"Rumpelstilzchen"

"Un det jloobste?"
(Jahrgangsband 1922/23)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 4 - 6
12. September bis 26. Oktober 1922


4

Doorn und Potsdam - Die Werbung um Frau von Rochow - Ausländer und "Ausländer" - Der grüne Kavalier - Das wirkliche Ende der Schlemmerei - Unsere Ärzte - Ein nächtliches Rencontre - Einsteins Gotteslästerung

Einige Wochen lang hat Haus Doorn in der alten Berliner Gesellschaft reichlich Gesprächststoff gegeben. In den Potsdamer dem Hofe nahestehenden Kreisen war man schneller damit fertig. Dort verlangt man nicht, wie weiter ab im Volke, daß der Monarch ein Gottesmensch sei oder mindestens ein Einsiedelmann, dort hat man sich über den Plan einer zweiten Ehe des Kaisers also auch nicht "entrüstet", sondern man hat ihm die Gefährtin herzlich gegönnt. Entgegen allen Legenden sei nochmals festgestellt, daß darin auch sämtliche Kinder des Kaisers einig sind. Für diesen unaufhörlich phosphoreszierenden, mitteilsamen Menschen ist es doch die größte Qual, in der Abgeschiedenheit unter - trotz aller ihrer Treue - sozusagen gemieteten Leuten zu sitzen. Er muß eine Person um sich haben, der er ganz vertrauen und der er sich ganz öffnen kann, sonst erstickt er an den in ihm wogenden Gedanken; und von allen anderen Lieben, von Kindern und Enkeln, ist er ja dauernd getrennt. Auch die alte Berliner Gesellschaft gewöhnt sich nun allmählich daran, daß dem verbannten Kaiser zuzubilligen sei, was man bei jedem Privatmann als sein natürliches Recht erklären würde. Man hat sich einst auch bei Friedrich Wilhelm III. daran gewöhnt, obwohl es der Witwer einer Luise war, der dennoch die zweite Ehe einging; und als später Prinz Wilhelm, der nachmalige Kaiser Wilhelm I., sich in Weimar verlobte, empfahl er sich in dem ernsten und glücklichen Briefe an seinen Vater in ganz reizender Weise seiner zweiten Mutter, eben dieser Fürstin Liegnitz. Also in Potsdam freut man sich aufrichtig, nachdem die erste Betroffenheit gewichen ist; und über das ganze Drum und Dran fängt man an zu lächeln. Da hatte es zuerst geheißen, der Kaiser wolle - so steht es in den Zeitungen - die "Wirtschafterin" in Doorn, Frau von Rochow, ehelichen, die zwar das Landhaus - Doorn ist ja kein Schloß, sondern eine nach Berliner Begriffen kleine Villa - gut in Ordnung halte und nicht, wie ihre Vorgängerin, immer ratlos vor einem nie stimmenden Rechnungsbuche sitze, aber doch eine hochbetagte Dame sei, um nicht zu sagen, eine Greisin. Und nun das Komische, das in der weiteren Öffentlichkeit bisher noch unbekannt geblieben ist: diese Dame hat, sobald das Gerücht auftauchte, sie sei beinahe des Kaisers Frau geworden aus Amerika - mehrere Heiratsanträge bekommen!

Das sind sicher wirkliche "hundertprozentige" Amerikaner gewesen, spleenige Angelsachsen, und nicht etwa amerikanische Deutsche, sogenannte Bindestrich-Amerikaner. Von den richtigen und wirklichen sieht man jetzt in Berlin noch weniger als im Sommer. Die Leute, die zur Zeit hier als Amerikaner oder Engländer auftreten, pflegten früher in Amerika oder England sich als Deutsche zu bezeichnen - und machten sich unter dieser Firma drüben genau so unbeliebt wie heute bei uns unter der neuen. Namentlich in der Berliner Untergrundbahn mit ihrem fürchterlichen Gedränge, wo Europens übertünchte Höflichkeit schnell abfällt, mehren sich die Fälle, wo "Ausländer" grob werden und auf alles Deutsche schimpfen. Bei Gelegenheit hat man dieser Tage die Personalien einer solchen Engländerin festgestellt. Sie heißt Frau Katz. Und in der vorigen Woche wurde ein Amerikaner sehr ausfallend gegen die Mitreisenden. Nach seinem Paß ein Herr Schlesinger. Beider Wiege hat jedenfalls nicht in England oder Amerika gestanden. Das größte Fremdenkontingent ist bei uns bereits bodenständig und überwintert in Berlin. Es stammt aus dem Osten. Nichts erweckt in einer neuen saftig-ulkigen Revue - "Wir stehen verkehrt" - in Nelsons Theater jetzt so verständnisinnige Heiterkeit als der kurze Dialog:

"Sie sind wohl nicht von hier?"
"O, ich bin Berliner!"
"Also doch Russe?"

Und diese Heiterkeit ist harmlos und gutmütig, denn allgemach gewöhnt sich Berlin an seine Fremden genau so wie früher Paris und sieht es sogar nicht ungern, daß sie einen Staat im Staate, eine Gesellschaft in der Gesellschaft bilden: es kristallisiert sich da, mit dem nötigen weiblichen Lotteranhang aus Deutschland selbst, ein bestimmter enger Kreis mit einem Sonderleben heraus, das nicht mehr schokiert, - denn man hat schon längst einen Strich darunter gezogen. Es ist eine Welt für sich. Joschiwara, wie in Tokio; Paikabak, wie in Samarkand. In Berlin könnte man sagen: Dachgarten. Man übersieht das. Ich lasse mich im Genusse der erlesensten Musik, die man in Berlin zum Nachmittagskaffee überhaupt findet, nämlich im "Faun" ab der Ecke Friedrich- und Taubenstraße, garnicht mehr stören, wenn unter dem fast durchweg sehr guten, gebildeten Publikum auch mal in meiner Nähe ein solches Pärchen sitzt. "Er" zieht achtlos ein zerknülltes Bündel von Zehntausendern aus der Hosentasche. "Sie" studiert wohlgefällig die dabei mit hervorgequollene Mittagsrechnung. Es sind viele Tausende von Mark. Sie konstatiert es halblaut und bekommt eine Aufwallung von Zärtlichkeit. Sie neigt sich ihm zu. Und haucht mit schmachtendem Augenaufschlag: "Ist der Dollar - hinaufgegangen?" Er lächelt nur. Diese kleinen Spesen sind bei ihm doch nicht von einem Tagesschwanken des Dollars abhängig.

Man kann den hochvalutarischen Fremden in gewisser Beziehung sogar dankbar sein. Sie haben eine Art Reinigungswerk an uns vollbracht. Unter ihrer Konkurrenz ist nämlich der sogenannte grüne Kavalier in Berlin fast verschwunden. Er tauchte in größeren Mengen zuerst 1917 auf, hatte seine Blütezeit im Alter von 15 bis 16 Jahren, lümmelte sich, wenn seine Tagesarbeit in der Munitionsfabrik oder in der Mützenschneiderei beendet war, mit einer "Braut" zigarettenrauchend in Kaffeehäusern herum und trug beängstigende Stehkragen mit Fingerabdrücken. So um 1920 herum war der grüne Kavalier - sein neuer Nachwuchs natürlich und ebenfalls im Alter von 15 bis 16 Jahren - nicht mehr industriell, sondern händlerisch tätig, und das Wort "greifbar" hatte die erste Stelle in seinem Vokabular. Er schob und verschob bereits ganze Waggons. In unseren Tagen ist der grüne Kavalier, im Zivilberuf, wieder in bescheidenere Sphären zurückgeglitten und ist meist Auslaufer oder Radfahrer in stark ramponierter Cordhose, verwandelt sich aber nachmittags in einen vollendeten Gentleman, "macht" - in Devisen, mietet gelegentlich auf ganze Sonntage ein Auto und hat einen Privatsekretär. Der Privatsekretär ist gewöhnlich viel älter als 15 oder 16 Jahre, oft das Doppelte, und die "Braut" - nicht minder. Diese kenntnisreichen Pflegerinnen der grünen Kavaliere - "Am Manne hängt, zum Manne drängt doch alles; ach, wir Armen!" seufzen sie frei nach Goethe - schmeicheln den Bübchen so lange, bis einmal das Ende und das heulende Elend da ist. Ein höchst unsympathische Anblick. Aber er wird seltener und seltener; wir atmen auf; der gesetzte Ausländer hat den grünen Kavalier ausgestochen und aus der großen Öffentlichkeit verscheucht.

In der Öffentlichkeit ist es überhaupt nicht mehr so lärmvoll wie noch vor wenigen Monaten. Ein deutsches Schlemmertum, etwas das einer großen Schieberkaste, hat als Zeiterscheinung aufgehört. Diesmal sind wirklich alle Stände mit betroffen. In Berliner Fabriken erscheinen heute Arbeiter, die noch vor kurzem sich gekochten Schinken zum Frühstück mitzubringen pflegten, mit einigen unbelegten Margarinestullen in der Tasche. Die Milchzufuhr ist auf einen Bruchteil der früheren zurückgegangen, beträgt nicht mehr ein Fünftel der Vorkriegslieferung, und wird trotzdem nicht voll abgenommen: bis zu 20 000 Liter, die bei den jetzigen Preisen unverkäuflich bleiben, werden von der Stadt verbuttert, um im Winter als Fettzusatz zu der Wassermilch - Emulsionsmilch - zu dienen. Es gibt wieder Leute, die einen Pfennigskat spielen. Das Protzen mit großen Papierscheinen macht niemand mehr Freude. Wer noch behauptet, daß "ungeheure Summen für Luxusbedürfnisse ins Ausland gingen", der irrt sich. Erstens wird dadurch im Wesentlichen wohl nur der Bedarf der vielen Valutafremden bei uns gedeckt, denne es ganz gleichgültig ist, daß ein Pfund Langusten heute 1600 Mark kostet, und zweitens ist die Einfuhr von Genußmitteln überhaupt, ganz besonders aber von Schlemmerware, rapide zurückgegangen. Nur einige Zahlen aus den ersten 8 Monaten von 1922 im Vergleich zu denen von 1913 seien hier zum Beweise genannt: wir bekommen nur noch 30 459 statt 1 104 000 Flaschen Champagner, nur noch 36 statt 1374 Doppelzentner Likör, nur noch 15 797 statt 433 368 Doppelzentner Pilsener, nur noch 12 statt 3425 Doppelzentner Kaviar, nur noch 4 statt 200 Doppelzentner Schildkröte. Also "Real turtle" als Suppe ist für Deutsche in Deutschland auch für feierlichste Gelegenheiten erledigt. "Moc turtle" aus zwiebelgebräuntem Kälberschwanz als Schildkröten-Ersatz beherrscht das Feld. Die Frage, was in dem verarmten Lande noch möglich ist, ein Gourmet oder ein Gourmand, ist nicht mehr schwer zu entscheiden.

Für ganz große Tage, an denen man in lieber Gesellschaft einmal das ganze Ungemach vergessen möchte, hütet man ja wohl noch eifersüchtig einen kleinen Rest aus besseren Tagen. Ich habe da außer etlichen guten, aber leider nur wenigen Flaschen Burgunder noch ein winziges Terrinchen Gänseleber, eine Büchse Ananas, ein paar Bernstorff zum Rauchen für mich und knapp ein Viertelpfund besten Ismid-Zigarettentabak für unseren lieben Geheimrat, eine unserer chirurgischen wwltbekannten Größen, einen Universitätsprofessor, der in seiner Menschengüte sich immer noch nicht zu "zeitgemäßen" Preisen entschließen kann, wenn er jemand operiert. Zu Hause ißt er mit seiner Frau nur noch - Pferdefleisch. Wenn er einmal im Jahre zu uns kommt, tun wir so, als sei es 1913, denken uns zu irgendeiner der kleinen aufbewahrten Köstlichkeiten, und sei es nur die Sultanszigarette, das übrige hinzu und sind guter Dinge. Es gibt viele solche Geheimräte in Deutschland. Einer unserer ersten Frauenärzte, Universitätsprofessor in Berlin, empfängt neulich eine Frau von Soundso, deren Gatte als Major a.D. in den bescheidensten Umständen lebt, vollzieht an ihr glücklich eine schwere, lebensrettende Operation und sagt ihr schon vorher - das hat natürlich ihre Lebenskraft erst recht gehoben - auf die Frage nach der Höhe des Honorars, er nehme keinen Pfennig, denn er verdiene das Nötige an reicheren Leuten. Wie gesagt, es gibt viele solche Geheimräte in Deutschland, die dabei selber im Vergleich zu früher jämmerlich leben, wie ja überhaupt der ganze Ärztestand fast am schwersten von der revolutionären Entwertung der geistigen Arbeit betroffen ist. Aber es gibt auch andere. In München liegt ein früher sehr vermögender Deutscher, der noch während des Krieges mehrere Millionen Goldmark für Sanitätseinrichtungen gespendet hat, heute aber von dem Rest des Vermögens nur noch etwa 10 000 Papiermark im Monat Zinsen bezieht, totkrank. Auf Anraten schreibt seine Frau an Professor Plesch in Berlin, ob ihn sein Weg vielleicht demnächst nach München führe, und was die Konsultation kosten würde. Er antwortet telegraphisch, jawohl, auf einer Reise nach Italien komme er demnächst nach München und wohne dort einen Tag im Hotel; für die Konsultation berechne er - 3000 Goldmark. Für den einen Besuch ganz annehmbar. Es gibt also doch auch Leute, die unsere Zeit begriffen haben. Aber der Kranke hat natürlich auf diese Konsultation verzichten müssen.

Bis auf die wenigen, die sich mit ihren Preisen anzupassen verstehen und anzupassen vermögen, müssen heute wir alle natürlich den berühmten "Verelendungsquotienten" uns gefallen lassen, müssen wir bei jeder Erhöhung des Einkommens wieder ein wenig hinter den erhöhten Ausgaben zurückbleiben. So sind wir alle zersorgt. Wer Sorgen hat, hat auch Likör, sagt Wilhelm Busch. Ganz seiner Ansicht ist der echte Berliner. Er kommt leider ins Trinken herein. Man sieht mehr als je Taumelnde, und in der nächtlichen Friedrichstraße gibt es alleweil Krach. Um diese Zeit ist der geladene Berliner ebenso "fremdenfeindlich" wie der Münchener. Da steht einer auf der Polizeiwache neben einem böse zugerichteten, blutenden, im Gesicht ganz verquollenen Japaner, und soll erzählen. "Also, Herr Wachtmeester, der kleene Zitronen-Nigger da kommt mia in de Quere, un ick sage janz heeflich, Mensch, sage ick, Du kiekst ja nich richtig, Deine Oogen sind ja varutscht, un da wird er jrob, un allens kann ick verdragen, bloß keene Jrobheet nich, un da faß ick ihn in de Fassade und da is ebent een bißken Stuck abjefallen!" Gegenüber solcher Treuherzigkeit ist man einfach entwaffnet. Es werden in derartigen Fällen, wo es sich um eine sogenannte betrunkene Geschichte handelt, auch wohl nicht allzu harte Strafen verhängt.

Die Strafgerichte haben sowieso alle Hände voll zu tun. Soeben ist der Dramatiker Einstein in Berlin wegen Gotteslästerung zu 10 000 Mark Geldstrafe verurteilt worden. Er kann heilfroh sein, daß er nur Gott gelästert hat und nicht etwa Ebert oder Wirth; denn hierauf stehen nach dem Gesetz zum Schutze der Republik 500 000 Mark Geldstrafe.
12. Oktober 1922 (Donnerstag).


5

Der Bravo - Straßenkämpfe vor dem Zirkus Busch - Moppchen im "Rosenmontag" - Parademarschbegeisterung - Ein neues Fritzen-Drama - Herausforderung um die Damen-Boxmeisterschaft - "Ick, ick arbeete!"

In der dunkeln Geschichte der italienischen Stadtrepubliken spielt der Bravo eine große Rolle, der für ein paar Scudi gleichmütig jeden Beliebigen kaltmacht. Also nicht Mord aus Politik, aus Jähzorn, aus Rache, aus Raublust, sondern Mord für ein Trinkgeld.

Bei uns in Deutschland war es bisher selten, daß man einfach jemand mieten konnte, um "ein Ding zu drehen". Aber es kommt schon. Vor einiger Zeit verzankt sich die Frau eines kleinen Kneipenwirts in Berlin, Wilhelmstraße 6, mit ihrem Mann, zieht sich wutentbrannt die Sonntagsbluse an, geht bis zur Lindenpassage und spricht dort die ersten beiden ihr "vertrauenswürdig" erscheinenden, im übrigen wildfremden Männer an, ob sie nicht für 20 Mark und eine Flasche Schnaps es ihrem Manne daheim "besorgen" wollten. Für 20 Mark und eine Flasche Schnaps? Aber selbstverständlich. Am selben Abend kommen die beiden und hauen wortlos den Gastwirt mit Hämmern auf den Kopf, daß er blutüberströmt mit einem Schädelbruch zusammenstürzt, dann gehen sie mit den 20 Mark und der Flasche Schnaps, da der Lärm groß gewesen ist, eiligst und doch ganz seelenruhig wieder davon. Derartige Bravi kümmern sich keinen Deut um die Art ihres Auftraggebers; sie machen alles für jeden, der bezahlt, und fragen nicht viel nach Motiv oder Partei. Ihre Verwendung zu politischen Zwecken war bisher bei uns allerdings nicht üblich, und es spricht sehr für die bourgeoismäßige Wohlsituiertheit unserer Kommunisten, daß sie sich zu der Straßenschlacht vor dem Zirkus Busch am vorigen Sonntag gegen den "Bund für Freiheit und Ordnung" auch dieser Mietlinge bedienten, statt selber dreinzuschlagen, wobei ihnen ja doch der teure Sonntagshut vielleicht eingebeult oder der gute Cheviotanzug eingerissen worden wäre. Also man bediente sich der duftenden Gestalten, die in der Gegend der Asyle für Obdachlose zu haben sind, während man selber sozusagen in der Etappe saß, nämlich in der eigens für die Schlacht errichteten Arbeiter-Sanitätswache. Diesmal hatten die Gedungenen insofern einen Extraverdienst, als sie mehreren Überfallenen Uhren und Geldtaschen entreißen konnten, als der Kampf begann; dann aber wurden sie übel zugerichtet, was in den bisherigen Zeitungsberichten nicht so recht zum Ausdruck kommt. In allen Kneipen rings um den Kriegsschauplatz saßen in Reserve Jung-Bismärcker, die dann, als der Angriff der Lumpenproletarier erfolgte, herausstürzten und nicht schlecht dreinhieben. Am schlimmsten erging es jenen Bravi, die sich trotz Bezahlung vom Zirkus Busch gedrückt und auf einen Nebenkriegsschauplatz, in die Universität, zu einer selbständigen Unternehmung mit Requisitionsabsichten begeben hatten. Sie wurden zuletzt nur noch "herumgereicht" und zogen als heulendes Elend davon.

Schön ist das alles nicht, besonders, wenn die armenTeufel auf solche Weise schließlich mit ihrem Leibe die Zeche für die Drahtzieher hinter der Front bezahlen müssen, - und es wäre recht nett von unseren Kommunisten, wenn sie fortan auf das Geschäft mit diesen Leuten verzichteten und selber ihre Haut zu Markte trügen. Es wird jetzt so viel von der "unbedingt kommenden" kommunistischen Revolution in diesem Winter erzählt, dazu düster prophezeit, daß dann auf die Polizei kein Verlaß sein werde; man vergißt, daß erstens "angesagte" Revolutionen nie ausbrechen, daß zweitens, wenn es um das Leben geht, die Schutzleute sich sicher nicht willfährig abstechen lassen werden, und daß drittens die Aufständischen höchst wahrscheinlich bei den Bürgern und Arbeitern, die noch für Freiheit und Ordnung sind, wieder "herumgereicht" werden dürften.

Immerhin: man munkelt und man fürchtet allerlei. Das Gesetz zum Schutze der Republik wird von "Interessierten" als Gesetz zur Entfesselung des Mobs ausgelegt. Der eine oder der andere Bürger, der vorgestern im Schillertheater die Neueinstudierung von Otto Erich Hartlebens Offizierstragödie "Rosenmontag" besuchte, mochte nur mit einigen Bedenken hingegangen sein. Es sind doch sogenannte kleine Leute, die ins Schillertheater gehen. Otto Erichs Witwe, "Moppchen", die tapfere Lebenskameradin, sitzt auch da und harrt gespannt auf alle möglichen Ereignisse. Der Darsteller des jungen Helden der Tragödie ist unwahrscheinlich; er gehört nicht zu jener Rasse, aus der das preußische Offizierkorps sich rekrutierte. Die Aufführung selbst ist auch nur schillertheatermäßig, gute Mittelsorte. Aber nun begibt sich das Wunder. Im zweiten Akt marschieren die etwas angeätherten Leutnants bei Musik im Stechschritt in Hans Rudorffs Kasernenstube vor ihm und seinem Schwiegervater-Kommerzienrat vorbei. Die Beine fliegen. Die Pulse im Publikum hämmern mit. Bei offener Szene erhebt sich ein Beifallsturm, wie man ihn hier noch nicht erlebte. Und dann die Ansprache des Kommerzienrats Schmitz auf der Bühne! Sie stammt nicht aus der Feder Otto Erichs, sondern aus der seines noch lebenden Bruders, der einst als aktiver Offizier in Köln gestanden hat und in dem damals irgend etwas gegen Zwang und Kaste rebellierte; er hat, wie er mir gestern noch selber sagte, die Ansprache etwas parodistisch gemeint, aber das ganze Volk von Parkett bis Galerie nimmt sie an diesem 17. Oktober 1922 wörtlich im Ernst. Wie der Kommerzienrat, anfangs beinahe schüchtern, dann mit Wärme, loslegt und sagt:

"Meine lieben, verehrten Herren Leutnants, ich bin zwar nie Soldat gewesen . . . und ich habe während meines ziemlich bewegten Lebens eigentlich nur recht wenig mit dem Militär zu tun gehabt. Aber ich kann Ihnen nur sagen, daß mich die nette, liebenswürdige Art, mit der sie mir heute entgegengekommen sind, einfach . . . einfach . . . wie soll ich sagen? - entzückt hat . . . Wahrhaftig, meine Herren! Solange unsre Armee solche frische, lebensfrohe und ritterliche Offiziere hat, in denen ein so guter deutscher Geist lebt - solange wird unser teures deutsches Vaterland blühen, wachsen und gedeihen, und stark sein gegen äußere und innere Feinde . . .",

da bricht unter den Theaterbesuchern ein Jubel aus, wie er nur denkbar ist bei einem Wiedersehen mit einem geliebten Totgeglaubten, hier also mit unserer verschütteten Armee, und als der Kommerzienrat auf der Bühne zuletzt ein Hoch auf sie ausbringt, da stimmen nicht nur die etwas beschämten Leutnants auf dieser Bühne mit ein, sondern - hie und da mit Tränen in den Augen - klatscht auch das Publikum wie besessen in die Hände. Moppchen ist getröstet und gerührt. Und der Hauptmann a.D. Hartleben, der ein bischen grell und wahrheitsfanatisch die Mosaiksteine zu der Tragödie des ganz unmilitärischen Bruders geliefert hat, die vor langen Jahren sogar als antimilitaristisch galt, kann stolz den vaterländischen Erfolg buchen. Im Ernst: in welches Elend sind wir versunken, daß die Seelenqual sich in solchem Beifall Luft schaffen muß!

Die Geschäftemacher in Bühne und Film wissen das sehr gut. Die Historie zieht. Der Parademarsch zieht. Der Alte Fritz zieht. Das merkt sogar ein Ausländer, wie es der Ungar Czerepy einer ist, und hat uns im vorigen Jahre deshalb den Fridericus Rex gedreht. Und die Zahl der Friedrich-Dramen wächst von Tag zu Tag. Böttchers "Kronprinz" ging über die Bretter. Nun wieder "Vater und Sohn" von Joachim von der Goltz. Ich habe nicht ohne Erschütterung im Lessingtheater mir diese Première angesehen, aber die Erschütterung war durch das rein Stoffliche bedingt; sie ist beim Lesen eines Buches, das über die weltgeschichtliche Episode zwischen Friedrich Wilhelm I. und dem Kronprinzen berichtet, genau so stark. Der Theatermann hat ja hier fast nur das Leben abzuschreiben, das Drama liegt da. Was nun der junge, jetzt dreißigjährige Goltz aus eigenem hinzugetan hat, etwa die phantastische Nachtszene, in der der Kronprinz einen Landstreicher zur Ermordung des königlichen Vaters dingt, das verzerrt das Bild und macht es unwahr. Die Sympathien der Zuschauer sind, was der Verfasser sicher nicht gewollt hat, auf Seiten des Vaters, des cholerischen, ehrenfesten, alten Bären. Wozu noch - das müssen wir hinzufügen - seine prächtige Verkörperung auf der Bühne kommt. Einige Jahre vor dem Kriege ist der gleiche Stoff von einem Münchener Dichter bearbeitet worden, aber leider, soviel ich weiß, geniales Bruchstück geblieben. Ich meine Ernst Hierls "Der junge Fritz von Preußen". Ich habe eine einzige Szene vor mir: Küstrin 1731. Der junge Fritz und Rittmeister v. Winterfeldt; der junge Fritz und Komtesse Orczelska; der junge Fritz und der König. Es gehört zum Hinreißendsten, was je geschrieben worden ist, wie hier der Vater mit seinem Sohne spricht, betet und - siegt; und wie dieser sein Sieg doch nur den großen Friedrich erweckt, der bis dahin verschüttet war, nun aber strahlend aufersteht, innerlich zum ersten Diener des Staates gewonnen: jubelnd zum ersten Mal voll Verständnis für den Vater. "König! Mein König!" Aber auch dies ist noch nicht "das" Fritzendrama. Es gab schon Dutzende von Bibeln, in denen deutsche Worte sickerten, ehe Luther wie ein Bergstrom daherkam; es gab Hunderte von Faustdramen, in denen es gar kurios herging, bis Goethe sie alle verblassen ließ. So harren wir heute dessen, für den die Böttcher und Hierl und Goltz nur Vorläufer waren. Vielleicht ist er unter uns schon geboren. Vielleicht werden unsere Augen ihn noch sehen. Das Thema ist ewig.

Es gibt nur so wenige unter uns, denen heute unter den Sorgen des Alltags noch das Herz entbrennt, wenn von der Welt des Scheines die Rede ist. Dieser holde betörende Schein im Lichte der Rampe! Wir leben in einer Welt - der Scheine. Der Kreis der Theatergenießer in edelstem Sinne verengert sich, weil wir robustere Genüsse brauchen. Die Psyche des jungen Fritz interessiert weit weniger, als die Herausforderung der Damen-Boxerinnen im Palais der Friedrichstadt, dem alten Tanzlokal, an eine andere Gruppe solcher weiblichen Professionals, sie im Faustkampf um den Preis mehrerer Zehntausendmarkscheine zu besiegen. Vor Jahren trat in Europa einmal das boxende Känguruh auf. Auch dem Schimpanse Konsul hatte man die Kunst der 6-Unzen-Handschuhe beigebracht. Ich stelle nach bestem Wissen und Gewissen fest, daß beide sportlich und in der ganzen Fairneß ihres Auftretens die Damen des Palais der Friedrichstadt bei weitem übertrafen. Dies hier ist und bleibt eine lächerliche, mühsam einstudierte Komödie; seit sie zum ersten Mal in Berlin im Monopol-Variété versucht worden ist, ist sie nicht besser geworden. Das vermännlichte Weib, das Weib der Statuetten Konstantin Meuniers, könnte sich ja wohl zum Boxen trainieren. Diese Weibchen aber, die nach Peau d'Espagne duften, manicurt sind und nach der Vorstellung eilends in den Brokatmantel schlüpfen, um sich mit irgend einem Gent Berlin noch weiter anzusehen, haben keine Ahnung von sportlicher Härte. Es sind Puppen, weiter nichts. Zum Besuch ihrer Vorstellung reizen Plakate, die uns im Bilde reichlich ausgekleidete hübsche Huldinnen zeigen. Das zieht nicht die Sportler, aber die Lebegreise an, - weniger vielleicht die Berliner, die den "Mumpitz" schon kennen, als die Exoten.

Hin und wieder verirrt sich auch ein schlichter Arbeiter im Ausgehstaat hin, der gern etwas Kraftvoll-Animalisches anstaunen möchte und dann bitter enttäuscht wird. In diesen Kreisen gilt die Faust, die schwielige Faust womöglich, alles. Ihnen geht Breitensträter über Goethe. Und ihre eigene Tätigkeit schätzen sie natürlich auch viel höher ein als irgend eine rein geistige. Bei einem Bekannten von uns, einem Berliner Arzt, war dieser Tage ein kleiner Ofen umzusetzen und an der neuen Stelle die Ofenröhre im Wandloch zu verschmieren. Eine Sache von allenfalls 2 Stunden. Der Mann tat sehr gemütlich seine Arbeit und forderte darauf - das ist heute noch allerhand - als Lohn 520 Mark.

"Um Gottes willen, so viel verdiene ich selber ja nicht," rief der Arzt.

Und majestätisch erscholl die Antwort:

"Det is ooch janz wat anners, Sie jehen bloß bei die Kranken und schrei'm wat uff, aber ick, ick arbeete!"
19. Oktober 1922 (Donnerstag).


6

Der große Preis von Ostpreußen - Roggenwährung oder Zigarrenwährung? - Die Angst vor dem Kronenkultus - Neue und alte Taler - In der ehemaligen Hofloge bei der Walküre-Aufführung - Ein auserlesenes Souper - Schüttler-Einnahmen - Allnächtlich Vollmöllers "Schießbude" am Kurfürstendamm

Der große Preis von Ostpreußen ist heraus. Der große Preis von Ostpreußen ist ein Fräulein Käswurm, die schuldenfrei 10 000 Morgen besitzt, eine schneidige Reiterin - selbstverständlich im Herrensitz - und auch sonst ein Prachtmensch ist. Sie hat sich, heißt es, verlobt. Ganz Berlin, soweit es mit jenen gesegneten Völkerschaften zwischen Samland und Spirdingsee irgendwie versippt ist, spricht nur noch von dem großen Preis von Ostpreußen. Ihn auszureiten wäre früher eine Sache für Grafen oder junge Botschaftssekretäre oder Majors vom Generalstab gewesen. Alle aus den Ostmarken stammenden Berliner sind in freudiger Spannung; für sie alle ist das sozusagen eine Familienangelegenheit. Aber auch die gesamte übrige Berliner Menschheit, die heute wie irrsinnig hinter der entflatternden, sinkenden, taumelnden, stürzenden Papiermark herläuft, wäre froh, in geordneten ostpreußischen Verhältnissen leben zu können, wo man längst - zur Roggenwährung übergegangen ist. Was nützt es uns Großstädtern, wenn unser Einkommen sich um einige Tausend Mark "erhöht", wo doch die Preise viel schneller klettern! Aber in Ostpreußen, in Pommern und ähnlichen gesunden Gegenden werden beispielsweise Lehrerinnen auf die Güter heute einfach für 1½ Zentner Roggen monatlich engagiert. Das sinkt nicht im Wert; wenn man sich das jeweils nach dem Marktpreis in Papiermark auszahlen läßt, ist man gegen alle Wechselfälle gesichert.

Von Roggen verstehe ich nicht viel. Aber ich hätte nichts dagegen, wenn ich meine Honorare ein für alle Mal in einer bestimmten Zigarrenmarke ansetzen könnte; einen großen Teil davon würde ich gern in Natura annehmen. Im Jahre 1895 habe ich mir als leichtsinniger junger Dachs auf dem Bahnhof in Heidelberg einmal einige Zigarren zu 25 Pfennig das Stück gekauft. Das sah ein Bekannter, das ging wie ein Lauffeuer durch die Stadt, und am nächsten Tage stand das Urteil der Honoratioren über mich fest: ich würde sicherlich im Zuchthaus enden! Die Prophezeiung ist immer noch nicht eingetroffen, aber gelegentlich seither wiederholt worden, besonders häufig seit Bestehen des Gesetzes zum Schutze der Republik; noch im August dieses Jahres hat der Privatsekretär unseres verehrlichen Reichsinnenministers, Dr. Hans Simons, der sozialdemokratische Sohn unseres früheren ledernen Außenministers, die Liebenswürdigkeit und den - Takt besessen, einer meiner Töchter, die am Strande in Ostpreußen seine ihr von der Schule her befreundete Frau besuchte, meine demnächstige Verhaftung anzukündigen; man müsse mir endlich meine Feder aus der Hand schlagen. Je nun, an eine sitzende Lebensweise bin ich sowieso gewöhnt, und wenn nur inzwischen die Zigarrenwährung sich durchsetzt, würde ich mit vergnügten Sinnen an das Studium des neuen mir zugedachten Milieus gehen.

Inzwischen wird es den Berliner Regierenden vielleicht endlich gelingen, die letzten Zeichen der guten alten Zeit zu entfernen. Eines ihrer Organe, das Berliner Tageblatt, regt sich heute furchtbar über den "Kronenkultus" auf. Man denke: der Pförtner auf dem Stettiner Bahnhof trage noch ein Blechschild mit der Königskrone auf der Brust! Entsetzlich. "So daß er wie eine wandelnde Reklame für die Monarchie wirkt." Schauderhaft. Und noch schlimmer sei es auf dem Satdtbahnhof Warschauer Straße. Da sind mit vieler Mühe am Sandsteingiebel Adler und Krone weggemeißelt worden. Früher war alles verrußt und kaum zu sehen; jetzt heben sich Adler und Krone im bloßgelegten weißen Sandsteingrund grell von der geschwärzten Umgebung ab. O jerum. Und wenn das Berliner Tageblatt gar wüßte, was ich noch alles weiß! Im Berliner Telephonbuch ist noch ein "Königliches" Amtsgericht Berlin-Wedding verzeichnet. Sogar Wedding. In der Vorhalle des Untergrundbahnhofes Wittenbergplatz ist ein gekrönter Adler an die Wand gemalt. Auf einer Postkarte, die ich neulich aus einem thüringischen Dörfchen unweit Erfurt bekam, steht auf dem Poststempel hinter dem Ortsnamen in Klammern: Herzogtum Gotha. Ausgerechnet Gotha! Das Berliner Tageblatt selbst hat kürzlich eine unserer Tragödinnen eine "königliche Erscheinung" genannt. Und - wehe - die ebenfalls republikanische Vossische Zeitung, die ehedem Königlich privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, trägt an ihrem Kopfe noch das preußische Wappen mit großer Krone. So daß sie wie eine "wandelnde Reklame für die Monarchie" wirkt. Es ist, um junge Hunde zu kriegen. Da muß man doch die ganze Staatsverwaltung mobil machen, auch die Kommunen, auch die Privatindustrie, bis alle diese üblen Dinge verschwinden. Gegen die gekrönten Kakaopakete der Firma Hildebrand läuft das Berliner Tageblatt schon Sturm. Die Zigarrenmarke "Deutsche Krone" müßte auch verboten werden. Und der Kaiserstühler Wein. Und der Königskuchen. Und das Kronsbeerenkompott. Nur der Bismarckhering zur Linderung demokratischen Katzenjammers sei noch erlaubt.

Die ganze Bilderstürmerei nützt wirklich nichts. Gestern bekam ich zum ersten Mal ein neues Dreimarkstück gezeigt, ein kronenloses, ein leichtes Nichts aus Aluminium. Ich habe noch einen königlich preußischen Taler zu Hause. Was gilt die Wette, daß mir - trotz Krone - für diesen alten Taler jeder Republikaner gern hundert neue gäbe? Die begeisterten Kronenlosen ahnen angeblich nicht, wie froh das Volk überhaupt wäre, wenn es das ganze Heute wieder gegen das Gestern eintauschen könnte. Sie sollten sich mal auf den Vorderperron eines Straßenbahnwagens stellen. Oder in eine Markthalle gehen: Überall hin, wo "Volk" ist. Da würde ihnen ein Licht aufgehen. Oder sollte es ihnen schon aufgegangen sein und daher ihre Besorgnis vor einer Präsidentenwahl und Wahlen überhaupt stammen? Die Bilderstürmerei ist jedenfalls nur ein Kurieren an Symptomen; die leeren Stellen predigen um so lauter.

Im staatlichen Opernhause ist die große ehemalige Hofloge auch ihres früheren heraldischen Schmuckes entkleidet. Man hat über die kahlen Flecke kunstvoll roten Stoff drapiert. Und doch sieht alle Welt durch diesen Purpur hindurch auf das Fehlende und mustert nicht sehr erfreut das heutige Ersatzpublikum unter den Purpurfalten auf den ehedem königlichen Sesseln. Ich habe mir am Sonntag wieder einmal die Walküre gegönnt. Ich mußte wieder einmal, um nicht trübsinnig zu werden, das eine Wort hören: "Nothung! Nothung! Neidliches Schwert!" Eine strahlende Brünhilde als Gast, Maria Höllischer, ist zwar nicht von dem Stamme, aus dem allein entsprossen wir Walküren wähnen, aber das wallende Blond des falschen Haares deckt viel; und das helle Jauchzen ihrer sieghaft großen Stimme entschädigt uns vollends. Wie der Wälsung aus Nacht und Not kommt und nach kurzem Aufleuchten in Nacht und Not fällt, das singt uns ergreifend Fritz Soot, als Siegmund wie federnder Stahl, nicht wie flackernde Flamme. Nun gibt es wieder viele, die sich ihr Herz daran erheben können. Die fünffache Erhöhung des Eintrittspreises für Ausländer ermöglicht es dem Staatlichen Opernhause, die Eintrittspreise für Deutsche noch verhältnismäßig erträglich zu halten. Man sieht wieder bis zum dritten Rang hinauf ein Gemisch von beiden; und die Kontrolle ist, da man seinen amtlichen Lichtbildausweis vorzeigen muß, durchaus stichfest. Aber in der großen Mittelloge, nach der sich früher in den Zwischenakten alle Köpfe drehten, um "Kaisers" oder sonst irgend etwas vom Hofe oder aus der großen Welt zu erblicken, hat sich das Publikum freilich sehr verändert. Über die Brüstung lehnt sich behaglich Herr Leo Abramowitsch Eierschaum, der, wie man sich im Foyer zuraunt, in Sowjetrußland irgend ein hohes Amt bekleidet, neben ihm seine Gattin in schwarzem Samt, von dem sich die Juwelen besonders glitzernd abheben, auf der andern Seite seine Tochter, trotz ihres Backfischalters und brandroten Mozartzopfes schon in schwerer grauer Seide, und alle drei unterhalten sich lebhaft auf russisch über das ihnen gänzlich unverständliche Stück. Am ehesten verstehen es von den Exoten hier im Hause noch die Japaner, denn sie stehen innerlich der alten Welt der Götter und Dämonen noch nicht so fern.

Wir wollen nichts gegen alle diese Ausländer sagen. Ohne sie gäbe es kein ausverkauftes Haus mehr. Denn trotz der im Vergleich zu andern Theatern nicht allzu hohen Preise können sich doch sehr viele Deutsche einen Opernbesuch nicht mehr leisten. Gerade die Geistigen nicht. Es packt eine doch Grauen, wenn man hört, daß jetzt für die früher berühmteste Ärztin Berlins, Dr. Tiburtius, die noch im Greisenalter arbeiten muß, Gelder gesammelt werden, weil sie buchstäblich hungert. Da fragt sich denn jeder akademisch Gebildete: "Wann bin ich nun dran?" Für meine Person verzichte ich gern auf Hungern. Ich bin kein Vielfraß, aber bei besonderen Gelegenheiten gern für auserlesene Genüsse. Da sitze ich beispielsweise zwischen Rebner aus Frankfurt, der mir nachher Bachs Ciaconne geigen will, und dem Grafen Kuno Moltke, für den die Cis-Moll-Sonate auf dem Flügel liegt, bei Tisch. Es gibt als Vorspeise ein paar Schnittchen Niere auf Toast, dann eine Tasse Borschtschok mit einem Teelöffel voll saurer Sahne angerührt, einen kleinen gebackenen Bodensee-Felchen, nachher ein Omelet, vor meinen Augen mit Grand-Marnier von 1830 abgebrannt, und zum Schluß Roseneis aus kalt abgezogenem Centifoliensyrup, mit betörendem Dufte erfüllt, wie man es eigentlich nur in Damaskus zuzubereiten versteht. Während mir dieses Ambrosia auf der Zunge schmilzt, - erwache ich plötzlich.

Das Mädchen will schon ganz früh zur Markthalle; meine Frau holt Geld.

"Du," sagt meine Frau zu mir, "ob wir uns nicht doch mal Kuh-Euter kaufen? Das ist so billig wie Abfall. Und es soll fast wie Kalbsschnitzel schmecken."

Meinetwegen Pferde-Huf. So oder so, das Leben macht mir immer Spaß. Wie es ist, das ist beinahe gleichgültig, wie ich es mir denke, das ist die Hauptsache. Und am meisten Spaß machen mir die Leute, die das Leben "zu nehmen wissen", besonders das brandende Leben der Großstadt. Unter den Linden, Südseite, zwischen Brandenburger Tor und Friedrichstraße, sitzt auf dem Bürgersteig ein Schüttler. Er hat außerdem eine gelähmte und verkrüppelte linke Hand, deren Finger er immer wieder massiert, denn trotz Sonnenscheins ist es kalt, wenn man da so stundenlang auf den Fliesen an der Hauswand sitzt. Ich trete in den Torgang des Hauses, in dem Bilder aushängen. Von einem Künstler gemalt, der offenbar nach dem Grade der Ausgezogenheit seiner Modelle bezahlt wird. Mich reizt der Alkoven-Kitsch garnicht. Ich habe hier nur einen bequemen Beobachtungsposten, von dem aus - von seitwärts rückwärts aus - ich den Schüttler sehen kann, nicht mehr seinen wackelnden Kopf, aber Beine und Hände und Mütze im Schoß. Der Schüttler singt herzbrechend und immer wieder dasselbe:

"Leb' wohl, leb' wohl, du schöne Welt,
Ich scheide gern von Dir!"

Na, man nich! sagt jovial ein dicker älterer Herr im Vorbeigehen und wirft dem Schüttler in die Mütze 50 Mark, die sofort zerknüllt in die schon stark gebauschte rechte Jackentasche wandern. Schon kommt ein Zweimarkschein von einem Kinde. Zehn Mark. Wieder zehn Mark. Fünf, zwei, zwanzig, fünf. Das Leben flutet so schnell vorüber, die Almosen flattern so dicht, daß ich mit dem Addieren kaum mitkomme. Da: eine Krone dänisch. Sie kommt in die linke Jackentasche. Wieder einmal 50 Mark. Zehn, zehn, zehn, zehn. Das ist schon beinahe wie Maschinengewehrfeuer. Und jeder Geber trabt eilends davon, ohne sich auch nur umzusehen. Und der Schüttler stopft und stopft die Taschen und versichert unermüdlich, daß er von der schönen Welt scheiden wolle. Na, man nich! Ich habe genau 30 Minuten an der "Erwachten Jungfrau" vorbeigeschielt. In dieser Zeit hat der Schüttler genau 3242 Mark eingenommen. Donnerwetter. Vielleicht stellt er mich mal als Privatsekretär an. Aber selbst diese Aussicht besticht mich nicht. Ich erkläre also offen, daß wir in einer höchst närrischen Welt leben: man läßt hochstehende geistige Arbeiter und genau so von der Handarbeit müdegewordene Kleinrentner verhungern, man verzichtet aus Sparsamkeit auf das Abort-Papier in Berliner Schulen, aber man verweist immer noch nicht die Schwerverdiener von der Art dieses Schüttlers von der Straße. Übrigens ist es im Auslande nicht viel anders. In Newyork bewegte sich ein Rumpfmensch, dem einmal beide Beine am Knie abgefahren waren, mühselig auf einem mit Rollen unterlegten Brettchen vorwärts. Jeder, der in dem deutschen Restaurant in der 44. Straße, Ecke 9. Avenue, verkehrte, kannte ihn, denn da pflegte er mittags zwischen zwei Bettelschichten zu essen. Abends nicht. Abends ließ er sich seine künstlichen, sehr gut gearbeiteten Beine anschnallen, die in dem Badezimmer seiner eleganten Hotelwohnung hingen, zog sich weltmännisch an und fuhr, von seinem Diener-Chauffeur geleitet, in seinem Auto aus.

Man kann rund um den Erdball fahren und erlebt es immer wieder, daß das gute Herz zu Ausgaben an falscher Stelle verleitet, während wahre Armut keine Helfer findet. Vor Jahren hob einmal in Aschabad an der persischen Grenze ein Bettler seine handlosen Armstümpfe zu mir empor. Ein Turkmene. Ich warf ihm die kleine landesübliche Münze, eine Tenga, zu, die er geschickt durch Zusammenklappen der Stümpfe auffing. Mein Gastfreund aber, Turkmenenhäuptling, runzelte die Stirn.

"Warum gibst Du diesem Verfluchten? Siehe, er ist ausgestoßen aus unserem Volk. Ihm sind die Hände abgehackt, mit denen er - gestohlen hat!"

Ja, das sind hartherzige Barbaren da draußen. Aber stolz auf die Ehrlichkeit ihres Volkes. Sie kennen weder Schloß noch Schlüssel an ihren Truhen. In Berlin aber sind "Sicherheitsschlösser" jetzt der gekaufteste Artikel; und wenn man allen Dieben hier - auch den ganz feinen, die das grobmaschige Strafgesetzbuch nicht zu scheuen brauchen, den Existenzdieben und Preiswucherern - die Hände abhacken wollte, so würden alle Beile stumpf.

Diese großen Diebe arbeiten unermüdlich am Pult und Telephon bis in den späten Abend hinein. Dann wollen sie Abspannung. Aber wo? Die Dielen und Bars und Likörstuben und Cabarets hängen einem doch schon zum Halse heraus. Für die Theater ist es zu spät. Halt! Nicht zu spät. Seit einigen Tagen haben wir eine ständige Nachtbühne in Berlin. Zwischen halb elf und elf fängt die Vorstellung erst an, um halb eins ist sie beendet, dann kann man noch gerade einen Cocktail vor dem Zubettgehen nehmen. In dem kleinen fast kreisrunden, aber überraschend viel Personen fassenden Saal des "Theaters am Kurfürstendamm", im Gebäude der ehemaligen Sezession, wird wortlos - auch das tut den Nerven wohl - eine Pantomime von Vollmöller gegeben: Die Schießbude. Man ist um Mitternacht auf sehr grelles, sehr prickelndes, sehr erotisches gefaßt. Grell, - mag sein; Pantomimen müssen so deutlich sein, daß man den Text nicht vermißt. Aber dieses Stück ist, wie die Kurfürstendammer sagen, geradezu unanständig anständig. Bis auf eine winzige Konzession, die Umkleideszene der Tänzerin hinter dem transparenten Wandschirm. Aber auch das wirkt keusch, wird von der gertenschlanken Katta Sterna sehr dezent gegeben. Sie ist das zum Leben erweckte, kunstvoll gefügte Püppchen des Schießbudenbesitzers. Und Katta Sterna ist, beiläufig bemerkt, eine entzückende Spitzentänzerin, tanzt, ihrer Rolle entsprechend, geradezu Feinmechanik. Der Alte hat noch so ein paar Wunderwerke geschaffen, die durch das phantastische Künstlerdrama tollen. Ein Roué und die kupplerische Schießbudenfrau, prall und frech von Ilka Grüning dargestellt, schlagen sie entzwei. Künstlerschicksal. Das geht freilich schon über den Horizont der erholungsbedürftigen großen Diebe und Schieber. Sie fangen an wegzubleiben. Ein literarisches Publikum sitzt einsam zwischen vielen leeren Bankreihen. Schade. Aber wir leben ja im Jahre 1922. Da haben nachts nur derbere Genüsse Kurswert.
26. Oktober 1922 (Donnerstag).



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© Karlheinz Everts