"Rumpelstilzchen"

"Bei mir - Berlin!"
(Jahrgangsband 1923/24)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1924

Glossen 7 - 9
18. Oktober bis 1. November 1923


7

Frau Professor und der Dalmatiner - Unsere Valutamieter - Die "Extras" - Keine Brotkarte mehr - Eine wirklich wahrheitsliebende Frau - Fern Andra und Kurt Prenzel - Der Tausendmarkschein als Witzblatt - Es riecht schweflig.

Frau Professor sitzt unter dem Bild ihres Seligen auf dem Sofa am Kaffeetisch und sieht in Demut, fast so etwas wie schuldbewußt, dem Dalmatiner jungen Kaufmann zu, der in dem aufgeweichten Zwieback seiner Tasse herumstochert.

"Aoh Madam, den Schaschlik 'eute Mittag 'aben Sie ganz gut gemacht, aber Sie mussen nehmen guten italienischen Reis dazu, nicht Javareis, denn das ist nur 'ühnerfutter! Und 'aben Sie kein Kaffeefilter für zu machen richtig den Kaffee wie bei uns?"

Frau Professor sagt "O gewiß!" und "Sehr gern!", aber es überkommt sie ein Schwächegefühl. Mein Gott, Reis ist doch Reis! Und sie hat doch "vom besten" im Laden gekauft! Den teuersten, geschälten und polierten Reis! Was will nur wieder der fremde Mann? Und einen neuen Apparat zum Kaffeekochen, solch einen neumodischen Tropfensieder soll sie auch noch kaufen? Das Paket Fünfzig-Millionen-Scheine in der Tasche ihrer Ärmelschürze umkrallt Frau Professor in ihren Sorgen und merkt da erst, wie feucht und klebrig ihre Finger sind; vor Demut und vor Angst. Man hat den schwarzen Dalmatiner gerade noch ergattert, als "Alleinpensionär" ergattert, als die Zeitungen schon schrieben, Berlin werde fremdenleer, und er zahlt ja auch so viel serbische Dinare, daß es hundert Goldmark im Monat ausmacht. Mein Gott, wenn er kündigte! Dann könnte Bubi nicht mehr die zwei Tassen Milch täglich bekommen, die bleichsüchtige Agnes keinen Apfel mehr, und Karl müßte vor der Oberprima austreten. Pst! Still, Kinder! Stört unseren Hospodar nur nicht! Er hat das beste Zimmer zwischen vorn und hinten, hat auch eine neue Lampe und eine neue stärkere Glühbirne dahin bekommen, das erste Monatsgeld ist für Anschaffungen weg. Niemand - die Kinder sind schon ganz verängstigt - darf, so hat Frau Professor geboten, morgens vor 8 und nachmittags zwischen 3 und 5 an dem Zimmer vorübertappen. Muß Frau Professor in dieser Zeit in die Küche, dann geht sie vorn die vier Treppen hinunter und hinten die vier Treppen wieder herauf und kehrt auf demselben Wege ins Speisezimmer zurück. Agnes hat ein paar Knallschoten, ein paar Backpfeifen von mütterlicher Hand in Aussicht, wenn sie noch einmal bei Tisch über dalmatinische Eßsitten lacht. Und Bubi hat sich heute morgen die Hosen genäßt, weil der Pensionär so ewig in dem Badezimmer blieb.

Frau Professor findet, der Dalmatiner sei ja sehr manierlich und sehr taktvoll. Neulich gab sie ihm mit zitternden Fingern, als er Feuer für seine Zigarette verlangte, ein Büchschen Streichhölzer, das halb voll war. Er steckte es gleich ein. Aber am nächsten Tage gab er ihr ein volles Büchschen wieder.

"Aoha, nicht danken, Madam, wir wissen ja, wie arm 'eute Deutschland ist. Nur immer ich wundere, daß man 'ier noch so teuer ist. Bei uns zu 'ause ich lebe mit meiner Mutter sehr gut, viel Eier, viel Butter, und wir brauchen nicht 'undert Goldmark."

Frau Professor erbleicht wieder. Ob man dem Alleinpensionär den Vorschlag machen soll, daß er einige Dinar weniger bezahlen möchte? Oder ob man ihm vielleicht zum Frühstück hin und wieder ein weichgekochtes Ei verabreicht?

Das alles ist eine richtig wahre Geschichte, die Frau Professor existiert sogar in Dutzenden von Ausgaben in Berlin, und sinnfälliger kann der Umschwung unserer Verhältnisse kaum dargestellt werden. Es gibt freilich auch weltklügere Damen unter denen, die "an Valuta" vermieten. Da sitzt einmal auch eine Frau Professor, deren Mann Bildhauer war und im Felde als Landwehroffizier fiel, bei mir und erzählt. Sie hat mehrere fremde Pensionäre, sogar welche, die sie bei Nachbarn als Mieter hat unterbringen müssen, weil ihre eigenen Schlafzimmer nicht mehr reichten. Sie ist - viel billiger. Sie gibt die Pension zu unglaublich niedrigem Preise. Aber, sagt sie, man muß es nur verstehen: die Extras müssen es bringen. Wäsche ist extra, Bedienung ist extra, Heizung ist extra, Licht ist extra, Telephon ist extra, Zeitung ist extra, Klavierbenutzung ist extra, Steuern sind extra, Knöpfe annähen ist extra, Vesper ist extra, Streichhölzer sind extra, und alle Extras sind ein bißchen aufgebläht und ergeben zusammen die Lebenshaltung von drei Personen der eigenen Familie samt Kleidung.

Neulich hat diese Dame sogar das Aufhören der Brotkarte dazu benutzt, um von ihren Valutariern fortan einen Zuschlag "entsprechend der neuen Brotverordnung" zu verlangen. Wenn der Laib Brot innerhalb acht Tagen von 34 auf 620 Millionen Mark steigt, darf man sich ja auch nicht wundern. "Das ist wegen der Reparation", sagt die Dame. Freilich läuft sie sich für ihre Fremden auch die Hacken ab, begleitet sie bei der Anmeldung zum Polizeirevier, besorgt ihnen Theaterkarten (auch mit "Extra"), vermittelt jedes Geschäft und jedes Vergnügen. Nur für wenige Berliner ist das Ende der Brotkarte natürlich die Gelegenheit zu Mehrverdienst gewesen. Für die meisten nur die Gelegenheit zu einer wehmütigen historischen Betrachtung. Wir zu Hause haben je ein Exemplar - unter Verzicht auf die Lieferung des Gegenwertes - schon während der Kriegszeit uns zurückgelegt, Brotkarte, Fettkarte, Fleischkarte, Eierkarte, Seifenkarte und wie die Dinger alle heißen, und sie alle kommen jetzt unter Glas und Rahmen mit der zollgroßen fetten Überschrift: "Unser täglich Brot gib uns heute!" Wir, die wir die letzten neun Jahre durchlebt haben, wissen nun wirklich, was diese Bitte des Vaterunsers bedeutet, und Kind und Kindeskind sollen daran noch einmal studieren, daß wir in der größten Notzeit nur wöchentlich 20 Gramm Butter oder gar keine zu verzehren hatten.

Die sogenannte falsche Scham haben die meisten Berliner abgelegt. Man spricht brutal offen über die elende Gegenwart. Sogar die weiblichen Wesen sind von einer unglaublichen Ehrlichkeit, so daß man fast von einer moralischen Läuterung des Volkes sprechen kann. Drei Schwestern in dem sehr empfehlenswerten Alter von 19, 21 und 23 Jahren besuchen uns zum Sonntagskaffee. Die älteste ist eine wirklich wahrheitsliebende Frau; sie lügt nur in der Verteidigung oder im Angriff, niemals bloß aus Vergnügen. Wenn sie nach Berlin kommt, poliert sie sich nicht etwa nur ihre Fingernägel, was eine durchaus standesgemäße Körperpflege wäre, sondern sie lackiert sie; sie glänzen rot und ölig. So etwas kann ich nicht vertrage, ich stehe mit entsetzten Blicken auf und flüchte. Die Geschichte gelangt bis zu dem Vater der drei Grazien, der weit, weit weg in einer anderen Großstadt wohnt, aber er will sie nicht glauben. Väter glauben so etwas nie von ihren Töchtern. Besonders wenn sie so unglaublich ehrlich sind, diese Töchter, und wenn ihnen ein so vertrauensunwürdiger Mensch gegenübergesessen hat, ein Geschichtenerzähler, also ein berufsmäßig verlogener Mensch. Zum Glück wird auch der Lack, von einer prima Londoner Firma hergestellt und über Brüssel bei uns importiert, allmählich unerschwinglich, so daß man nicht mehr mit seiner Hilfe vortäuschen kann, man sei eine Filmdiva oder sonst etwas angenehm Verruchtes. Die ersten Filmdiven sind in derlei Nachhilfen übrigens diskreter. Ich habe noch kaum je so etwas in jeder Beziehung nur Hingehauchtes gesehen wie etwa Fern Andra im Rohrsessel beim Fife-o-clock(sic! d.H.) im Adlon. Unter ihrem Einfluß, unter ihren ästhetishen Winken hat sich auch der Meisterboxer Kurt Prenzel so verfeinert, daß er heute - ganz gleich, ob im Frack, ob im Cut - zu den elegantesten Männern Berlins gehört, mit seinem Muskeleisen und seinen stählernen Pratzen viel eleganter als die offiziellen Liebhabergecken des Kinos. "Andra moi ennepe Musa", sagt schon der alte Homer; Fern Andra ist Kurtchens Muse geworden und hat ihm kürzlich sogar ein komplettes Luxusauto geschenkt, das nur leider zwei Tage darauf gestohlen wurde. Die Blütezeit der Männer vom Boxerring und der Frauen von der Flimmerleinwand ist ja meist nur kurz. Ihre Verbindungen sind es meist auch. Manchmal ehelichen sie einander, dann sagt man: "Welch glückliches Paar!" und freut sich, wie die Liebe alles bei ihnen verklärt, - solange sie Besuch von Freunden haben. Dauert das über die Blütezeit hinaus, so bleibt doch die Liebe. Aber manchmal ist sie am Ende der Jahre nichts anderes als nur noch zahmgewordener Haß.

Es scheint, daß in diesem Sinne auch die politische Ehe unserer parlamentarischen Großen Koalition über die Blütezeit hinaus ist. Man hört die sonderbarsten Dinge. Da ich ein ausgesprochener Pechvogel bin, habe ich am letzten Sonntag mit einem der roten Weltumschöpfer an einem Tisch sitzen müssen. Ich war für kurze Zeit Berlin entronnen. Nun besteht zwar die äußerst wohltätige Einrichtung, daß Parlamentariern auf der Eisenbahn die 1. Klasse als Isolierzelle angewiesen wird, wo sie heutigen Tages deutsches Publikum nicht mehr gefährden können. Aber im Speisewagen kommt man eben doch in Berührung. Da zieht denn mein jovialer sozialistischer Abgeordneter einen Tausendmarkschein, einen richtigen echten Tausendmarkschein hervor und zeigt ihn herum. Vorn ist der Schein ganz richtig. Auf der Rückseite aber trägt er den Aufdruck:

P. P.

    Beehren uns, unserer geehrten Kundschaft mitzuteilen, daß wir die durch Liquidation erledigte Fa. Cuno G.m.b.H. mit dem heutigen Tage übernommen haben. Wir führen die Firma weiter unter dem Namen:

Hilferding & Stresemann
Altpapier- und Stampehandlung.

    Indem wir bitten, das unserem Vorgänger geschenkte Vertrauen auch uns entgegenzubringen, zeichnen

 

ergebenst
Hilferding & Stresemann.

Diese Tausendmarkscheine, erzählt mein aufgeräumtes Gegenüber, die ja an sich schon völlig wertlos seien, hätten die Kommunisten so bedruckt. Sie gingen überall von Hand zu Hand. Und dann erzählt der Herr Abgeordnete - sozialdemokratische Abgeordnete - lauter Ebertwitze, die heute so ständig sind, wie früher Mikoschwitze. "Wisse Sie," fragt er, "warum Ebert sein Reitpferd abgeschafft hat?" Nee, keine Ahnung. "Weil es zwar mit allen Vieren auf dem Boden der gegebenen Tatsachen steht, aber fortgesetzt die Republik veräppelt." Ich schweige zu all diesen Witzen still, zumal, da sie teilweise strafbaren Inhalts sind, auch wenn ein Sozialdemokrat sie verzapft. Aber ich erinnere mich aus dem Geschichtsunterricht, daß dem großen französischen Umsturz auch eine Wolke von Witzen, Satiren, Pasquillen voranflog.

Es riecht schweflig in Berlin, wie wohl auch im Reiche.
18.Oktober 1923 (Donnerstag)


8

Total meschugge - Brotpanik - Das verödete Weinrestaurant - Spanische Millionäre von Deutschlands Gnaden - In der Schloßküche - Der Hundeknochen - Schleich und die W.-W.-Damen.

Vor zehn Jahren lachte man Tränen über den exzentrischen Kapellmeister eines Berliner Krachlokals mit viel Stimmung und großem Bierumsatz. Der langmähnige, schlenkrige Gesell nannte sich Mr. Meschugge. Jetzt brauchen wir ihn nicht mehr, denn wir sind allesamt selber meschugge. Alles rennt und schüttelt die Mähne und schleudert die Arme. Eine Hausfrau schreit auf: "Ich weiß immer noch nicht, wieviel Krankenkassenbeitrag für unser Mädchen bezahlt werden soll, vorige Woche waren es 18 Millionen! Was, du weißt es auch nicht? Wozu habe ich einen Mann? Die Minna steht schon seit Stunden nach Brot, ich habe inzwischen alle grobe Arbeit im Hause gemacht, jetzt kriegt niemand Mittagessen, wenn ich noch zur Krankenkasse laufen muß! Was, ich soll sicherheitshalber 18 Milliarden hinschicken? Seid ihr alle meschugge geworden?"

Aber ja doch, natürlich sind wir alle meschugge. Die Straße dient dem Verkehr. Wer weitergeht, wird erschossen. Ich habe eine Vorladung ins Stadthaus bekommen, Zimmer 23, Stralauer Straße, wo ich 115 Millionen zuviel bezahltes Geld zurückerhalten kann. Aber die Straßenbahnfahrt kostet für die Doppelstrecke 1600 Millionen. Oder ich laufe entsprechend Stiefelsohlen ab und verliere zwei Stunden Arbeitszeit. Ich will den Rest meines Guthabens bei der Bank abheben. Da erfahre ich, daß ich noch eine erhebliche Summe zuzahlen muß, da die Verwaltungskosten des Restes mehr betragen als er selber. Aber ich habe doch seit einem Jahr von den Papieren keine Dividende abgehoben? Da lachen die Bankjünglinge wie irrsinnig. Noch zeh, zwanzig Pulte weiter wird mit Fingern auf mich gewiesen. "Da ist einer, der spricht von Dividende; meschugge, total meschugge!" Wer, ich? Oder sie? Oder der Staat? Vom Finanzamt habe ich gerade eine Zuschrift bekommen, in der mir, wenn ich nicht alsbald eine verlangte Auskunft gebe, 10 000 Mark Strafe angedroht wird. In ganz Berlin kann ich aber keinen Zehntausendmarkschein mehr auftreiben. Er hat den Wert eines fünfzehntausendstel Pfennigs! Dafür wird heute ein Aktenstück geschrieben! Das ist auch die Taxe, wenn man verbotenerweise im Flur eines Schnellzugwagens raucht. Eine rauchbare Zigarre aber kostet 3 Milliarden. Ich habe noch welche bis Ende November, mehrere Kistchen voll, aus einer Zeit, wo man noch nicht mit Milliarden rechnete und wo ich noch buchstäblich Kettenraucher war. Alle Welt rennt sinnlos hin und her und rechnet und zählt Papierhaufen und ruft: "Jetzt kommt das Chaos!" Ich habe noch Zeit. Über mir schlägt das Chaos erst Ende November zusammen. Dann werde ich Mr. Meschugge in irgendeinem Kabarett.

Einstweilen bin ich noch Publikum und laviere als Zuschauer in dem meschuggenen Berlin. Früher war die hauptstädtische Verrücktheit doch nur tolle Lustigkeit. Heute mischt sich Angst darein. Eben erst haben wir die Brotpanik überstanden. In aller Herrgottsfrühe schon standen täglich Frauen aus dem Volk vor den Bäckerläden Schlange und hamsterten, was sie kriegten; andere, später kommende mußten dafür hungern, obwohl in dieser Woche in Berlin mehr als das doppelte der nötigen Brotmenge gebacken worden ist. Angstverzerrt sind nun schon die Gesichter der Kellner in den großen, seit einiger Zeit ganz fremdenleeren Weinrestaurants. Wir haben Besuch von Verwandten aus dem Auslande. Wir sollen mit den Verwandten mal auswärts speisen. Gut. Also Rheingold. In dem Riesensaal der Weinabteilung, in dem früher mächtiges Leben war, sitzt abends um 8 Uhr noch kein einziger Gast. Wir marschieren in voller Kriegsstärke hinein. Wir sind unserer neun. Elf dienstbare Geister des Rheingolds starren auf das Wunder. Die Musikkapelle stürzt an ihre Instrumente. Dem Kellner, der uns bedient, zittern, als er nachher das Geld einkassiert, die Hände ob des unverhofften Glücks. Es fehlt nicht viel und er begleitet uns dienernd bis auf die Straße. Von seinen zehn Kollegen haben inzwischen, so gegen 9½ Uhr, vielleicht drei oder vier je ein Pärchen an einen Tisch bekommen. Und dabei schwimmen wir doch alle in Millionen und Milliarden. Die ganze Welt weiß es. In Granada hängt an der Bar San Regio draußen ein Schild:

Todos los clientes

de esta casa

 pueden ser millionares,

auf deutsch: Alle Kunden dieser Bar können Millionäre werden! Schmunzelnd gehen die Spanier hinein, trinken ihr Gläschen, bezahlen eine Peseta und - bekommen gratis einen echten deutschen Millionenschein dazu ausgehändigt. Ja sogar drüben in den afrikanischen Presidios spielen Berber und Araber und Neger lachend mit den deutsch-republikanischen Millionen. Wir sind zum Spott der Welt geworden.

Aber auch helfende Hände regen sich. Sogar - aus Wien. Als ich zu Weihnachten 1918 vom Kriegsschauplatz in Asien über Rumänien und Ungarn, wegen der drohenden Internierung immer mit schußbereiten Maschinengewehren, mich mit unseren Offizieren und Mannschaften glücklich bis Österreich durchgepaukt hatte, zuletzt noch nach einem Nachtgefecht im Schneegestöber gegen Tschechen an der March, da überkam mich in Wien zum ersten Male das Grauen. Halbverhungerte umstanden unseren Zug und bettelten; bettelten ohne viele Worte, eigentlich nur mit stillen Dulderblicken. In Ungarn waren alle Leute speckfett gewesen. Hier in Wien schlotterten Fetzen um Gerippe. Einer entsetzlich hohlwangigen Frau gab ich ein Stück Brot und ein paar Scheiben Speck. Sie stammelte: "Sö san brav!" Nie hätte ich seither geglaubt, daß die Wiener, die 1919 und 1920 und 1921 noch ganz gewaltige Lebensmittelsendungen aus Deutschland als Liebesgabe bekommen haben, sich einst dafür erkenntlich zeigen könnten. Einem noch ärmeren Berlin gegenüber. Und nun ist es doch so weit. Am schlimmsten haben es bei uns ja die Herabkömmlinge aus sogenannten besseren Kreisen, und gerade für sie ist jetzt die große Küche in dem alten Spreeflügel des Berliner königlichen Schlosses von den Wienern eingerichtet worden. Ach, wie freundlich, wie freudig das aussieht! Vor kurzem waren alle diese großen Räume mit dem kirchenarig hohen Gewölbe noch so verwahrlost und öde, wie die Revolution eben auch hier "ganze Arbeit" gemacht hatte, aber Frau Dr. Schwarzwald aus Wien hat mit ihrem Stab von Helfern und Helferinnen in unglaublich kurzer Zeit den Schmutz und den Trödel hinausgebracht, für einen neuen hellgelben Anstrich des Gewölbes gesorgt, der sich leuchtend von den Kachelwänden unten abhebt, und dann alle Paneele und die weißgedeckten kleinen Speisetische selbst verschwenderisch reich mit Blumen in Töpfen und in Vasen ausgestattet, so daß man nicht etwa den Eindruck einer Massenkantine, sondern den einer behaglichen Gaststätte hat. "Auf die nette Aufmachung kommt's doch auch an," sagt mir Frau Dr. Schwarzwald, "vom Essen allein bekommen zerdrückte Seelen keinen neuen Lebensmut!" In Zürich hat diese sprühend energische, kleine Frau mit den eifergeröteten Backen einst ihren Doktor gemacht (nachher war sie in Wien Direktorin der größten dortigen höheren Mädchenschule) und dabei die alkoholfreien Restaurants des Schweizerischen Frauenvereins kennengelernt, die einen mächtigen Eindruck auf sie machten. Ich kann mir schon denken, warum. Sie liegen so wundervoll. Rundum an den schönsten Punkten der Stadt. Für 25 Rappen kriegt man da eine gute Tasse Schokolade. Das Mittagessen aber, zu dem namentlich kleine Züricher Ladenmädchen strömen, finde ich zwar billig, doch herzlich schlecht. Das Essen in der Berliner Schloßküche, das unter der Leitung eines Wiener Chefkochs zubereitet wird, ist dafür ganz vortrefflich. Schon der Duft der kräuterreichen Bohnensuppe gestern war berückend; dann gab es einen Fleischgang mit Rotkohl und Kartoffeln; zuletzt einen Pudding. So mit Suppe, Hauptgang, Nachspeise hat man es hier an allen sechs Wochentagen zwischen 12 und ½5 Uhr; ein wirklich gutes, aber verarmtes Publikum sitzt behaglich und sättigt sich und schmaust wie in guter alter Zeit, ein Publikum, das sich heute daheim wohl nur abwechselnd Pellkartoffeln, Heringskartoffeln, Tunkekartoffeln gönnen kann. Ich taxiere die Leute auf etwa zur Hälfte alte Akademiker. Dazwischen auch ihre Frauen, Töchter, Söhne. Ich entdecke nur zwei bekannte Gesichter, die bei meinem Anblick wegschauen: das eine gehört einem ehemaligen Filmdirektor, das andere einem ehemaligen königlich bayerischen Hofbuchhändler. Sie brauchten nicht wegzuschauen. Es ist keine Schande, hier zu sitzen. Wer hier sitzt, der ist - Gast, und es ist alles bezahlt. Ich selbst habe, überwältigt von dem Schönen hier, die letzte Reserve, 2 Dollar, die eigentlich zu anderen Zwecken von mir aufgespart waren, aus der Brusttasche genommen und mir dafür hier eine solche Einladungskarte erstanden, die nun einem lieben Menschen etwas Freude machen soll. Er kriegt das Kärtchen, auf dem steht, daß er einen Monat lang in der Schloßküche mein Gast sei. Die alten Schmisse auf seiner Backe glühen. Er hat keine richtige Wohnung mehr, sondern haust in einem Speicher im Keller, er hat kaum ein richtiges Mittagessen mehr, obwohl er, allerdings in einem ganz verarmten literarischen Unternehmen, noch heute seinen vollen Dienst tut. O, ich weiß so viele, denen ich noch solch ein Kärtchen schicken möchte; nur habe ich die vielen Dollars oder das entsprechende deutsche Papiergeld nicht. "Wie schön könnten die Amerikaner hier helfen, die hundertprozentigen," sagt mir Frau Dr. Schwarzwald, "aber für je eine Tonne Munition, die sie nach Europa gebracht haben, schicken sie jetzt höchstens 5 Kilo Liebesgaben, und auch die kommen doch meist nur von Deutschamerikanern!" Bei dem ganzen Unternehmen - es ist das vierzigste der rührigen Dame, die in Wien täglich 20 000 Menschen speist, daneben noch Schulen, Altershäuser, Ferienheime gegründet hat - wird infolge Wegfallens von Zwischenhändlergewinn, Kapitalverzinsung, Unternehmerrente so viel gespart, daß die Portion guten Mittagessens nur 400 Millionen Mark kostet; vor allem aber liegt es an der guten Organisation. Man hat nicht eine Speisekarte zur Auswahl, sondern einerlei Essen für alle. Man weiß auch genau, wieviel Gäste man täglich hat, so daß nichts übrigbleibt. Täglich essen tausend Menschen hier; im Sommer, wenn auch draußen auf der Terrasse an der Spree gedeckt werden kann, werden es täglich 2000 sein. Und Frau Dr. Schwarzwald hofft, daß die Berliner es ihr nachmachen, daß die "Österreichische Freundeshilfe" tatsächlich nur das erste Musterbeispile für viele weitere, ähnliche Küchen abgeben soll. Schon jetzt mehren sich die Wünsche. Jeder noch gutsituierte, anständig denkende Berliner möchte solche Gastkärtchen verschicken. Auch von Auslandsdeutschen kommt bereits Geld, dessen Verwendung sie der Leitung der Küche überlassen, falls nicht Berliner Bekannte ihnen Adressen von notleidenden geistigen Arbeitern aufgeben. Der große Geiger Fritz Kreisler steht als Gastkartenspender, glaube ich, an erster Stelle. Andere Stars stellen der Bühnengenossenschaft Plätze zur Verfügung. Auch ausländische Professoren und Studenten geben von Herzen. Ein dänischer Musensohn schreibt launig an die Frau Doktor: "Ich werde jetzt drei Monate nicht lunchen, geben Sie meinen Lunch einer deutschen Studentin, aber ich möchte gern, daß es eine hübsche ist." Ich komme nicht recht dazu, ruhig mit unserer Wiener Menschenfreundin zu plaudern. Sie muß bald hierhin, bald dorthin springen, ans Telephon, in die Suppenküche, in die Mehlspeisküche, durch die Speiseräume, an das Hauptbuch, zu irgendeinem illustren Besucher. Im Vorbeieilen tätschelt sie eines der blitzsauberen Wiener Mädchen, die hier bedienen, auf den Nacken und sagt: "Na?", weil das Madel untätig dasteht. Dem tut das aber selber leid. "I hob grad kane Gäst!" Übrigens will Frau Dr. Schwarzwald gar nicht Menschenfreundin oder Philantropin genannt werden. Sie sei nur Organisatorin. Und alles, alles, was sie sei und was sie könne, sagt sie mit leuchtenden Augen, habe sie nur von ihrem Manne gelernt. Das ist der bekannte ehemalige Sektionschef im Wiener Finanzministerium, der mit eiserner Energie die Stabilisierung der österreichischen Krone durchgesetzt hat. Jetzt ist er Leiter der Anglo-Austrian-Bank.

Natürlich erzählt man lieber vergnüglichere Dinge von Berlin, aber man muß auch in Notzeiten die Not wahrheitsgetreu schildern. Eben sitzt ein Freund aus Chemnitz bei mir, wo es doch auch, wie er sagt, Erwerbslose und Kurzarbeiter und Unterernährte gebe, aber einen so schauerlichen Eindruck von dem Verfall eines Volkes, wie er ihn hier aus knöchernen Gesichtern auf dem kurzen Wege vom Anhalter Bahnhof zu mir auf den Straßen gehabt, gewinne man anderswo doch noch nicht. Ich weiß, ich weiß. Das braucht man unsereinem gar nicht zu erzählen. Ein Fräulein Doktor von etwa 45 Jahren in Berlin, die Tag und Nacht Kranken hilft, neben ihrer Praxis noch ohne Dienstmädchen den eigenen Haushalt führt und selbst kocht, hat als einzigen Genossen und Wächter einen Hund, den zu ernähren ihr "etwas schwer fällt", wie sie sagt. Wir schicken ihr den Knochen von unserem Sonntagsbraten für den Hund. Am nächsten Tage besuche ich gegen Mittag im Vorbeigehen dieses Fräulein Doktor: auf ihrem Speisetisch dampft ihr Essen, eine Suppe, und darin unser Hundeknochen. In Gedanken habe ich dieser äußerlich etwas herben und leicht aufbegehrenden Ärztin mit dem rührenden Helfertum und ihrem in aller Not aufrechten deutschen Sinn vielhundertmal die Hand geküßt: Du Liebe, du Gute, wenn die verfluchten sozialdemokratischen Krankenkassen mit ihrer Arztschinderei einmal ganz versagen, dann springen wir ein, dann sorgen wir mit dem Letzten für dich!

Es ist ein wundervoller Idealismus, der trotz allem unsere akademisch Gebildeten durchloht. Wenn doch davon unsere Berliner West-West-Damen nur eine Ahnung hätten! Die haben aber im Durchschnitt nur für Kleider und Diners Interesse. Professor Karl Ludwig Schleich, mein alter Bekannter aus den Strindberg-Jahren, spricht einmal, weil er beim Essen in einem "vornehmen" Hause von Berlin W danach gefragt wird, vom Fisch über den Braten hinweg bis zum Käse über die Fließsche Rhythmenlehre.

"Gott, wie schrecklich!" sagt die eine Dame.

"Nu wenn schon!" sagt lächelnd die andere.

"Meine Sie damit die Relativitätsverjüngung?" sagt die dritte.

Seitdem hat Schleich bis zu seinem fröhlichen Abscheiden es aufgegeben, jemals noch bei Tisch in Berlin W. Vorträge zu halten.
26. Oktober 1923 (Freitag)


9

November-Jubiläum - Neue Abzählverse - Das Geschäft erliegt - Seidenstrümpfe im Bankhaus - "Original-Celly-de-Rheydt-Ballett" - Theater - Bei Menzel - Ebert zu Pferde.

In der kommenden Woche können diejenigen, die es angeht, den fünften Jahrestag der herrlichen neuen Zeit feiern. In Sachsen und Thüringen ist dies ja sogar gesetzlich vorgeschrieben. In jeder Schule erscheinen da die armen unterernährten Kinder zu dem amtlichen Festakt, und da kann der Herr Lehrer ihnen erzählen, wieviel elender wir es früher unter der verruchten Hohenzollernherrschaft hatten. Auch in Berlin, wo fast durchweg die Schulandacht abgeschafft ist, könnte man an diesem 9. November vielleicht so etwas wie einen revolutionären Gottesdienst, ein Fest des Wesens der höchsten Vernunft, begehen. Dann stolpern die innerlich erhobenen Kleinen hinaus zu ihrem Ringelreigen und zählen ab:

Eins, zwei, drei, vier, fünf Millionen,
Billionen, Trillionen,
Meine Mutter, die kauft Bohnen,
Zweiundzwanzig Quadrillionen
Kost' das Pfund
Und
Ohne Speck
Bist du weg!

Den Berliner roten Schulpäpsten müssen ja die Augen leuchten, wenn sie dergleichen hören. Welch ein Fortschritt! Vor fünf Jahren stammelten die Kinder im ersten Schuljahr nur im Zahlenkreis von 1 bis 10, während sie heute mit Milliarden nur so um sich werfen und , falls es Großstadtkinder sind, sogar ganz mystische Dezimalbrüche zu deuten verstehen, wie man sie heute fettgedruckt in den Zeitungen liest, etwa: New York 0,000 000 000 2. Großartig, nicht? Aber der Humor der Erwachsenen in der Reichshauptstadt ist derweil längst zum Galgenhumor geworden. Vor fünf Jahren hörte man in Berlin, wenn irgendwo die Frage nach dem Befinden erscholl, die hergebrachte Antwort: "Na so - durchwachsen!" Heute dagegen immer wieder folgendes Zwiegespräch:

"'Tag, wie geht's Ihnen?"

"Ach, mir geht's mies mal Index!"

Der Schrei nach dem Wertbeständigen verstärkt sich täglich. Aber das wertbeständige Geld wird uns - ich lasse mich ruhig auf diese Prophezeiung festnageln - zunächst eine starke Verteuerung und eine fürchterliche Arbeitslosigkeit bringen. Die ersten Ratten haben das sinkende Schiff bereits verlassen: es sind nur noch so wenige Ausländer in Berlin, daß das staatliche Opernhaus, weil's der Mühe nicht mehr lohnt, keine 400 v.H. Aufschlag mehr von ihnen erhebt, sondern wieder zum Einheitspreis für alle Besucher ohne Paßprüfung zurückgekehrt ist. Die Dolmetscher in den großen Kaufhäusern sind überflüssig geworden. Wertheim verkauft nur noch zu ebener Erde und im Zwischengeschoß, alle übrigen Stockwerke sind ausgeräumt und abgedichtet, damit man Heizungskosten spart. Viele kleine Läden und auch Gastwirtschaften haben den Kampf ums Dasein schon ganz aufgegeben; in die leeren Räume ziehen für wenige Wochen die "Kommissionsgeschäfte" ein, die Aufkäufer von Hausrat und allem noch entbehrlichen Kram, und dann ist überhaupt Schluß, wenn wir nicht vorher - mit der Politik dieser letzten fünf Jahre Schluß machen und wieder solide altväterisch werden.

Hie und da gibt es freilich noch schimmernde Oasen in dem grauen Elend. In einer kleinen Privatbank im Westen entsteht plötzlich eine große Stockung. Kein Mensch arbeitet mehr über dem Hauptbuch oder am Scheckschalter. Das macht: ein Hausierer mit seidenen Strümpfen ist erschienen. Sie schillern in allen Farben, sie leuchten, sie spannen sich prall und doch durchsichtig über weiße Hände und sie sehnen sich nach Herrenknöcheln und Damenwaden. 55 Milliarden die Socken, 65 die Strümpfe, englisch lang. Geschenkt, was? Das ganze Personal, das doch an Billionen gewöhnt ist, steht um den Hausierer herum und kauft. Am Tage zuvor bin ich bei einer Arbeitslosenkontrolle im Norden gewesen, dort habe ich wirklich viel augenscheinliche Not gesehen, aber nach der Auszahlung der Erwerbslosenunterstützung um Mittag strömen die Jugendlichen, sowie sie ihr Geld bekommen haben, in die beiden Tabakläden nebenbei und kaufen sich reichlich Zigaretten. Dazu mehren sich noch immer, ein Zeichen, daß wir aus der revolutionären Epoche noch nicht heraus sind - die sogenannten Natura-Balletts, und überall an den Anschlagsäulen und in dem sonst immer bescheidener werdenden Anzeigenteil der Zeitungen stoßen wir auf den Namen Celly de Rheydts, der allerersten unserer nachrevolutionären Enthüllungsdamen. An mindestens zwei Stellen tanzt sie abends "persönlich", an mindestens dreien das "Celly-de-Rheydt-Ballett" ohne sie, und an einer sechsten oder siebenten Stelle wird das "Original-Celly-de-Rheydt-Ballett" von dem aus der Firma ausgeschiedenen Gatten dieser nichts weniger wie heiligen Cäcilie, dem Herrn "Oberleutnant" Alfred Seweloh, angezeigt. Der Name ist nachgerade so abgegriffen wie - seine Trägerin.

Ein bißchen wirkliche Kunst gibt es trotzdem noch in Berlin. Statt der zuckersüß-schalkhaften Minna von Barnhelm, wie wir sie sonst gewohnt waren, stellt die immer eigenartige Agnes Straub im Staatstheater uns ein saftig-derbes Landfräulein aus der galanten Zeit des tiefen Decolletage hin, und im Renaissance-Theater am Charlottenburger Knie können wir den Film-Fridericus, Otto Gebühr, als versoffen-sentimentalen russischen Leutnant in Leonid Andrejews Studentenliebe bewundern. Lessings Lustspiel trägt sich selbst, auch wenn es so vergröbert wird, wie diesmal im Hause Jeßners. Andrejews melancholische Nitschewo-Komödie aber wäre nur quälend, wenn nicht dieser Prachtkerl Gebühr darin spielte.

Nur kann nicht mehr jedermann die Eintrittspreise bezahlen, die in den Berliner Theatern jetzt bis zu 60 Milliarden gehen, in der nächsten Woche vielleicht bis zu dem Doppelten davon. Aber selbst dem Ärmsten bleibt doch noch, an zwei oder drei Tagen der Woche, der freie Eintritt in die Museen. Es ist ergreifend, diese Sehnsucht und ihr Gestilltwerden etwa in den Menzelsälen der Nationalgalerie zu sehen. Dieser ragende Kunsttempel hat sich seit 1918 vieles Schönen entäußert. Das wundervolle Bild von der Heilung eines kranken Kindes durch Jesum fehlt jetzt in dem Treppenhause. Das Religiöse und auch das Nationale paßt angeblich nicht mehr in unsere Zeit. Wie eine scheue wilde Katze kauert da die bräunliche Mutter im Staube an der Mauer, das kranke Kind auf dem Schoß, und wie der Heiland sich über die Fieberstirn des Kleinen beugt, da bricht ein ergreifender Strahl, aus Zweifel und Hoffnung geboren, aus den Augen der jungen Frau. Solch einen Eindruck vergißt man nicht, auch wenn das Bild seit Jahren in irgendeinem Keller weggepackt ist. Auch das Reiterbild Wilhelms II. aus dem Vorraum ist verschwunden, wie überhaupt vieles "Militaristische". An Menzel hat man sich allerdings nicht herangewagt. Die Tafelrunde von Sanssouci ist noch da, auch das Flötenkonzert, ebenso die Abreise König Wilhelms I. ins Feld 1870. Dazu noch die Fülle der übrigen Gemälde, Zeichnungen und Skizzen aus dem Füllhorn dieses Begnadeten und Unbeirrbaren und so eisern Genauen, vor dem die moderne Schludrigkeit erblassen muß. Vor dem Familienbild, auf dem man selbst das Fädchen sieht, das um den Zeigefinger der häkelnden Base läuft, stehen Entzückte. Vor dem kleinen Ölgemälde "Heinrich VIII. tanzt mit Anna Boleyn", das in jedem Strich dramatische Menschengeschichte und feinste Charakterisierungskunst ist, ruft einer: "Nun weiß ich erst, wo Lubitsch seinen Film her hat, das ist ja das Urbild von Jannings und Henny Porten!" Vor den Architekturstudien, vor den Entwürfen zu dem Armschwung des Arbeiters im Eisenwerk, vor der Skizze des gähnenden Coupégenossen drängen sich die Leute. Sie suchen Kunst. Und sie finden ein Stück erhebenden Altpreußentums, sie finden den kategorischen Imperativ der Pflicht und der Pflicht zur Wahrheit bei diesem Maler, der mehr war, als bloß der Verherrlicher Friedrichs des Großen. Er hat ja noch mitten unter uns gelebt, noch in diesem zwanzigsten Jahrhundert. Die putzige "kleine Exzellenz" hat mit uns bei Josty oder drüben in der Weinstube so oft gesessen. Der alte Herr galt Nichteingeweihten als unglaublicher Vielesser. Er bestellte sich abends regelmäßig drei Fleischgänge mit Gemüse und Kartoffeln, die der Kellner gleichzeitig auf seinem Tisch vor ihm aufbauen mußte. Wir, die wir Menzel kannten, wußten freilich, daß es seine einzige Tagesmahlzeit war, nachdem er vorher seine zwölf Stunden durchgearbeitet hatte, ohne zu essen; außerdem wußte er doch, was die gute Sitte der alten Zeit verlangte und aß nie einen Teller leer, sondern ließ den "Artigkeitsbissen" zurück, mitunter die Hälfte der Portion. Und wenn es dann auf die große Sommerreise ging, dann sah dieser Dreikäsehoch Menzel richtig aufgeplustert aus, denn in allen acht Taschen des Mantels steckte je ein dickes Skizzenbuch. Man hat Künstlern oft Paläste und Juwelen und Orden und Titel geschenkt, aber noch nie ward einer so geehrt wie dieser. Als er einst, nach Sanssouci geladen, oben auf der Terrasse in seinem borstigen hohen Zylinder erschien, rief ein friderizianisch uniformierter "langer Kerl" die Wache heraus, und der wachhabende Offizier senkte das Sponton vor dem illustren kleinen Gast: dieser Offizier in der alten Tracht war Wilhelm II.

Von solchen und anderen Dingen wird in den Menzelsälen der Nationalgalerie geflüstert. Die Besucher haben zumeist ziemlich saubere, aber sehr vorsichtig gebürstete gute Anzüge, denn diese Anzüge haben wohl bald schon ein Jahrzehnt hinter sich und müssen noch ein weiteres halten. Nur selten verirrt sich hierher irgendein Protz, der in den Kriegs- und Revolutionsjahren "immer richtig gelegen hat", denn der versteht unseren Menzel nicht, kaum den Böcklin in den Sälen auf der anderen Seite, sondern höchstens Makart und allenfalls Feuerbach. Außerdem geht er nicht hin, wenn es nichts kostet; er beehrt die Museen nur an teuren Elitetagen.

Wer ganz umsonst etwas wirklich Schönes sehen will, der muß heute sehr früh aufstehen. Neulich erzählte ich hier den Scherz von dem Reitpferd, das unser neuer Landesvater Fritz Ebert verkauft habe. Natürlich hat er keins verkauft. Sondern eins gekauft. Und allmorgendlich von 6 bis 7, wo man Landeskindern, die spotten könnten, noch kaum begegnet, übt er in Begleitung seines getreuen Meißner im Tiergarten das majestätische Reiten.
1. November 1923 (Donnerstag)



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