"Rumpelstilzchen"

"Was sich Berlin erzählt"
(Jahrgangsband 1921/22)

Dom-Verlag / Berlin, 1922
und
Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 43 - 45
13. bis 27. Juli 1922


43

Reichswehrmeisterschaften - Geßler, der Angefeindete - Die zeitungslose Zeit - Zwei Sechzigjährige: Fulda und Hauptmann - Tollers "Maschinenstürmer" - Wo steckt der Revolutionsdichter?

Der greuliche Ei-Ersatz, Kaffee-Ersatz, Marmelade-Ersatz, die Holzstiefelsohlen und Papierschürzen, überhaupt die meisten Behelfsmittel aus der Blockadezeit sind größtenteils wieder verschwunden. Auf anderen Gebieten aber müssen wir noch menschenalterlang mit dem Ersatz vorliebnehmen. Das alte Soldatenlied: "Siegreich woll'n wir Frankreich schlagen, sterben als ein tapfrer Held" ist zum mindesten nicht mehr zeitgemäß. Man schlägt nicht mehr Frankreich. Man schlägt Rekorde.

Die Ersatzbetätigung des heutigen Soldaten an Stelle der Vorbereitung auf den Krieg, die wir laut Verbot der Entente nicht einmal in den militärischen Handbüchern erwähnen dürfen, ist der Sport. Der gesamte Leutnant stählt dazu sich und die Mannschaften. Der Herr Hauptmann ist schon weniger dafür, aber wenn er ausgestorben ist, sagt der Leutnant, dann können wir aus unserer Reichswehr sämtliche Weltmeister stellen. Diesen Dreh hatte schon Noske verstanden und genehmigt. Er war der erste, der die Forderung stellte, daß die Soldaten neben ihren Uniformen auch Sportbekleidung bekommen müßten. Das weitere besorgte dann der gesamte Leutnant. Die diesjährigen Wettspiele von Heer und Flotte im Berliner Stadion sind leider in die aufgeregte Zeit der Demonstrationsstreiks und der Zeitungssperre gefallen, so daß das große Publikum nicht recht herankam; außerdem waren einige Tage verregnet, und wenn man nach der Stadt zurückwollte, kostete die billigste Fahrgelegenheit im Autobus 40 Mark. Nur die sozialistisch-unabhängig-kommunistische Presse, die allein gedruckt wurde, schimpfte, und zwar über die Verschleuderung von Reichsgeldern, die durch dieses "Sonntagsvergnügen der Herren Offiziere" verursacht werde. Ich glaube, die Roten treten da ins Fettnäpfchen. Auch dem jungen deutschen Arbeiter ist der Sport bald das Heiligste, was er noch hat. Und wer die glückstrahlenden Gesichter der Sieger im Stadion und ihrer Onkel, Tanten, Neffen und Nichten ersten bis siebenten Grades gesehen hat, dem geht doch das Herz auf ohne jede Rücksicht auf die Partei. Wenn einer beispielsweise bloß der Gefreite Krawutschke ist, so ist er noch nicht viel, auch wenn Schiller einst gedichtet hat: "Wer es erst zum Gefreiten hat gebracht, der steht auf der Stufe zur höchsten Macht." Aber wenn vom Armeemeister im 400-Meter-Lauf Krawutschke die Rede ist, so ist das doch schon etwas ganz anderes. Der männliche Stolz auf die Höchstleistung ist ein mächtiger Impuls. Und von den im Stadion versammelten Ausgesiebten der ganzen Wehrmacht geht es doch ebenso hinunter in die einzelnen Truppenteile. Ich kenne einen, der wäre beinahe Regimentsmeister im Wasserspringen geworden. Nur ein Hechtsprung vorlings aus Rücklingsstellung vom 6-Meter-Brett war ästhetisch nicht ganz einwandfrei und ergab ein kleines Punktmanko. Der junge Mann reckt sich und streckt sich jetzt dauernd und trainiert sogar in Gedanken; wenn er sich nicht inzwischen verlobt, bringt er es im kommenden Jahre sicher zum Divisionsmeister.

Noskes Nachfolger Geßler, der ehemalige demokratische Oberbürgermeister von Nürnberg, hat sich auch in dieser Beziehung treulich für unsere Soldaten bemüht. Als seine wichtigste Aufgabe hat er, mit Recht, die Entpolitisierung der Wehrmacht angesehen, die nur starker Arm des Staates sein darf, nur letzte Schützerin von Leben, Freiheit, Eigentum der Landeseinwohner. Er hat rechts und links Anerkennung der Besonnenen gefunden, aber auch rechts und links Hohn bei den Hassern. Jetzt verlangen die Sozialisten stürmisch seine Absetzung, weil er angeblich nucht genügend republikanisch sei. Umgekehrt haben manche Kreise im Offizierkorps ihn, den Zivilisten, nie anerkannt. Über vieles hat er geduldig und mit fast übermenschlicher Selbstbeherrschung hinwegsehen müssen, über lauten Schimpf von links und leisen Spott von rechts. Es ist nicht hübsch, wenn ein junger Adjutant in den Regimentsbefehl vom Tage hineinschreibt, wie es in einer Garnison tatsächlich geschehen ist:

Parole: Wilhelm Tell.
1. Minister Geßler trifft heute hier ein.
2. pp.

Aber es wäre selbstverständlich falsch von Geßler gewesen, wenn er das überhaupt "bemerkt" und aus seiner Verulkung durch einen im Studentenalter stehenden jungen Mann eine Haupt- und Staatsaktion gemacht hätte. Gut Ding will Weile haben. Heute ist Beruhigung mehr wert als Durchgreifen. Und der Reichwehrminister weiß doch auch, was seine eigenen Parteigenossen dauernd gegen das Offizierkorps sündigen. Die demokratische Partei in Kassel hat eben erst, vom Vorsitzenden unterschrieben, das Verlangen an die Reichsregierung gestellt, es seien sämtliche Offiziere restlos, unter Ersatz durch republikanische Unteroffiziere, zu entlassen, und es sei diesen Offizieren nur dann eine Pension zu zahlen, wenn sie sich verpflichteten, in Wort und Schrift nie etwas gegen die Republik zu sagen und ihre Embleme stets achten und ehren zu wollen. Auch mit solchem Wahnsinn hat Geßler zu kämpfen. Sollte er jetzt dem Tumult der Linken erliegen, so kann er wohl von sich sagen, daß sein dornig war über die Maßen.

Zwölf Tage lang hat der "bürgerliche" Berliner weder über solche politischen Dinge noch auch über die dringendsten örtlichen Bedürfnisse, nicht einmal über das Brotkartenstichwort der neuen Woche, aus seiner Zeitung etwas erfahren können, denn die erschien nicht, und die massenhaft auf den Straßen verkauften roten Blätter waren nur voll von Verfluchungen der Rechten und Meldungen über das Schutzgesetz. Da auch in allen anderen Betrieben, die der edlen Kunst Gutenbergs dienen, die Arbeit eingestellt war, konnte die Reichsbank kein neues Papiergeld herstellen, wovon in zwölf Tagen jetzt rund 18 Milliarden nötig sind. Es wurden beispielsweise noch heute in der Depositenkasse einer Berliner Bank 3 Millionen Kaufgeld für ein größeres Objekt in lauter 20-mark-Scheinen aufgezählt, die mit Mühe von üpberallher zusammengekratzt waren, das waren also 150 000 auf eienm Tisch nachzuzählende Scheine. Es hat in diesen Tagen Firmen gegeben, die eiligst Briefmarken zu hamstern anfingen, weil die angeblich auch schon ausgehen sollten. Die Berliner Straßenbahn pumpte sich etliche Zentner Fahrscheine in Köln und Hamburg, und wie es in dem alten Liede heißt: "Ach, Schaffner, lieber Schaffner, was ham'm Sie denn getan? Sie ha'm mich nach Berlin gebracht, ich wollt' nach Amsterdam!", so war man schon bereit, wenn man zur Hasenheide oder nach Steglitz wollte, still ergeben dafür einen Fahrschein für Nippes oder Uhlenhorst zu benutzen. Dabei hat man die eigenen Berliner Straßenbahnblättchen mit ihren Versreklamen doch schon so liebgewonnen. Früher war es nur die "Goldene 110", ein Kleidergeschäft, ein richtiges Anreißergeschäft, das mit Gedichten die Kunden lockte. Heute sieht man in den Zeitungen und auf Reklametafeln überall in Riesenbuchstaben: "Kauf ohne Sorge - bei Korge!" Neue Schilder sollen jetzt überall die Mahnung enthalten: "Cobu - beste Pflanzenbutter! Geh nach Haus und sag's der Mutter!", und gerade von der Mutter steht doch auch so was Schönes auf den Berliner Straßenbahnfahrscheinen, nämlich:

"Wenn der Vater und die Mutter
Abends ins Theater gehn,
Läßt die Mutter gern das Futter
Ihres neuen Pelzes sehn.
Wohingegen der Herr Vater
Stolz die Sonntagsschuhe trägt,
Die er liebevoll seit Jahren
Nur mit Servus-Schuhputz pflegt."

In dieser zeitungslosen Zeit war man ja auf Gedrucktes wie versessen, da studierte man rundum immer wieder die Anschlagsäulen, nur um etwas vom Tage selbst zu erfahren. Einem neuen großen Vergnügungsunternehmen, das just in diesen Tagen eröffnet wurde, hat die fehlende Zeitungsreklame übrigens einen Millionenverlust eingebrockt, und überhaupt haben die Kaufhäuser und die Theater, auch wenn sie sich durch Hunderte von Sandwichmännern mit großen Plakattafeln zu helfen versuchten, zu ihrem Entsetzen an den rapid sinkenden Einnahmen gemerkt, wie sehr die Zeitungsanzeige, gerade sie, die Grundlage des Geschäftes und des Umsatzes ist, und wie sie durch nichts anderes ersetzt werden kann. Nun veröffentlichen die Zeitungen nachträglich eine Zwölf-Tage-Chronik. aber sehr viel ist derweil ins Wasser gefallen. Viele Leute sind ohne Nachruf gestorben, was ihnen ja nicht mehr wehe tut. Andere aber haben inzwischen unerwähnt Jubiläen begangen, und das ist bitter. Ludwig Fulda, der Glückspilz, hat freilich auch hier wieder seinen alten Dusel bewiesen: er wurde erst nachher 60 Jahre alt. Er ist ganz und gar Berliner, so wie die meisten Berliner, die eigentlich aus Breslau stammen, Berliner sind. Aber dieser Berliner stammt aus Frankfurt, wo sein Vater durch Kohlengroßhandel dem Sohne das Dichten erleichterte. Das Frankfurterische ist auch noch unverkennbar. Besonders, wenn Ludwig Fulda französisch spricht. Wir hatten mal eine Feier für Sarah Bernhardt, die damals noch nicht Vorträge gegen Deutschland hielt, sondern uns mit ihrer großen Kunst und sich mit unseren guten Honoraren beglückte, und noch heute erinnere ich mich des Schwunges, mit dem Fulda "la blüh krangd ardist dö la frangß kongdamborehn" begrüßte. Ein liebenswürdiger Mensch, ein liebenswürdiger Dichter. Wie der alte Theodor Fontane sehr, wie man zu sagen pflegt, vorurteilslos war, er, der Dichter der Mark und des preußischen Adels, ich denke da an seinen Vers: "Kommen Sie, Kohn!", so gibt es heute sehr völkisch gesinnte, die doch diesem Fulda außerordentlich wohlgesinnt sind. Er ist und bleibt unser zur Zeit bestes Reimtalent, ein schalkhafter Schüttler von Schüttelreimen aus dem Ärmel, und, vor allem, so greulich frankfurterisch er es auch ausspricht, der beste lebende Kenner und Übersetzer des Französischen dort, wo es leicht geschwingt im Esprit sich hebt. Keine einzige schmierige Ehebruchskomödie hat Fulda übertragen, obwohl dies Geschäft doch die leichteste Rente abwirft; aber daß er uns den herrlichen "Cyrano de Bergerac" Rostands übersetzt, und wie überstezt hat, bleibt neben seinem "Talisman" sein schönstes Geschenk an die Deutschen.

Ein anderer Sechzigjähriger, Gerhart Hauptmann, ist unser Größter; falls nicht nach zwanzig Jahren unsere Kinder uns vielleicht eines Besseren belehren. Unser größter deutscher Dichter. Herber und doch wieder inniger, aber jedenfalls nicht so weltmaännisch-liebenswürdig wie Fulda, den man sich eigentlich nur in Smoking und Gesellschaftslaune vorstellen kann. Hauptmann ragt, wo Fulda tänzelt. Aber er ragt zu hoch, bis in seine Wolkengebilde hinein, die er zu Menschen formt, und wenn er über Volksnot, nicht Menschennot, sprechen oder völkische Größe besingen soll, dann fängt er an zu stammeln. Sein Jahrhundertlied 1913, zum Gedächtnis der Befreiung aus napoleonischen Elend, war blutleer, dürftig, gesucht, sprach weit über Wolken hinweg mit abgewandtem Gesicht. Und dann 1918 sein Aufruf an die "deutschen Ritter vom Geiste", der Revolution in die Freiheit zu folgen, zeigte wieder das große Versagen, hätte ebensogut von Hermann Sudermann oder einem noch Unbeträchtlicheren des Tiergartenfreisinns sein können.

Noch immer sucht das nachnovemberliche Deutschland nach seinem Dichter. Auch Ernst Toller, der Festungsgefangene von Niederschönefeld in Bayern, ist es nicht. Man hat seine "Maschinenstürmer", das Drama aus der Zeit der Ludditenbewegung in England vor einem Jahrhundert, jetzt in einer Uraufführung im Berliner Großen Schauspielhause Holländer-Reinhardts herausgebracht. Da ist es eine Revolutionsposaune. Da wird das neue Arbeiterlied Tollers, die Nationalhymne seiner Majestät des roten Volkes, für zwei Mark in einem gut lesbaren Abdruck an alle Besucher zum Gleich-Mitsingen verteilt. Gebt mir ein Alphabet oder die Logarithmen in die Hand, und ich deklamiere das als Liebesgedicht oder als Schauerdrama oder als Choral! Nach diesem Rezept wird neuerdings alles im Großen Schauspielhause zu einer Schmeichlerhymne an die brutale Kraft der Masse Mensch. Vom Danton an über die Weber und die Räuber hinweg bis zu den Maschinenstürmern. Grandiose Bilder, aber in Hodlermanier symmetrisch gestellt, Auf- und Abfluten der Riesenmenge aus vielen Kanälen hervor zum wälzenden Strom und wieder in die Gerinnsel zurück, der ungeheure Schrei, der Blutgeruch, die Katastrophe, Schauspieler trägt man nachher ohnmächtig hinaus, Zuschauer taumeln im Rausch des Erlebnisses. Alles Feine und Zarte wird zertreten. Das Große Schauspielhaus braucht für seine vielen tausend Sitze die Gewerkschaften und Betriebsräte als billige Billethändler, das ist es.

Ich habe nachher Tollers Drama in Ruhe als Buch gelesen. Da erst habe ich auch seine unleugbaren Schönheiten erkannt. Dieser talentierte Wirrkopf kommt allmählich ein wenig zur Besinnung, nachdem er sich selbst ins Unglück gestürzt hat. Im Theater spielt man ihn als Agitator. Er ist wirklich ein Dichter. Aber er wird nie ein Dichter der deutschen Revolution. Die findet keinen. Und sie weiß, warum: Weil sie so unendlich klein war in einer großen Zeit, daß kein wirklicher Kopf sich an ihr entzünden kann
13. Juli 1922 (Donnerstag).


44

Billige Amerikaner - Um die Trinkgelder - Was man "sich hinlegte" - Exzellenz in der Handelsgesellschaft - Nachfrage nach Kaiserbildern im Ausland - Der Prophet Häusser - Professor Max Liebermann

Im Pschorrbräu in der Friedrichstraße sitzen zwei gut angezogene, frisch eingetroffene schlanke Amerikaner. Nicht etwa, daß sie in dem "trockenen" Amerka halb verdurstet wären. Es trinkt sich nur nicht so angenehm in Newyork, weil man dort den Whisky - in Kaffeetassen, mit Rücksicht auf die Polizei, serviert bekommt. Also meine beiden Amerikaner trinken jeder zwei anständige Humpen Echtes und essen ein leckeres Käsebrötchen dazu. Nun kommt der Kellner mit der Abrechnung. Da prusten sie los, dß die Wände wackeln, und lachen, lachen wie verrückt, bis endlich einer von ihnen stammelt:

"Das sind - ja bloß - zehn Cents!"

Und sie verschlucken sich und lachen und husten, und husten und lachen. Noch in Bremerhaven hatten sie nichts Besonderes von deutscher Valuta bemerkt. Die Überfahrt 2. Klasse war ja in Dollars bezahlt, nach unseren Begriffen also mit 56 000 Mark das Billet. Und der Gepäckträger, der ihnen bei der Ankunft in Deutschland die Handtasche vom Schiff in die Zollhalle getragen hatte, rechnete auch noch in fremder Währung. "Geben Sie mir einen Qarter!" hatte er gleichmütig gesagt. Also einen Vierteldollar. Bitte, gern. Soviel gibt man auch in Newyork; daß es 120 Mark sind, macht man sich nicht klar. Man hat auch einem "sehr kulanten" Zollbeamten ein paar Dollar gegeben und sich nur etwas gewundert, daß es also auch in Deutschland, dem alten ehrenfesten Deutschland, hohle Hände gibt. Aber nun in Berlin, das ist wirklich zum Radschlagen. Die Amerikaner alle kommen zunächst aus dem Lachen gar nicht heraus. Da sind zwei Bekannte von unseren Pschorr-Brüdern, zwei Butcher aus Newyork, die mit einem kleinen Umweg über Ägypten und so nach Deutschland gekommen sind; sie lachen sich kaputt, weil das zweibettige Zimmer nebst Bad im Zentralhotel "nur" 1600 Mark die Nacht kostet. Sie wollen übrigens nur wenige Tage in Deutschland bleiben. Die Landsleute, die sie hier finden, sind ihnen zu armselig. In der Tat: es sind fast lauter "billige" Amerikaner zu uns gekommen, Sommeramerikaner, die sich nur einmal im Leben diese Reise gönnen können, weil die deutsche Valuta so jämmerlich steht, großenteils noch dazu Deutschamerikaner, die hier bei Verwandten wohnen und allerdings fürstliche Pensionen - in ihren Augen ein Pappenstiel - dafür bezahlen, aber eben im Fremdengetriebe des Hotels nicht in die Wagschale fallen. Daher die große Enttäuschung in Oberbayern und sonstwo. Das ist des Rätsels ganze Lösung. Der wirklich reiche Amerikaner braucht nicht nach Deutschland zu kommen, weil 100 Mark dort schon für 19 Cents zu haben sind, und wenn er - in wenigen Exemplaren - doch kommt, so läßt er sich anbeten, hört er das Rauschen der wie Schilf im Winde sich neigenden Rücken und schreitet stolz hindurch, ohne überhaupt ein Trinkgeld zu geben. Das ist eine alte Erfahrung. Wer erst Dollarmillionär ist, der lebt billig; man reißt sich umsonst, bloß um die Ehre, für ihn in Deutschland die Beine aus.

Der Tanz um das goldene Kalb war selbst in dem Gründertaumel der siebziger Jahre nicht so arg. Er hat alle gepackt. Mit leuchtenden Augen erzählt mir eine junge Braut aus guter Familie, die nächste Ostern heiraten will, daß sie ihr ganzes Aussteuergeld bereits "angelegt" hat. Nämlich in Linoleum. So viel Linoleum, daß man damit die Korridore eines ganzen Ministeriums belegen könnte. Sie hat noch kein Bett, keinen Löffel, keinen Kochtopf, kein Handtuch. Aber Linoleum. "Ja," sagt sie, "Linoleum steigt jetzt schneller als Möbel und Wäsche, damit überhole ich die fallende Valuta!" Für den Rest ihres Geldes kauft sie alte photographische Apparate. Immer nur Sachwerte, denn:

"Einmal eins ist eins,
Was ich habe, das ist meins!"

Für ihren Mitte August fälligen Geburtstag hat sie sich nur bares Geld gewünscht und es schon jetzt erbeten, um sich dafür wieder "etwas hinlegen" zu können. Wenn sie im Herbst das Linoleum verkauft, handelt sie dafür vielleicht eine Million Meter Maschinen-Nähgarn Nr. 60 ein, um sie zu Weihnachten gegen ein Schock Panamahüte zu wechseln, bis dann kurz vor Ostern diese wieder verklopft werden und dann endlich die Aussteuer besorgt wird. "Habe ich aber eine praktische Frau!" kann ihr Eheherr dann sagen. Vor zehn Jahren konnten unsere Damen ohne männliche Hilfe sich nicht einmal im Eisenbahnfahrplan zurechtfinden. Heute lesen sie mit Verständnis den Börsenkurszettel. Und manche - können trotzdem kochen.

Den Alten fällt es schwerer, sich auf Spekulieren umzustellen. Sie haben nach wie vor Reichsanleihe, bestenfalls ein paar Industriepapiere daliegen, sehen ihr Vermögen dahinschwinden und versuchen es noch im Greisenalter, durch ihrer Hände Arbeit die Margarine aufs Brot dazuzuverdienen. In unseren militärischen und Hofkreisen ist der Name des Generals v. Friedeburg sehr bekannt. Er war zuletzt nach dem Kriege Kommandierender in Breslau und wurde wegen einer despektierlichen Äußerung über die Republik von Noske entlassen. Friedeburgs Tochter hat einen Prinzen von Hohenzollern im vorigen Jahr geheiratet. Der alte Herr selber aber - hat eine Stellung in der Berliner Handelsgesellschaft angenommen. Wüßte er, daß dies hier in die Öffentlichkeit kommt, so würde er sich gewiß dagegen sträuben, mit einer Zornader so dick wie ein Baumast auf der Stirn. Aber so etwas gehört nun einmal zur Kulturgeschichte von heute, man muß es also bekanntgeben, auch wenn die alten Herren selber völlig klaglos sich in ihre Klüfte zurückziehen. Nicht die materielle Einschränkung tut ihnen weh, sondern das veränderte Aussehen aller von ihnen heilig gehaltenen Dinge. Jede äußere Erinnerung an Vergangenes wird ja jetzt systematisch ausgerottet. Unmittelbar nach den ersten Weimarer Auseinandersetzungen hieß es: jegliche Verherrlichung des Zeitalters Wilhelms II. muß weg. Jetzt legt man auch an Denkmäler Wilhelms I. Hand an. Nicht 1888, sondern 1870 ist der große Einschnitt; wer noch 1870 gelebt hat, der verschwinde. In Hamburg ist Bismarcks Bild in den Schulen verpönt worden. Den ragenden Riesen ob der Elbe werden sie freilich nicht so schnell umstürzen - und wenn sie es täten, würde kaum Dr. Simons oder ein anderer unserer Internationalisten, die seither auswärtige Politik gemacht haben, an der Stelle erstehen. Am allerwenigsten in Herz und Sinn des Volkes sich einpflanzen. Nur mit tiefer Beschämung kann unsereins davon berichten, daß die bei uns von den Bilderstürmern Verfemten anderswo warme Aufnahme finden. Ein Kaufmann in Helsingfors in Finnland, der schon 1917/18 einen großen Posten von Bildern des Kaisers und Hindenburgs in Berlin gekauft hatte, hat soeben in derselben Berliner Kunsthandlung wieder eine ganze Kollektion davon bestellt, darunter viele Luxusausgaben der beiden Porträte, da die Nachfrage danach in Finnland auch heute noch sehr stark sei. Vielleicht lernen auch wir wieder auf dem Umweg über das Ausland schätzen, was einst unser war. Vor einiger Zeit war der designierte Präsident einer großen südamerikanischen Republik in Berlin und lud, um seinem begeisterten Herzen Luft zu machen, einen Kreis von Herren des alten Systems zu sich ein. Erhob sich dann bei dem Festessen und hielt eine feurige Rede "auf das herrliche deutsche Heer im Weltkriege" und weihte sein Glas - dem Kaiser. Schweig stille, mein Herze. Aber solch Balsam tut wohl.

Die Ausländer, soweit sie nicht reine Money-Maker sind, fühlen es, wie zerrissen die Gemüter in Deutschland sind. Darum schicken sie uns neuerdings sogar ihre Heilsprediger wie den neulich von mir erwähnten Richter Rutherford. Aber an Propheten fehlt es uns ja selber nicht. In Berlin mehren sich an den Anschlagsäulen ihre Prospekte. "Ich rede", steht gewöhnlich in Riesenbuchstaben obenan. Dann kommt ein krauses Gemisch von Bibelworten, blasphemisch auf den neuen Propheten angewandt, etwa "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben", und von politischen Phrasen, in denen dieser "Ich" sich als Herr der Welt und Vollender des - Monarchismus vorstellt. Eine sehr geschickte Spekulation auf die Sehnsüchte so vieler kleinen Leute, die, in ihrem Innersten verstört, auf die Wiederkehr Christi und gleichzeitig des Kaisers harren. Häusser heißt der eindrucksvollste dieser Geschäftemacher. Mit seinem wohlgepflegten großen Vollbart sieht er, wenn er dazu den Zylinder aufsetzt, wie der "typische schöne Mann" aus, der als Mode-Frauenarzt großen Zulauf hätte. Ohne Kopfbedeckung aber und in härenem Gewande ist er der Wüstenprediger, jener Jochanaan Wildes, nach dem Salome erschauert. "Was er blickt, ist Geißel, und was er spricht, ist - Quatsch", möchte ich in Variierung der Uhland-Ballade sagen. Aber seine letzte Versammlung in Berlin war wieder pfropfenvoll und hatte einen gewaltigen Kassenerfolg. Jetzt spricht er wohl woanders. Oder - sitzt woanders. Seine Anschreiben an das Volk datiert er mit Vorliebe aus der Untersuchungshaft, und gerade das ist eins der stärksten Zugmittel, denn die Träumer vom tausendjährigen Reich sagen sich: gerade so ist es den ersten Christen ergangen. Selbstverständlich gibt Häusser ein Blatt in regelmäßiger Folge heraus. Selbstverständlich heißt es einfach und edel: Häusser. Da steht allerlei vom Wahrheitsmenschen, von der geistigen Monarchie, vom Diktator des Fleisches, lauter erbrochenes, unverdautes Zeug für alte Vetteln. Das vierseitge Zeitungsblatt kostet 10 Mark. Auf der dritten und vierten Seite hat man dafür einen umfangreichen Briefkasten, aus dem man - immer mit vollem Namen, voller Adresse - erfährt, welche Marie oder Martha dem "neuen Krist" alles hingegeben hat, mal 400 Mark, mal le beau reste, das einzige, was schließlich jedes Mädchen noch zu vergeben hat. Zu den Weggeworfenen aber wird der Prophet sehr deutlich. Da schreibt er aus dem Untersuchungsgefängnis Stettin, Zelle 23, an Selma Jäger in Lieberose bei Kottbus:

"Deine Briefe sind ein unerträgliches Gequassel. Abscheu vor kranken Leibern hattest Du? Warum nicht den ersten Abscheu vor Dir selbst? Du sieches, krankes, tuberkuloses, stinkendes Aas! Gott verklärte Dein Fleisch und Blut? So siehste aus! Ausgerechnet wie eine Verklärte, mit dieser Satansfresse, Hexenfratze! Du liebtest meinen Leib? Das glaub' ich Dir gern! Da sind noch viele! Der ist aber nicht für Abortgruben, wie Du eine bist!"

Das ist nur ein Auszug aus dem Brief. Es steht noch viel Deutlicheres und Saftigeres darin, was sich im "Häusser" gedruckt gar nicht auffallend macht, an dieser Stelle vor unseren Lesern aber unmöglich wäre. Das Blatt, und viele vor ihm, ist in Berlin in Tausenden von Exemplaren verkauft worden. Wer es liest, der weiß erst, wie krank unsere Zeit ist, und es wäre immerhin eine dankbare Aufgabe für unsere Behörden, wenn sie solche eiternden Beulen ausbrennten. Es scheint ihnen nicht zu gelingen. Sie haben wohl ärgeren Versündigungen nachzuspüren, etwa Bildern aus der Schlacht von St. Privat oder von der Übergabe Sedans, die so sehr geeignet sind, unsere Jugend zu verderben.

Auch für moderne Maler, die sicherlich vor den Augen aller Pazifisten und Internationalisten Gnade finden, sind die Zeiten heute schlecht. Man rühmt sie, man liest von ihnen, man stellt sie aus, aber kein Mensch kauft mehr Bilder, es sei denn, daß er bestimmt weiß, daß sie im Preise mindestens wie der Dollar steigen. Glücklich, wer als Künstler schon am Abend eines reichen Lebens steht. Heute steigt Max Liebermann, einst der oberste Kriegsherr der gegen die akademische Malerei anstürmenden Moderne, in sein 76. Lebensjahr. Er ist ganz und gar Berliner. Hundertfach versippt mit Tiergarten und Kurfürstendamm. Und Tiergarten und Kurfürstendamm sind heute stolz, ihn den Ihren nennen zu können, denn sein Lebenswerk ist nun nicht mehr angefochten. Ein Liebermann ist nicht jedermanns Sache. Das Fahrige seiner Malerei mag mancher nicht. Aber wenn man auch nur seine "Reiter am Meere" oder irgendein anderes Gemälde aus seiner reichsten Zeit kennt, so weiß man eines: er ist der Maler der Bewegung. Selbst bei den Bildnissen ist es so, als hätte man ihm nicht "gesessen", sondern als habe er im Bruchteil einer Sekunde den ganzen Menschen mitten im pulsenden Leben erhascht. Und die Luft flimmert, wogt, weht, die Nebelschwaden gleiten, und ein rosa-graues Kleidchen knistert und bausscht sich noch im Bilde. Max Liebermann ist auch in seiner Sprache mit "ick" und "det" ganz zum Berliner geworden, ist auf Berliner Art jovial-grobschnäuzig, wie Lenbach auf münchnerisch es war, und zwar grobschnäuzig nach allen Seiten. In seiner früheren Wohnung, am Brandenburger Tor, sagte er einmal, sei es nicht mehr auszuhalten, seit drüben der gleißende Marmor der Figuren von Kaiser und Kaiserin Friedrich stünden.

"Ick koof mir noch 'ne Schneebrille!"

Gegen Kaiser Wilhelm hat er manche ätzende Bemerkung gemacht. Aber gelegentlich schonte er auch seine eigenen Leute vom Tiergarten und Kurfürstendamm nicht im geringsten. Ein fetter Konfektionär ließ sich einmal von ihm malen und sprach sein Entzücken über das fertige Bild aus, das ja so ähnlich sei. Und Liebermann antwortete:

"Tjawoll, zum Kotzen ähnlich!"
20. Juli 1922 (Donnerstag).


45

Verregnet - Die kühle Blonde - Strobl bei seinen Geigen - Gasriecher - Kotau vor den Ausländern - Kunstsommer - Anständig, sehr anständig, hochanständig

Gut Naß, Hurra!

Seit einigen Wochen benutze ich nur noch diesen Schwimmergruß,wenn mir eine triefende Seele begegnet. In meinem Park - so nenne ich den schmalen, zwei Meter langen Kasten mit rankenden Feuerbohnen auf dem Balkon - habe ich die ganze Zeit nicht zu gießen brauchen. "Es" gießt von alleine. Der dörrheiße vorige Sommer hat die Berliner vergessen lassen, daß der Juli eigentlich einer unserer regenreichsten Monate ist, und so tun sie denn entrüstet und kaufen Regenschirme und Liköre, die seit Weihnachten beide um 300 Prozent im Preise gestiegen sind. Das sind aber noch die glücklichsten Berliner, nämlich diejenigen, die noch in Berlin sind, das ja auch bei schlechtem Wetter erträglich sein kann, und ihre Ferien mit eitel Sonne noch vor sich haben; die lachen womöglich, wenn man sie mit "Gut Naß, Hurra" begrüßt. Denen aber, die jetzt vom Urlaub zurückkommen, weiche ich in weitem Bogen aus. Sie riechen nämlich nach verschimmelten Kleidern. Von Oberstdorf bis Westerland hat es ja überall gegossen. Nur die vielen, vielen Kinder können einem leid tun, von denen der Arzt gesagt hat, allein Sonne - viel Sonne - könne ihnen helfen, und die nun ungeheilt binnen kurzem wieder auf die Schulbank müssen.

Am heftigsten fluchen die Berliner Weißbierwirte. Die Berliner "kühle Blonde" ist früher hierzulande im Sommer das begehrteste Getränk gewesen, diesmal aber nähme man eher einen Grog. Übrigens spricht man zu Unrecht - ebenso wie von "Wiener" Würstchen - von "Berliner" Weißbier. Dieses obergärige Weizenbier mit geringem Alkoholgehalt, aus reinem Malz ohne Hopfen, das von seinen echten Verehrern unvermischt getrunken wird, während verächtliche Nichtkenner es mit einem Schuß Himbeer genießen, ist im 16. Jahrhundert von einem Hamburger Brauer erfunden, dann in Halberstadt bodenständig geworden und erst von dort zu uns übergesiedelt. Mit der alten kleinbürgerlichen Gemütlichkeit schwindet jetzt aber auch in wärmeren Sommern das Weißbier immer mehr, genau so wie die behäbige Försterpfeife von dem Shagstummel und die ruhevolle Zigarre von der eiligen Zigarette in Deutschland verdrängt wird. Nur hin und wieder trifft man noch einen biederen Handwerksmeister alten Schlages, so einen gutmütigen vierschrötigen Schlagetot, der nach Feierabend tief aufatmend seinen Schnurrbart in die große Weißbierglocke versenkt, in langen Zügen wie ein Droschkenpferd säuft und dann, zufrieden zurückgelehnt, mit der Unterlippe die letzten Tropfen vom Schnurrbart hereinstreift und auf das erste abgrundtiefe "Aufstößerchen" von der Kohlensäure wartet. Für diesen Typ passen die Zeiten schlecht. Es scheint fast, daß er im Aussterben ist, wie auch der Ibis, der vor Jahrtausenden am Rhein spazierte, und das Nilpferd, das in der Weser schnaufte, bei uns verschwunden sind. Schade um den braven Mann. Was er arbeitete, das saß gut, und die Ohrfeigen, die er dem Lehrjungen gab, saßen auch gut. Riskiert er heute eine, dann kommt der Junge eine halbe Stunde später mit dem Schutzmann angetanzt und verlangt seine Papiere.

Wenn aber auch in Weißbierstuben die alten Typen immer seltener zu finden sind, so trifft man doch noch in Werkstätten auf prächtige Originale. Das bummelnde, flanierende, sich amüsierende Berlin ist überall mit Händen zu greifen. Das arbeitende Berlin, dessen Ruf über die Ozeane geht, muß man aufsuchen, und dann hat man die Freude, auch seine Künstler im Handwerk zu entdecken. Mitten im brandenden Geschäftszentrum der Stadt, ganz nahe am Potsdamer Platz, gibt es im ersten Stock eines hauses in der Linkstraße ein paar weltabgeschiedene Stübchen, in denen still versonnen ein Meister werkt. Der alte Strobl. Der Geigenbauer. Joachim war sein Kunde, Kreisler und Hubermann kommen zu ihm, jeder Künstler kennt ihn, schätzt ihn, liebt ihn. In der alten Fahrradhose, die ungeknöpft fast bis auf die Fußknöchel herniederhängt, empfängt einen dieser Strobl, wird unwirsch, wenn man ihm irgendein Massenfabrikat bringt, eine Violine von unedlem Bau, und bekommt umgekehrt ein stilles Leuchten in den Augen, wenn ihm ein Meisterwerk vorgewiesen wird. Er selbst liebt seine eigenen Geigen so, daß er sie nur unter Seufzen weggibt. Neulich hat er eine für 360 000 Mark verkauft. Ich denke, nun freut sich der Mann, nun wird er ganz aufgeräumt seiner Gattin sagen, jetzt könne man sich einmal einen guten Tag machen. Weit gefehlt. "Man hat sie mir endlich abgequält!" sagt er mit trauriger Stimme und streichelt wehmütig den leeren Kasten. Er lebt ja nur für seine Geigen - er haucht ihnen seine Seele ein, würden frühere Romanschreiber gesagt haben. Seit 21 Jahren grübelt und experimentiert er über einem Geigenlack, der dem altitalienischen ebenbürtig sei, und endlich im vorigen Jahre ist er ihm gelungen. Mit winzigen, halbfingerlangen Hobeln bearbeitet er seine Brettchen aus Ahorn und Fichte, stolz zeigt er einen für den Laien ganz unscheinbaren Kloben Holz vor, der schon 300 Jahre lang daliege und jetzt bald benutzt werden könne, zeigt ihn vor und rühmt seinen weichen Glanz. Einmal im Jahre geht Strobl weg. Für einige Wochen nach Bayern, nach Tirol. Er geht in kein modernes Hotel, sondern in uralte Bauernhäuser - und dann schmeichelt er dem Besitzer einen Deckbalken oder ein Fensterkreuz oder ein Dielenbrett ab und bezahlt es so fürstlich, daß man mit dem Gelde wohl eine Tochter zur Hochzeit ausstatten könnte. Solche Dinge, solche Arbeit, solche Menschen hat kein Krieg und keine Revolution uns rauben können; man kennt sie - besser als man unsere führenden Politiker kennt - in Chile und in Kanada, in Japan und in Australien, und sie sind es, die die Namen Berlin und Deutschland trotz aller Schändung in ihrem Werte erhalten.

Wir selber gehen meist achtlos an hundert Dingen vorüber, die der Fremde als Wunder deutscher Gründlichkeit anstaunt. Dieser Tage schlendere ich mit zwei Bekannten - Ausländern, aber nicht aus Polen oder sonstwo aus Wild-Ost, sondern aus einer modernen Großstadt - die Straße entlang. Sie bleiben interessiert an einer Gruppe von Arbeitern stehen. Die lockern in kurzen Abständen immer wieder ein Steinchen vom Mosaik des Bürgersteiges, drehen einen fast mannshohen Bohrer hinein, ziehen ihn wieder heraus und riechen an den im Gewinde zurückgebliebenen Erdkrumen. Dann setzen sie das Steinchen wieder sorgsam ein und gehen ein paar Meter weiter an das gleiche Unternehmen. Was das für Leute seien, fragen mich meine Bekannten. "Na, das seht ihr doch, das sind doch Gasriecher!" sage ich, worauf ich wieder gefragt werde: "Gasriecher, Gasriecher -, was ist das für eine komische Sache?" Je nun, es können doch mal Gasröhren undicht werden. Dann strömt Gas aus und geht verloren. Die ganze Erde rundherum riecht dann danach, und so wird denn tagaus, tagein ganz Berlin, heute die Straße, morgen jene, abgerochen, und wo eine undichte Stelle so entdeckt wird, wird sie gemeldet, damit sie aufgegraben und damit das schadhafte Rohr ersetzt werden kann. Das sei doch die selbstverständlichste Sache von der Welt. Werde es in der Heimat der beiden Herren, in ihrer Weltstadt, nicht ebenso gemacht? Da lachen sie. Nein, damit gebe man sich da nicht ab; wenn ein Gasrohr undicht werde, so merke man das eben nach einiger Zeit - an der Explosion. Solche kleinen Erfahrungen im Verkehr mit unseren Besuchern tun einem unendlich wohl, besonders wo man sonst so oft sich schämen muß, wenn man das "neue" Berlin von den Fremden mit kritischen und etwas verächtlichen Blicken gemustert sieht. Natürlich ist es für die Valutastarken das reine Paradies, weil hier um ein Spottgeld alles für sie zu haben ist, aber wo der Verkaufsartikel nicht mehr Maulwurfspelz oder Lederkoffer heißt, sondern Menschenwürde, da wird die Geringschätzung der Ausländer begreiflich. Nicht nur unsere "kleinen Mädchen" hängen sich an sie. Auch Männer, auch selbstbewußte Arbeiter sind hocherfreut, sobald sie von den Fremden auch nur angesprochen werden. Auf die Bitte meiner Begleiter hin frage ich die Gasriecher in unserer Straße, ob sie von der Stadt angestellt seien. "Jawoll, angestellt - mit dem Rücken an de Wand!" knurrt einer endlich verdrießlich, und dann ist nichts mehr herauszukriegen, obwohl ich höflich mit dem Hut in der Hand vor den Leuten stehe. Nun hören sie aber an unserer fremdsprachlichen Unterhaltung, daß es keine Deutschen sind, die sich für ihre Arbeit interessieren. Im selben Augenblick sind sie wie ausgewechselt. Sie lassen alles stehen und liegen, geben Bescheid, und es fehlt nicht viel, so geben sie ihren Tagelohn auf, um freiwillig und sogar ganz ohne Trinkgeldhintergedanken für die Fremden den Führer durch das arbeitende Berlin zu machen.

Dafür kommen freilich die wenigsten Ausländer her. Sie wollen kaufen, viel und billig kaufen, und sie wollen sich amüsieren, viel und billig sich amüsieren. Möglichst "in angenehmer Begleitung", wie sie in Wien zu annoncieren pflegen, wenn sie für ein paar Reisewochen irgendein armes junges Blut als Haremsschöne haben wollen; in dem noch nicht ganz so tief gesunkenen Berlin würde keine Zeitung solch eine Anzeige aufnehmen. In Berlin geht es - auch ohne Anzeige. Aber das ganze Amüsement wird von Tag zu Tag oder von Nacht zu Nacht eindeutiger, steht schon fast auf dem Niveau der großen mittelländischen Hafenplätze Marseille, Neapel, Konstantinopel. Es gibt aber doch noch immer Leute, die in Berlin Kunst suchen, die nach Musik hungern, die sich an Bildern erheben wollen. Da können wir ihnen nur dürftig dienen, zumal jetzt im Sommer. Die Ausstellungen enthalten nicht ein einziges Werk, das bleibende Eindrücke für das Leben hinterließe. In der Malerei haben wir die Revolution schon vor der politischen Revolution gehabt, und sie war auch ganz danach: eine Infektion der Gehirne vom Auslande her. Wir sind darüber noch nicht hinausgekommen. Ein Kunstbolschewist, der bekannte Kandinski, der in Rußland keine Geschäfte machen kann, ist jetzt an eine öffentliche Anstalt in Weimar, die Kunstgewerbe betreibt, berufen worden, an das sogenannte Bauhaus. Dort mag er sich in bizarren Tapeten und Teppichen austoben. In der Musik haben wir den Besuchern Berlins zur Zeit überhaupt nichts zu bieten, da über den Konzertsälen tiefster Ferienfriede herrscht, im Tanz ist nur die Ausgezogenheit einheimisch, während die Kunst von italienischen, russischen, schwedischen Gästen zweiten Ranges betrieben wird, und auf den großen Bühnen herrscht der Sommerpächter und - die "dritte Besetzung". Man spielt die alten Kassenfüller immer noch herunter, aber die tragenden Darsteller sind längst ausgerückt, zieren mit ihren Namen die Kurliste fashionabler Strand- oder Gebirgsorte, während im Theater ausgekrähte alte Leute oder unausgebildete junge Novizen an ihrer Stelle stehen. Ich habe mir die Kreisleriana im Theater in der Königgrätzer Straße noch einmal angesehen und war schon da über die Neubesetzung einzelner Rollen entsetzt, aber anderswo ist es noch viel schlimmer. Allmählich wird es Brauch in Berlin, in "erster Besetzung", die das Glück des Stückes macht, es nur einige Wochen, manchmal nur einige Tage zu spielen. Dann kommt der Pofel, sobald der Kurfürstendamm befriedigt ist. Von unseren Größen ist nur eine, Tilla Durieux, die Gattin des Salonkommunisten Cassierer, in diesen Tagen noch auf die Bretter gegangen und hat die "Fedora" in Sardous altem Reißer gespielt. Selbstverständlich mit allen Finessen. Es war eine leckere Sache, sagen die Feinschmecker. Selten habe man solch ein Weibtier auf der Bühne gesehen. Die Durieux spielt ja immer überwältigend; selbst wo sie nicht ein einziges Wort zu sagen hat, wie in der Josephslegende von Richard Strauß.

Ihr Auftreten jetzt im Juli ist aber die große Ausnahme. Die Portiers in den Gasthöfen empfehlen auch kaum mehr die Theater, sondern Genüsse, die "typischer" für das nachrevolutionäre Berlin geworden sind. Die solidesten ehemaligen Stätten, an denen man früher nach des Tages Arbeit vergnügt sein konnte, ändern jetzt "aus Valutarücksichten" ihren Charakter. "Wenn ich nicht mindestens 1000 Mark für die Flasche Sekt verlange, kommt kein Aas!" sagt mir der Besitzer einer Weinstube, in der früher Geheimräte und alte Offiziere für 90 Pfennig ihre Flasche Mosel tranken. Man muß jetzt immer schon vorher rekognoszieren. Meiner Frau fällt es plötzlich ein, daß wir mal, vor etwa acht Jahren, sehr angenehm in einem Prager Schinken-Stübl gesessen haben. Da müßten wir doch wieder hin. Also ich rekognosziere. Man kriegt da noch immer Prager Schinken und einen guten Tropfen. Aber es bedient da eine Hebe, die nicht viel mehr als eine Badehose an hat. Ich frage den Lokalinhaber etwas verärgert, ob auch jetzt noch anständige Damen zu ihm kämen. Er sagt:

"Selbstverständlich anständige Damen! Auch sehr anständige Damen! Sogar hochanständige Damen!"

Ich will meine Frau aber lieber doch nicht fragen, ob sie eine anständige oder eine sehr anständige oder eine hochanständige Dame sei.
27. Juli 1922 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts