"Rumpelstilzchen"

"Un det jloobste?"
(Jahrgangsband 1922/23)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 7 - 9
2. bis 16. November 1922


7

Der Herr - Küß die Hand! - Der neue Fimmel des Gent-Lehmann - Eine Erinnerung aus Harnekop - Vor dem sprechenden Film in der Urania - Der Rechenkünstler - Vom sterbenden deutschen Film - Ein Gruß Geraldine Farrars - Der alte Kronprinzen-Klatsch - Dollar 5500

"Ein Herr ist da!"

Man kann dem Dienstmädchen immer noch nicht beibringen, daß es Besucher um die Karte bittet oder nach dem Namen fragt.

"Führen Sie ihn ins rote Zimmer!"

Ich klappe seufzend Oberstleutnant Niemanns "Kaiser und Revolution" zu, das beste und knappste, inhaltsreichste und erschütterndste Memoirenbuch über 1918, das ich schon zum vierten Mal Satz für Satz mir in Herz und Hirn eingrabe, lege ebenso seufzend meine eben angebrannte stattliche "Efecto" auf den Aschbecher, zupfe mir die Krawatte zurecht und gehe ins Empfangszimmer zu dem unbekannten Herrn.

Es ist der - Abortfegergeselle. In Berlin Installationsgehilfe genannt.

In solchen Augenblicken erweist sich der wahre Weltmann, der Mensch von unerschütterlicher Selbstbeherrschung. Wenn ich ein Monokel trüge: es hätte nicht gewackelt. Nur ein fragender Blick, die leichte Andeutung einer Verbeugung meinerseits, dann seine Eröffnung über den Zweck seines Daseins, und schon habe ich mich gefaßt, greife in die Brusttasche nach einer Präsentzigarre, die ich ihm reiche, und sage: "Freut mich, freut mich kolossal, daß Sie unserem Lokus zu Leibe gehen wollen!" So sind wir im Handumdrehen gute Freunde. Der fremde junge Herr zückt seinerseits das Zigarettenetui und will sich sogar durch eine Neuerburg erkenntlich zeigen, die ich nächst der Queen aus alten Friedenszeiten für die heute beste Marke in Deutschland halte; nachher hat er in der Küche strahlend erzählt, man finde unter den Bourgeois nicht viele so ulkige Hühner, wie ich eines sei, und er habe sich ganz gut mit mir unterhalten. Selbstverständlich. Ich schätze ehrlich jeden Handwerker, wer es auch sei, und das umsomehr, als ich selber nicht die geringste Handfertigkeit besitze, wie sie sonst der Durchschnitts-Familienvater entwickelt. Auch mit dem früheren Reisenden in Abortanlagen der Firma Villeroy u. Boch, Herrn Hermann Müller, hätte ich mich sicher gut verständigt. Wenn er bloß nicht nachher deutscher Reichskanzler geworden wäre.

Nachdenklich macht nur eins: daß heute jedermann "Herr" oder "Dame" sein will. "Mutter, der Mann mit dem Koks ist da", hieß ein altes Berliner Liedchen. Es ist heute unmöglich. Nein, der - Herr mit dem Koks ist da. (Oder auch nicht, weil er auf Preiserhöhung wartet.) In den Läden werden die Käuferinnen schon unterschiedslos "Gnädige Frau" genannt. Wir daheim haben das gänzlich unzeitgemäße Wort fast ganz abgeschafft. Die Dienstmädchen sollen zu unsereins ruhig Frau Soundso sagen. Aber draußen auf der Straße sagt der Laufbursche zu der Grünkramhändlerin, die vor ihrem Keller steht, selbstverständlich Gnädige Frau. Wir in Berlin kennen noch den feinen Benimm! Wozu wären wir denn allesamt Gents? Und was noch fehlen sollte, das lernt man im Kientopp. Da verbeugt sich bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit der Herr vor der Dame und küßt ihr die Hand. Können wir auch. Machen wir. Durch ganz Berlin geht ein Schmatzen und Schnalzen, wie es der lautlose Film natürlich nicht kennt; je lauter, desto echter und vornehmer, denkt der Hausdiener von Pinkus u. Löwenstern, Mäntel engros, und knallt mitten auf dem Bürgersteig, ein Fels in der Brandung, der ihm befreundeten Frau Trambahnritzenschieber Paula Lehmann einen Kuß auf die fleischige Rechte. Alles handküßt. Noch mehr: alles handschuhküßt. Straßenbahnwagen stauen sich, weil mitten auf dem Damm der Stift aus der Produktenhandlung, Benno Stehkragen, zuerst die sechzehnjährige Lilli Meyer auf die staubig-verschwitzten Glacés küßt und nachher Frau Meyer auf die kamelhärenen Handschuhe. Die aus Süddeutschland kommenden Besucher Berlins, die weder an "Gnädige Frau" noch an Handkuß gewöhnt sind, staunen über die neuen Bräuche, die das Volk auf der Straße übt. Fehlt nur noch der Hofknix vor der Rotundenfrau, wenn sie eiligen Damen die erste Klasse des Klosettchens öffnet. In Mitteldeutschland küßt man den verheirateten Damen, in Ostpreußen und Baltien jedem weiblichen Wesen von gesellschaftlich gleichem Stande die Hand, aber doch nur - in Gesellschaft, zu Hause, nach Abstreifen der Handschuhe. Da küßt auch noch die erwachsene Tochter dem Vater die Hand, was man im Kientopp freilich nie zu sehen kriegt; das ist eben einfach ein Bezeugen der Ehrfurcht. Einmal in meinem Leben habe ich sogar einem Mann die Hand geküßt. Noch dazu einem alten Sonderling. Es war in Harnekop in der Mark, bei einem der vielen erinnerungsstarken Besuche, die ich dem Grafen Haeseler gemacht habe. Wir hockten an dem einzigen freigemachten Eckchen seines Schreibtisches, auf dem das Abendbrot für uns stand: zwei Tassen bitteren Tees und vier unbelegte Butterbrodschnitten. Zweieinhalb Stunden hatte ich dem alten Feldmarschall schon mit glühenden Wangen zugehört. Er hatte sich über die strategische Anlage der Schlacht von Mars la Tour in Eifer geredet, von seinem Prinzen Friedrich Karl und von Caprivis Korpsbefehl vor der Schlacht,dem berühmten Befehl à deux mains, gesprochen, und dann ging er zur jetzigen Armee über, der von 1912, in der nicht mehr das Bataillon, sondern der Mann - der Einzelschütze - die taktische Einheit sei, und kam zuletzt auf Deutschland und den kommenden Krieg. Es wetterleuchtete in dem allmählich dunkel werdenden Gemach. Das waren die beiden Sonderlingsaugen in dem faltenzersägten Gesicht vor mir. Da übermannte es mich. Ich haschte nach Haeselers Hand und küßte sie. Das ist nun freilich ein Einzelfall. Mehr Praxis habe ich auf diesem Gebiet gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Und da bin ich zwar nicht für die neuberliner Gentsitten, auf Handschuhe die Lippen zu drücken, aber sonst mehr für das Ostpreußische als für das Mittel- oder gar Süddeutsche. Die verheiratete Frau in allen Ehren. Aber ich habe auch garnichts gegen junge Mädchen. Nur genügt da eine hauchzarte Berührung der Fingerknöchel. Die Kerls im Kino küssen zu hoch hinauf. Auf den vollen Unterarm. Oder gar in die Beuge hinein. Sowas gehört sich doch nicht auf die öffentliche Flimmerleinewand.

Fichte nannte den Staat den Erzieher zur Menschheit. Heute ist der Film der Erzieher zum Menschlich-Allzumenschlichen. Wie die Affen sitzen alle vor diesem Eitelkeitsspiegel und machen nach, was sie sehen. Unsere schlicht bürgerlichen Frauen fangen an zu schwänzeln, unsere jungen Leute lernen Geckenmanieren. Aber vielleicht kommt es auch noch mal anders. Technisch jedenfalls ist der Film im Sturmlauf einer neuen Entwicklung. Nun ist der "sprechende" Film, der Phonofilm, in Berlin nach der Presseschau auch einem größeren Publikum vrogeführt worden. In der alten braven Urania in der Taubenstraße, in deren physikalischen Kabinetten mit ihren vielen von den Besuchern leicht in Gang zu setzenden Maschinen schon mancher Junge sich zum künftigen Elektroingenieur begeistert hat und deren tägliche Lichtbildvorträge aus allen Gebieten des schönen und des volkstümlich Lehrreichen schon Hunderttausende für ein paar Stunden über den Alltag erhoben hat. Da also hat es jetzt ein paar Tage lang aus der Flimmerleinewand gesprochen, geschluchzt, gelacht, gegeigt, geflötet, getrommelt. Die vollkommene Gleichzeitigkeit von Bild und Ton ist erreicht. Auf dem Filmband selber sind die Töne photographiert, wie sie kommen, und werden, genau wie Band und Bild abrollen, aus dem Photographischen wieder ins Akustische übertragen. Den Vorgang hier im Einzelnen zu erklären, würde zu weit führen. Genug: ich sah Leute, die unter dem Eindruck des gewaltigen technischen Fortschrittes geradezu erschüttert waren. Noch stört freilich manches, wahrscheinlich deshalb, weil man einen blechernen Trichter als Lautverstärker nicht entbehren kann, wie bei den alten Grammophonen, mit denen wir es im übrigen hier garnicht zu tun haben. Also die Leute, die in Heyermanns "Brandstiftung" etwa in der Szene vor dem Untersuchungsrichter auftreten, sprechen alle durch die Nase und sprechen alle etwas blechern. Die Dame, die uns den Prolog gibt, scheint an Stimmbruch zu leiden. Der Geiger, der Schumanns "Träumerei" spielt, kratzt mitunter, als hätte er Griffel und Schiefertafel in der Hand. Aber das sind wohl nur Kinderkrankheiten. Als ich als Schüler die erste, gerade frisch erfundene Edison-Walze hörte und das "Guten Morgen, Herr Fischer!" mit Quetschstimme ertönte, habe ich auch gelacht. Und als ich die ersten Hüpfversuche eine Flugzeuges sah, ahnte ich nicht, daß ich etliche Jahre darnach mit einem solchen Vehikel Familienausflüge machen und während des Krieges in Gaurisankarhöhe über feindlichen Heeren mich tummeln würde.

Übrigens liegt das deutsche Filmgeschäft, wie Kenner versichern, schon längst auf dem Krankenbett. Die Valutastärkeren drehen auf deutschem Boden mit deutschen Statisten ihre Filme, stellen dazu nur einige exotische eigene Stars dritten Ranges und erobern mit Leichtigkeit unseren Markt. Uns bleibt, wie schon immer gesagt, nur noch eins: der deutsche Kopf. Einer unserer feinsten Erfinder, der nicht von der Praxis, sondern von der wissenschaftlichen Theorie ausgeht, erst dicke Bücher schreibt, dann das Geld zur Ausführung der Modelle sucht, ist der Berliner Astronom und Physiker Stepanek. Von ihm stammt der Farbenfilm, der gegenwärtig der letzten Vollendung harrt. Seinem Geldmann haben Amerikaner 4 Millionen Dollar für die bloße Lizenz geboten. Ein anderer Berliner, der Filmschriftsteller Hutter, ist mit einem kleinen Trick auf den Markt gekommen: Der Rechenkünstler. Auf der Flimmerleinewand tänzelt ein eleganter Herr daher, verbeugt sich und tritt an die Tafel im Bilde, mit der Kreide in der Hand. Das Publikum, wohlgemerkt, das Publikum im Lichtbildtheater, das lebende Publikum, darf ihm Fragen stellen. Einer ruft etwa: "Wieviel ist 37 mal 323?" Und auf der Flimmerleinewand schreibt eilends der zitterige Elegant: 37 mal 323 gleich 11851. Das ist verblüffend. Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich. Noch viel mehr als etwa über "Mensch oder Maschine" im Zirkus Busch, wo man ganz genau weiß, daß doch ein kleines Mädchen im Kasten sitzt; aber hier sitzt kein wirklicher Rechenkünstler hinter der Leinewand. Der Trick ist für lumpige 20 000 Dollar nach Amerika verkauft.

Uns einfachen Leuten schwindelt es. Dabei sprechen die Kinoleute von ernsthafter Pleite. Die Zahl der Luxusautos mit Filmdirektoren darin ist in Berlin im Abnehmen begriffen. Neulich sah ich noch eines mit kokettem Gardinchen an den Fenstern und einem stutzerhaften Chauffeur auf dem Bock. Ein Holländer, mit dem ich da vorbei ging, schüttelte mißbilligend den Kopf. "Solche Karosserien", sagte er, "haben bei uns nur die großen Kokotten!" Er mag schon Recht haben. Es sieht sehr vieles bei uns ungesund aus und hat hektische rote Flecken. Die große Masse namentlich der Gebildeten lebt buchstäblich in Not, - und wer noch nicht in Not lebt, der hat sich wenigstens an allerlei schon gewöhnen müssen, was er früher nicht kannte. Im Kriege hatte ich alte Uniformen und fast alles Zivil verschenkt. An ostpreußische Flüchtlinge und an die Deutschwehr. Einen blauen Anzug fand ich nach der großen Wende 1918 zu Hause wieder vor, und das erste war natürlich, daß ich ihn wenden lassen mußte. Heute schreiben wir, nachdem ich inzwischen manches neue erworben, das Jahr 1922. Und - nun muß ich alles, alles wenden.

Nicht mit Neid, sondern nur mit jener träumerischen Verwunderung, mit der kleine Kinder Weihnachtsmärchen anstarren, sehen wir die Bilder, die "von drüben" kommen. Da ist die unvergeßliche Geraldine Farrar, einst der viel bejubelte Stern unseres Berliner Königlichen Opernhauses. Jetzt ist sie seit langen Jahren schon wieder in ihrer Dollarheimat, schickt uns aber im Film ihren Gruß, als entzückende immer noch "einfach süße" Jungfrau von Orleans. Gust sieht sie aus, die Farrar. Nichts von Krieg, nichts von Unterernährungsteht in diesem lieben Gesichtel. Auch sie hat natürlich ihren Ärger gehabt, den Sieg einer jüngeren Rivalin, der Wienerin Jeritza, an der Newyorker Großen Oper. Macht nichts. Die Farrar setzt sich in ihren Salonwagen, reist quer durch Amerika und erntet Triumphe als Konzertsängerin, wobei ihre Erscheinung wohl noch mehr ausmacht, als ihre Stimme. Als sie, noch ganz jung und morgenschön, in Berlin uns alle bezauberte, heftete sich - so ist es immer bei uns - der Klatsch an ihre Sohlen. Sie sei die Geliebte des deutschen Kronprinzen. Ein Esel brachte das sogar in die Zeitung, natürlich nur andeutungsweise, aber doch unverkennbar. Da kam mit dem nächsten Schnelldampfer - 1. Klasse, denn er hatte es dazu - der amerikanische Herr Papa herüber, ungefähr nur mit Nachthemd und Zahnbürste und Knotenstock, fuhr stracks nach Berlin und verdrosch gottesjämmerlich den Schreiber. Bei der Abschiedsvorstellung der Farrar in unserem Opernhause erschienen Kronprinz und Kronprinzessin. Diese spendete begeistert Beifall, ermunterte durch freundliche Püffe auch ihren Gemahl zu immer stärkerem Applaus, und winkte mit beiden Händen zur Bühne. Vorher hatte sie die Sängerin auch schon mehrmals ins Palais zu sich geladen. Da endlich schwieg der Klatsch.

An dem Klatsch über alles, was "oben" war, sind wir zugrunde gegangen. Jetzt haben wir keine Zeit mehr dazu, jetzt haben wir den kurzen Atem. "Dollar 5500!". Dieser Schreckensruf lähmt die Zungen. Wir haben auch keine Zeit mehr zur Reue. Alles ist über der Not des Alltags vergessen. Vielleicht hat das sein Gutes. Ein neues Geschlecht wächst heran und reckt voraussetzungslos die Fäuste. Noch ist Berlin nicht so wie Wien. Noch jubiliert goldener Leichtsinn über alles hinweg. "Dollar 5500!", raunt ein Verstörter es dem andern zu. Aber an der nächsten Straßenecke trällert ein Junge:

"Jibt Dir das Schicksal eenen Puff,
So weene keene Träne, -
Lach' Dir nen Ast und setz Dir druff
Un bammle nit de Beene!"

2. November 1922 (Donnerstag).


8

Hirsch, Löwe, Fuchs - Von der Martinsgans zur Valutagans - Russische Kabarette - Im "Blauen Vogel" - Castibillioni - Das Erlebnis Niddy Impekoven - Ein Maecen für Studenten gesucht! - Vor dem Pschorrbräu

Hinter der einen Tür sitzt einer, der heißt Hirsch
Hinter der zweiten Tür sitzt einer, der heißt Löwe.
Hinter der dritten Tür sitzt einer, der heißt Fuchs.

Das ist kein Märchen. Das ist allenfalls - für Nichtberliner - ein Rätsel. Sie raten vielleicht: Zoologischer Garten. Oder siegesbewußt: Juwelenankaufsstelle. Fehlgeschossen. Das ist doch das Reichswirtschaftsministerium! Also jene berühmte Stelle, wo unsere kranke Volkswirtschaft kuriert wird, nun schon seit 1918, denn von da ab war die ärztliche Behandlung nötig. Der Patient braucht natürlich vor allem Ruhe, und daher ist es am heutigen kritischen Tage, dem 9. November, ausnahmsweise auch wirklich ohne lärmvolle Demonstrationen in Berlin abgegangen. Und die Hirsch und Löwe und Fuchs horchen hinüber zum Rhein, nach Köln, wo die Strauß und die Wolf, noch mächtigere Leute, Rezepte für Deutschland schreiben. Spaß. Wir haben noch zuviel Geld. Das muß unserer Reichsbank abgezapft und in goldwertes Papier, in internationale Bankscheine, verwandelt werden. Dann ist alles wieder gut. So sieht die Weltgeschichte von heute - hinter den Türen aus. Vor den Türen hören wir dann allerlei über Konferenzen, über Gutachten, über Sachverständige, und wir sind ungemein getröstet.

Nur kommt deshalb morgen die Martinsgans doch nicht auf den Tisch. Die war doch ehedem sozusagen ein Palladium des deutschen Hauses. In Berlin pflegte man sie in der Mehrzahl ihrer Exemplare auszukegeln, wobei die von den Wirten gestiftete Kegelgans sich von der gekauften Martinsgans gewöhnlich durch ihr ehrwürdiges Alter unterschied, aber wieder leidlich jugendlich wurde, wenn man sie, ehe sie in den Bratofen kam, drei Stunden lang kochen ließ. In ihrem sorglich wieder vernähten Leib barg sie Kartoffeln oder Kastanien oder Äpfel, die neben Rotkohl oder Sauerkraut dazu dienten, die Jugend bei Tische von der Unmäßigkeit im Fleischgenuß abzuhalten. Der Gast bekam ein Stück Brust abgesäbelt. Der Vater nach altem Brauch zunächst den Stietz, den fettreichen, mit dem auch die magerste Gans zu kokettieren versteht. Und die Mutter verstand es immer so einzurichten, daß die Gans sechs Beine hatte. Wie Huß ein Vorläufer von Luther, so war die Martinsgans immer ein Versprechen auf die Weihnachtsgans, für die die Berliner Familienväter schon das ganze Jahr hindurch allwöchentlich ihren Beitragsgroschen der Vereinskasse beim Kneipwirt anvertraut hatten, wodurch nebenbei die volkswirtschaftliche Unentbehrlichkeit des Stammtisches klar erwiesen wurde. Diese traute Kegel-, Stammtisch- und Familiengans, die richtige Martins- und Weihnachtsgans, ist heute leider im Entschwinden. Statt ihrer gibt es morgen auf tausend Berliner Tischen bestenfalls gekochten Bars vom billigen Seefischverkauf der Stadt; oder bloß Kartoffeln und Kohl durcheinander oder sonstige Feldküche. Für den heutigen Preis des lieben Vogels hätte man sich früher ein Landhäuschen mit zwei Morgen Garten kaufen können. Im Kriege, damals, als wir 1915 unter Hindenburgs Führung die Randstaaten im Osten überritten, konnten wir in Litauen Gänse zu 1,80 Mark das Stück kaufen. Mit meinem guten strategischen Blick erstand ich sofort eine ganze Heerde, zahlte auch das Futter für den Rest des Jahres, und als wir dann etliche Monate und etliche hundert Kilometer weiter waren, kamen richtig zum Christfest die Gänse an der Front an, und je 5 meiner Leute konnten sich eine schmoren; von den Unteroffizieren, bitte sehr, je 4, denn etwas muß die Charge doch voraus haben. "Wer es bis zum Gefreiten hat gebracht, der steht auf der Stufe zur höchsten Macht," sagt Schiller im Wallenstein. Bei uns stand der Gefreite zwischen Fünftel- und Viertelgans, je nachdem, ob er Unteroffiziersdienste tat oder nicht. Vielleicht kommen diese Zeilen ein paar alten Mitkämpfern zu Gesicht. Wißt Ihr noch? Auch Ihr, die Ihr später Soldatenrat wart und die "Offizierskaste" beschimpftet? Nicht wahr doch, es hat so'ne und so'ne gegeben? Aber nun kommt morgen bei uns allen die Martinsgans nicht auf den Tisch. Sie ist zur Valutagans geworden. Wer einen amerikanischen Onkel in Berlin hat, der kann sich seines Glückes freuen; dem amerikanischen Onkel kostet die Gans in Dollars heute immer nur noch 3,20 Mark, alte deutsche Silbermark. Aber sonst ist sie aus den meisten Familien verschwunden und lediglich portionsweise in Gastwirtschaften, schlecht zubereitet mit einer Allerweltstunke, zu Preisen zu haben, die nur noch jugendliche Schwerverdiener - um nicht das abgegriffene Wort Schieber immer wieder zu mißbrauchen - leichtfertig hinwerfen.

Auch in Pensionaten für Ausländer kommt dieser urdeutsche Vogel freilich noch zu Ehren. Vorausgesetzt, daß die Ausländer keine Angelsachsen sind. Die ziehen den ergiebigeren und trockeneren Truthahn vor. Aber die Gäste aus dem Osten delektieren sich ebenso gern an Gans, wie die Fremden aus romanischen Ländern am Kapaun. Wir verrussen rettungslos. In dem größten der schier unzähligen Berliner russischen Kabaretts, im "Blauen Vogel", wird eine darauf zielende Bemerkung des Direktors Jushnyi, der als Conférencier - Vorkäuer - jede Nummer einleitet, mit verständnisinnigem Gewieher aufgenommen. Gefällt eine der Grotesken besonders, sodaß das Publikum Wiederholung wünscht, so erkennt man den Deutschen daran, daß er italienisch "Da capo! Da capo!" ruft, den Russen aber, daß er lateinisch "Bis! Bis!" bis zur Extase brüllt. Das kann man natürlich auch russisch sagen: "Jeschtscho ras!", nämlich "Noch einmal!" Das versucht der Direktor uns beizubringen. Und als es einer Dame vorn im Parkett gelingt, sagt er: "Sie sprechen ja so gut russisch? Sie sind wohl aus Charlottenburg?" Und ganz Charlottenburg im Parkett und in den Logen schüttet sich aus vor Lachen. Nur die Wiener schauen blöde drein. Sie verstehen den Witz nicht. Sie sind in einer riesigen Flutwelle, auf einmal, nach Berlin gekommen, um in dem Devisentaumel zu raffen, was sich raffen läßt. Alle großen Wiener Spekulanten sind hier aus dem nun so blutleeren Wien eingetroffen. An ihrer Spitze Castiglioni, der noch 1914 ein kleiner Gummireifenagent war, heute aber Castibillioni genannt wird; und er trägt - noch in Kronen, bald vielleicht in Mark, schließlich in Franken - den Spitznamen mit Recht. Leute seiner Art, dazu ihre Damen mit Dutzenden fünfkarätiger Diamanten, füllen heute abends nach Geschäftsschluß die russischen Kabaretts, soweit die Russen selber ihnen noch Plätze lassen; die paar Deutschen und Engländer und Holländer spielen zahlenmäßig gar keine Rolle. Im Kaiser-Allee-Kasino, im Alkasar, im Apollo-Theater und in allen Stadtgegenden sonst noch gibt es russische Spezialitäten, russische Tänze. Das Beste, das uns geboten wurde, fanden wir im "Wanjka-Wstanjka" am Kurfürstendamm. Das war noch die wundervollste, echteste, reinste Romantik. In der Goltzstraße aber ist die blaue Blume der Romantik eben zum - Blauen Vogel geworden. Ein bißchen exzentrisch-expressionistisch. Es ist nicht ganz, aber ungefähr derselbe Vogel, den unsre deutsche Überbrettl hatten. Nur fehlt bei den Russen das Laszive, das grob Sexuelle, die Zote. Ein langes Abendprogramm voll Tollheit, Farbenrausch und Märchen, aber ohne eine einzige Ausgezogenheit. Und dazwischen ganz erschütternde Stimmung. Die Burlaki. Die Lastkahnzieher an der Wolga. In die Seilschlaufen gehängt, stehen, stemmen sich, schwanken vornübergeneigt die acht Männer, in Fetzen und Lumpen, schweißbedeckt. Sie keuchen leis ihre Lieder. Mehrstimmig. Die Bässe wie tiefer Orgelton, vor dem der helle Tenor sich wiegt. Dann ein Anschwellen, ein Ruck, ein Schmettern; und wieder Erschlaffen, Verebben. Dahinter im Abendrot die Unendlichkeit des linken Wolgaufers. Die Herren und Damen im Zuschauerraum weden still, ganz still. Kein historisches Werk, kein Zeitungsartikel kann die Tragödie "Rußland" so sinnfällig uns zu Gemüte führen. Manches im Blauen Vogel begreift allerdings wohl nur der, der selbst an Ort und Stelle war und das Russische auch im Dialekt versteht, - so das ulkig-blöde Lied des kaukasischen Kinto auf seinem melonenbeladenen Esel, der den Traum von der Kamelkarawane singt. Aber daß dies alles Kunst ist, wirkliche Kunst, das merkt auch der Banause, der nur deshalb zum "Blauen Vogel" kam, weil es da so schön spät anfängt, erst kurz vor 9 Uhr.

Es ist heute Mode in Berlin, vor aller russischen Kunst, auch wenn sie nicht so dionysisch ist, sein Haupt zu entblößen. Aber auch wir Deutsche kommen nicht mit leeren Händen. Wir haben noch, ganz abgesehen von der Musik, der Welt vielerlei zu geben. Heute besitzen wir die begnadetste Tänzerin, die je ein Gott erschuf: Niddy Impekoven. Alles, was da die Beine spreizt, die Zehen strafft, die Arme wirft, die Hüften wölbt, die Brüste schüttert, habe ich irgendwann und irgendwo schon gesehen, von den Zelten in Nubierland bis zu denen in Finnmarken, von den Sevillaner Bergen bis zum Tian-Schan; ich habe mit der damals, ach, so jungen, und, ach, schon so betrunkenen Otero einst in Ostende soupiert, die Saharet bei mir zu Hause bei Tisch gesehen, die Sisters Barrison vor und hinter den Kulissen studiert - durchaus, mit heißem Bemühen - und (ich will weiter keine Namen aufzählen) immer doch nur, über die Nackt- und soi disant Schönheitstänze des revolutionierten nachnovemberlichen Berlin hinweg, die große unstillbare Sehnsucht nach der einen, erträumten, wohl unschaffbaren Tänzerin gehabt, die kein girrendes, selbstgefälliges, schwänzelndes Weibchen ist, sondern - Musik. Die menschgewordene Musik. Das ist Niddy Impekoven. Wie so manche große Künstlerin, die das Unwirklichste lebendig erstehen läßt, wie etwa die Tragödin Agnes Straub, von der ich vor einigen Monaten erzählte, ist auch Niddy Impekoven als Kind im Kloster gewesen. Wir nüchternen Protestanten merken immer erst bei solcher Gelegenheit die sinnliche Zauberfülle des Katholizismus. Dieses Kind, Niddy Impekoven, war schon vor zwei Jahren bei uns in Berlin. Mager und unansehnlich; und riß doch schon alle hin. Gerhart Hauptmann segnete sie, weil sie aller seiner Träume Erfüllung sei. Ein alter gütiger Fürst schenkte ihr und ihrer Mutter köstliche Sommerfrischen. Die zünftige Kritik staunte und fand kaum die rechten Worte. Nun ist sie wieder da, jetzt zur klassischen Reife einer Antinous-Statue - nicht Aphrodite-Statue - aufgeblüht, steht statuengleich wie erdentrückt auf der Bühne und erwacht dann bei den ersten Takten zu ihrem Leben in Musik. Die Musik selbst, das Trio hinter der Bühne, kommt unserem Gehör kaum mehr zu Bewußtsein. Wir - sehen die Musik. Was je ein Tonschöpfer sich gedacht haben mag und was die Programmerklärer mühsam nachzukonstruieren versuchen, sie, Niddy Impekoven, weiß es und lebt es. Sie hat eine wundervolle eigene Tanzfigur für das Emporschweben, das Fliegen: man starrt hin und glaubt Zeuge einer Himmelfahrt zu sein. Sie gibt eine so körperhafte Malerei zu den "Vier Temperamenten" Bachs, daß auch der stumpfste Zuschauer nun mit Händen greifen kann, was sanguinisch, was melancholisch, was cholerisch, was phlegmatisch ist. Sie erzählt uns tanzend von der sprießenden und sonnenwärts strebenden, welkenden und sterbenden Blume, daß uns auf einmal die Pflanzenseele erschlossen wird. Im "Marche" ist alles Heroische des Kriegers da und auch, leicht ironisch, alle Eisenfresserei des miles gloriosus. Und wenn nun gar alle Schelmerei, die unter Gottes Sonne denkbar ist, sich in ihrem "Schalk" konzentriert, wenn sie uns mit Fußspitzen und Handspitzen und geschürzten Lippen, die Augen voll Lachen, die ganze Spitzbüberei ihrer Lustigkeit ins Gesicht schnippt, dann gibt es niemand im Saale, der sie nicht lieb hätte. "Little imp", schalkhafter kleiner Elf, wie der Engländer sagt. Sie ist einer, ist ein Imp, diese Niddy Impekoven: tanzt auf den Mondstrahlen der Musik, webt um uns holde Schleier, lockt und neckt und erhebt und erschüttert uns. Und wenn sie einst Mutter von sieben Kindern wäre - sie wäre noch immer die Unberührte. Losgelöst von allem Irdischen, in vollkommener Reinheit. Wenn sie tanzt, ist sie nicht von dieser Welt, sondern besinnungslos hingegeben an die Musik. Tanzabende, sagt sie, seien für sie wie Gottesdienst. Und nun wörtlich, was sie weiter sagt:

"Ich denke etwas, wie ein Gebet: laß mich einfach sein. Nichts soll den Eindruck des Äußerlichen oder Gemachten erwecken. Laß mich demütig sein. Ich will tanzen den Menschen zur Freude und zu meinem eigenen Glück. Ich will tanzen weder um des Geldes, noch um des Erfolges oder Ruhmes willen. Ich will die Reinheit tanzen. Ich will nur Musik fühlen."

Der Vater ist Schauspieler, ein Komiker von Rang; in Frankfurt lebt die Familie, in Berlin hatte Niddy Impekoven ihre ersten Tanzstunden, in den Bergen der Schweiz atmete sie auf in dem Häuschen der Großmutter. Vom Vater wohl hat das Kind die glückliche Gabe, sich hineinzufühlen in jeden Charakter und jedes Temperament. Ihr Jungmädchen-Gesicht, häufig ein Jungbuben-Gesicht, ist ein Spiegel, in dem es immer wieder aufzuckt: schmerzlich, frohbewegt, neckisch, ekstatisch, entrückt, energisch - oder faul, wie ein noch einmal müde emporflackerndes Licht. Nie hat sie das erfrorene Lächeln der Balleteusen. Alles pulst, nichts beengt.

Wenn wir nicht ein so ganz, ganz armes Volk geworden wären, im dem für die notwendigsten kulturellen Bedürfnisse nicht genügend Geld da ist, so müßte es doch Mäcene geben, die etwa unsere jungen Studenten in hellen Scharen in diesen Tempel der Kunst hineinführten. Unsere Musensöhne kämen geläutert wieder herfür; mit einem Spezifikum im Herzen gegen alles Unreine. Der Bierstudent alter Zeit ist ja sowieso schon im Aussterben. Bei den Bierpreisen kein Wunder. Im Pschorrbräu in der Friedrichstraße, im Klausner in der Krausenstraße und überall dort, wo man sonst die jungen Akademiker sah, sitzen heute zumeist Ausländer oder, von Hiesigen, smarte Kaufleute und gut verdienende Angestellte. Davor auf der Straße steht ein Student und verkauft Zeitungen. Wir kommen ins Gespräch. Ja, die teuren Zeitungen. Teuer besonders für unsereins, der berufsmäßig viel zu lesen hat. Aber, wie ist das, - sind die Zeitungen nicht doch noch das billigste Mittel, um ein wenig in die Kulturwelt hineinzuschauen? Im August kostete der "Reichsanzeiger" 73 Mark. Im Oktober habe ich dieses August-Papier alt - für 97 Mark verkauft. Ha! Wenn ich nun 1000 Exemplare abonniert hätte? Dann hätte ich doch beim Verkauf des Altpapiers 24 000 Mark verdient! Ist das nicht ein Fingerzeig des Schicksals, verehrter Kommilitone? Jawohl, meint trübselig mein Student, das ginge schon; die Zeitungen sind wirklich billiger, als acht Wochen später ihr Papier; aber - wo nimmt unsereins das Betriebskapital her? Und seufzend verkauft er weiter seine Spätabendblätter an die Leute, die ins Pschorr gehen, das ihm verschlossen bleibt.
9. November 1922 (Donnerstag).


9

Es macht keinen Spaß - Freude und Preise - Die "Forelle" im Kanzlerpalais - Wyneken-Versammlungen - Der lebende Leichnam - Alexander Moissi - Strindbergs Luther - Wirth auf Freiersfüßen - Großstadtabend

"Es macht keinen Spaß."

Das ist eines der häufigsten Worte, das man heutzutage hört. Die Lust ist noch da, aber die Freude entschwindet. Als mir neulich - so etwas gibt es also wirklich noch - ein sogenanntes Stammbuch vorgelegt wurde, da schrieb ich dem jungen Mädchen ein: "Gut ist, wer froh macht!" Das ist für mich die Summe der Lebensweisheit. Es nützt niemand, wenn man sich kasteit und in die Einöde geht; auch sich für andere abzuarbeiten, wie es die biblische Martha tat, ist allein noch nicht das Höchste. Aber wenn Du - der Vater, die Mutter, der Sohn, die Tochter, der Bruder, die Schwester - da bist oder auch nur genannt wirst und dann den Deinigen die Augen sofort erstrahlen, ja, dann ist es gut; dann bist Du gut. Irgend ein Lumpensammler, der ein Liedchen flötet, ist gut. Selbst eine Bajadere wird vom Gott erhoben. Aber die Patronessa von dreiundzwanzig wohltätigen Vereinen ist grundschlecht, wenn kein zerdrücktes Herz in ihrer gegenwart auflebt, nur Kleider wieder heil und Mägen wieder gefüllt werden. Wie macht man froh? Der Protz läßt ankurbeln, fährt zum Pelzmodehaus und bringt einen Chinchillakragen mit. Ein erzwungenes Marionettenlächeln ist vielleicht der einzige Dank der Frau. Sie ist nicht froh. Vor fünf Minuten war sie es noch. Da ist ihr Kind, das gute Kind, das sonst imme rso lärmend daherkommt, unaufgefordert auf leisen Sohlen geschritten, weil Mama müde aussieht. Und die Portiersfrau, die vor der Tür die Treppe scheuerte, strahlte zur selben Zeit und summte eine fröhliche Weise, denn ihr Mann, o, der gute Mann, hatte ihr zum erstenmal den ganzen Wochenlohn gegeben und war nicht in die Kneipe gegangen.

Zum richtigen Frohsinn gehört nur immer auch ein gewisses Gefühl der Sicherheit, gehört Hoffnung auf Fortbestehen des Glücks. Heute ist uns aber jeder Boden unter den Füßen weggezogen. Du gibst Deiner Frau Geld, sagst ihr: Da, geh', kauf'! Sie erhebt sich mit schleppenden Schritten. Noch kann sie alles nötige besorgen, noch ist die Not nicht da, noch ist die Heizung warm, noch glänzt das neue Leinentischtuch. Aber, "es macht keinen Spaß." Man freut sich nicht mehr mit ganz reinem Klang. Immer wieder klingen Zahlen mißtönend herein. Kein Gespräch mehr ohne Erwähnung von Preisen; es ist, als ob man zu jedem Bissen am Tage eine Prise Karlsbader Salz nehmen müßte, auch zu jedem Schluck, und wenn es 1921er Johannisberger ist, der unwiderstehliche Sorgenlöser. Mag sein, daß man auf dem Lande und in der Kleinstadt noch leichtere Herzen hat. In dem Berlin von 1922 sieht man mehr unfrohe Gesichter, als jemals zuvor. Das lähmt auch die Arbeit. Man spricht jetzt viel von der Aufhebung des mechanischen Achtstunden-Tages, da wir nur durch Mehrarbeit uns wieder auf die Beine helfen könnten. Aber alles hilft nichts, wenn wir nicht wieder froh beim Schaffen sind. Ein wirklich guter Staatsmann - jetzt sucht man ja wieder einen - wäre erst der, der uns als Volk wieder froh macht.

Josef Wirth, der nun sein altes Wort wahrmachen kann, daß er nur eines Koffers und einer Droschke bedürfe, um aus dem Kanzlerpalais auszuziehen, war es nicht. Er hat uns nur noch verbissener gemacht. Er stammt aus ganz kleinen Kreisen, war selber nie innerlich frei, sondern ständig - weil er die Fesseln fühlte - in wildem Aufbäumen. Schon als Schüler gegen die Kinder wohlhabenderer Eltern. Dann als Student gegen die Kommilitonen mit glücklicherer Kinderstube. Er lavierte sich so durch, haßte und wurde brutal. Man nannte ihn auf der Universität die Forelle. Warum, frage ich. "Na, weil er so schillert; und weil er rote Flecken hat." Er war nicht froh und hat nicht froh gemacht; hätte er dies getan, so wäre er selber froh geworden. So aber wurde er zu dem Demagogen, dessen Lust es ist, mit Massen gegen Massen sich selber durchzusetzen, immer wieder Drachensaat zu säen und, wo das eigene geistige Vermögen versagt, um staatsmännisch ein Volk zu leiten, auf die Fäuste da draußen drohend zu verweisen.

Unsere Jugend, unser neues Geschlecht, sehnt sich nach Frohmachern. Gläubig schart sich die junge Welt immer erneut um Führer, die in das gelobte Land der Freude ziehen wollen. Frisch, frei, froh, fromm. Nur kein Aktenstaub! Nur nichts Herkömmliches! So war es schon immer, in jedem Menschenalter, und heute mehr denn je; nur daß heute Rattenfänger und falsche Propheten auf leichte junge Beute ausgehen. Der Fall Wyneken braust noch in den Gemütern. Wyneken galt als Vorstürmer der Freiheit und Freude in der neuen Pädagogik, als größter Bahnbrecher der "entschiedenen Schulreformer" mit ihrem ganzen Anhang von roten und rötlichen Bildungsphilistern. Nun ist Wyneken gestürzt, in zweiter Instanz zu Gefängnis verurteilt, weil er sich an jungen Knaben widerlich vergriffen hat. Der falsche Eros ist des Pudels Kern. In Berlin aber werden öffentliche Versammlungen veranstaltet, um Wyneken als Märtyrer herauszuhauen. Der Nimbus der sozialdemokratischen Partei könnte leiden, wenn man zugibt, daß der Einzige, den man stolz immer wieder vorzeigte, in Morast versunken ist. Seine unerschöpfliche und schöpferische Liebe preisen noch heute die Buben und Mädel, die - man kann es nicht anders nennen - an ihn ausgeliefert waren; aber sie erwähnen auch gleichzeitig seine Sucht zu verletzen, unablässig zu verletzen, blutende Wunden noch zu reizen. Das Krankheitsbild wird ganz deutlich. Aber "wir fragen nicht nach dem Tatbestand, wir fragen nach dem Geist", sagt einer der jungen Leute in der vorgestrigen Versammlung. Und der grenzenlose Subjektivist Wyneken findet die dröhnendsten Verteidiger unter den bestellten Rednern der roten Massenpartei. Ein ordinärer Versammlungspauker, der Renommierpfarrer der Sozialdemokratie, Bleier, hebt mit unerträglichem falschem Pathos an: "Freunde! Menschen!" und eifert gegen die "Kreuzigung des Ethikers Wyneken". Ein anderer Redner mahnt, man solle auf "dies Haupt voll Dornen" nicht auch noch Steine werfen. Es fehlt nur noch, daß man den Mann als neuen Heiland anruft, damit, wie schon so oft in wirren Zeiten, Krankhaftes sich mit dem Mantel der Religion drapieren kann. Die wirklich Jungen mit den blanken Augen in der Versammlung, die mit Schillerkragen und bloßen Knien, die im Dirndlkleid und mit Zopfkrone, schweigen still. Von den Alten, von den Eltern haben sie sich freigemacht. Aber hier dieser Weg führt nicht in die Freiheit, nicht in die Freude.

Dazu gehört Kraft. Dazu gehören heldische Führernaturen, Siegfriedsnaturen "von grozer arebeit", nicht erotische Schwärmer. Leider überwiegt diese letztere Sorte noch im Leben und in der Kunst. Wir sehen nichts Aufrüttelndes, Großes. Es fehlen die Schiller, die Arndt; von Goethe hat sein intimster Gegner Wolfgang Menzel nicht mit Unrecht gesagt, daß der Tatheld ihm etwas fremdes sei und daß ihm am besten, so im Egmont, der sentimentale Don Juan gelinge. Von dem Hahn im Korbe der modernsten Bühnenschriftstellerei wollen wir nicht erst reden. Auch unter den darstellenden Künstlern werden die Femininen immer noch hoch geschätzt. Eine Anzeige mit den lapidaren Worten:

Der lebende Leichnam - Alexander Moissi

hat die Berliner Damenwelt für den Verschollenen, den Erben des Ruhmes von Josef Kainz, wieder begeistert, und die Herrenwelt hie und da leise lächeln lassen. Dieses verzärtelte hysterische Bürschchen ist also wieder in Tolstois Lebendem Leichnam, nachher in Shakespeares Richard II. aufgetreten und hat die Nur-Schwärmer durch den Wohllaut seines Singsangs wieder hingerissen. Andere schütteln sich. Wie kann man nur diesen in Sprache und Spiel gänzlich undeutschen dalmatinischen Spaniolen, der nicht einmal rein psalmodiert, sondern durch die Nase, für den größten deutschen Darsteller erklären!

Etwas stärkeres versprach man sich von der Neuaufführung der "Nachtigall von Wittenberg" Strindbergs im Großen Schauspielhause. Ein Luther-Drama. Das wäre so etwas für unsere Zeit. "Und nehmen sie den Leib, Gut, Ehr', Kind und Weib: das Reich muß uns doch bleiben!" Ich kenne den Luther von Devrient und den Luther von Bartels. Jenes ist mehr kirchliches Festspiel, dieses mehr deutsches Drama. Strindbergs bunte Bilderfolge ist keines von beiden. Eine dunkle Erinnerung taucht in mir auf. Ich sitze neben Schleich, Strindberg gegenüber. Das Thema "Weib" ist abgehandelt, geschichtliche Männer kommen aufs Tapet. Und plötzlich schlägt Strindberg auf den Tisch und sagt: "Auch Luther war der Sohn einer Magd!" Das war seine große Entdeckung. Dem Kind aus dem Volke fühlte er sich seelenverwandt. Das Pochen an die Schloßkirche in Wittenberg war ihm die Forderung um Einlaß in bisher herrschende Kasten. So ist sein Luther - so stolz Strindberg auch auf seine historischen Forschungen dazu ist - schließlich nicht viel mehr als ein gewalttätiger Naturbursche. Im Großen Schauspielhaus sind die Bilder vortrefflich und der vulkanische Werner Kraus als Luther hervorragend. Aber er muß eben Strindbergs Luther spielen. Den Naturburschen. Das kann er. Und die Zuschauer - lachen herzhaft dazu! Nichts von der Größe des gewaltigen deutschen Freiheitskampfes um 1517 geht ihnen auf, weil sie ihnen nicht gezeigt wird. Der Mann, der um die "Freiheit eines Christenmenschen" ringt, dabei mit der größten Macht der damaligen Welt in Kampf gerät, über sich selbst hinauswächst und zum Schöpfer eines neuen Zeitalters wird, kommt nicht auf die Bühne. Wer die Geschichte nicht kennt und nur Strindbergs Luther sieht, könnte versucht sein, das Ganze für albernen Hokuspokus zu halten. Hokuspokus macht auf der Bühne der - Dr. Faust. Er ist Luthers Inspirator. Der mittelalterliche Gelehrte und Zauberkünstler. Alles ist veräußerlicht. Nirgends schreit die deutsche Seele auf, nirgends zuckt das zermarterte Herz des Gottsuchers. Unter meinem alten Kram habe ich eine Flugschrift des "Ecclesiasten Martinus Luther", gedruckt zu Wittenberg 1522, mit dem Titel: "Wider den falschgenannten geistlichen Stand des Babst und der Bischoffen". Da sind noch ein paar vergilbte Randbemerkungen von Buggenhagen darin. Die Broschüre sagt mir mehr als der ganze Strindberg-Luther. Und nun gar erst die Bibel, die deutsche Bibel: um ihretwillen, die uns die gemeinsame Sprache schuf, hat doch sogar ein so katholisches Land wie Bayern diesem großen Ketzer einen Platz in der Ruhmeshalle gegönnt. Bartels' Luther, eine Trilogie, ist noch nie ganz aufgeführt. Sie wäre es wert. Aber das ist natürlich nichts für das Große Schauspielhaus, für den Massenbesuch der Gewerkschaften. Der Weg ist noch lang, bis wir imstande sind, eigene Größe zu erkennen.

Vorerst beherrschen Alltagssorgen, politische Sorgen, Geldsorgen unser Großstadtdasein und werden nicht durch Freude an Größe, sondern durch Lust am Genuß allenfalls abgelöst. Wer dieser Sorgen ledig wird, der mag aufatmen. Vielleicht tut es in diesem Augenblick schon Herr Josef Wirth, der nun als freier Mann auch ohne Attentatsfurcht zu Fuß in Berlin sich zeigen kann. Er ist ja auch in anderem Sinne ledig - und kann nun endlich, da die Bürde von ihm genommen ist, daran denken, sein Heim sich zu bauen. Man spricht heute Abend in der Berliner Gesellschaft weniger von dem neuen Kanzler, als von der Erkorenen des alten. Sie ist zwar, will man wissen, nicht die Schönste in Israel, dafür ist es aber die Tochter Herzfelds; und Herzfeld, der erfolgreichste Spekulant, den unsere Börse je sah, war ein Mann von vielen Aktienpaketen. Herr Josef Wirth hat erst ein ziemlich bescheidenes. Immerhin ist auch die Kanzlerpension nicht zu verachten, und er ist ja auch sonst keine schlechte Partie, und wenn das "on dit" wirklich recht haben sollte, so kann man ja nur gratulieren: in den Honigwochen verlieren auch Parteifanatiker viel von ihrer Bitterkeit.

Hoffentlich entführt die Hochzeitsreise den Glücklichen recht weit. Irgendwohin, wo man frohe Gesichter sieht, nicht so zersorgte, wie in Berlin. Hier hellen sich die Mienen erst abends auf, wenn die elektrische Lichtreklame erstrahlt und der erste Likör hinter der Binde verschwunden ist. Tagsüber stehen die Autodroschken - bei 500facher Taxe III - straßenlang untätig hintereinander aufgereiht. Man fragt sich: wovon leben alle diese Leute? Aber abends flitzt alles umeinander. Da fliegt der Mammon. Da trinkt man Vergessenheit. Der Trubel ist gegen Mitternacht ärger denn je, obwohl immer größere Schichten sich notgedrungen ganz von ihm fernhalten müssen. Die wenigen, die noch nicht aus der Reihe getanzt sind, tun umso intensiver mit. Tagsüber sieht man fast nur noch das arbeitende Berlin, wenn auch das vielfach verdrossen arbeitende Berlin, sieht man auch nur selten aufreizenden Luxus und herausfordernde Valutastarke. Dann kommt auf einmal der Umschlag. Genau zu der Stunde, wo der "Mondkieker" sich auf dem Potsdamer Platz aufbaut, der lustige Dämchen und wißbegierige Herren zu einem Betrage, der für das Leben und für die Amortisation genügt, durch sein Fernrohr schauen läßt. Die Fixsterne sind in ihrem Funkeln wunderbar schön. Aber man will immer wieder auf den Mond eingestellt sein: wenn man da in die gähnenden Krater sieht, so kriegt man sofort einen unbändigen Durst. Also hinein in das babylonische Sprachgewirr der nächsten Likördiele! Da sitzen ein paar frisch angekommene Chilenen und bitten eine deutsche Gruppe, sie möchten ihnen doch ein hübsches deutsches Volkslied vorsingen. Und alsbald ertönt "das" Lied, das heute schon jeder Sekundaner besser als sein "Integer vitae" kann:

"Wir versaufen unsrer Oma ihr klein Häuschen, ihr klein Häuschen.
Und die erste und die zweite Hypothek dazu!"

16. November 1922 (Donnerstag).



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© Karlheinz Everts