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Zurück von Oberammergau - "Einholen macht keinen Spaß" - Unser Heimflug - Teuerungs-Galgenhumor - Hunger - Berlin als Rummelplatz Europas - Die neue Revue in der Komischen Oper - Nur nicht zu viel Arbeit!
"Wir haben nur bei einem Pharisäer gewohnt."
"Die Betten bei Christus Lang waren wirklich gut."
"Der Hohepriester hat uns durchaus nicht bewuchert."
So schnattert es auf der Tauentzienstraße durcheinander.
Es wäre einfach unschick, nicht in Oberammergau gewesen zu sein. Alles, was was hat, war dort, und alles, was was ist, behauptet, dort gewesen zu sein. Jedenfalls, ganz Berlin W hat sich inzwischen heimgefunden, tauscht Ferienerinnerungen aus und erzählt von Oberammergau, auch wenn man nur in Heringsdortf oder in Polzin oder gar nur in Ferch gewesen ist. Alles tut verwundert darüber, daß ich nicht aus Oberammergau komme; und noch mehr darüber, daß ich es eingestehe. Es waren ja aber so viel Berliner da, und einmal im Jahr muß ich mich ein paar Wochen von ihnen erholen. Ich bin in den Ferien ganz berlinerfrei gewesen. Ich sage aber nicht, wo. Und ich habe in den überfülltesten Zügen immer einen guten Sitzplatz bekommen. Ich sage aber nicht, wie. Und ich bin die vier Wochen über quietschvergnügt gewesen. Ich sage aber nicht, warum. Aber als dann, noch vor Ablauf der Ferien, unsere Perle uns schrieb:
"Sehr geehrte Herrschaft! Vielen Dank für die schöne Ansicht und aller Grüße. Gerd und Helmut sind Engels, sehr artig und fleißig. Das Kochen macht spaß, nur das Einholen nicht, alles teurer. Cobu 95 das halb Pfund, Gasrechnung macht 1353 Mark. Viel Spaß und gute Erholung, seien die Herrschaften gegrüßt von | ||
Ihrer Ottilie," |
da kriegten wir eine unbändige Sehnsucht nach Berlin, stolperten in strömendem Regen wieder herein ins Deutsche Reich, wobei an dessen südlichstem Zipfel uns eine eherne Tafel mit Wappen und der Inschrift "Königreich Bayern" - wirklich, Königreich - grüßte, sausten zum nächsten Flugplatz und stiegen in die Lüfte. Meine Frau wollte mir unterwegs, während tief unten das schöne Deutschland wie ein Buntfilm abrollte, die letzten Pralinen, die noch aus sagenhaft billiger Zeit stammten, durch das Schiebefensterchen der Kabine vorn auf den Führersitz reichen. Sie zog aber die Hand wieder zurück. Die Pralinen rochen so eigentümlich. Oder waren es nicht die Pralinen? Wahrhaftig, eine andere Dame im Abteil, die sich mit ihrem Manne auf dem Heimflug nach Prag befand und mit ihm die beiden Rücksitze innehatte, konnte das gelegentliche Durchsacken bei Sonnenböen nicht vertragen und war luftkrank geworden, hatte auch nicht mehr rechtzeitig den Kopf zum Fenster hinausstrecken können . . .
Es gibt nichts wundervolleres als einen Reiseflug in der Himmelsbläue. Otto Julius Bierbaum hat eine "Empfindsame Reise im Automobil" nach Italien beschrieben, in hellster Begeisterung, und doch ist solch vorsintflutliches holpriges Ungetüm nichts im Vergleich zu dem beschwingten Flugzeug. Nur: alle empfindsame Schwärmerei verflüchtigt sich, wenn ein allzu zarter Mitpassagier grüngelb im Gesichte wird und die Stunde seiner Geburt verflucht. Es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich so etwas gesehen habe; die meisten Menshen vertragen sogar eine Bahnfahrt schlechter als das Fliegen. Vor vier Jahren um diese Zeit habe ich einen Reiseflug quer über ganz Kleinasien gemacht, einen kleinen Sack mit 25 Pfund köstlicher Feigen zwischen den Knien, um ihn den Angehörigen daheim mitzubringen, tief unter mir die Welt wie am ersten Schöpfungstag, die Gebirge wie rohes Geschlinge auf die Öde hingeworfen. Hier in Deutschland ist das Bild ganz anders, da wird es vor allem durch die schönen Wälder von der Kahlheit befreit, da leuchten bunte abgezirkte Felder empor, da sieht man auf eine reiche Kultur hernieder, da betten sich rotbedächerte Dörfchen ins Land, da recken sich Dome in Städten zum Himmel, - verdammt, wenn wir bloß die luftkranke Dame nicht an Bord hätten. Meine Frau hat zu der Heimreise, die ja von keinem Eisenbahn- oder Autoschmutz bedroht ist, die beste weißseidene Bluse angezogen und beginnt für sie zu fürchten. Bei der ersten Zwischenlandung in Augsburg legen wir die Frau Doktor aus Prag ins Gras: "Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!"
Weiter, nur weiter. So, nun wären wir in Berlin. Ich bin einmal in 3½ Stunden von Berlin bis an den Bodensee geflogen. Diesmal hat es umgekehrt länger gedauert, denn die Entente verbietet uns schnelle Flugzeuge. Aber schön war es, herrlich schön. Davon kann man wieder elf harte Arbeitsmonate zehren. Fast bringen wir so etwas wie Rührung für unser altes Berlin auf. Es scheint unverändert. Auch sein unbekümmert fröhliches Mundwerk. Ein paar Häuser weiter von unserer Wohnung befindet sich ein Wurstladen. In dessen Schaufenster entdecken wir ein neues Schild mit der in aller Not der Zeit launigen Inschrift: "Auf Preiserhöhung kann gleich gewartet werden." Sie sind nicht unterzukriegen, diese Berliner. Das sagt sich der ausgeruhte, frohgemute, wohlgemästete Heimkehrer aus den Ferien, aber gleich tags darauf, beim ersten Gang in den Beruf, kommt die Erschütterung. Es gibt doch immer mehr Leute, denen das Scherzen vergeht. Zwei alte Damen begegnen einander vor mir. Fadenscheinige schwarzseidene Mantille, uraltes Kapotthütchen, eingefallene blutleere Gesichter unter dem weißen Haar, schleppender müder Schritt.
"Ihnen - geht es - wohl auch nicht - gut?", keucht leise die eine der Schicksalsgenossinnen ihrer Bekannten zu.
Die hebt ein wenig die Augenlider und haucht, kaum hörbar, nur das eine Wort:
"Hunger!"
Das Herz krampft sich einem zusammen. Man tut ja schon so, was man kann, für Notleidende rundum, man schränkt sich selber überall ein und gönnt sich nur den einen Monat Fettlebe, - aber solch eine Begegnung wie hier mit den beiden alten Damen wirft einen einfach um. Es gibt ungezählte solcher Existenzen in Berlin - und wohl auch in anderen Städten. Sie leben unaufdringlich. Sie sterben unaufdringlich. Als Todesursache gibt der Arzt Herzschwäche an, aber er könnte ebenso gut schreiben: "Verhungert!" Man sieht mit diesem schleppenden Schritt, mit diesem knöchernen Gesicht, mit diesen fahlen Lippen auch manchen alten Herrn, wenn man in der Dämmerung, der Ausgehzeit solcher Gestrandeten, scharf Umschau hält. Über die Weste spannt sich noch die eiserne Uhrkette, die sie zum Austausch für die goldene bekamen, die sie dem Vaterland opferten; eine Uhr aber befindet sich in der Westentasche nicht mehr. In der Dämmerung gehen sie zum Metzger und holen sich mit zitternden Fingern für ein paar armselige Papierscheine Wurstsuppe; oder auch Fleischabfall, falls dieser nicht für die Hunde schon ausverkauft ist. Um sie herum aber donnert die großstädtische Brandung, lärmen junge Vielverdiener. Die Masse merkt von den Unaufdringlichen nichts.
Die Masse sieht nicht die Flammenschrift an der Wand und läßt sich durch hohläugiges Elend nicht stören. Le Roi Peuple s'amuse. Berlin war einmal ein kleinstädtisches Nest, war einmal die aufstrebende Metropole von Dichtern und Denkern, war einmal eine glänzende Kaiserstadt; heute ist Berlin - der Rummelplatz Europas. Es gibt hier so viel billige, grelle, schreiende Genüsse wie kaum anderswo; und kaum anderswo rentiert sich auch so die Spekulation auf den schlechten Geschmack. In Anreißermanier verkünden gegenwärtig Plakate und Zeitungsanzeigen, daß ähnliches, wie die neue Revue "Europa spricht davon" in der Komischen Oper, selbst in Paris und London nie geboten worden sei. "Über 200 Mitwirkende!" Jawohl; und leider wohl auch mindestens zwei Dutzend Verfasser, deren jedem nur ein einziges dürftiges Szenchen von den vielen einfiel, die nun unvermittelt und sinnlos aneinandergepappt sind. Mit solchen sogenannten Revuen, die alles im abgelaufenen Jahre Geschehene in mäßigem Humor und viel Farbenpracht und ein bißchen Wehmut tunken, pflegt ja immer die großstädtische Saison zu beginnen. Aber gegen diese neue Revue ist die dümmste Operette ein Chimborasso an Geist. Im Londoner Palace-Theater sieht man weit besseres und gediegeneres. Selbst in der längst entschlafenen Berliner Olympia ("über 300 Mitwirkende!") gab es wenigstens hübschere Tänzerinnen. Es scheint, daß hier in der Komischen Oper, in der einst Maria Labia als Carmen uns hinriß, für jeden Abend solche junge Mädchen engagiert und eingekleidet werden, die tagsüber Heringe verkaufen oder Pakete austragen. Es ist vielleicht hart, einen Rummel so zu kritisieren. Aber wenn unsere Armut uns zwingt, Revuen zu geben, die allenfalls in Glatz oder Charbin Begeisterung erregen könnten, soll man nicht hinausschreien, ganz Europa spreche von dieser selbst in Paris und London nicht übertroffenen Schau. Es ist ein glitzernd farbenbuntes Ausstattungsstück, wie man es hie und da im Zirkus sieht, nur gänzlich ohne zusammenhängende Fabel und nahezu ohne jeden Witz. Aber der Neuzeit entsprechend, wie man zu sagen pflegt. Aus acht Schlitzen im Vorhang lugen einmal acht nackte Frauenbrüste. Oder es steigen, nur mit der Andeutung eines Spitzenhemdchens und einem Muff bekleidet, zwölf Mädchen von der Bühne zu einem Umgang durch das Publikum ins Parkett, um sich von den Herren "wieder zuknöpfen zu lassen". Oder bei der Szene "im Himmel" kauern ähnliche Ausgezogenheiten überall herum. Leider saß ich mit meinem Zeiß-Glas im Theater, das schonungslos alle Illusionen über Anmut zerstört; man sollte nur kurzsichtige Leute und nie mit Operngucker hierherlassen. Wenn der Kriegerverein in Hinterniedertupfenhausen eine Festaufführung veranstaltet, ist die sogenannte "Apotheose" am Schluß die Hauptsache. Auch das gibt es hier. Es ist eine Apotheose in den neuen Reichsfarben, wobei immer neue Gruppen von Mädchen, immer wieder neu phantastisch kostümiert, ihre große Quadrille schreiten; aber, ich weiß nicht, ich finde es, wenn ich auf etliche Dutzend entblößter Bauchnabel starren muß, gleichgültig und gleich geschmacklos, ob weiter oben und weiter unten die Draperie nun in schwarz-rot-gold oder schwarz-weiß-rot oder in blau-weiß-rot gehalten ist. Die Masse Mensch vor diesem Rummel, der von ½8 bis ½12 Uhr abends dauert, ist freilich dankbar und glücklich. Manchmal fröstelt mich. Vielleicht bin ich der einzige einigermaßen Gebildete im Hause. Wenn in dem Stück ein Fremdwort vorkommt, etwa, daß ein Diplomat "exterritorial" sei, dann kreischt das Publikum vor Vergnügen, denn es hält das für einen Witz. Von den üblichen Schlagern zündet kein einziger. Die größte Offenbarung aber ist für mich, daß nur sehr wenige Fremde im Theater sitzen, daß es von den Tausendmarkplätzen an bis oben hin vollgepfropft mit Berliner Mittelstand ist, soweit er heute noch gut verdient: ganze Schlächtermeisterfamilien, städtische Arbeiter, junge Bankangestellte mit ihrem Schatz, Verkäuferinnen in Gruppen. Sie alle schmunzeln, wenn auf der Bühne gesungen wird:
"Mädchen, |
und sie alle wischen sich eine Träne der Rührung aus dem Auge, wenn irgend etwas Politisch-Sentimentales ertönt, ganz gleich, ob für Bismarck oder für Rathenau, für den Dreispitz des alten Fridericus Rex oder für ein modernes Strickmützchen mit schwarz-rot-gelber Rosette, denn es herrscht ja allgemeiner Amüsier- und Burgfriede äußerster Geistlosigkeit. Es ist schade, daß dicht vor der Komischen Oper, am Bahnhof Friedrichstraße, jetzt ein Bauzaun mit dem Schild unserer ersten "Turmhaus-Aktiengesellschaft" starrt, wo es bisher seit Jahren einen Rummelplatz gab; da hätten alle diese Leute sich viel besser vergnügen können.
Wer von unseren lieben Berlinern etwa deshalb zur Komischen Oper geht, um nach der Vorstellung an irgend eine der "Über 200 Mitwirkenden" am Theaterausgang Anschluß zu finden, der irrt sich. Erstens sind die Mädchen zum größten Teil ebenso solide, wie zum größten Teil das Publikum. Und zweitens sehen die Unsoliden unter ihnen doch nur auf Edelvaluta. Berlin ist wirklich zum Rummelplatz Europas geworden. Aber für die Eingeborenen sind nur die billigen Sachen, während die dunkelhäutigsten Fremden mit Kennermiene wählen. Der Grund unserer Verarmung ist nicht etwa nur, wie uns in Zeitungen und auf Revue-Bühnen erzählt wird, der maßlose Groll des Peliden Poincaré, sondern vor allem unsere garnicht zeitgemäße Scheu vor Mehrarbeit über den Acht-Stunden-Tag und das engste Zunftmaß hinaus. Wer noch Fäuste und Ellbogen hat, der verdient zur Zeit in der Reichshauptstadt noch gut und gern sein Dasein und sein Vergnügen, aber nichts mehr für Zeiten der Not. Und die Leute tun so, als ob solche Zeiten nie kämen. Schon übersteigt bei den Stellenvermittlerinnen - ein seit Jahren nicht mehr gesehenes Schauspiel - die Zahl der wartenden Dienstmädchen die der Herrschaften. Aber sonst nimmt noch jeder den Mund mehr als voll. In einer Berliner Pressestelle für auswärtige Blätter wird ein Laufbursche neu eingestellt. Man erklärt ihm, was er zu tun habe, wann diese und jene Zeitung zu holen sei, wann dieser und jener Brief zum Bahnhof gebracht werden müsse; und frühmorgens solle er immer das gebrauchte Wasser aus der Waschschüssel in den Arbeitszimmern ausschütten. Da reckt sich der klassenbewußte Dreikäsehoch empor und sagt:
"Nanu, ick denke, ick bin Radfahrer un nich Stubenmädchen?"
21. September 1922 (Donnerstag).
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In der Knock-out-Bar und vor dem Sportpalast - Vom Boxen - Breitensträter zu Hause - Der farbige Film, der sprechende Film - Umwälzung in der Wahlpropaganda - Sierings gegen Fischbecks - Unsere Überfremdung
In der "Knock-out-Bar" in der Potsdamer Straße, schräg gegenüber dem Sportpalast, geht es hoch her. In Motz' Sporthotel in der Dessauer Straße, wo die auswärtigen Koryphäen sich treffen, wimmelt es ebenso. Kein Mensch, selbst der mondscheinblasse Tauentzien-Ästhet nicht, spricht noch von Türkensieg oder Einstein-Sonnenfinsternis oder Dollarkurs, sondern von Kinnhaken und Clinch und Fighters und Nierenstößen. Selbst die Fahrstuhljungen im Adlon träumen mit geballten Fäusten. Berlin ist auf dem besten Wege dazu, in die Boxraserei Amerikas, Englands und Frankreichs zu verfallen. Ich gehe jede Wette darauf ein, daß die Dreikäsehochs aus der Ackerstraße mehr von Dempsey und Breitensträter und Carpentier wissen als von Hindenburg und Goethe und Derfflinger.
Die Konjunktur ist ja gegeben. Das deutsche Volk ist eingepfercht und umschnürt, es darf laut Versailler Vertrag und laut Weimarer Verfassung nur noch im Geiste der Völkerversöhnung - während seine Feinde unversöhnlich bleiben - erzogen werden, ist der Romantik der militärischen Dienstjahre beraubt, sieht jedes Vorwärtsstreben in den Alltagssorgen erstickt, muß sich seine Politik in Paris diktieren lassen, ist in der Luftfahrt geknebelt und kann eben bestenfalls auf dem Gebiete des Sports Rekorden nachjagen. Im Boxen hofft es gerade jetzt den "Anschluß an internationale Klasse" zu erreichen. In Paris ist Carpentier, der einstige Weltmeister, von einem Gegner niedergeschlagen worden, der unseren Breitensträter mit Mühe nur "nach Punkten" besiegen konnte. In Riesenbuchstaben ist dies am Sportpalast plakatiert. Davor aber drängen sich Tausende, schon am Vormittag, um noch eine Eintrittskarte zu einem Breitensträter-Abend zu erhalten, aber 14 000 Karten sind, schon am Vormittag, vergriffen, und die Nichtbefriedigten bleiben den ganzen Tag draußen eingekeilt stehen, um wenigstens am Spätabend nahe an der Quelle erfahren zu können, wer gesiegt hat; und andere Tausende hocken drüben in der Knock-out-Bar und in allen umliegenden Lokalen und sprechen aufgeregt über die "Papierform" der einzelnen Kämpfer.
So entlädt sich die künstlich gefesselte Mannhaftigkeit eines Volkes. Man will und muß Helden haben. Die des "blutbesudelten alten Regimes" hat man abgeschafft; dafür lechzt man nach dem Blute im Ring der Boxer.
Mit einem einfachen Arbeiter, der den Lohn eines ganzen Achtstundentags freudig für die Eintrittskarte hergegeben hat, komme ich darüber ins Gespräch. "Erlau'm Se mal!", sagt er überlegen, und erzählt mir, daß Boxen einfach zur Körperkultur gehöre und außerdem den darin Ausgebildeten gegen Überfälle schütze. Ach was! Das - Zusehen beim Boxen kultiviert nicht und schützt nicht; von den 14 000 im Sportpalast sind 13 000 nur wegen der Sensation gekommen, und vom Rest betreiben vielleicht 300 wirklich das Boxen. Außerdem ist eine einzige Mauserpistole oder ein gemeines Dolchmesser stärker als Dempsey. Ja, wenn die Begeisterten wirklich alle selber dem Faustkampf huldigten und wenn überhaupt alle Volksgenossen auf Schlagring und andere "unfaire" Dinge verzichteten! Aber von den Besuchern des Sportpalastes haben sicher mehr als tausend einen in der Tasche; dieses ganze Publikum macht einen nichts weniger als ritterlichen Eindruck. "Ick hau' Dir ene, det de Mordkommission Dir nachher von de Wand abkratzen muß!", sagt einer auf einem 1000-Mark-Platz, als eine Meinungsverschiedenheit um den Platz entsteht. Aber die Backen glühen, die Augen funkeln, der Wildgeruch steigt auf, als es zur Hauptentscheidung des Abends kommt. Nach Breitensträters Sieg umtobt ihn ein rasender Beifall. Einmal schon hat sein Gegner zu Boden müssen, ohne freilich ausgezählt zu werden. Jetzt wird er mit schnellen, harten Stößen an die Seile gedrängt, ein Schlag in die Magengrube läßt ihn schwanken, in die Seile greifen, darin hängen und vornüberklappen, in demselben Augenblick sitzt ein furchtbarer Hieb auf seiner Kinnlade, er stürzt auf die staub- und kolophoniumbedeckten Bretter, das schweiß-feuchte Gesicht bekommt eine graugelbe Tünche, und über ihm wird ausgezählt: es ist wie ein Todesurteil. Aber Breitensträter mit seinem goldblonden Haarschopf steht da wie ein helmumbuschter klassischer Sieger. Weit offen erscheinen ihm die "internationalen" Tore. Nun ist er bald "ganz Klasse" und kann mit seinem Manager daran denken, vielleicht schon im nächsten Jahre Dollars zu scheffeln. In Papiermark hat er schon einen ganz hübschen Posten, der sich besonders gemehrt hat, als er - unter die Filmstars ging und in allerlei halsbrecherischen Tricks "Den Helden des Tages" mimte. Man sollte meinen, der Händedruck eines solchen Burschen von eiserner Kraft müsse genügen, um einem Besucher den ganzen Tag zu verderben. Nicht doch! Hans Breitensträter kann ganz zart sein. Ich meine nicht einmal, wenn er sich in Damengesellschaft befindet, die natürlich auf ihn erpicht ist, sondern - wenn er zu seiner Geige greift und Chopins Es-Dur-Nocturno den Saiten entlockt; oder wenn er seine Orchideen betreut, unter denen eine eigene Züchtung, die Cattleya Trianea Breitensträteri, ihm die größte Freude macht; oder wenn er mit seinem Hänschen, dem kleinen gelben Kanarienvogel, um die Wette pfeift; oder wenn er seine putzige Sammlung von Teddybären, von denen einen einzigen zu besitzen, sein ganzer Stolz gewesen wäre, als er noch ein armer Junge war, streichelt. Er ist also nicht etwa so ein ungeschlachter, animalischer Gesell, wie der über und über tätowierte englische Boxkollege Harry Reeve oder wie mancher Ringer. Jedenfalls ist er schon in jungen Jahren, dank dem Betriebskapital seiner zwei Fäuste, zu einem großen Unternehmen geworden, das einen ganzen Stab unterhält, vom Manager bis zum Sekretär, vom Trainer bis zum Masseur, - und da er eine ungeheure Willenskraft besitzt, in Kopenhagen einmal sogar 10 Runden mit frisch gebrochenem Finger durchstand, hofft er noch sein Ziel zu erreichen, als Stolz Deutschlands einmal Weltmeister der Schwergewichtsboxer zu werden.
So ist er einer jener jungen Deutschen, an denen, wie man zu sagen pflegt, die Öffentlichkeit nicht vorübergehen kann. Sie kann es am gesamten Sport schon nicht mehr. Die Papiernot zwingt die Zeitungen, auf lange politische Erörterungen zu verzichten, immer mehr im Telegrammstil zu schreiben, - aber der Sportteil wächst. Und noch ein zweiter Teil der Zeitungen: der sich mit dem Film befaßt. Die größten Berliner Blätter haben dafür schon ihre eigene Beilage. Auch auf diesem Gebiete gibt es ja schon "Welterschütterndes" durch deutschen Anstoß. Wie ich hier verraten kann, wird über kurz oder lang eine verblüffende deutsche Erfindung alle Geschäftsleute der Flimmerleinwand in Aufruhr versetzen: während die Farbenphotographie bisher nur Zeitaufnahmen machen konnte, wenn auch schon in leidlich kurzen Momenten, so ist jetzt ein Berliner Wissenschaftler so weit, uns sogar den bunten Film versprechen zu können, also ganz lebenswahre, leuchtend farbige Bewegungsbilder selbst einer wirbelnden Flammentänzerin. Und kurz vorher ist der "sprechende" Film von drei anderen deutschen Erfindern uns vorgeführt. Es quäkt nicht mehr ein Grammophon, das doch niemals genau auf die Lippenbewegung der Darsteller eingestellt werden kann, es handelt sich garnicht mehr um die übliche Plattenaufnahme, sondern um ein gleichzeitiges "Photographieren" von Bewegung und Ton auf den Bilderstreifen, sodaß beim Abrollen des Films, langsam oder schnell, gleichzeitig dazu gesprochen, gesungen, gemurrt, gekichert, geflüstert wird. Das silberne Lachen unserer Filmstars, die natürlich samt und sonders "Perlzähne" haben, ließe man sich schon gefallen, auf Charlie Chaplins Wiehern wäre sein Publikum auch wohl versessen, - aber wenn alle unsere Filmschauspieler ihre Rollen nun auch sprechen sollen, dann fürchte ich im Gegensatz zu den Enthusiasten, die schon von einem vollkommenen Ersatz der lebendigen Bühne sprechen, eine grausame Enttäuschung. Wenn sie alle von der Leinwand zu uns sprächen: härnse, mei Kudester, des wär' aber happch! Mit dem Hochdeutschen ist es bei vielen doch Essig. Mindestens die Hälfte von ihnen sächselt oder berlinert. Die kleineren Chargen können oft mir und mich nicht unterscheiden. Wenn's Schambesche vum Maleddebeemche in'n Bachschlombes botscht un sich sei' Quetsch verbällt - um etwa auf gut Mainzerich zu sprechen -, so mag das auf dem Bilde zum Entzücken sein, nur sprechen soll das Kerlchen nicht. Natürlich, Paul Wegener kann sprechen. Auch viele andere, die vom Theater kommen. Aber viele können es nicht. Und dann: das Bild ist international verständlich, das kapiert sogar der Eskimo und der Zulukaffer, aber mit dem Sprechen ist die Internationalität dahin. Nielmals könnte "Anna Boleyn" nach England verkauft werden, wenn Henny Porten deutsch zu Heinrich VIII. spräche; und völlig vertattert säßen wir vor den vielen russischen, amerikanischen, italienischen Filmhelden, die jetzt Gott sei Dank wortlos über die Leinewand zittern. Also den farbigen Film wollen wir uns schon gefallen lassen, aber mit dem sprechenden Film wollen wir es uns lieber überlegen.
Und doch: ein Geschäft steckt darin. Von der langen Erklärung der drei Erfinder des sprechenden Films habe ich nichts begriffen, ich bin kein Physiker, die "Ionisierung der Luft" und dergleichen Dinge sind für mich Chinesisch, aber ich will den Herren gern helfen. Hier meine Idee: man stelle den Sprechfilm in den Dienst der Politik! Unsere Kandidaten für den Reichstag und die übrigen Parlamente werden von den vielen Wahlreden ja schon halb blödsinnig. Nun brauchen sie die Rede - vor Spiegel und Aufnahmeapparat - nur einmal zu halten. Achtundvierzig Stunden später können sie in zehntausend Lichtspieltheatern losschmettern. Hei, wie Adolf Hoffmann die Arme wirft, wie er den "Imperralismus" niederkartätscht! Das Publikum rast vor Entzücken. Und dann in bunter Reihe Ledebour und Kahl, Helfferich und Rosi Wolfstein, Wirth und Petersen! Es wäre eine Lust zu leben. Man könnte sich bei der Papiernot alle Wahlflugblätter sparen. Und die Redner wären unangreifbar, die Stuhlbeine blieben an den Stühlen, die Schutzpolizei brauchte nichts zu überwachen. Und endlich hätte das Volk die Gelegenheit, sich alle Politiker vorführen zu lassen, sie sozusagen hintereinander zu verhören, alles zu prüfen und das Beste zu behalten. Und wenn einer niedergebrüllt wird, dann brauchte man bloß Otto Reutters Gesicht für wenige Augenblicke auf der Leinwand erstrahlen und sein politisch-harmloses Couplet singen zu lassen: sofort wäre alles beruhigt, belustigt, quietschvergnügt.
Ansonsten ist es ja in der Politik nicht mehr schön. Ich habe im vorigen Jahrgang meiner Berliner Briefe von dem erbitterten Kampf erzählt, den zwei weibliche Exzellenzen mit einander führen, die jetzige Frau Handelsminister Siering, die vom Wedding stammt und rot ist, mit der früheren Frau Handelsminister Fischbeck, die vom westen kommt und zur Demokratie gehört. Weil das Wohnungsamt für Fischbecks noch nichts hat, müssen Fischbecks bei Sierings im preußischen Handelsministerium noch mit einwohnen, aber Sierings, die früher am Wedding nur zwei Zimmer hatten, möchten von ihren jetzigen 21 nichts abgeben. Das hat zu den größten Schwierigkeiten geführt, wie Abtreibung des Closetschlüssels und dergleichen mehr; auch vertrugen sich die demokratischen Hühner im Ministerstall nicht mit den sozialdemokratischen, wenigstens schaffte Frau Siering die demokratischen unter der Behauptung, daß sie stinken, eigenhändig hinaus und versuchte sie in Fischbecks Küche zu stopfen. Der Kampf der weißen und der roten Rose nimmt inzwischen immer heftigere Formen an. Kürzlich ist das ministerielle Silber, bestehend aus einem Zigarettenetui, abhanden gekommen. "Ha!", sagt ihre Exzellenz Frau Siering, "Ha! Das können nur diese Fischbecks gewesen sein!" Fischbecks haben eine Tochter, die verheiratet und sehr gut situiert ist, aber man kennt ja diese infamen Burschoa, die vom Schweiß der arbeitenden Exzellenzen leben. Die hat einen Schlüssel zu der Wohnung. Die, nur die, kann es gewesen sein, - und schon ist Kriminalpolizei bei der jungen Frau und forscht nach dem silbernen Etui. Daß Fischbecks dadruch nicht gerade milder gegen Sierings gestimmt werden, ist klar. Aber Frau Siering sagt: "Ick weeß schon!" Die ganze Leipziger Straße ist in heller Aufregung. Und in der Wilhelmstraße und Unter den Linden nehmen alle weiblichen Exzellenzen Partei. "Das muß vor den Staatsgerichtshof!" Es ist entsetzlich. Europa zittert.
Während aber die Wohnungsnot hier solche Verheerung anrichtet, weil eine alteingesessene Berliner Familie, wie es die der Fischbecks ist, nicht gleich unterzubringen war, siedeln sich immer mehr Ausländer, meist sehr östliche, in der Reichshauptstadt an. Und noch viel mehr Ausländer kaufen die Häuser. Man will es schier nicht glauben, aber es ist wahr: in der Kaiserallee, der besten Wohnstraße von Berlin W.-Wilmersdorf, gehören von insgesamt 236 Grundstücken - nur noch 4 privaten deutschen Besitzern. Unsere Mieten gehen ins Ausland. Unsere Dividenden gehen ins Ausland. Unsere Kohlen gehen ins Ausland. Es dauert nicht mehr lange, dann - sind wir alle nur noch Angestellte und Arbeiter im Dienste des fremden Kapitals. "Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt!", verkündete nach dem Umsturz Scheidemann.
28. September 1922 (Donnerstag).
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"Der liebe Gott in Frankreich" - Okkupationsleben bei uns - Das Lied vom Dollar - Zehntausend Mark in der Hand und nichts zu essen! - Midas-Schicksal - "Die Zähmung der Widerspenstigen" im Großen Schauspielhaus - Agnes Straubs Delila - Papierservietten und Schlemmersteuer
Ein Leben führen wie der liebe Gott in Frankreich! Es ist erstaunlich, wieviel Leute diesen Wunsch äußern, ohne sich ihn klar zu machen. Die Redensart bedeutet ja garnicht, daß der liebe Gott dort geehrt und verhätschelt und von folgsamen Kindern betreut wird. Nein: die große Revolution hat den lieben Gott in Frankreich abgeschafft und daher - hat er dort nichts mehr zu tun. Also ein Leben führen "wie der liebe Gott in Frankreich" heißt nur: ein Faulenzerleben führen. In Frankreich selbst ist längst ein ganz anderer Ausdruck üblich geworden. Man wünscht sich "une petite occupation dans le pays occupé", eine kleine Beschäftigung im besetzten Gebiet, was im Französischen nach dazu ein mehrdeutiges Wortspiel ist. Also es ist besser, Soldat oder Kaufmann oder Beamter im vergewaltigten Deutschland, als lieber Gott in Frankreich zu sein. In Berlin bekommt jetzt jeder Ententesoldat auf unsere Kosten ein Ministergehalt. Eine belgische Stenotypistin bei dem Wiedergutmachungsausschuß, die vorher Ladenmädchen in einem Pianofortegeschäft in Antwerpen war, bezieht ein Monatsgehalt von über 40 000 Mark, was im Oktober 1922 eine ungeheure Summe ist, wofür sie täglich nur von ½10 bis 1 Uhr Dienst zu tun hat; für den Rest des Tages bemüht sich Monsieur le Capitaine, ihr Vorgesetzter, um das Vergnügen der schon älteren und gänzlich reizlosen Person. Unser englischer Marineüberwacher erhält monatlich mehr Verpflegungszuschuß, als unser gesamtes Reichskabinett Gehälter. Ein Registrator bei den Berliner Engländern, als einfacher Maschinenschreiber nach Deutschland gekommen, der ältere deutsche Offiziere dienstlich natürlich mit den Händen in den Hosentaschen empfängt, sucht jetzt eine neue große Segeljacht mit mehreren Kajüttschlafplätzen zu erwerben, wobei es ihm, wie er sagt, auf etliche 100 000 Mark mehr oder weniger nicht ankommt. Das sind die Offiziellen. Aber auch die Privatleute, dir irgend eine kleine Beschäftigung herführt, schmunzeln über ihr Herrgottsleben in diesem köstlichen Berlin. Da hat einer gerade für eine Million gegenwärtiger deutscher Papiermark sich in der Nähe Berlins in einem Vorort eine hübsche kleine Villa mit fast 2 Morgen Garten, darin 105 alte Obstbäume und ungezählte Beerensträucher, gekauft; nach seinem Gelde, in Dollars, sind das jetzt nur etwa 1900 alte kaiserliche Reichsmark. Und für zwei Dollar, also 8 Mark, kann er erster Klasse hin und zurück nach München fahren.
Kein Wunder, daß dieses vollwertige Geld, das wie Aladins Zauberlampe alles herbeischafft und jeden Wunsch erfüllt, alle Gespräche beherrscht. Selbst Unbekannte, selbst Trambahnnachbarn, selbst Barbiere fangen nicht mit dem Wetter an, sondern mit dem "Dollahr", die zweite Silbe ehrfürchtig betont. Von dem täglichen Stand des Dollars hängen nicht nur die Preise in den Läden ab, die nachgerade täglich umredigiert werden, sondern mehr noch - das Verschwinden verschiedener Waren. Sie "gehen aus". Sie verschwinden im Keller des Kaufmanns, um zögernd wieder hervorzukriechen, wenn der Dollar vielleicht auf 3000 oder noch viel höher steht. Man spricht dann von der Raffgier des Kaufmanns, aber in vielen Fällen wohl mit Unrecht. Er will sich nur nicht von begüterten Hamsterern, die Witterung von der Kursentwicklung haben, gänzlich auskaufen lassen, sodaß alle anderen Kunden das Nachsehen hätten. Vor dem "Dollahr" hat er übrigens ebenso viel Angst, wie seine Käufer; denn wenn er sein Lager einige Wochen früher oder einige Wochen später auffüllt, kann dies für ihn den Verlust eines Vermögens bedeuten. Er muß daher ständig auf die Tendenz des Dollars achten, darf garnicht auf die nur zweimal täglich erscheinenden Zeitungen warten. Wer aber hat ein Börsentelephon, wer hat den Goldvariometer stets vor sich? Das hat zahlreichen Leuten - bis zu zehnjährigen Bürschchen herab - einen neuen Beruf erschlossen, den des "Kursansagers". Es ist eine weitverzweigte Organisation geworden. Jedenfalls schrillt überall der Fernsprecher. Der Käsehändler, die Wurstfrau, der Schneider und alle sonstigen Interessierten wissen - in jeder Viertelstunde am Tage, wie hoch der Dollar gerade "Brief" und "Geld" im Freiverkehr auf der Berliner Börse steht.
Der Staat steht allen diesen Dingen in vollendeter Hilflosigkeit gegenüber. Er kann nur Papiergeld drucken. Aber nicht einmal das kann er richtig. Einmal fehlt es, wie im Hochsommer dieses Jahres, an großen Scheinen, sodaß man einen ganzen Rucksack voll Papier heimtragen mußte, um seine Monatsrechnungen zu bezahlen; ein anderes Mal, so jetzt, ist kein Kleingeld aufzutreiben, aber dafür flatterten die neuen 10 000-Mark-Scheine umher wie Tiergartenblätter im Oktoberwind. Am vorigen Sonnabend hatten wir Ultimo. Also Gehaltszahlung. Frühmorgens auf der Straße ist schon eine Art Winkerdienst organisiert. Geldbriefträger gehen an den Schaufenstern entlang und schwingen stehenbleibend 10 000-Mark-Scheine oder halten sie an das Spiegelglas; da drinnen aber winkt der Kaufmann mürrisch ab. Was soll der arme Stephansjünger machen? Im vierten Stock hat er 470 Mark und 30 Pfennig zu viel erhobene Steuer zurückzuzahlen, eine Treppe tiefer 231 Mark 20 Pfennig Fernsprechgebühren einzuziehen. Aber er hat nur die großen Scheine, und die Aufgesuchten haben auch nur große Scheine. Nichtraucher stürzen in den Tabakladen, um sich ein paar Glimmstengel, Marke Stinkadores Canailleros con infamia, zu erstehen; Vegetarier verlangen, mit Schweißperlen der Angst auf der Stirn, ein Viertel Gehacktes beim Schlächter; Antialkoholiker trifft man in der Zylinderdestille, wo sie mit Todesverachtung einen durch Soda gemilderten Whiskey schlürfen; und Tante Eulalia läßt sich im Buchladen ahnungslos einen Band Boccaccio verabfolgen. Sie alle tun es nur, nachdem sie vergeblich versucht haben, ihre regulären Alltagsbedürfnisse in ihrem Stammgeschäft zu decken. Und sie alle erleben auch bei dem Versuch ungewohnter Einkäufe eine Enttäuschung in dem unbekannten Laden. Denn niemand kann herausgeben. Jedermann hat es schon einige Male in aller Herrgottsfrühe getan und ist erledigt. Nun gibt es groß Geschrei. Der Whiskeytrinker schüttelt sich, macht "Brr!" und sagt, er wolle wiederkommen. Nichts da! Zechpreller! Kennen wir schon! Er solle mal gefälligst seine Uhr zum Pfande lassen. Übrigens der Kellner drüben in der Bar könne wohl den Schein kleinmachen, aber freilich nehme er 200 Mark Wechselgeld. Verflucht und zugenäht! Es geht einem mit dem vielen Geld wie weiland König Midas, in dessen Händen buchstäblich alles zu ungenießbarem Golde wurde. Am schlimmsten hatten es an diesem betrüblichen Sonnabend in der Sintflut der großen Papierscheine die eiligst gegründeten Genossenschaften. Der Laufbursche hat einen Wochenlohn zu bekommen, die Stenotypistin noch Überstundengeld, der Kommis sein Gehalt: macht zusammen 10000 Mark, fertig, ab! Und nun ziehen die drei als Genossenschaft hungrig in der Stadt umher und möchten teilen und können doch nicht.
Nur getrost. Uns allen wird ja bald geholfen sein. Es kann nicht mehr lange dauern, dann kostet vielleicht ein einziges Theaterbillet 10 000 Mark. In Wien ist man sogar über diese Stufe schon hinüber. Ganz so weit sind wir in Berlin noch nicht. Unsinnig teuer sind hier nur solche Kunstgenüsse, die auch der des Deutschen unkundige Fremde versteht, also Große Oper, Revue, Nachtnackttanz. Das ernste Schauspiel ist noch zu erträglichen, freilich nur für einen kleinen Teil unserer gebildeten Welt erträglichen Preisen zu haben, und da sind nicht gleich alle Plätze durch Hotelboys schon vorweggeholt. Auch Herr Raffke und Frau Großverdiener und Fräulein Neureich gehen nur ungern in so unverständliche Stücke. Wir anderen aber können beispielsweise wieder in das Deutsche Theater und uns Wedekinds "Simson" mit Agnes Straub als Delila ansehen, weil das von demselben Konzern gepachtete Große Schauspielhaus derweil pfropfenvoll ist, - gefüllt mit einem Publikum, das darauf brennt, es zu erleben, wie der "Widerspenstigen" Shakespeares auf offener Bühne die Röcke aufgehoben und Hiebe auf die gestrammten Höschen verabfolgt werden. Es ist wirklich merkwürdig, daß unsereins sich von Shakespeare abwendet und zu Wedekind hinpilgert. Das macht: im Großen Schauspielhaus wird Shakespeare verpöbelt, im Deutschen Theater aber spielt die größte Darstellerin, die die deutsche Bühne gegenwärtig besitzt, die Dirne der Philister. Sagte ich Dirne? Pfui über mich! Agnes Straub ist Königin, gleichviel, wen sie verkörpert. Ist Heldin, Weib, Mensch; nie aber Tier. Vielleicht kann Irene Triesch naturhafter wimmern; vielleicht kann Lucie Höflich herzhafter lieben; vielleicht kann Käte Dorsch drolliger lachen; vielleicht kann Maria Orska schlangenhafter züngeln. Aber diese Agnes Straub, deren Leben so inbrünstige Arbeit und immer wieder Arbeit für jede neue Aufgabe ist, daß jede neue Rolle für sie von Vorstellung zu Vorstellung wächst, jedesmal wieder neues Erlebnis wird, baut sich selber ihre Gestalten auf. So wächst sie auch in Wedekind nicht hinein, sondern über ihn hinaus. Anfang 1914 erlebte ich die Première des "Simson" in Berlin. Mit Tilla Durieux als Delila. "Pfui Teufel, wie interessant!", sagten die Männer im Zuschauerraum; und die Frauen - schämten sich. Das war das gleißende Tier, wie es Wedekind sah. Und jetzt kommt Agnes Straub, in ihrer eigenen Blondheit, und spielt die Tragödie des Weibes , das als Spielzeug zertreten wird und sich aufbäumt und in aller Schmach doch noch Rache nimmt. Das ist von einer geradezu furchtbaren Pracht. Die Brunhild in der Delila. Das Weib von Vorzeitgröße; größer als Simson, stärker als Siegfried. Schauer der Ewigkeit wehen von der Bühne her, aber auch heiße Wellen des Weibtums. War diese Delila nicht halbnackt, als sie sich dem Og von Basan in des geblendeten Simson Gegenwart in die Arme warf? Still, nur still; sprecht nicht davon. Sie war so, wie sie sein mußte. Auch die unerhörte Kühnheit in der Hüllenlosigkeit war rein und groß. Ihr voreilig Schmunzelnden, Ihr Überflüssigen, Ihr Banausen habt ja nur ihren Rücken gesehen. Agnes Straub, die junge Witwe, deren Mann im Felde für Deutschland fiel, ist nicht euer. Sie war als Kind der Mutter Gottes geweiht. Die kleine Goldhaarige mit den weit aufgerissenen, fragenden Augen im Annenkloster in München war ein phantastisches Ding, sah Wunder ringsum und rang in brünstigem Gebet um Erfüllung. Sie wäre dort vielleicht innerlich verzehrt worden, und übrig geblieben wäre ein Häufchen Asche im Nonnenschleier. Da kam das kleine Mädchen zur Erholung von Keuchhusten in die Tochteranstalt des Klosters im Dachauer Moos, tat in einem Mysterienspiel als Königin des Lichtes mit und "ward entdeckt". Die Malerschaft dort unten, die übrigen Künstler, die Theatergewaltigen rasten vor Entzücken, der Ruhm der noch nicht Sechzehnjährigen wurde in die Welt hinausdepeschiert, sie wurde vom Vater aus dem Kloster genommen und in gute Lehre für die Bühne gegeben. Dieser Vater hat uns viel geschenkt. Die Tochter aber ist kein "Star" geworden. Sie hat, man denke, noch nicht einmal ein Auto. Sie arbeitet rastlos weiter, sie stürmt immer höher; und uns Mitlebende, Miterlebende wird man einst beneiden.
Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt; "Menschen, Menschen san mir alle", und nach dem Theater verspürt man Hunger. Man geht also wieder einmal in eine Gaststätte, von der man weiß, daß sie auch noch Deutsche zu erschwinglichen Preise tränkt und atzt. Durch Vergleich mit den Vorkriegspreisen stellt man sehr schnell fest, daß die Theater noch lange nicht so aufgeschlagen haben wie die Restaurants. Im Handumdrehen ist hier ein Tausendmarkschein entflattert. Und nun die Lächerlichkeit - und doch möchte man über sie heulen - am Schluß: in der geschwollenen Rechnung sind auch 2 Mark für zwei Papierservietten angeführt! Seit acht Tagen ist das fast überall in Berlin so. Ein sinnfälliges Zeichen unserer Verlumpung, unserer Balkanisierung. Die einfachste, unbedingt gebotene Reinlichkeit wird zum Luxus und muß bezahlt werden. Sonst bitte, der Handrücken tut's ja wohl auch. Aber unsere hohe Stadtobrigkeit berät hin und her, wie die gesamte Schlemmerei sich noch eigens besteuern ließe. In jeder Wirtschaft soll man getrennte Rechnung über das behördlich zugelassene steuerfreie Maß von Essen und Trinken erhalten und über das Mehr, das versteuert werden muß; mit auf die Rechnung geklebten Steuermarken. Schon sehe ich einen neuen Sammelsport entstehen. Augenblicklich ist noch das vornehmste das Aufspeichern von 1921er Mosel aus guten Lagen. Wer keinen 1921er hat, der ist fast nicht mehr gesellschaftsfähig am Kurfürstendamm. Aber nun wird die Sache erst nett und einfach, sie ist ohne Keller zu machen, ist im Portefeuille unterzubringen: man wird, um seine Zugehörigkeit zu den oberen Zehntausend zu beweisen, fortan Schlemmersteuermarkensammler!
5. Oktober 1922 (Donnerstag).
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