"Rumpelstilzchen"

"Bei mir - Berlin!"
(Jahrgangsband 1923/24)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1924

Glossen 16 - 18
20. Dezember 1923 bis 3. Januar 1924


16

Stille Nacht, heilige Nacht - Verhungert - Kleinrentnermesse im Herrenhaus - Pressefest - Was jetzt in der Hofloge sitzt - Kronenadler und Fachmann - Presbers "Sennora" - Kapitän Pochhammer spricht.

Stille Nacht, heilige Nacht . . .

Ein paar Mädchen, die aus der Kleinkinderschule kommen, zirpen es.

Aber die Berliner Nächte sind unheilig und voll Unrast. Wer hat, der hat; und versucht im tollen Großstadtwirbel zu vergessen, was einen Mißklang in die Akkorde der Lebenslust bringt. Die große, heilige Stille breitet sich nur dort aus, wo Müdigkeit bis an den Tod das Lärmen verbietet. In Jahr und Tag sind in Berlin "offiziell" 103 Personen an Hunger gestorben. Nicht offiziell noch mehr. Aber still, ganz still. Wenn man einen solchen Menschen, kurz bevor er verscheidet, noch in das Krankenhaus bringt, dann ist er für die amtliche Statistik da. So jene grauhaarige alte Lehrerin, die seit Wochen buchstäblich nichts mehr außer Kartoffelschalen gegessen hatte und nur noch 62 Pfund wog. Die anderen sterben in Bausch und Bogen an Herzschwäche. Das ist die "offizielle" Bezeichnung für den Hungertod, der in Berlin häufiger ist als anderswo, weil hier alles so im Verborgenen sich abspielt und nicht der Nachbar den Nachbar kennt.

Eine Anzahl von Leutchen, die noch nicht verhungert sind, halten jetzt in den Wandelgängen des Herrenhauses, auf der Kleinrentnermesse, ihren Kram feil. Eine Dame, die offenbar einst der allerbesten Gesellschaft angehört hat, sitzt vor einem großen Tisch mit viel altem Familiensilber, aber das ist eine große Ausnahme. Die meisten Standinhaber auf dieser Messe ordnen mit zitternder Hand nur Kleinigkeiten. Ein Blick, und man sagt sich: wenn sie wirklich alles verkaufen und gut verkaufen, so haben sie bestenfalls noch für zwei Monate zu leben. Da hat einer "unverkaufte Reste aus einer eingegangenen Buchhandlung", ein paar armselige meist ungebundene Exemplare. Ein anderer das kleine Marderkollier der verstorbenen Gattin, einen Smokinganzug aus besseren Tagen, ein Stück Nymphenburger Porzellan, einen Kaffeewärmer, einen Stock mit Elfenbeinkrücke, einen seidenen Klapphut, ein paar lächerlich rührende Bleistiftzeichnungen des gefallenen Sohnes. Mit zagenden Blicken wird man verfolgt, wenn man die Reihen entlanggeht. Manch alter Herr, manch verschrumpeltes Dämchen nimmt sich auch den Mut und hält einen fest und preist die Sachen an. Man könnte sich doch zu Weihnachten, ach, zum erstenmal seit langer Zeit, ein Viertelpfund Gehacktes kaufen, wenn man dies und das hier loswird. Auf einem Tisch liegen ein paar vergilbte Bücher und - sieben ebenfalls vergilbte Zigarren, strohtrocken und mit allen Anzeichen der Altersschwäche. Ihr Besitzer hat sie, wohl schon 6 oder 8 Jahre lang, immer noch aufbewahrt für "den" Tag oder die heilige Nacht, da in Deutschland sich wieder alles wandelt und man mit anderen Erlösten von dem fürchterlichen Alp aufatmen kann. Aber der Hunger tut weher und weher; und der Erlös für die sieben Zigarren könnte doch ein ganzes Brot ergeben.

Stille Nacht, heilige Nacht . . .

Die Vertreter der großen ausländischen Weltblätter in Berlin glauben an keine deutsche Heiligung. Sie sehen nämlich keine Stille. Berliner Zeitungen kommen mit Sportbeilage und Filmbeilage heute nicht mehr aus, sie führen auch noch eine Tanzbeilage ein, in der nicht nur im Plauderton, sondern auch leitartikelmäßig ernst über die Physiologie, Psychologie, Soziologie, Biologie, Morphologie des Tanzes geschrieben wird. Alle die "wohltätigen Zwecke" sind ja im übrigen bei unseren Festen nur Bemäntelung für das Vergnügungsbedürfnis des Kurfürstendamms. Eine Gruppe von fünf fremden Weltblattvertretern sitzt neulich, wie fast alltäglich, im stillen oberen Stock des Café Josty beisammen und berät, ob man zu dem Fest des Vereins Berliner Presse in den Reichstag gehen soll.

"Eintrittspreis 30 Mark? Das können wir uns nicht leisten!"

"Was, über anderthalb Pfund? Und dann noch Wein und Imbiß?"

"Nein, solche Feste müssen wir - den armen Deutschen überlassen!"

Es ist beschämend, ein solches Gespräch mitanhören zu müssen. Und nun ist man selber mit seinen Damen da (mein Gott, es ist doch für die Witwen und Waisen und die Veteranen der Feder!) und hört Walter Kirchhoff und Mafalda Salvatini in dem märchenhaft imposanten Kuppelsaal der Wandelhalle singen und Boris Schwarz geigen, und man bekommt im Plenarsaal eine flammende Rede Stresemanns vorgesetzt, und in den Couloirs mit ihren vielen Klubsesseln und dem warmen roten Teppichbelag promenieren elegante Toiletten, und schließlich wiegen sich auch noch Pärchen im Tanz. Ein seltenes Bild gesellschaftlichen Frohsinns in pompösem Rahmen. Nur ist es nicht mehr die versunkene Zeit von ehedem, denn es fehlt jegliche Uniform, die damals alles so farbig machte, und die Smokings der Herrenwelt mit samt Hemdbrüsten sind eine Modegeschichte der letzten 10 Jahre. Auch ich will gestehen, daß ich noch keine schwarze Hemdknöpfchen (Mode von Ende November 1923) trage und auch sonst nicht mehr so ganz mitgehe. "Legt mir mal den Lebenslänglichen heraus!" sage ich zu Hause, wenn ich abends den Smoking brauche. Einen ganz modernen hat nur unser verehrter Landesvater Fritz Ebert, aber was für einen Kragen dieser unser tonangebender Wales-Prinz trägt, läßt sich nicht feststellen, da sein bedeutendes Kinn unmittelbar auf der Brust sitzt. Und rings auf hohem Balkone die Damen in schönem Kranze. In der Hofloge, in der ich einst, 1911, den Kronprinzen so energisch nicken und Beifall klatschen sah, als der Abgeordnete v. Heydebrand den kommenden Krieg voraussagte und sein "England ist der Feind!" hinausschmetterte, haben sich offenbar die höchstgestellten Damen des neuen Preußens versammelt. Einige haben jedenfalls vom Ausschuß große Blumensträuße erhalten. Ihr Anblick gibt den Göttern Stärke. Man beäugt sie durch das Glas und freut sich an einer, die ganz schlicht erschienen ist, und lächelt über andere, die ihre nach 1918 erworbenen Juwelen zeigen. Eine von den Damen ist vor zwanzig Jahren noch Servierfräulein gewesen. Zwei andere waren jahrelang Mädchen für alles.

Es ist wie ein Märchen. Timpe te, timpe te, Fischlein in der See, meine Frau möchte gern Kaiserin werden. Eine wunderbare Zeit. Nur müßten nicht so viele daneben verhungern.

In unseren Ministerien hungert man noch nicht, denn "abgebaut" werden nur Berufsbeamte, nicht die vom Parlament gewählten Größen. Aber Sorgen hat man auch hier. Früher hörte ich leitende Männer darüber klagen, daß das Herumsitzen im Parlament sie oft von der Arbeit abhalte; heute bedauern die neuen Größen, daß die Arbeit sie manchmal von dem Herumsitzen im Parlament abhält. Sie alle können glänzend paralmenteln. Die Aktenarbeit aber wird ja vorbereitet; und wenn man selber nicht fremdwortsicher ist, so läßt man sich eben eine Sekretärin mit Gymnasialbildung halten. Aber was es sonst noch für Sorgen gibt! Da veranstaltet der Republikanische Jugendbund Inspektionsgänge durch Berlin, um auf monarchische Embleme zu fahnden. In dem schmiedeeisernen Gittertor eines preußischen Ministeriums, dessen Portefeuilleinhaber noch dazu Sozialdemokrat ist, findet man zu heißer Entrüstung einen Adler mit Krone und Zepter und Schwert. Beschwerde an das Ministerium! Ein Geheimrat, der Kunstverständnis hat, kriegt sie zur Begutachtung und schreibt, die Entfernung der bisher gar nicht aufgefallenen Hoheitszeichen werde in dem Kunstgitter auffallende Löcher hinterlassen und "das ästhetische Empfinden" verletzen. Darunter aber setzt der Minister, der in seinem Zivilberuf früher Schlosser war, die Entscheidung:

"Durch autogene Schneidemaschine wird das ästhetische Empfinden des Adlers nicht verletzt; ich bin Fachmann!"

Schade, daß man solche Fachleute im nachnovemberlichen Deutschland ihrem eigentlichen Handwerk entzogen und in Ministerwohnungen installiert hat. Oder auch nicht schade. Denn - ich will nicht ungerecht sein - in der neuen Stellung tragen sie zur Erheiterung der Umwelt und dadurch zur Gesundung des Volkes sehr viel bei. Die Geheimräte, diese meist bei ihrem popligen Gehalt etwas ausgetrockneten Gesellen, können sich ja das Lachen kaum verbeißen, wenn es eine Ministerialberatung gibt. Im Amt ist es lustig. Nachher zu Hause ist Schmalhans Küchenmeister, und außer dem Hause die übliche, großstädtische Lust zu suchen, ist für diese Herren ja meist schon wegen der Kosten ausgeschlossen.

Es sind auch immer noch genug andere Leute da, die jetzt etwa in die allerletzten Operetten gehen, um sich schnell noch ein paar Schlager einzusummen, mit denen man dann am Christabend im trauten Familienkreise brillieren kann. Womöglich noch, ehe der Rundfunk sich der Sache bemächtigt hat und sie drahtlos in alle Häuser krächzt. Ein Jahr lang hat man im Tenor und im Sopran, vom Orchester und vom Klavier, vom Grammophon und vom Leierkasten ewig morgens und abends den Rat gehört: "Laß se wandern, laß se wandern!" Nämlich: wenn du noch eine Braut hast und du siehst sie mit 'nem andern. Seit vorgestern abend ist nun die Ablösung da. Zwar ist der neue Schlager melodiös ein Zwillingsbruder des alten, zwar ist es mit nur wenig Worten immer wieder dieselbe Geschichte, aber mit ungeheurer Begeisterung singen seit vorgestern alle Berliner Ladenmädchen:

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War die erste Frau 'ne Pleite,
Nimme 'ne zweite, nimm 'ne zweite,
Bricht die zweite dir die Treue,
Nimm 'ne neue, nimm 'ne neue,
Kannst du Nummer drei nicht leiden,
Laß dich scheiden, laß dich scheiden,
Heirat', heirat', heirat', heirat' noch und noch,
Einmal, einmal kommt die richt'ge doch!

So geht Berlin aus dem letzten Advent zur stillen Nacht, zur heiligen Nacht, und da im Deutschen Künstlertheater, das diese Operette "Sennora" herausgebracht hat, auf allen Korridoren die Noten des Schlagers gleich verkauft werden, verbreitet er sich schneller als Tollwut und Grippe und Veitstanz. Die Musik ist natürlich von Hugo Hirsch, der Text der Gesänge von Alfred Berg, das Libretto aber von - Rudolf Presber. Hört man diesen Namen, so nimmt man unwillkürlich Haltung an. Das ist doch der Mensch, der so reizend liebenswürdig "Von Leutchen, die ich liebgewann" in 31 Auflagen geplaudert hat, der Verfasser ungezählter schalkhafter Geschichten und formvollendeter Verse, der lächelnde Romanschreiber, der herzige Hauspoet der "Lustigen Blätter", der, auch das darf man nicht vergessen, während des Krieges, wo das vaterländische Gefühl auch über diesen Frankfurter Epikuräer kam, die von Lutz Ehrenberger wundervoll illustrierten "Brücken zum Siege" gedichtet hat. Aber die Kunst geht eben nach Tantiemen. Und so verfällt der geistvollste Mensch schließlich aufs Operettendichten. Zu Presbers Ehre sei es gesagt: In diese Operette kann man beinahe junge Haustöchter mitnehmen, wenn sie nicht gerade aus Hinterniedertupfenhausen stammen. Es kommt sehr wenig Zweideutig-eindeutiges vor, und wenn es vorkommt, dann ist es meist von Max Adalbert, dem Komiker, auf der Bühne extemporiert. Dieser Held heiratet gezwungen seine Hausdame, nachdem er sie im Schwips kompromittiert hat, läßt sich von ihr scheiden, heiratet seine Geliebte, läßt sich von ihr scheiden, heiratet wieder seine Hausdame, um demnächst sich wohl wieder scheiden zu lassen. Machen wa, wat? Famos, nich? Sehr gut gesehen ist der zweite Hauptspieler, ein junger Japaner, der die beiden Damen - und noch die dritte, einen lustigen Backfisch - umgirrt und umschwänzelt und beknabbert, wie ein Affe die Kokosnuß. Dieses Kerlchen ist naturgetreu im Berliner Westen aufgenommen, seine wohlgesetzten Worte sind echte Presber. Und doch, und doch: So etwas wäre etwa auf der englischen Bühne unmöglich. Die populärste englische Operette spielt in Japan, dort ist ein englischer Seeoffizier der Held, der mit der kleinen Mimose schäkert, es steckt viel zarte Poesie in dem ganzen schmetterlingshaften Gedicht, aber zuletzt kehrt der Engländer doch zu seinem Londoner Mädchen zurück. Hier aber in der "Sennora" - holt sich der Japaner das deutsche Mädchen. Irgendeines. Jedes ist bereit. Und weder Presber noch das Publikum empfinden die Prostituierung der Rasse. Man jubelt sogar, wenn der kleine Jiu-Jitsu-Mann einen deutschen Riesenkerl niederschlägt.

Es ist schwer, in solcher Zeit und in solchem Volke den nationalen Erwecker zu spielen. Manch einer versucht es mit heißem Bemühen, in nie ermattender Liebe zur Nation und im festen Glauben an ihren Wiederaufstieg. So einer ist der Kapitän Pochhammer, der überlebende erste Offizier eines unserer vor den Falklandinseln im Kampfe gesunkenen großen Kreuzer. Er singt das Hohelied der deutschen Treue bis zum Tode. Er harft die Heldensage vom Grafen Spee und seinen Söhnen. Er erhält die Erinnerung wach an das seegewaltige Deutschland, vor dem selbst England erzitterte. Seine Vorträge, von Orgelspiel und Lichtbildern begleitet, sind ein Fest. In Berlin hat die hier nicht allzu große Gemeinde der Aufrechten jetzt ein solches Fest gehabt. Wer den Kapitän Pochhammer, der schon vor Deutschen vieler Erdteile gesprochen hat, noch nicht kennt, der schreibe an ihn nach Groß-Lichterfelde und rufe ihn in seine Stadt oder in seinen Verein. Noch ist er die Stimme eines Predigers in der Wüste. Aber ehe der Verheißene kommt, müssen wir durch die Taufe hindurch.
20. Dezember 1923 (Donnerstag)


17

Der Mann als Hausfrau - Die bewußte Bowle - Christbaumnot - Liebesgaben aus allen Erdteilen - Der bessere Herr - Sanssouci im Schnee - Tischbestellung für Silvester - In der Verona-Diele - Johnnys Geburt.

Die Männer haben keine Ahnung. Irgendwann im Kriege haben sie irgendwo in fernen Landen etwas gut Zubereitetes gegessen und wollen das nun zu Weihnachten, wo sie Zeit für Allotria haben, mit wichtiger Miene ihrer Frau beibringen. Die steht dabei und wartet mit unheilverkündendem Lächeln. Echte Spaghetti, die, richtig gemacht, ganz anders schmecken als deutsche Nudeln, wie er sagt, hat "er" diesmal mitgebracht und setzt sie - in kaltem Wasser auf den Herd. Zu seinem lebhaften Erstaunen wird aus den Spaghetti dann Pappekleister. Ja, keine Ahnung haben diese Männer. Aber an mir - in aller Bescheidenheit sei es gesagt - ist eine gute Hausfrau verlorengegangen, seit ich im Kriege so häufig genötigt war, gemeinsam mit meinem Burschen zu kochen. Zwar lächelt auch meine Frau ganz impertinent. Immerhin habe ich auch diesmal vor Weihnachten wieder manchen Bekannten, mit dem ich bei Einkäufen für das Fest zusammentraf, gut beraten können. Oh, wenn ich da am Ladentisch mit der Sicherheit eines Sherlock Holmes erkläre: "Die Gans ist jung!", nachdem ich ihr zur Erprobung ganz leicht mit Daumen und Zeigefinger den Schnabel gebrochen habe, wundert sich die ganze Umwelt. Und die nette kleine Verkäuferin, die ich dabei vergnügt ins Auge fasse, hat meine Wort gar nicht etwa auf sich bezogen. Ebenso gesucht ist meine Konsultation bei der Auswahl von Hase und Karpfen und Truthahn, überhaupt bei allem, was so in diesen Tagen auf die oder jene Festtafel kommt, bis herab zu dem bescheidenen Heringssalat, der für manche Familie heuer das Höchste ist. Nur in den Tagen zwischen heute und Silvester reiße ich aus, in den dicksten Schnee hinein, weit weg von Berlin, um in 1500 Metern Höhe sicher davor zu sein, von allen Seiten - mündlich, telephonisch, brieflich - wieder befragt zu werden, wie "die bewußte Bowle" gemacht werde. Ach, Kinder, laßt das doch. Macht doch ruhig wieder euren alten Doktorpunsch oder was ihr sonst vom Großonkel her noch könnt, denn die bewußte ist nichts für abgebaute Beamte und auch die meisten übrigen 1923er Deutschen. Sie ist viel zu kostbar. Süß eingemachte Sauerkirschen samt Saft werden teelöffelweise mit ein paar Tropfen Angosture-Bitter so gemengt, daß die Süßigkeit von der Bitternis nicht übermocht wird, aber auch das Aroma dieses köstlichen Gewächses aus Venezuela nicht in der Süßigkeit ertrinkt. Der Rest ist - neben der Zuckerung je nach Geschmack - Burgunder und Schaumwein; vor dem Auftragen kann man noch etwa 5 Minuten lang ein paar Scheiben Apfelsine, mit Schale, aber ohne Kerne, darin schwimmen lassen und wieder herausheben. Wenn man statt einiger Teelöffel Kirschen einige Tassen davon und statt einiger Tropfen Angosture etliche Teelöffel davon nimmt, schadet es nichts, nur muß man dann auch die Flaschen Burgunder und Schaumwein entsprechend vermehren. Aber bitte: wer diese Bowle mischt, der bedarf nicht nur einer feinen Zunge, sondern muß auch stockschnupfenfrei sein, um den Duft richtig dosieren zu können.

Da Erinnerung angeblich das einzige Paradies ist, aus dem wir nicht vertrieben werden können, müßte ich in der Erinnerung an die weit über hundert Bowlenrezepte, die ich einst beherrschte, eigentlich in Glückseligkeit schwimmen. Aber das ist es ja eben: die Erinnerung selbst schwindet, wenn man aus Materialmangel sie nicht mehr praktisch unterstützen kann, und damit versinkt auch das Paradies. Alles Schöne aller vergangener Jahre zaubert uns nur immer wieder der strahlende Christbaum her, und diejenigen Berliner, die diesmal - einen hatten, konnten Gott und ihrer eigenen Fixigkeit danken. Händeringend und schweißtriefend sind manche Familienväter tagelang danach herumgelaufen, denn die Anfuhr war diesmal viel zu gering und fast jedes einzelne Bäumchen von erbarmungswürdiger Dürftigkeit. In früheren Jahren, selbst den bösesten, kamen von unseren Mittelgebirgen her diese strotzend grünen und, fast möchte ich sagen, rotbäckig gesunden Tannen, aber diesmal hatte die Behörde in ihrer unergründlichen Weisheit Höchstpreise für die verschiedenen Größen festgesetzt, so daß die Händler, um Fracht- und sonstige Kosten zu sparen, jämmerlich kleine Gewächse in der Mark Brandenburg selbst zusammengekratzt hatten, die vielfach wie dürres Reisig aussahen. Wer wie ich für ein 6½ Meter hohes Atelier oder wie andere Leute für einen Vereinssaal oder eine Kirche einen kräftigen Baum braucht, für den war nichts da, denn für den allerhöchsten Berliner Höchstpreis von 4,30 Mark holt niemand einen Waldriesen vom Harz nach Berlin. Natürlich hatten wir trotzdem auch diesmal unseren langen Kerl, sogar ganz billig, aber nur dank der besonderen Freundlichkeit eines Försters, der drei Meilen hinter Weihnachten wohnt, und der besonderen Energie und Schulterkraft eines mit dem Herholen betrauten jungen Hamburgers, der als Kind noch mit Gorch Fock gespielt hat.

Man schämt sich fast, so zu den Begünstigten zu gehören. Man tritt am Christabend ans Fenster, von dem aus man in den himmelhohen Großstadthäusern geradeaus und schräg gegenüber etwa vierzig Wohnungsfronten übersehen kann, und man stellt erschüttert fest, daß diesmal selbst in unserer "guten" Gegend etwa die Hälfte der Leute, die sonst stets ihren Tannenbaum hatten, darauf haben verzichten müssen. In einigen Fällen: weil sie keinen bekamen. In den meisten: weil sie das Geld für "Notwendigeres" brauchten. Tröstlich ist nur, daß wohl kaum eine Familie ganz ohne Bescherung geblieben ist. Schier unermeßlich reich sind in diesem Jahre die Liebesgaben namentlich von Auslandsdeutschen gekommen, dazu ganze Eisenbahnzüge voll von Lebensmitteln aus Österreich und der Schweiz. Das ganze größere Deutschland, "soweit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt", hat sich zu unerhörter Freigebigkeit zusammengetan. Auch alles, was im Auslande uns Freund ist. Ganz Unerwartetes ist da geschehen; schickt zum Beispiel eine ehedem junge Französin, die in ihrer Doppeleigenschaft früher einmal jahrelang in unserer Familie mit den Kindern gespielt und parliert hat und jetzt auf ihre alten Tage daheim "demoiselle de magazin" geworden ist, plötzlich ein großes Paket uns ins Haus, weil sie wohl glaubt, man hungere. Unsereins kann ja noch etwas abgeben, kann Ärmeren helfen. An dem jetzigen Weihnachtsfest aber mehr denn je, weil ich so viel zum Weitergeben aus dem Auslande erhalten habe oder den Wert für mich persönlich bestimmter Geschenke freundlicher Leser in anderer Form aus Dankbarkeit anderen Familien zuweisen kann. Der Weihnachtsmann hat sich diesmal für Rumpelstilzchen mindestens ein paar Sohlen an seinen Siebenmeilenstiefeln durchgelaufen. Kaum hatte er die neue Kiste Zigarren aus Valparaiso in Chile abgeliefert, da mußte er schon wieder das Päckchen Kaffee von den Lieben aus Koepang auf Timor herbeischleppen, dazwischen durch Deutschland rasen, um die Spickgans, die Schlackwurst, die Zigaretten, ja sogar eine kleine Nettigkeit für Frau Käte einzuheimsen, und im nächsten Augenblick wurde er dringend zu dem gleichen Zwecke nach Honduras und ich weiß nicht wo sonst noch hinzitiert. Aus Holland sind zehn Gulden (nach vorhergegangenen fünf) hergeflogen, damit ich dafür in der Schloßküche wieder eine Zeitlang irgendeinen verarmten Kopfarbeiter speisen lassen kann, und ein selbst in den bescheidensten Verhältnissen lebender deustcher Angestellter in Mexiko schickt mir einen Dollar für die bittere Not der Nichte Adolphs v. Menzel. Noch nie ist mir so überwältigend wie in diesen Wochen zu Bewußtsein gekommen, welch große Gemeinde in allen Erdteilen in zähem Glauben daran festhält, daß das geistige Deutschland nicht untergehen dürfe. Es wird auch nicht untergehen. Es gab eine Zeit, vor wenig mehr als hundert Jahren, wo ein Mann wie Fichte in der fürchterlichen Not des Vaterlandes meinte, sogar die deutsche - Sprache werde ausgerottet werden, und dennoch am Deutschtum nicht verzweifelte.

Man soll nur nicht immer nach Berlin und überhaupt nach unseren Großstädten starren und da her die Rettung erwarten, weil hier die Auslese der Nation über uns walte. So wenig das internationale Amüsierlokal Paris Frankreich ist, so wenig ist der internationale Rummelplatz Berlin Deutschland. Auch die hiesige Weihnachtsmischung von Rührseligkeit und Betrunkenheit ist ja nichts weniger als erhebend. Bei 8 Grad Kälte steht heute früh am Potsdamer Bahnhof ein - wie die Reporter zu sagen pflegen: anscheinend den besseren Ständen angehörender - Herr mit verglasten Augen und singt, rhythmisch dazu schwankend, voll inniger Überzeugung selig sein "Sti-hille Nacht, hei-lige Nacht" mit etlichen Schlucksern dazwischen, aber sonst ganz einwandfrei. Die Nacht ist längst herum, wir sind im ganzen Familienrudel angetreten, um in den hellen Tag hinein gen Sanssouci zu pilgern, zu der verschneiten Rokokopracht des Alten Fritz, um allda unseren vaterländischen Weihnachtsgottesdienst abzuhalten, wenn drüben von der Garnisonkirche her, wo der große Held unter der Standarte des Regiments Garde du Corps ruht, das Glockenspiel "Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren" erklingt. Aber der bessere Herr vor dem Bahnhof weiß nicht, daß es Tag ist in Berlin. Er wird es auch dann nicht wissen, wenn es einst über ganz Deutschland wieder im großen Sinne des Wortes tagt.

Es wird schon was Redliches im Zuspruch zum Alkohol geleistet. Im ganzen - das muß man den Ausländern immer wieder sagen - hat dieser Sorgenlöser oder Sorgenbringer (je nach dem, wer ihn konsumiert, und je nach dem, in welcher Menge er konsumiert wird) seine alte Stellung bei uns verloren. Wir verbrauchten vor dem Kriege in Deutschland, irre ich nicht, 2,62 Liter Alkohol im Jahre pro Kopf und jetzt nur 0,88 Liter. Nur die "alten" Deutschen tranken "immer noch eins". Aber im einzelnen und namentlich in den Großstädten wird noch arg über die Schnur gehauen. Gerade zu Weihnachten. Und dann erst recht zu Neujahr. Für den Silvesterabend werden schon jetzt überall Tische belegt, vom Hotel Esplanade an, wo für das trockene Gedeck 45 (!) Mark verlangt werden, bis zum Budiker Lehmann, bei dem man sich für 80 Pfennig einen Affen kaufen kann. Häufig äthert sich der Fremdling aus dem Reiche in der Hauptstadt nur deshalb so an, um die nötige Unternehmungslust nachher für das "dolle" Berlin zu kriegen, das er nüchtern zu inspizieren sich vielleicht schämen würde. Also auf zur Verona-Diele in der Wilmersdorfer Straße, wo die verkehrten Weibsbilder verkehren, die Weibsbilder, die eigentlich Mannsbilder sein möchten; so etwas wird einem "in der Provinz" doch nicht geboten. Da pilgern also die Ehepaare aus Chemnitz und Stralsund und Mülheim hin, um Sensationen zu erleben, und setzen sich auf die Estrade (Weinabteilung!) hin, um in das zwei Treppenstufen tiefere Parkett zu starren, in dem diese Weibsmannsbilder ihren Tee oder Grog trinken, ihr Monocle einklemmen, ihren Scheitel bürsten und den Schlips unter dem steifen Kragen ihres Jackenkostüms zurechtzupfen. Aber einen Weiberrock (ach, und durchsichtige Strümpfe!) haben sie alle, nur von der Taille aufwärts sind sie Mann; und - ein Spiegelchen in der Damenledertasche haben sie auch alle. Sie spielen nämlich fast alle nur Komödie für die Provinz. Sie leben von den Trinkgeldern für diese Produktion. Es ist eben alles eitel, sagte schon Salomo; was Luther vielleicht noch besser mit "Alles ist Schwindel" hätte übersetzen können. Zu zahlungsfähigen Ehepaaren setzen sich diese Verkehrten gern an den Tisch, küssen der Dame kavaliersmäßig die Hand und finden alles an ihr so "entzückend", bis ihr schwül wird. Aber als ein einzelner Herr, der am vorigen Sonnabend - wir selbst hatten auf dringenden Wunsch Bekannte aus dem Reiche hingeführt - in unserer Nähe saß, eines dieser Mädchen ansprach, wurde er prompt mit "Mecker' mich nicht an, Mensch!" angefahren.

In diesem komödienhaften Babel Berlin hat man kaum Zeit, auf Zeichen der Zeit zu achten, die den kommenden Weltumschwung andeuten. Der französische Frank stürzt. Bei Lloyds in London werden Versicherungen gegen Totalverlust des Vermögens im Gefolge eines deutsch-französischen Krieges nur gegen eine Prämie von 52½ Prozent angenommen, was doch nur bedeuten kann, daß die City für die Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses Meinung hat. Ich fürchte, daß sie unsere Wallungen überschätzt, aber auf einem Essen in der englischen Botschaft in Berlin wurde kürzlich, ohne daß sich Widerspruch erhob, von hervorragender Seite ruhig erklärt, in etwa zwei Jahren sei man "bereit". Und nun noch eine echt englische Geschichte. Der mir bekannte hiesige Vertreter eines Londoner Weltblattes erwartete die Geburt seines zweiten Kindes. Das dürfe nur in England geschehen, erklärten die Großmütter im Familienrat, und nicht bei den Hunnen. Die Frau solle nach England zurück. Aber der Mann sagte einfach und drang damit durch: "Ach was, die Deutschen sind unsere nächsten Verbündeten!" Und der kleine Johnny ist jetzt in Berlin geboren.
27. Dezember 1923 (Donnerstag)


18

Unser Guy-Fawkes-Tag - Silvester - Berlin im Gebirge - Die lockenden Breeches - Bismarck-Trilogie - Ein hundertprozentiger Berliner.

Was dem Londoner sein Guy-Fawkes-day im November, das ist dem Berliner alljährlich seine Silvesternacht. In London wie in Berlin knattern überall die Feuerwerksfrösche und Kanonenschläge, zischen die Raketen empor, flammt bengalisches Licht. Wir verbrennen nur keine Strohpuppe, keine Guy Fawkes, der vor grauen Jahrhunderten die im Parlament regierenden englischen Geschlechter stürzen wollte. Unser November-Day liegt noch zu kurze Zeit zurück; und "the man on the street", der Mann auf der Straße, denkt in Berlin auch noch nicht so - wie soll ich sagen - englisch über die Machtzertrümmerer der Nation. In ganz England gibt es kaum einen Garten, kaum einen Hof, in dem nicht an dem Gedenktage ein Scheiterhaufen für Guy Fawkes prasselte; und alt und jung, hoch und gering tobt dann in ausgelassener Freude.

Unsere Silvesternacht ist eine Art Karneval, ohne jeglichen historisch-politischen Nebensinn, allenfalls mit dem chinesischen Neujahrs-Hintergedanken, daß es gelte, mit ungeheurem Lärm alle bösen Geister zu vertreiben, - auch die des eigenen Gewissens. Dazu muß der Alkohol helfen. Und wenn man erst "einen weg" hat, dann kann man ruhig seine Schwiegermutter küssen, einem harmlosen Passanten den Hut eintreiben und einem kleinen Mädchen Unter den Linden mit Angelhaken und Violinsaite einen Feuerwerksfrosch an dem Mantel hinten befestigen, daß die arme Kleine dann in dem Geknatter wie irrsinnig heurmspringt. "Aber Frollein, welche Töne," heißt es dann wohl, "leiden Sie immer an Blähungen?"

Es gibt viel echten Humor, aber auch viel Roheit in der Silvesternacht. Nur diesmal war es ausnahmsweise solider denn je, trotz allen Krachs. Auch das haben wir der Rentenmark zu verdanken, deren Schöpfer, Helfferich, jetzt fern von Deutschland in dem Siemensschen Landhäuschen in - wenn ich nicht irre - Stresa sich von der Dummheit der Deutschen erholt. Zu Silvester 1922/233 hat man seine Millionen noch sinnlos weggeworfen, "weil alles ja keinen Zweck hat", aber diesmal lohnt sich doch das Sparen. Freilich, den "Tisch" hat man noch bestellt; den Tisch in einem Hotel oder Kabarett oder sonstigen Lokal, an dem man in der Neujahrsnacht wie herkömmlich reichlich Geld springen läßt. Aber das ist zumeist keine Familienfeier. Man hat zwar seine Frau mit; im übrigen aber ist man umgeben - von Kunden und Geschäftsfreunden. Der teure Spaß wird auf Unkostenkonto oder Reklamekonto übernommen, nicht etwa auf Wirtschaftsgeld. Auch Silvester gehört für den strebsamen Berliner zum Geschäft.

Wem es zuwider ist, Konfettistaub zu schlucken, ein Visavis mit pappener Riesennase anzustarren und beim Aufstehen Gelächter zu erregen, weil einem sicher jemand hinten eine großgedruckte Karte - "Ich bin noch zu haben!"   "Ich suche einen Backfisch!"   "Liebt mich am Abend!" - angesteckt hat, der rettet sich wohl zwischen den Jahren in die Berge, aber auch dort gibt es Hüttengaudi und Baudenzauber in Berliner Art. Wo kommen nur alle diese Berliner her? Berlin ist voll von ihnen, außerdem jedes deutsche Gebirge; und der halbe Kurfürstendamm ist, weil wir ja jetzt Edel-Valutarier sind, sogar nach Arosa und St.Moritz und Engelberg ausgerückt. Überall sieht man die seit dem Kriege auch Jugendlichen gestatteten Hornbrillen auf der Nase unternehmungslustiger Junggesellen, die auf weibliche Reize im Schnee pürschen und schwer enttäuscht sind. Es ist doch nicht so, wie man es in den Lustigen Blättern in den stereotypen Bade-, Sport- und Schneenummern sieht; es ist keine farbige Hervorhebung sämtlicher 32 Rundungen des weiblichen Körpers. Man sieht nur, daß die Damen, was an sich ja zu vermuten war, Beine haben wie wir Männer auch, denn bis zur Großtante ist alles in Hosen; aber man merkt, daß dies auch schon im vorigen Jahrhundert bekannt war, denn schon Schopenhauer brummte ja über das "schmalschultrige, breithüftige, kurzbeinige Geschlecht". Im übrigen sind nähere Feststellungen nur abends in der Likör- und Tanzdiele zu machen, wo in dieser Kostümierung das eine oder andere Geschöpf lieb- oder unliebsames Aufsehen erregt, wirklich deutsche Frauen und Mädchen aber sich doch den Rock übergeworfen und sich überhaupt umgezogen haben; und droben auf der Rodelbahn oder am Sprunghügel ist doch auch die schickste Berlinerin bis zur Unkenntlichkeit eingemummelt und schneebestäubt. Auch der Farbenrausch hat nachgelassen. Unauffällige Breeches oder gar das ganz schlichte norwegische Skikostüm nehmen überhand. Ich habe mich in diesen Tagen nach Herzenslust unter den Berliner Gebirgsgästen getummelt und festgestellt, daß bis dorthin, wohin etwa noch ein elektrischer Aufzug führt, das Geschlecht betont wird, darüber hinaus aber die große Sportfreude alles reinfegt. In den Höhenlagen, in denen man zahlt, spricht kaum jemand von einem gestandenen Sprung über 36 Meter, weit eher von den fabelhaften Hüten des Ateliers Regina Friedländer. Weiter oben aber ist Jauchzen. Nicht nur bei dem Berliner Großhändler von zwei Zentnern Lebendgewicht, der sich glücklich hinaufgeprustet hat, sondern auch bei dem unter der Gehaltsreduzierung immer schlanker werdenden Volk der Lehrer und Lehrerinnen, die diesmal trotzdem in Massen hinausgestürmt und zu Hauf in unglaublich billigen Pensionen bei bescheidenster Verpflegung untergeschlüpft sind. Der Kleinstädter, der nur zehn Minuten bis zum Stadttor zu laufen hat und dann Feld und Wald vor sich sieht, kennt ja gar nicht diesen unbändigen Natur- und Lufthunger der Berliner. Nun hat man sich die Lunge wieder mit Sauerstoff vollgepumpt, wenn es auch nur einige Tage waren. Nun kann man wieder gestrafft durch den kaffeebraunen Berliner Schnee zu den Großstadt-Erlebnissen schreiten.

Da zieht mich der Strom der Schaulustigen hin zum Apollotheater in der Friedrichstraße, wo einst im Mai des ersten Jahres der Republik das nackigste Prima-Natura-Venus-Nacktballett tannhäuserte und sonst Trikot-Varietäten den Kleinbürger erfreuen, gelegentlich auch mal eine große Könnerin wie die Saharet die Bretter betreten hat. Diesmal sieht man auf knalligen Plakaten an dem Hause selbst und an allen Anschlagsäulen den alten Kaiser abgebildet und neben ihm - in ganz zitronengelbem Koller - den Fürsten Bismarck; und gegeben wird auf der Bühne ein "Großes welthistorisches Schauspiel in 9 Bildern", der Bismarck-Trilogie von Emil Ludwig-Cohn erster Teil aus der Zeit von 1862 bis 1864, während der dritte aus der Zeit um 1890 ("Die Entlassung") schon vor Jahr und Tag den harmlosen Berlinern zugänglich gemacht worden ist.

Der "Dichter" Herr Emil Ludwig-Cohn hat es mit der Zeitgeschichte, wie einst sein großer Bruder in Apoll Philippi, nur ist er noch viel flinker und erschnüffelt viel schneller die Konjunktur. Seit dem Fridericus-Film heißt die Konjunktur Parademarsch und deutsche Selbstbehauptung; je weniger man davon hat, um so mehr sucht man es im Scheinleben des Rampenlichtes oder des Kino-Strahlenbündels. Emil Ludwig-Cohn lag immer richtig. Als zu Beginn des Weltkrieges, in den der Deutsche wirklich ohne jeden Haß hineinging, der Dichter Lissauer uns den "Haßgesang gegen England" eintrichterte, lissauerte es alsbald auch in Emil Ludwig-Cohn, der uns das Heldenlied der Emden und der Göben leierte. Dann, 1918, sattelte er um und gab, mit einer roten Fahne auf dem Umschlag, "An die Laterne!" heraus, die "erste authentische Darstellung" der Kieler Revolution voll schmökischen Brillantenfeuers.

Man tippte alte Throne nieder,
Der Landesvater war entflohn,
Und Morgenröte, nie geschaute,
Lugt zagend überm Kiefernwald.

Also tippte der alte Schaute an der Schreibmaschine die Throne nieder und hatte alsbald den ersten Teil einer Liebknecht-Trilogie fertig, deren Prosastücke - "Schmonzes" sagt man in Berlin - noch erhebender waren als obige Versprobe. Aber Emil Ludwig-Cohn hat nicht umsonst ein gewaltiges und gutfunktionierendes Riechorgan vom lieben Gott mitbekommen, er hatte also auch bereits 1920 Witterung von dem Windwechsel der öffentlichen Meinung, ja er erreicht heute schon die demnächst stürmische Sehnsucht nach dem alten Königtum und, siehe da, mit "über 200 Mitwirkenden" geht der erste Teil der Bismarck-Trilogie über die Bretter: Volk und Krone. Diese Bilder aus der Zeit des preußischen Konflikts sind Kitsch und äußerste Provinz, sind etwa das, wie die Schlacht von Tannenberg im unzerreißbaren Bilderbuch für Kinder von 4 bis 6 Jahren es ist, aber der Mann von Blut und Eisen ist darin so schlagwortgroß, und die Demokraten werden darin so veräppelt, daß sogar die Tante Voß einen Wutanfall auf ihren betriebsamen Artgenossen kriegt. Und dennoch: ich schicke alle meine Angehörigen hin. Und dennoch: ich wünsche dem Stück Hunderte von Aufführungen in allen deutschen Städten und Herrn Emil Ludwig-Cohn aus dem Ertrage solche Tantiemen, daß er das Dichten ganz sein lassen und sich etwa dem Lebensmittelhandel en gros widmen kann. Irgend jemand hat einmal gesagt, daß man "selbst in dem besuldetsten Konterfei Gottes Ebenbild achten solle". Und selbst aus diesem schwächlichsten Nachstammeln spricht doch unsere große Geschichte zu uns! Die Szenen aus dem Hofball im Palais des alten Kaisers (eine Tänzerin im Trikot saust zwischen die Paare) und im Kriegsministerium beim General von Roon (Frau von Bismarck in Grenadierstraßentyp macht in Familienschmus) und auch sonst reizen den Gebildeten manchmal zu kaum unterdrückbarem Lachen, aber wir sehen doch die Männer aus unserer Heroenzeit, wir hören die historisch beglaubigten Worte, wenn sie auch zum Teil (wie das berühmte "Pfui" Ballestrems im Reichstage) aus späteren Jahrzehnten zusammengeklaubt sind, wir erleben das Werden der deutschen Einheit durch die Tat gegen das Gerede, und vor allem: Hunderte und aber Hunderte kriegen hier die überhaupt erste Ahnung von deutscher Geschichte vor 1918. Für mich ist es wieder eine Offenbarung, wie der Stammgast des Apollotheaters, der Berliner Kleinbürger bis zum Arbeiter herab - in den Logen nur wenig "bessere" Gesellschaft, die in Wirklichkeit schlechtere ist - mit angehaltenem Atem diesen Anschauungsunterricht verfolgt und schließlich in Rührung und Jubel ausbricht, als im Schlußbild an dem Eckfenster des Palais vor Kaiser Wilhelm I. die Wache aufzieht, - nein, die siegreichen Düppelstürmer, so meint es wenigstens Herr Emil Ludwig-Cohn, und nur der Regisseur hat es nicht verstanden, vorüberdefilieren. Auch diese Saat wird aufgehen. Nur wirkt sie vorerst lediglich auf die Sentimentalität. Die Zeit für Tatmenschen ist anscheinend noch nicht da.

Dabei ist der Berliner eigentlich gar nicht sentimental. Wenigsten nicht der, den ich den hundertprozentigen Berliner nenne. So einen traf ich auf der Fahrt in den Schnee im Speisewagen. Straff, rotbäckig, breitbrüstig, hoch. Von jener Bestimmtheit, die manchen Süddeutschen so auf die Nerven fällt. Hundertprozentig bei der Arbeit und im Genuß: dieser Mann, taxiere ich, kann, wenn es ihm paßt, eine ganze Nacht durchlumpen, aber ebensogut zwei Nächte durcharbeiten. Er setzt sich an einen kleinen Tisch, ohne die Mitreisenden zu begrüßen oder sich um sie überhaupt zu kümmern, und bestellt knapp und scharf sein Essen. Ihm gegenüber nimmt ein blaurasierter Ausländer Platz und beginnt sofort zu sprechen.

"Serr schone Wetter 'eute, niche?"

Keine Antwort. Nur ein Achselzucken.

"Wann wir werden sehen die erste Berge?"

Achselzucken.

"Parlez-vous français, monsieur?"

Achselzucken.

"Do you speak english?"

Achselzucken.

"Parlate italiano, signore?"

Da endlich tut mein Hundertprozentiger den Mund auf und sagt trocken:

"Jeem Se sich keene Mühe, ick bin Eskimo."
3. Januar 1924 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts