, wenn auch nur durch schwaches Zittern, bis nach Berlin hin bemerkbar gemacht. Vielleicht ist die Erschütterung gerade noch stark geneug, um einen Kanzler umzuwerfen oder wenigstens das Ruder nach rechts ausschlagen zu lassen. Einstweilen haben die führenden Republikaner sich gegen die Extremen auf beiden Seiten zu sichern versucht. Daß in einer solchen Zeit Leute, die noch lachen können, als besonders gefährlich gelten, ist eine kuriose Tatsache. Telephoniert mich da dieser Tage ein guter Freund an, bei Rumpelstilzchen, dem harmlosesten aller Mitteleuropäer, solle, wie schon früher einmal, wieder eine Haussuchung stattfinden. "Na, wenn schon," sage ich vergnügt und stelle die Flasche Rum und den Schnellsieder zu einem Grog bereit, falls der Besuch nachts stattfinden sollte. Einige Stunden darauf klingelt es wieder: ich würde wohl verhaftet werden. Ach, das habe ich mir ja schon längst gewünscht: da gäbe es nachher mal was zu erzählen. Also strahlend antworte ich: "Sehr gut, ich ziehe mir sofort frische Wäsche an!" So habe ich glanzgebügelt und mit zwei neuen Schnupftüchern in der Tasche, die ich eigentlich erst zu Weihnachten kriegen soll, auf das große Ereignis gewartet, wegen irgendeiner sarkastischen Anzweiflung des neuen Reiches der Novemberherrlichkeit abgeführt zu werden. Vergeblich, ganz vergeblich. Man hat mich im Drange der Ereignisse vergessen.

Andere Leute aber sind ganz unvermutet zu Numero Sicher verfrachtet worden. So Herr Willy Oehme an Stelle des Herrn Walter Oehme. Dieser, ein Genosse vom Crispien-Flügel der Berliner Sozialdemokratie, hat wegen Landesverrats Gefängnis bekommen, weil er im Auslande irgendwelche schlimmen Nachrichten veröffentlichte, ist aber unter dem Kabinett Stresemann mit Bewährungsfrist wieder freigelassen worden, hat dann sein altes Handwerk erneut aufgenommen und sollte nun wieder ins Loch. "Redakteur W. Oehme ist sofort zu verhaften!", lautete der telegraphische Befehl, der von dem Inhaber der Vollzugsgewalt in Berlin der politischen Polizei zuging. Die wälzte nun das Adreßbuch, fand da einen Willy Oehme, Redakteur, irgendwo hinten in Schöneberg verzeichnet, legte einen Aktenbogen an, stellte durch Anfrage beim Einwohnermeldeamt den Geburtsort und Geburtstag dieses Inkulpaten fest und schickte zwei Kriminals mit dem Aktus zu Herrn W. Oehme.

"Sind Sie der Redakteur Oehme?"

"Jawohl."

"Wir haben den Auftrag, Sie zu verhaften!"

"Mich, wieso, warum denn?"

"Wegen Landesverrats durch einen Zeitungsartikel."

"Meine Herren, das kann nicht stimmen, ich bin gar kein Politiker, sondern Redakteur der Deutschen Konfitürenzeitung!", erwiderte entrüstet Herr W. Oehme, worauf die Beamten ("Das kennen wir!") ihren Aktenbogen vornehmen, ihn scharf fixieren und ihn fragen: "Sind Sie dann und dann geboren und dort und dort?" Das gibt Herr W. Oehme zu. "Also es stimmt!", erkären nun die Diener der Hermandad und führen den Sünder ab; erst nach vier Stunden klärt sich das Mißverständnis auf, und dann wird Willy durch Walter abgelöst. Schade, daß ich selber nicht Willy Oehme heiße und Redakteur der Deutschen Konfitürenzeitung bin. So ist mir ein Hauptspaß entgangen, und die Zeiten sind doch wahrhaftig so triste, daß man ein bißchen lustige Abwechslung schon gebrauchen könnte.

Nicht jeder empfindet die ganze Tristheit, manch einem hängt der Himmel noch voll Geigen, und das Große Los wird Sonntagskindern immer noch in den Schoß geworfen. Ich meine natürlich nicht das der Staatslotterie. Das sind nach Steuerabzug lumpige 400 Milliarden Mark, wofür man sich heute nicht einmal mehr ein halbes Pfund Fleisch kaufen kann. Der Staat hat das noch relativ gute Geld für die Erneuerung der Lose vor Monatsfrist eingezogen; heute hat der Hauptgewinn nicht mehr den Wert des Lospreises von damals. Nein, wer Zahlungen von dem neuen Reiche der Herrlichkeit zu bekommen hat, und sei es die für das Große Los, der soll sich nur gleich begraben lassen, wenn ihm einer das Geld für den Schüdderump leiht. Ich meine ein ganz anderes Großes Los, die "gute Partie". Anscheinend gibt es die immer noch, wenigstens sieht man immer noch Brautkutscher mit silbernen Laternen vor den Kirchen halten und gutgekleidete, glückliche junge Leute ihnen entsteigen. So etwas macht Freude. Ich bleibe also auch stehen und sehe mir das neulich an: die Braut in weicher, fließender Seide, die vier Brautjungfern in weißem Taft, Blumen in reicher Fülle. Ich spüre weiter nach, bis in das Restaurant in der Brandenburger Straße, wo das Hochzeitsessen stattfindet: Fleischbrühe in Tassen, Frikassee vom Huhn, Hammelbraten mit gemischtem Gemüse, Götterspeise, Obst, Kaffee, dazu Weine und Liköre. Die Braut ist eine Portierstochter. Wer's nicht glaubt, der mag sich in der Prinzregentenstraße Nr. 77 bei den Brauteltern erkundigen.

In derselben Zeit verhungern hochgebildete Deutsche in der Reichshauptstadt. In derselben Zeit wissen ehedem schwerreiche Kaufleute nicht, wo sie das Geld für neue Einkäufe hernehmen sollen. Die Läden sind leer. In dem großen Konfektionsgeschäft von Maaßen in der Leipziger Straße erstehe ich mir vorgestern um 12 Uhr mittags eine Kleinigkeit. Ich bin an diesem Tage erst der zweite überhaupt erschienene Kunde, und das Riesenhaus hat doch mehrere Stockwerke. In den Räumen von Wertheim hätte man heute Platz für Sportfeste. Der Hofjuwelier Friedländer Unter den Linden hat den Verkauf überhaupt eingestellt. Nur noch Lebensmittel gehen also und das Allernotwendigste an Beschuhung. Eine große Zahl von Bierstuben schließt Sonntags ganz, weil sich kein Stammtisch mehr zusammenfindet. Nicht alle Leute beziehen eine so dicke Pension, wie der Abgeordnete und ehemalige Rechtsanwalt Fehrenbach, der Reichskanzler a.D., der sich daher in Gemeinschaft mit einigen anderen Spießbürgern auch noch den Stammschoppen im Löwenbräu hinter dem Staatlichen Schauspielhause gönnen kann.

Der lukrativste Beruf, wenn man von allem, was da "schiebt", absieht, ist heute noch der des vereidigten Auktionators. Sein Kundenkreis wächst. Da bringt ihm eine junge, jetzt entlassene städtische Lehrerin ihre alte Wintersportbreeches; da kommt der Rentier mit einer braungeräucherten Meerschaumspitze; da läßt der trotz der Novemberkälte barfüßige Bettler 4 Paar erschnorrte Stiefel versteigern.

Äußerlich geht ja noch alles seinen Gang. Die Straßenbahn fährt, wenn auch in so großen Zwischenräumen, daß man zu Fuß oft schneller sein Ziel erreicht. Die ganze staatliche Beamtenmühle klappert auch nach wie vor. Mit einem Gesicht voll 1914er Würde kommt der allwissende Herr Schulrat in die Handarbeitsstunde und prüft, so daß sich die Mädels der ersten Volksschulklasse das Lachen kaum verbeißen können, mit den vorsichtig tastenden Worten des Nichtfachmannes über aufgesetzte Flicken und die verschiedenen Arten des Schlitzverschlusses für Unterröcke. Im Reichskanzlerpalais sind die Teppiche noch gut erhalten, und in dem Konferenzzimmer neben dem großen Kongreßsaal geistert der lebensgroße Bismarck in Kürassieruniform von der Wand. In einzelnen Gesandtschaften der deutschen Länder, in der Voßstraße und anderswo, sehe ich aber schon den Verfall. In dem Empfangszimmer, in dem ich auf "Exzellenz" warte, stehen noch die alten vergoldeten Sessel und Sofas und Tische, sauber gebürstet und entstaubt. Aber die rote Damastseide ist zerfranst. Es sind auch schon andersfarbige Flicken aufgesetzt.

Die Armut Deutschlands schreit. Lauter als in irgendeiner behaglichen Kleinstadt hört man es in Berlin. Unsere Erfüllungspolitik wirkt sich nun aus.

Auch das Währungselend wird in der Reichshauptstadt am schwersten empfunden, weil hier doch infolge des Reiseverkehrs alle die verschiedenen Zettelchen zusammenströmen. Man kriegt ein Banknotenbündel von der Größe eines artigen Ziegelsteins heraus. Man zählt und zählt. Die Zahl stimmt. Nachhher entdeckt man brandenburgische Provinzialmark, hallesche oder kölnische Eisenbahnmark, Greifswalder Getreidemark darunter, die kein Kaufmann einem abnimmt. Wir haben zurzeit einhundertzweiundsiebzigerlei verschiedenes Geld in Deutschland! Von jedem einzelnen verschiedene Werte. Das Notgeld der großen Firmen und kleiner Kommunen noch gar nicht eingerechnet. Und mitunter bekommt man für die schönsten Scheine gar nichts. Draußen auf dem Zentralviehhof sind heute nacht schätzungsweise zwei volle Hundertschaften Schutzpolizei eingetroffen, damit "kein Wucher mehr getrieben" würde, und morgens um 5 Uhr stand beinahe vor jedem Ochsen ein Schutzmann. Die Ochsen standen in langen Reihen. Aber es waren keine Verkäufer zu entdecken. Die Berliner Fleischermeister gingen vergeblich auf und ab, verkrümelten sich dann, über die Zeiten (und über anderes, was ich wegen des Republikschutzgesetzes nicht nennen darf) schimpfend, in dem Gewühl auf dem ganzen Viehhof. Und da streifte sie dann wohl der und jener "Kommissionär" oder Viehgroßhändler und zischelte ihnen zu: "Woll'n Se Ochsen kaufen?" Ebenso leise wurde geantwortet: "Jawohl!" Aber überall lautete nun die Gegenfrage: "Ham Se Devisen?" Und da mußten die meisten Fleischermeister natürlich die Achseln zucken. Die Kunden zahlen doch auch nur in Papiermark, wo soll man Devisen herhaben? Die Reichsbank gibt dem "Berechtigten", den Importeuren, die Erze oder Fette aus dem Ausland beziehen, jetzt, wenn es hoch kommt, 3 oder 5 Prozent ihres Bedarfs, der Inland-Geschäftsmann aber ist doch, wenn er fremde Valuta haben will, auf die schwarze Börse angewiesen. Da muß er das Doppelte oder Dreifache bezahlen. Und dann steigen die Preise auf das Doppelte und Dreifache. Wohlgemerkt: auf Goldbasis berechnet. Wir sind schon längst das ärmste Land Europas. Binnen kurzem werden wir das teuerste sein. Daß dieses Elened Explosionen geradezu erzwingt, ist ausländischen Beobachtern bei uns klar. Und selbstverständlich müssen sich die Explosioenn eines Tages gegen die beiden Urheber des Elends richten: gegen die Sozialdemokraten und gegen die Franzosen.

Das wird straßauf, straßab schon überall mit vollem Gleichmut zugestanden. Die Pause bis dahin versucht sich der Berliner mit Scherzen zu vertreiben. Mir ist gerade eine täuschend echt aussehende "Blüte" in die Finger geraten, die folgende Aufschrift trägt:

Zehn Billionen Mark.

Reichswanknote.

In dem weiteren Text sprudelt es von Galgenhumor. Die Strafandrohung für Fälscher lautet hier etwa: "Wer Papiergeld der Deutschen Republik aus dem Verkehr zieht und als Spareinlage benutzt, der verdient nicht weniger als 2 Jahre Irrenhaus." Leider sind auch wir Gesunde in das Irrenhaus eingesperrt, das im November 1918 von angeblich Volksbeauftragten im Sinne der Entente erbaut worden ist.
15. November 1923 (Donnerstag)


12

Pisang, Kuli, Panje - Die Edeltipse - Mattia Battistini - Vollmöllers "Mirakel" für New York - Gegen die Schlemmerstätten.

Unsere Musketiere nannten 1870 jeden Franzosen einfach "Pisang". Paysan heißt Bauer. Im Jahre 1900 trieben unsere ostasiatischen Freiwilligen sogar chinesische Würdenträger mit "Kuli lai lai" zur Arbeit an. Kuli heißt Knecht. Während des Weltkrieges aber wurde seit 1915 jeder polnische Arbeiter "Panje" genannt. Pan heißt Herr.

Nachdem sich die Polen von dem Erstaunen erholt hatten, von den Siegern als Herr angeredet zu werden, noch mehr von der wunderlichen Tatsache, daß ihre kleinen Mädchen, auch die acht- oder zehnjährigen, von den deutschen Landstürmern "Matka" gerufen wurden, also Mütterchen, ergriff die Panjeseuche von allem Besitz. Panjepferd, Panjewagen, Panjehaus, Panjepelz, Panjebutter. Da lag schon etwas Geringschätziges darin. Als unsere Soldaten, die alles Eingeborene so bezeichneten, dann aber nach Kurland kamen und die dortigen Gutsbesitzer sich als deutsche Barone entpuppten, wurde die Sache schwierig. Das waren doch keine verlausten einfachen Panjes mehr. Und da erstand der Name "Edelpanje" als neue Bezeichnung. Ich möchte wetten, daß es Berliner Landwehrleute waren, die zuerst diesen Ausdruck aufbrachten. Sie kehrten zurück, vergaßen allmählich die Panjes und Edelpanjes, aber alsbald sprach Berlin von Edelkommunisten und etliche Jahre später von Edelvalutariern. In dieser Edelung ist ein bißchen Spott mit ein bißchen Ehrfurcht gemischt. Sie nimmt immer mehr überhand. Nächstens werden wir vielleicht den Edelminister zum Unterschied von dem gewöhnlichen, der bloß Parteisekretär ist, haben, oder den Edelschuster, der wirklich neue Stiefel anzufertigen versteht, nicht bloß Riester auf alte setzt.

Und wir haben die Edeltipse.

Die Feld-, Wald- und Wiesentipse, das gewöhnliche Tipfräulein, ist so häufig wie die Feld-, Wald- und Wiesenmaus. Solch eine Stenotypistin hat nach der Volksschule noch einen Kursus in Maschinen- und Kurzschrift durchgemacht, ein bißchen Handelskorrespondenz verdaut und klappert nun dreißigmal am Tage: "Antwortlich Ihres geschätzten Gestrigen . . ." In neunzig von hundert Fällen ist sie entwicklungsfähig. Hie und da hat sie kaufmännische Begabung, Interesse für höhere Buchführung, ist eines Tages vielleicht sogar "bilanzsicher" und kriegt eine gehobene Stellung. Noch seltener ist der Fall, daß die Feld-, Wald- und Wiesentipse sich mit aller Leidenschaft auf die Bildung wirft und auf dem Wege über die Redaktionssekretärin zu einem weiteren Stadium der Vervollkommnung vordringt. Dann kann aus ihr "außertourlich" noch eine Edeltipse werden, wie im Kriege aus einem gewöhnlichen Soldaten wegen Tapferkeit vor dem Feinde ein Offizier. Aber das kommt, wie gesagt, nicht häufig vor.

Äußerlich erkennt man die Edeltipse meist daran, daß sie ganz wie eine große Dame von Welt gekleidet ist, aber statt des Damentäschchens eine Aktenmappe trägt. Sie hat die dünnsten Strümpfe und das dickste Pelzkollier. Man sieht sie im Auto des Ministers oder des Generaldirektors; eine Abart von ihr auch in der Studierstube des Sanatoriumsprofessors oder des Dr.ing. in einem großen Industriewerk. Sie kennt, je nach dem, die Geheimnisse der Politik, des Films, der Technik, der Wissenschaft, nebenbei aber auch häufig (besonders in jüngeren Semestern) die Intimitäten der vornehmsten Weinstuben. In allen fashionablen Sommer- und Winterkurorten ist sie zu Hause, denn auch in Urlaubszeiten ist sie für ihren Herrn und Meister unentbehrlich. Sie hat manchmal Familienanschluß und wird immer glänzend bezahlt: nie "au pair", stets "au père". Französisch und Englisch, bisweilen auch Spanisch oder Russisch oder Intalienisch spricht sie besser als der Chef, gekleidet ist sie besser als seine Frau, und Brillat-Savarin oder irgendein anderer Künstler der Gastronomik könnte ihr nichts Neues sagen.

Recht nett hat es immer die Edeltipse des jeweiligen Reichskanzlers, obwohl sie meist zu den bescheideneren ihrer Gattung gehört. In ihrer Nähe taucht oft der oder jener Korrespondent einer großen ausländischen Zeitung auf, der pfundweise gute Lindt-Schokolade oder noch bessere Dinge in den Taschen hat. Vielleicht klopft er ein bißchen auf den Busch, vielleicht fragt er nur beiläufig nach irgend etwas, das morgen schon Tagesgespräch sein mag, vielleicht antwortet sie nur mit einem seelenvollen Augenaufschlag; aber das genügt, da weiß er schon Bescheid.

Eine englische Miß begegnet mir am vorigen Sonnabend im Tiergarten. Am Vormittag. Ei, ei. Ich habe sie auf dem Atelierfest bei einer schwerreichen Malerin in einer Grunewaldvilla kennengelernt. Prachtvolle Zähne hat diese Edeltipse aus Stratford. Wie ein Marder. Und echten Marderpelz um die Schultern. Ob sie denn um diese Zeit nicht im Amt sein müsse, frage ich. Ach nein. Es sei zu Ende. Die 29 englischen Edeltipsen in Berlin, 3 von der Botschaft, 2 vom Generalkonsulat, 24 von der Kontrollkommission und dem Garantiekomitee, reisen jetzt Hals über Kopf ab.

Warum, warum?

Ja, der Botschafter habe die Damen versammelt und in allerhand dunklen Andeutungen kundgetan, daß es sein müsse. Es werde große Schwierigkeiten in Deutschland für fremde Damen geben; sehr bald.

Also nach den Französinnen verschwinden die Engländerinnen. Nun haben wir in Berlin fast nur noch die deutsche und die bolschewistische Edeltipse. Es fängt einen zu frösteln an.

Merkwürdig, wieviel Bildungsmöglichkeiten sich diesen Damen überall erschließen. Wie man die verschiedenen Cocktails mixt, das wissen schließlich auch weniger edle Existenzen, aber ich habe Edeltipsen gefunden, die zwischen zwei Cocktails überzeugend begründen konnten, warum sie die Werke des verstorbenen alten Manzoni denen des allzu modern-manierierten d'Annunzio vorzögen, oder die genau wußten, daß Rio Tinto nicht nur ein Börsenpapier heißt, sondern eine richtige Bergwerksstadt, nordwestlich von Sevilla, ist. Diese Damen kriegen eben von überallher Bücher geschenkt und geliehen, werden überallhin mitgenommen und erhalten Eintrittskarten für alles. Ich erinnere mich noch, daß wir einige Zeit vor dem Kriege, als Caruso im Königlichen Opernhaus sang, daheim im Familienrat beschlossen, diesmal nicht hinzugehen, da der Parkettplatz 20 Mark kostete. Solche Bedenken existieren für die Grande-Dame von der Aktentasche nicht, denn sie bekommt "sowieso" die Ehrenkarte des vielbeschäftigten Chefs. Da ist jetzt wieder, wie alljährlich einmal, Mattia Battistini in Berlin erschienen und zusammen mit Mafalda Salvatini in der "Tosca" aufgetreten. Wer ist da? Die Edeltipse! In mindestens 20 Exemplaren, meist im ersten Rang, habe ich sie festgestellt. Anderen Sterblichen ist sie kaum aufgefallen, und das will viel sagen, denn an einem Battistini-Abend - "zu wohltätigen Zwecken" - erscheint doch alles in großer Toilette, auch die Herren großenteils im Frack. Beiläufig bemerkt: der Frack wird wieder offen getragen, so daß man den ganzen Ernährungszustand zur Schau hält, nicht nur die "Pointen", die Schwalbenspitzen der weißen Weste unten; diese Pointen fallen ganz weg, die Weste und der Frack schneiden wagerecht ab, man kann also stolz wieder ganz modern seine ältesten Schrankhüter anziehen. Man kleidet sich schon deshalb festlich, um Battistini eine Freude zu machen, dem vielleicht größten annoch lebenden Meister des Belcanto, der trotz seiner 67 Jahre noch Schmelz in der Stimme besitzt. Er kann's nicht lassen. Der Beifall einer freudig erregten Menge ist für ihn Lebenselixier. Er hat in Ostia, an der Tibermündung vor Rom, eine kostbare Villa, sein Barvermögen geht sicher weit über die Dollarmillion hinaus, aber rastlos muß er immer wieder Europa durchstreifen, um sich an dem Jubel der Zuhörer zu stärken. Als "Figaro" habe ich ihn vor langen Jahren einmal gehört und gesehen, da war er noch die Gelenkigkeit und Federkraft selbst, übertroffen höchstens noch von einem einzigen Sänger in der Welt: dem Portugiesen d'Andrade, der seit einem Menschenalter in Berlin seine Heimat gefunden hat. Jetzt in der "Tosca" mochte man am liebsten die Augen schließen, nur die Ohren genießen lassen, - denn der Mattia Battistini von heute, das läßt sich nun mal nicht leugnen, ist auf der Bühne doch kein feuriger Liebhaber mehr, sondern nur noch ein liebender Kunstgreis. Allenfalls Onkelchen. Die Backfische umlagern nicht mehr sein Hotel und haschen nicht mehr nach der Hand des sieghaft Heraustretenden. Im Opernhause ist die Jugend selbst im 3. und 4. Rang nur schwach vertreten; aber Snobs sind da und musikalische Berühmtheiten und Zahler, diese "von wegen der Wohltätigkeit", falls sie sich nicht, wie gesagt, durch ihre Aktenvertraute vertreten lassen. So etwas geht bei uns nur noch unter dem Vorwand der Armenhilfe. In Stockholm, der nächsten Station, singt Battistini wieder für die eigene Tasche, in Berlin aber bekäme er da kein halbvolles Haus mehr, und diese Großen schämen sich auch, aus dem verarmten Deutschland Honorare zu ziehen.

Sie wissen, daß unsere eigenen Großen gezwungen sind, ins Ausland zu gehen, weil man sie daheim nicht mehr entsprechend bezahlen kann. Am Montag früh hat sich einer unserer besten Darsteller, Werner Krauß, von Berlin auf die Reise nach New York begeben. Er soll in Vollmöllers "Mirakel" den Spielmann geben. vom 23. Dezember bis zum 30. April wird das Stück ununterbrochen aufgeführt und wird drüben wohl noch größeren Beifall ernten, als einst in Berlin, wo Maria Carmi, Vollmöllers damals jugendliche Gattin, die holde Wunderheldin spielte. Auch in New York inszeniert Reinhardt. Er ist schon eine ganze Weile da. Er wurde in Amerika von der "englischen Herzogin" Lady Diana Manners erwartet, einer etwas exzentrischen Dame, die ihre Schönheit statt in Schlössern und bei Hofe lieber im Film und auf der Bühne zur Schau stellt. Jetzt ist sie das Mirakel für Reinhardt. Reinhardts Frau aber, Else Heims, hat wohl in diesen Tagen in ihrer Ehescheidungsklage gegen ihren Mann das Urteil zu erwarten. Dramen spielt man nicht nur im Thetaer. Sie sind noch häufiger im Leben.

Was auf dieses Leben jetzt nicht überall bei uns geschimpft wird! Es sei fast nicht mehr zu ertragen. Und ob seine Eminenz der Kardinal-Erzbischof oder seine Eloquenz der Herr Reichskanzler, der eine in München, der andere in Berlin, uns darüber auch hinwegzutrösten versuchen, so gelingt es ihnen doch nur halb. Man muß, um den Kopf oben zu behalten, an das gute alte Verschen

„Die Menschen sagen immer:
Die Zeiten werden schlimmer!
Die Zeiten bleiben immer;
Die Menschen werden schlimmer!”

denken und sich freuen, wenn die Zügel wieder ein wenig angezogen werden, wie es jetzt in Deutschland der Fall zu sein scheint; gegen das Schlimmerwerden der Menschen hilft nur scharfe Zucht, und es sieht ja so aus, als wolle der Inhaber der vollziehenden Gewalt, General von Seeckt, das durchgegangene deutsche Volk nun zu reiten beginnen. Auf Kandare natürlich. Auch er steckt freilich zum Teil noch in sentimentalen Anschauungen. Ein Erlaß Seeckts will die "Schlemmerstätten" in Volksküchen umwandeln. Was soll das nützen? Dadurch werden die Angestellten und Lieferanten solcher Restaurants brotlos und den Schlemmern wird weniger Geld als bisher abgezapft. Je mehr es umläuft, desto besser doch. Oder glaubt man, was keinem Volke und in keinem Jahrhundert gelang, jetzt in diesem Ohnmachtsstaate durchsetzen zu können, daß all das Geld, das sonst für Wein und Poularden und Seidenwäsche und Parfüms ausgegeben wird, in Steuern sich verwandelt, aus denen man die neuen Volksküchen erhalten kann? Es gibt leerstehende Säle genug in Berlin und in anderen Großstädten, die sich für Massenspeisungen weit besser eignen, als verschwiegene kleine Kojen und aparte Chambres.

Man spricht so viel von dem kommenden Diktator. Das kann aber nur einer sein, der bewußt auf Popularität verzichtet.
23. November 1923 (Freitag)



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© Karlheinz Everts