"Rumpelstilzchen"

"Was sich Berlin erzählt"
(Jahrgangsband 1921/22)

Dom-Verlag / Berlin, 1922
und
Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1923

Glossen 40 - 42
22. Juni bis 6. Juli 1922


40

Der erzürnte Eton-Boy - Weltmarktpreise - "So etwas kommt bei uns nicht vor!" - Der Fall im Hause Scheidemann - Ein Wunderbau hinter der Heerstraße - Wie der 10 000-Mark-Schein aussieht - Deutsche Kampfspiele

Der unterste Westenknopf steht ihm offen. Das ist das unauffällige Erkennungszeichen aller derer, die einmal Eton-Boys waren, und das Eton-College bedeutet in England viel mehr als bei uns die Latina oder Schulpforta oder die Fürstenschule oder die Ritterakademie.

Ich habe also einen gebildeten Engländer der besten Kreise vor mir. Er steht in einem Berliner Kodakladen und ist ganz unenglisch heftig. Für einen Agfa-Filmpack 9:12 soll er 176 Mark bezahlen - und das sei eine Gemeinheit. Da sei ja das beste amerikanische Fabrikat heute schon billiger. Diese verdammte Nepperei gegenüber Ausländern in Deutschland! Das sei ja nicht einmal in Italien vor dem Kriege so schlimm gewesen! Ich kann, da mir der gescholtene und doch unbescholtene Verkäufer leid tut, den Aufgeregten etwas beruhigen, indem ich ihm die eben erhaltene Quittung über meinen eigenen Einkauf vorzeige: auch ich habe 176 Mark bezahlen müssen und bin doch Inländer. Einer der wenigen, die - gelegentlich - überhaupt noch photographieren, und auch ich seufze über die Kosten. Das ist ja meist der Grund des Unmuts bei unseren fremden Besuchern, daß sie mit der Meinung herkommen, bei uns könne man für ein paar Pfund oder Dollar immer noch ganze Rittergüter kaufen, während tatsächlich die Teuerung vielfach schon an die Weltmarktpreise heranreicht, und dann schimpfen die Enttäuschten. Nun werde ich auch ernster. Der verehrliche alte Eton-Boy solle gefälligst vor der eigenen Tür fegen und dafür sorgen helfen, daß die englische Fremdenfeindlichkeit aufhöre. Noch immer besteht in Großbritannien überhaupt ein generelles Einreiseverbot für Deutsche. Und wenn ich auf einem neutralen Dampfer nach China fahre, darf ich unterwegs in den englischen Häfen Colombo oder Singapore auch nur auf wenige Stunden beileibe nicht an Land. Also er solle seine 176 Mark bezahlen und froh sein, daß er überhaupt etwas kriege und nicht wie ein Aussätziger behandelt werde. Verdient hätten die Engländer es allesamt.

So erstaunlich dies auch für Nichtkenner der englischen Psyche sein mag: der Mann bekam keinen Kinnbackenkrampf, sondern wurde recht höflich. Er hatte unrecht und traf auf Widerstand. Aber häufig haben die Leute wirklich recht. Sie erkennen das alte Deutschland nicht wieder, das sie vor dem Kriege vielleicht liebgewonnen hatten. Von der Verarmung wollen wir nicht reden. Wir haben's wirklich nicht mehr dazu, um in den Gasthöfen zum Essen Weißbrötchen "nach Belieben" unberechnet zur Verfügung zu stellen oder auf jedem Tisch gefüllte Streichholzdosen zu halten oder in den Eisenbahnwagen Handtuch und Seife allen Reisenden umsonst zu bieten oder auch nur wieder die Vorhänge als Schutz gegen Sonnenbrand vor den Fenstern anzubringen. Es wird auch kaum so bald die Zeit wiederkehren, wo eine leere Flasche als ein Nichts gilt, das man in hohem Bogen aus dem Wagen auf die Schottersteine wirft oder auf Ausflügen in den Bach oder Chausseegraben. Nein, davon soll hier nicht die Rede sein. Aber die uns wohlgesinnten Fremden einschließlich sogar - das fällt bei deren Schwärmerei für uns besonders ins Gewicht - der Finnländer beklagen vor allem das Schwinden der früheren deutschen Zuverlässigkeit und Rechtlichkeit. Sie sagen: die Rechnungen entsprechen fast nie der vorherigen Abmachung, die Lieferungen selten den verabredeten Bedingungen, alle Geschäftsleute einschließlich der Kellner und Kutscher addieren falsch, und sogar die Beamten machen gegenüber Ausländern hohle Pfoten.

"Zustände wie auf der Balkanhalbinsel!"

Manches mag übertrieben sein. Aber die Beobachtung gerade der eingeborenen Berliner wiederholt sich, daß sie selber auf den Ämtern sich die Beine in den Leib stehen können, während die Valutastarken ungemein schnell und höflich abgefertigt werden. "Am Golde hängt, nach Golde drängt doch alles; ach wir Armen!" Wir nähern uns eben den Zuständen, die uns früher als bezeichnend für das verlumpte Ausland erschienen. Wir saßen beim Abendkonzert auf dem Marktplatz in Venedig in Luxus und Toilettenpracht, ließen uns bedienen, gaben reichlich Trinkgelder und konnten nicht begreifen, was im Baedecker stand: daß jeder vierte Venezianer Armenunterstützung bekommen müsse. Oder wir gingen, nachdem wir auf der Themseterrasse des Londoner Unterhauses die herkömmlichen Erdbeeren mit Schlagsahne mit englischen Freunden genossen und im Westend das lockende reiche Leben mitgemacht, nachher in Begleitung von schwerbewaffneten Detektivs in die Londoner Slums, in die entsetzlichen Elendsviertel der Weltstadt. "So etwas kann in Deutschland nicht vorkommen!" Das war immer unser Kehrreim; auch in Frankreich, in Rußland, in Ungarn, in Portugal, wo es sei. Durch diese Bemerkung, so berechtigt sie auch war, haben wir uns überall unbeliebt gemacht. Vielleicht mehr noch als durch unser leises Lächeln, wenn wir irgendwo Militär sahen. Es ist nicht so sehr der deutsche Kaiser, der deutsche Diplomat, der deutsche General, der allen unseren näheren und entfernteren Nachbarn auf die Nerven gefallen ist, sondern der auf die Vorzüge seines Vaterlandes stolze Deutsche schlechthin. Nun aber können wir in diesem Punkte beruhigt sein. Daß dies und jenes in Deutschland nicht vorkommen könne, wird kaum mehr von deutschen Reisenden behauptet. Es kommt alles vor.

Auch die Skandalchronik in den gegenwärtig führenden Schichten bleibt hinter der des Auslandes kaum mehr zurück. Man hat uns früher in Volksversammlungen immer gesagt, die Nation zerfalle in Kapitalisten und Proletarier, und die Kapitalisten lebten in Sünden und Schanden, die Proletarier in Not und Tugend. Danach sind die sozialdemokratischen Genossen, die sich zum Wochenende oder gar auf längere Zeit zu den Schlemmerfesten in Parvus Helphands Herrenhaus auf Schwanenwerder versammeln, also auf keinen Fall Proletarier. Auch die ganze Familie Philipp Scheidemanns nicht. Der berühmte Nieverdorrte hat eine Tochter, Hedwig, jetzt 28 Jahre alt. Der junge Genosse Henck "jing mit se", wie man in Berlin zu sagen pflegt. Als der Papa Reichskanzler wurde, heiratete das Pärchen, das schon ein Kind hatte. Jetzt sind die beiden einander böse und klagen auf Scheidung wegen Ehebruchs. Henck hat, wie er in seinem Schriftsatz behauptet, seine Frau Hedwig gesehen, wie sie sich auf der Treppe des Helphandschen Palazzos vom Genossen Ulrich Rauscher, Exzellenz, abküssen ließ, und nachher am Abend habe er den Genossen Rauscher in einer noch verfänglicheren Situation betroffen und am Nachthemdzipfel noch glücklich von der Schlafzimmertür Frau Hedwigs weggerissen. Die Gegenpartei behauptet von Henck freilich noch Unerbaulicheres. Er habe sich ebenfalls verschiedene Seitensprünge erlaubt und sei dabei sogar mit einem bösen Paragraphen des Strafgesetzbuches in Konflikt geraten. Worauf Henck erwiderte: na schön, aber Papa Scheidemann habe das doch gewußt und sich schon längst zum "Schwamm drüber" bequemt. Kurz und gut, es ist nicht sehr erfreulich, wenn dergleichen aus den heutigen hochstehenden Kreisen bekannt wird, und so ersucht denn auch Scheidemann seinen scheidenden Schwiegersohn, indem er beiläufig mit dem Staatsanwalt droht, sich bei dem Scheidungsprozeß "auf ein Minimum von Beweisanträgen" beschränken zu wollen. Das ist ganz selbstverständlich. Denn hier stehen nicht nur private, sondern auch Staatsinteressen im Spiel; Rauscher ist nicht der einzige Würdenträger der Republik, den Herr Henck vor Gericht zum Reden bringen will, sondern es sind ihrer noch mehrere. Die Sozialdemokratie hat früher, wenn sie irgendwelchen Unrat in gegnerischen Kreisen witterte, mit catonischer Sittenstrenge ihr Verdammungsurteil gesprochen und nicht etwa schamhaft geschwiegen. Sie soll sich also nicht wundern, wenn in diesem Falle ein gleiches Interesse bezeigt wird.

Es wäre auch kulturgeschichtlich wertvoll, einmal unter Zeugeneid sich erzählen zu lassen, wie es in der Residenz Parvus Helphands zugeht, wo er "renaissancemäßig" Hof hält. Diese Bezeichnung stammt nicht von mir, sondern von dem früheren sozialdemokratischen Kultusminister Hänisch, der bei einem der Feste in Schwanenwerder bekanntlich ausrutschte und in die Havel fiel. Aber die Öffentlichkeit wird in dem Prozeß ja ausgeschlossen, und fern sei es von uns, etwa behaupten zu wollen, Parvus Helphand sei als Kriegs- und Revolutionsgewinnler der einzige, der sich derartiges leisten und seinen Freunden sogar eine Schweizer Reise schenken kann. Wer die längs der Heerstraße hinter dem Reichskanzlerplatz entstehende neue Villenkolonie besucht, der sieht an einer Parallelstraße jetzt einen Palazzo entstehen, der alles auf Schwanenwerder Existierende weit in den Schatten stellt. Säulenhallen und Nebengebäude sichern und verdecken vor profanen Augen nach allen Seiten das imposante Haus; ein Stall für 12 Pferde, eine Garage für 20 Autos sind bald fertig, und hinter dem Gebäudekomplex gibt es, in eine lange Grunewaldschlucht hineingebaut, eine unterirdische große Reitbahn mit Zuschauergalerien, mit einem Balkon für die Musik und mit einem künstlichen zementierten Teich in der Mitte, an deren Ausgang in das frische Grün der Schlucht sich der etwa einen Kilometer lange Park anschließt. Ein Angehöriger der Höchster Farbwerkdynastie, der dabei kinderlos ist und eine gelähmte Frau hat, soll sich dieses Märchenheim errichten. Es gibt also immerhin noch einige Leute bei uns, die es in ihrem standard of life mit der englischen Hocharistokratie ruhig aufnehmen können. Ebenso neidlos, wie Hänisch dem Genossen Parvus Helphand sein "Renaissancedasein" gönnt, gönne ich dem Besitzer des Neubaues hinter der Heerstraße seinen Reichtum. Stirbt großer Beitz aus, dann stirbt auch die Masse. Die Möglichkeit des Emporkommens darf nicht verlorengehen, sonst geht auch jedes Streben verloren.

Ebenso neidlos habe ich dieser Tage den ersten 10 000-Mark-Schein - gesehen. Er ist etwas größer und lichter als der früher so ehrfürchtig angestaunte "Bräunling", trägt in ganz annehmbar linearer Stilisierung den neuen Ebert-Adler auf der einen Seite, selbstverständlich auch die eingedruckten Fasern, die man ehedem "ausgefallene Bismarckhaare" nannte, und weist in einer Ecke einen Poträtkopf auf, in dem man im ersten Augenblick betreten das Konterfei irgendeines Bolschewisten zu entdecken glaubt. Meinetwegen eines Max Hölz. Oder eines alten Wiedertäufers aus der Zeit Thomas Münzers. Oder sonst eines Fanatikers. Aber man sagt, es sei hier nur das Klischee eines sehr bekannten Bildes von Dürers Hand verwendet, da man "in der Eile" nichts anderes beschaffen konnte. Gut. Die der Allegorie dringend verdächtigen Frauenzimmer auf unseren Kassenscheinen und Banknoten haben wir in der Tat satt, auch die Männer mit Sichel oder Hammer, aber selbst auf die Gefahr hin, mich künstlerisch zu vergehen, bekenne ich, daß mir etwa der Dürersche Patrizier Holzschuher als Symbol des Bürgerfleißes auf den 10 000-Mark-Scheinen lieber wäre als dieser flackernde Bursche. Der mir den Schein zeigte, ist übrigens ein Rittergutsbesitzer, der noch nicht weiß, wie er das fieberhaft steigende Betriebskapital für dieses Jahr zusammenbekommen soll und der mit seiner Familie nur Sonntags Fleisch ißt, "weil Hülsenfrüchte dasselbe leisten".

In diesen Schichten der Gesellschaft, die früher geradezu als Priester der Lebenslust derbster Art - und schon damals nicht mit Recht - galten, ist heute weniger denn je der Bauch ihr Gott, wenn man sie in Vergleich mit den Emporkömmlingen von der Schwanenwerder Renaissancesorte stellt. Noch deutlicher zeigt sich der Unterschied im heranwachsenden Geschlecht. Den schrankenlosen Genuß predigen Blätter der proletarischen Jugend, während die akademische und die des Mittelstandes vor allem stark werden will und es in der Verachtung der gewöhnlichen Dinge dieser Welt bis zum Sansculottentum der Wandervögel bringt. Eine ungeheure Brandungswelle der körperlichen "Ertüchtigung" schlägt zur Zeit über Berlin zusammen. Törichterweise von den "Arbeitersportlern" angefeindet, strömt hier die Jugend aller unserer Gaue zu den "deutschen Kampfspielen" her. Die Ritter vom Rasen und die Ritter vom Riemen. Von der Tenniskonkurrenz über Hockey und Fußball bis zur Ruderregatta. Meister bilden Massen und Massen bilden Meister, Hochschulen kämpfen gegen Hochschulen, Heer gegen Flotte, Städte gegen Länder, der örtliche und der Standespatriotismus gehen hoch, und überall ersteht eine freie und kühne Sozialaristokratie des Sports. Von dem alten Grundsatz, der "Himmel oder Halle?" hieß, dem Gegensatz zwischen Freiluftsport und Saalturnen, wird kaum mehr gesprochen. Man läßt jedem das seine. Nur bewahre uns das gütige Geschick davor, daß wir wie die Engländer auf ihrer jetzt absteigenden Linie aus einem Volk von Sporttreibenden zu einem Volk von Sportzuschauern werden, vor denen Professional für Geld ihre Kämpfe austragen. Vorerst ist noch Hellas, ist noch Olympia bei unseren Kampfspielen. Von den internationalen Wettbewerben hat der Feind uns ausgeschlossen. Wir können auch so erstarken. Die Eiche braucht zum Wachstum keinen Wald. In Gottes Luft und Sonne, die auch der Deutsche atmet, straffen sich unsere Glieder, die unter dem Mangel während der Blockade erschlafften, und in unseren Lenden ruht ein ungeborenes Geschlecht, das einst mit Siegerschritten einhergehen wird.
22. Juni 1922 (Donnerstag).


41

Rathenau-Totenfeier - Freiwillige Leibwache für Bedrohte - Die große Gleichgültigkeit - Der Student als Nachtchauffeur - "U. S. Navy" - An E. Th. A. Hoffmanns Grab

Eine kleine Weile hat die Politik in ihrer grausigsten Form, als Mord, das unbekümmerte Brausen der Großstadt überdröhnt.

Dann tiefe Stille.

Keine Hochbahn donnert, keine Straßenbahn kreischt, jede Arbeit hört auf. Nur werden viele Zehntausende - viele von ihnen freilich unter Androhung von Gewalt durch den Betriebsrat gezwungen - in Marsch gesetzt. Draußen im Norden auf den Ringbahngeleisen knirschen zur selben Zeit Zugräder über Dutzende von zuckenden Menschenleibern. Die Stillegung des Straßenbahnverkehrs schon vor der Stunde der Massendemonstration für den toten Rathenau hat die Ringbahnzüge als letzte Fahrgelegenheit überfüllt. Nun sind die Trittbrettgäste herunterrasiert und wälzen sich in ihrem Blute. Dichter würden vielleicht sagen, der Vorgang sei von grandioser Schauerlichkeit, wie einst das Menschenopfer an der Bahre altheidnischer Könige. Und die Zehntausende marschieren, meist hinter roten Fahnen, in solchen Massen daher, als wollten sie in ihrer Unübersehbarkeit dartun, wie gewaltig noch die lebende Gefolgschaft sei. Kein Fürst ward je so begraben wie dieser Walter Rathenau. Es ist, als hielte die Welt den Atem an. Die Börse hält ihre Pforten geschlossen. Die beiden jüdischen Studentenverbindungen, die bei der Totenfeier assistierten, ziehen mit umflorten Fahnen ab. Vor allen Läden und Gaststätten inmitten der Stadt sind die Rolläden niedergelassen. Keine Zeitung erscheint. Die Reichsbank beurlaubt schon am Mittag alle ihre Angestellten. Kaum je hat die Hauptstadt im ganzen etwas so Imposantes erlebt. Und - abgesehen von einigen geringfügigen Ausschreitungen - alles geht ohne Gewalttat ab, obwohl die Reichtagsdebatten reichlich aufreizend gewirkt haben könnten.

Die Enthaltsamkeit im Gegensatz zu der ganz anderen Haltung der Massen an verchiedenen Orten im Reiche hat ihre guten Gründe. In Berlin fürchten die von Beruf und Neigung Aufsässigen die Gegenwehr. So wie 1918 ist es nicht mehr. Eine neue Revolution träfe nicht mehr die vollkommene Lethargie der angegriffenen Stände. Man ist gerüstet. Man ist wach. Bisher hörte ich dergleichen nur als Gerücht, aber nun habe ich eine wirkliche Probe aufs Exempel erlebt. Ein Politiker der Rechten, übrigens nicht Helfferich, wie von vornherein bemerkt sei, kommt nach Hause. Da klingelt es. Drei Leute pflanzen sich kerzengerade, trotz des Zivils mit der Hand an der Hosennaht, vor ihm auf.

"Wir wissen, daß Sie Drohbriefe erhalten haben, wir kommen daher als Ihre Leibwache, und unten stehen noch siebzehn Mann."

Der also Bedachte wehrt sich lachend. Er brauche keinen Schutz. Aber die drei ehemaligen Soldaten, von denen der eine Feldwebel im alten Heere war und die jetzt Beamte und Kaufleute sind, bestehen auf ihrem Begehr.

"Herrschaften, ich kann ja gar nicht so viel Bier bezahlen, als ich euch anstandshalber geben müßte."

"Wir brauchen nichts."

"Aber Frau, Kinder, Dienstmädchen sind verreist, ich könnte nicht einmal drei, geschweige denn zwanzig Leuten ein Nachtlager geben."

"Wir schlafen auf dem Fußboden."

Schließlich werden die siebzehn wegkomplimentiert, aber die drei bleiben. Als unser Strohwitwer am nächsten Morgen aufsteht, findet er sämtliche Zimmer bereits gefegt und aufgeräumt und den Kaffee auf dem gedeckten Tisch. Dann geleitet man ihn weg, die drei Mann der Leibwache gehen auch an ihren Beruf, und um vier Uhr nachmittags stehen sie wieder in der Wohnung und melden sich zum Dienst. Sie seien nationalgesinnte Soldaten und täten nur ihre selbstverständliche Pflicht. Jedes Haar auf dem Haupte der bedrohten Politiker werde bewacht. Es gibt mehr Leute in Berlin, denen unauffällig Schatten folgen, als sie selber es ahnen. Und diese Schatten werden wiederum häufig von anderen "beschattet", wie die Kriminalisten es zu nennen pflegen. Im Jahre 1918 prasselte die Revolution auf willenloses Geschlecht. Heute ist man auf beiden Seiten, rechts jenseits der Deutschnationalen, links jenseits der Unabhängigen, ganz anders vorbereitet, gibt es auf beiden Seiten eine Maffia. Wer dazwischen steht, muß darunter leiden. Es sind so wilde Zustände, wie wir sie in Deutschland nie für möglich gehalten hätten.

An dieser Stelle bleibe Parteipolitik fern. Mir ist es nur um Berliner Kulturbilder zu tun. Nichts aber könnte den Niedergang unserer Kultur besser illustrieren, als - die Gleichgültigkeit der großen Masse der Bevölkerung gegenüber dem furchtbaren Ereignis dieser Tage. Man hat demonsstriert, gewiß; aber nicht aus Abscheu, nicht aus Trauer, sondern eben wieder aus Parteipolitik. Am Abend sind an der Peripherie der Stadt die Kneipen von einer fröhlich lärmenden Menge überfüllt. Die Theater sind ausverkauft. Frauen aus dem Volk, Marktfrauen in der Halle, haben sogar ganz despektierliche Äußerungen über den ganzen "Rummel" gewagt, ohne daß die kleinen Leute rundum widersprachen. Vor den Anschlagsäulen interessiert man sich nach wie vor mehr für den mit Dollars durchgebrannten sechzehnjährigen Lehrling als für die Reden Wirths und Loebes. Im Stadion wartet eine ungeheure Menge fieberhaft auf neue Rekorde. Man ist eben, da man in den letzten dreieinhalb Jahren zuviel Furchtbares erlebt hat, allmählich abgestumpft worden.

Überdies sind in den letzten Jahren Stände, Besitze, Anschauungen so durcheinandergeschüttelt worden, daß niemand sich mehr in seinem nächsten Nachbar auskennt. Der erste aus der Mörderbande Rathenaus Verhaftete, Techow, ist der Sohn eines früheren demokratischen Stadtrats von Berlin, eingeschriebenen Mitglieds der freisinnigen Volkspartei. Er ist nun Nihilist geworden, weit über die äußerste Rechte hinausgeschlagen. Auf der anderen Seite wissen wir von der Tochter eines unserer besten Chirurgen, der als Meister in seinem Fach und politisch als durchaus bürgerlich-national gesinnt bekannt ist, daß sie weit über den rabiatesten Kommunismus hinaus in tiefrote Abgründe taumelt.

Zwischen diesen Fanatikern aber befindet sich eine Unmenge von gänzlich unpolitischen jungen Leuten, die nur bestrebt sind, in der wirtschaftlichen Sintflut unserer Tage oben zu bleiben und ihren rettenden Ararat zu finden. Auch da gibt es erschütternde Kulturbilder: Bilder von Menschen, die alle ererbten "Vorurteile" von sich geworfen haben, für die jedes Geld geruchlos ist, gleichviel, wie sie es erwerben. Etwas übernächtig kommt da der Student, der bei einem unserer größten Automobilwerke eine kleine Anstellung hat, morgens ins Bureau. Sein Vorgesetzter, ein älterer früherer Fliegroffizier, fragt ihn nach dem Grunde seiner Müdigkeit. Ja, er sei die ganze Nacht als Droschkenchauffeur gefahren und habe bannig verdient, auf verschiedenen Fuhren zusammen rund 700 Mark Trinkgeld, und dann auf einmal noch 1000, als er einen Ausländer mit einer deutschen Dame gegen Morgen ganz langsam bis Halensee und zurück hätte fahren müssen, die in dem geschlossenen Wagen ganz ungestört sein wollten. Die jungen Fanatiker jenseits der Rechten und der Linken denken nicht an Geldverdienen, nicht an Heiraten, nicht an Essen und Trinken, nicht an den drohenden Richtblock, sondern nur an "das Vaterland" oder an "die Weltrevolution". Die aber zwischen diesen Extremen stehen und ihr staatsbürgerliches Genügen in irgendeiner der verfassungsgemäß arbeitenden Parteien finden, die werden immer mehr amerikanisiert und versuchen "Moneten zu machen". Gelegenheit dazu findet sich in der Großstadt mehr als anderswo, die Arbeitslosigkeit war nie so gering als heute, und während noch vor zwei Jahren, sobald man durch Anschlag am Schwarzen Brett der Universität jemand suchte, Hunderte von Studenten sich zu jedem Dienst meldeten, kann man heute auf diese Weise kaum mehr einen Sekretär für seine literarischen Arbeiten bekommen.

Kopfschüttelnd betrachten selbst Ausländer dieses tropische Blühen des Erwerbslebens, dessen einzige Basis unsere schlechte Valuta ist. Sie halten einfach Blüte für Frucht. Die Frucht fällt ab, ehe der Hahn kräht, wenn wieder eine neue Preiswelle daherkommt, und dann beginnt erneut das Rennen um höheren Verdienst. Man trifft jetzt Ausländer auf "Studienreisen" auch immer in deutschen Familien, nicht nur in Hotels und Bars und Dachgärten und Nacktdielen, namentlich zwischen Amerika und Deutschland gibt es doch von früher her viele verwandtschaftliche Beziehungen. Nicht nur von den Bindestrich-Amerikanern, wie Roosevelt die Deutsch-Amerikaner nannte, sondern auch von Vollblut-Amerikanern, sogenannten Hundertprozentigen. Sitze ich da neulich beim Tee mit einer ganzen Anzahl amerikanischer Damen, die an deutsche Männer in Berlin verheiratet sind. Hingegossen in den Schaukelstuhl, den "Uackelstuhl", doziert mir eine, wie verschieden doch das nationale Empfinden sei. Sie habe mit ihren beiden blonden Buben im Herbst 1919 die Großmama in Newyork besucht, die entsetzt über die Matrosenmützen der Enkel war, auf deren Bänder "Hindenburg" stand. Die Bänder mußten gleich am ersten Tage ersetzt werden; sonst gäbe es in der Gesellschaft Skandal. Seit dem Frühling 1920 sind die drei wieder in Berlin. Auf den Mützenbändern steht jetzt "U. S. Navy" (Vereinigte-Staaten-Flotte) - und seither habe sich noch kein Deutscher gefunden, der daran Anstoß genommen hätte. Man tätschele die Kinder, frage sehr interessiert nach der Aufschrift und sage wohl gar lächelnd, die Buben wollten wohl mal drüben Admiral werden, worauf kürzlich der eine wütend die Worte hervorgestoßen habe:

"Nicht drüben Admiral, sondern hier deutschnational!"

So reicht Pateiung schon bis zu den Hosenmätzen herunter, während die Alten vielfach gänzlich uninteressiert sind. Jenes die "Reaktion", Reaktion im eigentlichen Wortsinne: die Gegenwehr gegen das Herumfuchteln anderer Hosenmätze mit Sowjetsternen und roten Fahnen. Und da erwacht bei den Alten mit verdoppelter Wehmut die Erinnerung an glücklichere Menschenalter, wo noch nicht alles bei uns politisiert und radikalisiert war. Der frühere Hoftheaterintendant, der lange Hülsen-Haeseler, ist zu Grabe getragen worden. Bei der Gedenkfeier spricht der jetzige Leiter des staatlichen Opernhauses Max von Schillings in tiefer Bewegung das Wort von dem einstigen "augusteischen Zeitalter", in dem es dem Verstorbenen zu wirken vergönnt war. Heute haben wir wahrhaftig keines. Aber schon fällt die Meute über Schillings her und denunziert ihn den Behörden, weil er Gestürztes gelobt habe. Man sollte wenigstens, meine ich, den Künstlern keinen Maulkorb umbinden. Laßt sie doch schwärmen! Es kann doch nicht jedermann nur von Demokratie, Verfassung, Valuta und Schlichtungsausschuß sprechen. Der Ekel steht einem ja bis zum Halse.

Ich hatte gehofft, daß in diesen wüsten, haßerfüllten Zeiten wenigstens der hundertjährige Todestag eines der berühmtesten Berliner, E. Th. A. Hoffmanns, eine Riesengemeinde Geistiger vereinen würde. Man hat auch wirklich ein paar Vorträge über ihn gehalten, ein paar Zeitungsartikel veröffentlicht. Ich wollte zu seinem Grabe. "Der Dichter Hoffmann? Kenn' ick nich!" sagt der Kirchhofswärter. Er schickt mich ins Bureau. Das schickt mich zu einem anderen Friedhof. Von dort wieder zurück. Endlich stehe ich vor der unter wildem Efeu ganz vergessenen Ruhestätte des einst so Ruhelosen, von Tönen und Gesichten Gehetzten. "E. Th. W. Hoffmann" steht richtig auf dem Stein; sein dritter Vorname war ja Wilhelm, nicht Amadeus, wie er sich nur zu Mozarts Ehren selbstherrlich nannte. Ein kleines wildes Röslein rankt sich schüchtern um die Tafel. Es gibt ja wohl hundertjährige Rosenstöcke. Aus meinen Träumen, ob wohl Julia oder Donna Anna oder Euphemia oder sonst eine geliebte Frau ihn gepflanzt haben mag, reißt mich die Stimme des Wärters:

"Hier ist sonst niemand, aber wenn se sich vor beriehmte Jräber verinteressieren, will ick Ihnen zu Iffland seins führen, da kommt manchmal wer hin!"

Also doch: dem Mimen flicht die Nachwelt Kränze, nicht dem Poeten.
29.Juni 1922 (Donnerstag).


42

Mörder in des Kaisers Rock - Immer noch sentimental - Die Prinzen in der 3. Klasse - Sind Sie schon gehaussucht? - In Ausländerdiensten - Tiergarten-Gespräche

Die früher blutroten Zettel des Polizeipräsidiums an den Anschlagsäulen, die irgendeinen Mord mit gellender Farbe hinausschrien, gibt es heute nicht mehr. Die Morde haben sich seit einigen Jahren zu sehr gehäuft. Das weiße Papier muß genügen. Aber auch noch etwas anderes ist neu. Früher sah man meist nur sogenannte Lombroso-Köpfe auf den Fahndungsbildern, typische Verbrecherschädel aus der moralischen Hefe der Bevölkerung. Das ist in der Mehrzahl der Fälle auch heute noch so, nur bei der letzten Bekanntmachung des Polizeipräsidiums über die Rathenau-Mörder blickt uns von dem Zettel ein frisches Gesicht, helläugig und klar, aus - einer Offiziersuniform entgegen. Vielleicht Reserve oder Landwehr, meinetwegen. Im Laufe des Weltkrieges haben auch manche Leute zum aktiven Korps gehört, die vorher kaum aufgenommen worden wären. Alles sei zugegeben. Um so erschütternder ist es für alle diejenigen, die noch im Geiste der Verordnungen des alten Kaisers über die Ehrengerichte vom Jahre 1874 erzogen worden sind, ihr früheres Ehrenkleid jetzt so geschändet zu sehen. Kein Parricida ist ein Tell, kein Meuchelmörder ein vaterländischer Held. Wenn im Rheinland oder in Oberschlesien fremde Unterdrücker erschlagen worden sind, so kann niemand den Gepeinigten daraus einen Vorwurf machen, aber wer gegen Landeskinder - selbst wenn er sie für Reichsschädlinge hält - die Mordwaffe erhebt, der streicht sich damit selber von der Liste der Ehrenhaften aus. Seine ehemalige Uniform bleibt durch die Tat besudelt. Einmütig bis zur äußersten Rechten ist das Berliner Publikum in diesem Gefühl - und auch daraus spricht im Grund nur die alte Achtung vor des Kaisers Rock. Hin und wieder hört man vor den Anschlagsäulen in den Gesprächen der Leute freilich auch die sentimentale Note durchklingen. die für uns Deutsche und eine ganze deutsche Literatur kennzeichnend ist, in der wir in romantischen Zeiten den edlen Räuber, den gemütvollen Dieb, die tugendhafte Straßendirne, den idealen Brandstifter verherrlichten. Ja, die bösen zeiten, heißt es da; was müssen diese jungen Leute unter den heutigen Zuständen Deutschlands gelitten haben, daß sie zu solchen Taten des Fanatismus den Entschluß finden konnten. Das sagt der kleine Mann, nicht der "fette Bourgeois". Er ist auf einem bösen Irrwege. Mit sentimentalen Gründen darf man an so furchtbar ernste Dinge nicht herangehen. Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig: wer die vielen Monarchenmorde der Sozialisten, wer die Abschlachtung Klübers, Bertholds, der Münchener Geiseln, der Frau des Admirals Scheer, der Freiwilligen-Offiziere in Schöneberg verabscheut, der muß heute ebenso gegen Rathenau-Mörder die blutigste Strenge verlangen.

Die Gegenwehr der Gefährdeten, der jetzigen und ehemaligen Mitglieder republikanischer deutscher Regierungen, der Wirth und Groener, der Oerter und Scheidemann schießt natürlich weit über das Ziel hinaus. Laut offenem Eingeständnis sollen die "Andersdenkenden" mundtot gemacht und die Gleichheit jedes Deutschen vor dem Gesetz dadurch abgeschafft werden, daß man Ausweisungsparagraphen für deutsche Prinzen in das Gesetz bringen will. Der Berliner, der Charlottenburger, der Potsdamer bis weit in Arbeiterkreise hinein weiß aber doch, daß die Angehörigen der früher regierenden Häuser sich bei uns durchaus nicht "mausig" machen, auf jede Prätendentenrolle nach Art der Orleans und Bourbonen verzichten und in größter Stille und Bescheidenheit leben. Die preußischen Prinzen nahmen kürzlich an einem Adelstag in Kolberg teil. Sie fuhren, in Zivil natürlich, in einem überfüllten Wagen 3. Klasse hin, bis unterwegs ein menschenfreundlicher Schaffner durch Einräumen einiger Abteile 2. Klasse etwas Luft schaffte. Sie sind überhaupt so unauffällig, als es nur denkbar ist. Daß die Königstreue der biederen Landeskinder aus den Herzen nicht verschwindet, daß ein alter Bahnhofsvorsteher es sich in seiner Freude als alter Soldat nicht nehmen läßt, flugs weiße Handschuhe anzuziehen und so in Gala diesen "Passagieren 3. Klasse" sein strahlendes Gesicht zu zeigen, daß schließlich Kolberg in ein Meer schwarzweißroter Fahnen getaucht ist, das ist trotzdem verständlich. Daran wird auch kein Gesetz etwas ändern können. Und wenn jedes äußerliche Bekenntnis dieser Art verboten sein sollte, schlägt tief innerlich die Liebe und Treue um so stärker Wurzel.

Diesen Geist kann man nicht ausrotten, wenn man es auch möchte. Er ist dabei in keiner Hinsicht gemeingefährlich. Die heutigen Propagandisten der Tat jenseits der Rechten, so Kapp, so Techow, stammen aus alten 48er demokratischen Revoluzzerfamilien. Denen sitzt es im Blute. Bei uns anderen aber sucht man nach Material, ob wir nicht vor das Sondergericht gehören. Die neueste beliebte Frage in Gesellschaft in Berlin lautet: "Sind Sie schon gehaussucht?" Das geschieht nachgerade bei jedem, der kein Hehl daraus macht, daß er durchaus kein Republikaner ist. Am vorigen Freitag früh wurde auch ich aus den federn geholt, weil zwei Beamte der Kriminalpolizei mich zu sprechen wünschten. Haussuchung bei Rumpelstilzchens! Solch einen Spaß hat unser ganzer Stadtteil schon lange nicht gehabt. Die Herren zeigen mir als Ausweis ihre bronzene Kriminalmedaillen. Sieh da, sieh da: immer noch der gekrönte preußische Adler mit dem Schwert in den Fängen. Das ist ja geradezu monarchistische Propaganda durch eine republikanische Behörde. Da ich als Mann des alten Systems einem Staatsbeamten natürlich nie Schwierigkeiten mache, stehen im Handumdrehen alle Schreibtische offen, lasse ich alles sonst Sehenswerte herbeischleppen. Von der Wand blickt ein großes Bild Bismarcks mit eigenhändiger Unterschrift auf den sonderbaren Vorgang hernieder. Ob ich zu irgendeiner verbotenen Organisation gehöre, kann ich redlich verneinen. Dazu habe ich keine Zeit. Ich gehöre nicht einmal zu einem Stammtisch, nicht einmal zu einem Offiziersverbande. Nur zu dem Moonschen Blindenverein. Da zahle ich 20 Mark jährlich. Ich wünschte überhaupt, daß allen Blinden in deutschland die Augen geöffnet würden. Zum Kaiserliche Aeroklub habe ich mal gehört. Da bin ich aber ausgetreten, nachdem er nämlich das Wort "Kaiserlich" in seinem Titel gestrichen hatte, im Gegensatz zu dem Kaiserlichen Yachtklub, der seine Knie vor Baal nicht gebeugt hat. Ich sage den Beamten, in dem einen Schreibtisch läge nur ganz alter Kram, in und auf dem anderen das Neuere. Natürlich gehen sie nun zu dem alten. Das erste, was sie herausziehen, ist ein Telegramm: "Bombenversuche gut gelungen." Nun machen sie Kugelaugen. Aber die Unterschrift "Marineluftschiffabteilung" und das Datum 1914 beruhigen wieder. Dann folgt die lange shwere Arbeit des Durchsehens meiner gesamten neueren Korrespondenz, der Wirtschaftsabrechnungen meiner Frau, der Zusammensetzung der Schnitzel aus den Papierkörben, des Nachstöberns in allen Behältnissen, des Umwendens der Taschen meiner sämtlichen Anzüge. Es ist fabelhaft interessant. Für mich nämlich. Ich habe so etwas doch noch nie gesehen. Ich schäme mich nur etwas, denn außer den vielen Briefen, die ich nicht beantwortet habe, finden sich sogar etliche, die überhaupt erst geöffnet werden müssen. "Nehmen Sie doch den ganzen Kram in ein paar Waschkörben zum Polizeipräsidium mit, da können Sie ihn in Ruhe durchsehen, und es kommt vielleicht Ordnung hinein!" sagt meine Frau. Sie kann in solchen feierlichen Momenten sehr gefühllos sein.. Kram, sagt sie. Ordnung soll hineinkommen, sagt sie. Bitte, ich weiß von jedem Buch, von jedem Brief, von jedem Manuskript, wo es ungefähr steckt, und länger als eine Viertelstunde brauche ich nie zu suchen. (Wenn es länger dauert, löst mich nämlich meine Frau ab.) Im übrigen bin ich ein abgesagter Feind alles Schriftlichen. Mein in Ehren angeschossener Flugzeugpropeller, der als Lichthalter über dem Billard im Speisezimmer dient, macht mir mehr Freude als die unerledigten Briefhaufen. Überhaupt: Wohl dem, der frei von Schuld und Fehle bewahrt die kindlich reine Seele! Endlich sehen auch die beiden Kriminalbeamten ein, daß dieser Vers eigens auf mich gedichtet worden ist. Sie können nicht nur sagen, es sei nichts der Organisation C Verdächtiges bei mir gefunden worden, sondern wahrscheinlich positiv behaupten, nach dem ganzen Befunde hielten sie mich jeder Konspiration für unfähig. Ich bin mehr für Inspiration. Und meine Nichte habe ich grob angefahren, als diese junge Dame in ihrem schlafzimmer die beiden Diener des Gesetzes anfauchte, ob sie nicht gleich ihre Matratze aufschneiden wollten. Die beiden Herren, beide Gentlemen, soll in meinem Hause niemand veralbern. Ich selbst habe ihnen die Honneurs genau so gemacht wie jedem anderen anständigen Besucher. Meine Begeisterung für die Republik drücke ich freilich nicht in Luftsprüngen aus, sondern bemerke sachlich, nach zehn Jahren werde solche Begeisterung in Deutschland wohl überhaupt nicht mehr vorhanden sein. Die beiden Beamten schauen mich etwas rätselhaft an. Vielleicht denken sie, ich hätte den Termin noch viel zu weit gesteckt. Ich aber geleite sie nach ihrer stundenlangen Arbeit erhobenen Hauptes zur Türe. ich bin stolz. Ich frage jetzt lässig jeden Bekannten: "Sind Sie schon gehaussucht?" und wenn er verneint, bemerke ich: "Dann kann man eigentlich mit Ihnen nicht mehr verkehren!" Die nicht Haus- und Heimgesuchten haben ein Manko in ihrer bürgerlichen Wohlanständigkeit, finde ich. Da stehe ich doch ganz anders da. Ich bin als unzweifelhafter Monarchist abgestempelt. Aber ebenso unzweifelhaft als Nichtangehöriger irgendeiner Maffia. Und im übrigen kann mir kein Ausnahmegesetz das Lachen über unsere Aufgeplusterten verwehren.

Sonst ist wirklich nichts zu lachen. Ich höre immer: Katastrophenhausse. Und ich sehe, wie es bergab geht. Der Senator Albert in Paris hat gesagt, die jetzige Linkspolitik Wirths gefährde die Sicherheit der Besatzungstruppen und des Versailler Friedens, so daß man ernstlich an den Einmarsch ins Ruhrgebiet und in Süddeutschland denken müsse. Der Amerikaner Morgan hat dieser Tage erklärt, die jetzige Bolschewisierung Deutschlands verbiete es, ihm auch nur einen Pfennig Anleihe zu geben. Derweil kaufen die Ausländer wieder alles in Deutschland auf. Alölmählich kriegen wir eine Ahnung, was fremder Kapitalismus bedeutet. mas Miethaus, in dem ich wohne, gehört jetzt einer schwedischen Gesellschaft; die zahlt unserer Pförtnerin, die vier Kinder hat, 800 Mark monatlich, wofür die Frau Treppen und drei Höfe reinigen, zwei Fahrstühle und die Zentralheizung besorgen muß. Ähnlich ist es ja in Sommerschenburg gewesen, wo der holländische Pächter, der das Gut für sich hier nur verwalten läßt, den Arbeitern Kartoffelland verweigert, wofür sie den deutschen Verwalter halbtot geschlagen haben. Und immer wieder: Katastrophenhausse. Aktien, Häuser, Güter, Wälder, Fabriken werden von Ausländern wie rasend gekauft. Über ein kleines gibt es in Deutschland nur noch zwei Stände, Verwalter des ausländischen Kapitals und Arbeiter für das fremde Kapital. Dann können wir jubeln. Dann ist nach dem deutschen Militarismus auch der deutsche Kapitalismus erledigt. Und doch: dabei ist nichts zu lachen.

Einer, der sich wenigstens die Freude an der Natur noch erhalten will, ist dieser Tage durch den Tiergarten geschlendert. Reife sommerliche Pracht. In einer Pfütze nimmt ein Buntspecht sein Morgenbad. "Gott, die scheene Amsel!" sagt eine Brillantenbehängte von der Villa drüben. "Nein, ein Buntspecht, gnädige Frau, ein Schwarzweißroter, ein Deutschnationaler!" erwidert mein Freund. Und die Dame, die ihn soeben noch selber angesprochen hat, rauscht davon und zischt: "Impertinenter Mensch!" Drüben auf dem Lortzing-Teich segeln im Sonnenglanz sieben Erpel daher. "Det ist 'n feinet Leben," quäkt ein halbstarker Asphaltbruder, "nischt zu tun, un die Olle kann zu Hause brüten; det müßten wir ooch so ham!" Wozu unser Wanderer ruhig bemerkt: "Und den ganzen Tag bloß Wasser saufen." Da hat er es aber mit den Dreien gründlich verdorben. Ein paar Schritte weiter, am Reitweg. Zwei Offiziere, in Generalstabshosen, zu Pferde in deutschem Exerziertrab, Mensch und Tier ganz Beherrschtheit, ein prachtvoller Anblick. Gleichzeitig die Familie Neureich auf Gäulen ihnen entgegen. Es ist zum Wälzen. Das Publikum lacht. Da schüttelt der Dicke auf seinem etwas asthmatischen Hunter die Faust hinter den in der Ferne unter dem Laubdach verschwindenden Offizieren her, hält nebst der Sippschaft still, ruft laut: "Es ist ein Skandal, daß diese Bande wieder in Uniform im Tiergarten reiten darf!" und spuckt, ehe er nach einem Sporenstoß beschleunigt weiterjuckelt verächtlich vor dem Publikum aus.

So etwas trägt nicht zur Stärkung der republikanischen Gefühle bei. So etwas kann die ganze Wirkung der besten Ausnahmegesetze wieder zunichte machen.
6. Juli 1922 (Donnerstag).



Glossen 37 - 39

Jahresinhalt

Glossen 43 - 45

© Karlheinz Everts