"Rumpelstilzchen"

"Berliner Allerlei"
(Jahrgangsband 1920/21)

Verlag der Täglichen Rundschau / Berlin, 1922

Glossen 43 und 44
21. bis 28. Juli 1921


43

Das Tempelhofer Feld ohne Soldaten - Sonntag für das liebe Vieh - Höfliche Arbeiter - Berliner Dirndlkleider für Sofia - Eine Erinnerung an Petko Todorow - "Die Hermannsschlacht" im Freilichttheater - An Kleists Grab - Der Kunstausstellungspalast wird verramscht

Man "reize" das "Volk" nicht. Man zeige ihm keine Soldaten, sonst bekommt es den Koller. Nach diesem Rezept wird in Berlin verfahren, das heute überhaupt nicht mehr Garnison ist. Auf dem Tempelhofer Felde, auf dem früher für die Infanterie bestimmten Teil mit fester Grasnarbe, träumt die berühmte einsame Pappel von alten Zeiten, wo die Grenadiere in ehernem Schritt an ihr vorüberparadierten, während an ihrem Fuße zu Pferde der Kaiser hielt. Sie schaut wohlmeinend hernieder auf die vielen Fußballspieler auf dem Felde, die oder einst ihre Söhne können ja vielleicht wieder Grenadiere werden. Aber sie schüttelt ihre Zweige, wenn sie nach rechts hinüber blickt, vom Steuerhäuschen bis zur Hasenheide. Da bauen jetzt Leute Lauben. Und im Grase sitzen sonderbare Gruppen, in deren Mitte sich allerlei Kleintiere bewegen. Ganze Familien kommen aus der inneren Großstadt her, bringen das Kellerhuhn und das Balkonkaninchen in Käfigen mit und öffnen sie, wenn der Kreis geschlossen ist. Da hoppeln denn die Karnickel und rupfen an kümmerlichen Grasbüscheln. Und die Hühner - wir haben rund 180 000 in Berlin - scharren nach Larven oder einem Würmchen. Hie und da meckert sogar eine Ziege. Manchmal entwischt ein Gackervogel, und die ganze Familie rennt hinterher, bis er wieder in den neugebildeten Kreis eingetrieben ist, der törichte Ausbrecher. Man darf den Sonntagnachmittags-Ausgang doch nicht übertreiben! Man soll doch froh sein, wenn man nach sechs Tagen im Keller oder auf dem Balkon einmal ein paar Quadratmeter echte Grasnarbe zum Ergehen hat! Es gibt sogar immer noch Schweine, die - Verzeihung, ich meine, es gibt sogar immer noch Berliner, die ein Schwein in der Badestube mästen. Aber die kommen nicht her. An der Hasenheide, wo einst Friedrich Ludwig Jahns Turner übten und wo heute noch Gefallene aus den Befreiungskriegen ruhen, wird nicht gegrunzt; nur gegackert, gepiept, gemeckert. Der Karnickelbock sei ja nu wohl bald seine 80 Mark wert, sagt Vater. Und Mutter meint, die Henne werde ja nu wohl durch Eierlegen sich für den Ausflug bedanken. Und die Göhren fragen, wieviel Liter Milch die Ziege nu wohl geben werde. Im übrigen sitzt man stumm im Kreise herum. Mit einer stillen Versunkenheit, wie ehedem in fernen Ländern die Säulenheiligen oder die Nabelschauer.

Aber die Leute sind glücklich, das ist ja sicherlich die Hauptsache. Das "Volk" wird auch nicht "gereizt", wenn es statt der eigenen jetzt in Berlin die fremden Soldaten auf Schritt und Tritt sieht. Das ist deren größtes Erstaunen: daß man sie so gleichgültig hinnimmt. Man hatte sich die Deutschen als wilde Tiere vorgestellt, aber man stößt nur auf Behagen und Stumpfsinn und unterwürfiges Entgegenkommen. Wenn irgendeiner der fremden Soldaten irgendwo in Berlin einen Arbeiter nach dem Wege fragt, dann reißt sich der eilfertig sofort die Pfeife vom Munde, erklärt umständlich und trabt womöglich noch mit. Nirgends stolze Zurückhaltung oder gar eisiges Abweisen. Auch nicht in den Läden, in den Gastwirtschaften, in den Pensionen, wo jetzt Zivilisten aus aller Herren Länder ihre Wünsche radebrechen.. Man ist ja so glücklich, wenn man sich ihnen verständlich machen kann. Zurzeit ist die Überschwemmung vom Balkan her besonders groß. Gelegentlich macht dabei ein Berliner Mädchen "ihr Glück", und diese wenigen sehr seltenen Fälle sind dann Reklame für die Ausländer. Ein junger bulgarischer Gesandtschaftsrat hat eine Stenotypistin aus der Yorkstraße geheiratet. Wirklich geheiratet. Nun ist sie drüben in Sofia, hat Bulgarisch und Französisch gelernt, ist eine große Dame geworden, - wenn auch nicht ganz glücklich. Der Gatte ist wieder gerade auf einem Sprung in Berlin zu Einkäufen. Er bringt seiner Frau nicht weniger als drei Dirndlkleider aus Berlin mit. "Möglichst knallige Farben, bittäh!" Die ganze Yorkstraße staunt Bauklötze. Die ganze Yorkstraße möchte nach Bulgarien heiraten.

Einige Jahre vor dem letzten Balkankriege besuchte mich in Berlin der Nationaldichter der Bulgaren, Petko Todorow. Der schlanke Mensch mit dem schmalen langen schwarzen Vollbart, den zigarettengelben Fingern und den glühenden Kohlenaugen sprach von dem Freiheitskampfe in Mazedonien. Nicht wie ein deutscher Dichter spräche. Sondern härter, praktischer; er sprach von der Organisation der Banden und von der Fabrikation der Bomben. Wir kamen dann auf die Einflüsse der deutschen Literatur in Bulgarien. Und Petko Todorow erzählte, wie sein Vater, der alte weißbärtige Finanzminister, vor fünfzig Jahren, als Bulgarien noch kein Staat war, sondern geknechtete türkische Provinz, den ersten hemmungslosen Jubel über ein deutsches Drama erlebt habe. Es war handschriftlich übersetzt, noch halb kirchenslavisch, halb neubulgarisch, unbeholfen im Stil, unbeholfen in der Liebhaberaufführung in Scheunen und Schulen, aber die Zuschauer weinten vor Erregung: auf der primitiven Bühne, auf der - Schillers "Räuber" gegeben wurden, sahen sie, die Waffenlosen, wirkliche Bulgaren Bewaffnete spielen und gegen die Tyrannen schäumen. Ein unauslöschlicher Eindruck, der bis 1877/78 nachwirkte und noch heute nicht ganz verweht ist. Ich hörte Petko Todorow wohlwollend interessiert zu, wie ich auch anderen Leuten gegenüber, wenn sie von der Überschwemmung des Hoangho oder dem Aufstand der Teketurkmenen erzählt hätten, der höfliche Mann geblieben wäre. Ich war ja Deutscher, also ein freier Mann; kein Fremder hatte bei uns zu befehlen; kein deutscher Stamm - an die Balten und an die Siebenbürgener Sachsen dachte man ja kaum - wurde vergewaltigt. Und nun? Heute sind wir, wie die Bulgaren dereinst in der Hand der Türken, ein waffenloses Opfer in der Hand der Franzosen und ihrer Nigger und ihrer Bundesbrüder, sehen in den Grenzmarken unsere Kinder geschändet und unsere Männer zerstoßen; und Deutschland ist ein Tributärstaat geworden. Wo aber trinken wir mit Inbrunst Worte der Freiheit? Wo wird aus kochenden Herzen die Rache geboren? Die Republik gibt ein neues Schulliederbuch heraus, in dem alles gestrichen ist, was an deutsche Größe und deutsche Freiheit erinnert. In der Öffentlichkeit werden die Männer geschmäht, die sich bis zum Äußersten im Felde behaupten wollten. Die Theater in der Reichshauptstadt vermeiden peinlich den "anstößigen" Wilhelm Tell. Ich wollte, ich wäre ein Bulgare. Oder ein Afghane. Oder ein Angoratürke . . .

Vorerst brennt die Schmach nur in wenigen Herzen. Aber sie frißt doch schon weiter. Gestern haben wir es unter rauschenden deutschen Eichen am Brauhausberge in Potsdam wieder so recht empfunden. Die Gesellschaft für vaterländische Schauspiele, deren unbekannte Geldgeber von Kind und Kindeskind gesegnet zu werden verdienen, läßt Kleists Hermannsschlacht über die Hügel durch den Wald daherbrausen. Ist das ein Aufwühlen! Neben mir, hinter mir sehe ich von Frauenwangen Tränen rollen, Männer pressen düster die Lippen zusammen, Knaben glühen vor Begeisterung. Manches trifft wie ein Peitschenhieb.

Hermann:

Kurz, wollt ihr, wie ich schon einmal euch sagte
Zusammenraffen Weib und Kind
Und auf der Weser rechtes Ufer bringen,
Geschirre, goldn' und silberne, die ihr
Besitzet, schmelzen, Perlen und Juwelen
Verkaufen oder sie verpfänden,
Verheeren eure Fluren, eure Herden
Erschlagen, eure Plätze niederbrennen,
So bin ich euer Mann -

Wolf:

Wie? Was?

Hermann:

Wo nicht -

Thuiskomar:

Die eignen Fluren sollen wir verheeren?

Dagobert:

Die Herden töten?

Selgar:

Unsere Plätze niederbrennen?

Hermann:

Nicht? Nicht? Ihr wollt es nicht?

Thuiskomar:

Das eben, Rasender, das ist es ja,
Was wir in diesem Krieg verteid'gen woll'n!

Hermann (abbrechend):

Nun den, ich glaubte, eure Freiheit wär's.

In tiefster Seele spüren wir die Verwandtschaft jener kleinen Seelen um Hermann mit uns selbst. "Das eben ist es ja", was wir durch Unterschrift, Tribut und Kriechen heut verteidigen wollen, das Ruhrgebiet und Oberschlesien und tausend andere Dinge; wir sind des Gedankens entwöhnt, daß nur der leben wird, der sterben kann, daß nur der gewinnen darf, der sich zu entäußern versteht, daß einmal, endlich einmal die Freiheit mehr gelten muß, als alles Wohlleben der Welt. Aber vorerst haben wir alle ja noch viel Gewichtigeres auf dem Herzen. Wenn nur die einmalige Teuerungszulage wieder bezahlt wird und unsere Tante in Ostfriesland wieder billige Butter schickt. Wie ausgebrannter Zunder fällt das alles von uns ab, wenn Kleists "Hermannsschlacht" uns packt, wenn wir da den einen Mann, den Mann, den wirklichen Mann sehen, Hermann den Cherusker, der alles in den Dienst des einen Gedankens stellt, die Feindesbrut auszurotten, alles, alles, auch Lüge und Gewalt dazu nicht verachtet; der an den Schwindel der Feindverträge nicht glaubt, sich über die Zulässigkeit eines "rücksichtslosen" Krieges keine Skrupel macht und als Sieger nicht Amnestien erläßt, sondern Volksverrätern den Kopf vor die Füße legt. Kraftvoll und aus einem Gusse die Gestalt, so schreitet Georg Paeschke als Cheruskerfürst unter den Eichen daher, löwenmähnig neben ihm Ada Mahr als Thusnelda, prachtvoll auch die übrigen Germanenfürsten und Römer: eine Truppe, der wir statt der Hunderte von Zuschauern auf den Gartenstühlen in der Waldblöße deren dreitausend Abend für Abend im Großen Schauspielhaus wünschten, bis auch der letzte Berliner etwas von dem heiligen Feuer abbekommen hätte. Aber nicht doch - bei Reinhardt ist Völkerkampf verpönt, ist Klassenkampf als zugkräftig erkannt. So spielen denn diese 35 wackeren Darsteller mit ihren rund zweihundert Statisten in der freien Natur. Jetzt in Potsdam, später in anderen deutschen Städten. Und es gibt nichts, was besser in unsere alten Donarshaine paßte. Atemberaubend, unnachahmlich auf der Kunstbühne, ist zuletzt das Schlachtgetümmel. Überallher aus dem Waldesdickicht kommen die Germanen her, der Kampf wälzt sich von Stamm zu Stamm näher, Schilde krachen, Römer fallen, wie eine Windsbraut stürmen Reiter daher, auch ein lediges Pferd galoppiert über den Plan, Staub wirbelt auf, der Sand spritzt bis an die Zuschauer, und als er sich verzieht, da liegen die Erschlagenen umher, und Fackeln lohen in Germanenfäusten im dunkelnden Wald. Ein seltsam erregendes Bild. Ein Schauspiel der Freiheit für zuckende Versklavte. Hat schon vorher manche Faust sich gekrampft, als das von fremden Horden geschändete Mädchen vom Vater erstochen wird, hat schon vorher manch einer gestöhnt "Rheinland! Rheinland!", so kennt jetzt die Erschütterung keine Grenzen mehr. Nun noch des Varus Fall, Hermanns Kürung zum Könige, das Gericht über den Verräter.

An dem trotzig mittelalterlichen Turm des ehemaligen Kadettenhauses auf dem Brauhausberge vorüber geht man heim. Ehemalig. Ehemalig. Von der Garnisonkirche des Alten Fritz herüber kommt durch die Abendluft das Glockenspiel. Weiter drüben, am Kleinen Wannsee, liegt das Grab Heinrichs von Kleist. Er hatte Napoleons Faust erlebt. Er sah noch nicht den Aufschwung, er lachte bitter über Fichte, über den Tugendbund, über Schwätzer und Noten und Proteste und Kundgebungen, er schrie dem deutschen Volke seine Hermannsschlacht ins blasse Angesicht und ging hin und schoß sich am Wannsee eine Kugel vor das zermarterte Gehirn. Dieser Platz wäre bei Franzosen, Bulgaren, Afghanen, Angoratürken ein Wallfahrtsort. Anderweitig. Anderweitig. Bei uns ist innerhalb eines zermorschten Zäunchens nichts mehr zu entdecken, als eine kleine verwilderte Erhebung, die einmal ein Grabhügel war. Die Berliner Volksbühne am Bülowplatz hat früher einmal mit der Hermannsschlacht große Einnahmen erzielt. Das Stück ist tantiemefrei. Der Dichter ist ja schon viel länger als 30 Jahre tot, also braucht man ihm nichts mehr abzugeben. Und wenn der Zerbrochene Krug oder das Käthchen von Heilbronn irgendwo in Deutschland volle Häuser machen oder der Michael Kohlhaas neue Auflagen erlebt, - für das vermoderte Grab fällt keine Papiermark mehr ab. Wir sind eben Deutsche. Der Spott aller aufrechten Nationen.

Es gibt ja auch bessere Kapitalanlagen, als Graberhaltung und Ehren der Überlieferung. Unsere Kunstmäzene wissen schon, wohinwin man sein Geld stecken muß. Da ist der Herr Cassirer, der Kunstbolschewist in Berlin W., der Salonkommunist, der knallrote Bluts- und Wahlverwandte der Moskauer Sowjetdespoten. Er macht neuerdings in Film. Und er hat für Geschäftsmöglichkeiten eine besonders feine Witterung. Vor einiger Zeit wurde in die Presse die Notiz lanciert, der große Glaspalast in dem Landesausstellungspark am Lehrter Bahnhof sei baufällig und genüge seinen Zwecken nicht mehr. Und der Staat habe heute nicht mehr die ungeheueren Geldmittel, die zum Umbau nötig wären. Auf diese Art ist die öffentliche Meinung gut vorbereitet. Nun wundert sie sich auch gar nicht mehr, wenn der Kunsthändler Cassirer - nein, ich will mir keine Berichtigung zuziehen - wenn eine anonyme Aktiengesellschaft jetzt als Ramschkäufer auftritt und das Kunstausstellungsgebäude samt Park zu einem lächerlichen Preise ersteht, um auf diese Art billig zu riesigen Filmateliers und zu dem Gelände für Massenaufzüge der Anna Boleyn mitten in der Stadt zu kommen. Einige Papiermillionen, die in unserer Milliardenzeit nichts bedeuten, werden in das "goldwerte" Geschäft gesteckt. Die Kunst kann weiter wandern.
21. Juli 1921 (Donnerstag)


44

Sind Sie ein Gent? - Vom Röllchen bis zum Zahnstocher - André de Fouquières und Kuno Fischer - "Ferien vom Dienstmädchen" - Hochkonjunktur für Diebe - Der Einbruch beim russischen Obersten - Brief- und Telephonspitzelei - Der Japaner in der "Hermannsschlacht"

Sind Sie ein Gent? Ich nehme als selbsrverständlich an, daß Sie keine Röllchen tragen. Nämlich auf der Straße; und sie zu Hause auf dem Buffet und im Amtszimmer auf dem Schreibtisch abstellen. Warum nicht? Ja, mein lieber Freund, ich weiß, ich weiß: natürlich hat Ihr Herr Vater welche getragen, und der war doch Geheimer Justizrat. Aber er war eben kein Gent! Es freut mich, daß Sie nächstens - aber ich selbst verreise - nach Berlin kommen wollen, um zu lernen, wie man das wird. Ich will es Ihnen sagen. Es ist ganz einfach. "Man tue das Zweckmößige!" Auch Berliner angebliche Gents tun das nicht immer, sondern leben immer in siedender Hast, ob dies und das auch wirklich richtig sei. Natürlich dürfen Sie Röllchen tragen! Nur nicht - sie ablegen. Denn der Zweck des Hemdärmels und der "Manschette" ist doch die Reinlichkeit. Wenn Sie auch einen noch so schönen muskelstrotzenden, adergeschwellten Unterarm haben, so - Verzeihung! - schwitzt doch auch der manchmal, und da ist es gut, wenn ein häufig gewechseltes waschbares Kleidungsstück ihn deckt, nicht der immer ein wenig verstaubte Tuchärmel Ihrer Jacke. Also allenfalls Röllchen. Auch wenn die ewige Handdrehung, um das Röllchen nicht über die Fingerknöchel fallen zu lassen, lächerlich aussieht. Zweckmäßiger sind angeknöpfte Hemdunterarme; und jedenfalls ausreichend für diejenigen Leute, die sich heutzutage nicht täglich ein frisches "ganzes" Hemd leisten können. Fragen Sie sich nur immer ruhig nach der Zweckmäßigkeit. Der englische Gent hat den Schlafanzug, das Pyjama, in Europa eingeführt. Vortrefflich, ganz vortrefflich. Wenn man auf großen Ozeandampfern mal raus muß aus seiner Kabine, etwa zum Barbier den Gang entlang und dann gleich links, ist das ein sehr empfehlenswertes Kleidungsstück. Auch wohl im Schlafwagen. Aber wenn Herr Müller in der Mulackstraße in Berlin N., vier Treppen, im seidenen Pyjama in sein Bett schlüpft, so ist er kein Gent, sondern ein Affe. Welche Qual ist es manchmal für den werdendenden Gent, festzustellen, wann "man" Handschuhe trage und wann nicht, ob man mit angezogenen Handschuhen bei der Frau Generaldirektor Besuch mache oder den rechten oder den linken oder beide schlenkernd in der Hand trage. Fragen Sie sich doch nur, wozu Handschuhe da sind! Sie sollen vor Kälte oder vor Schmutz oder vor Sonnenbrand schützen. Scheuen Sie nichts davon, so tragen Sie gar keine, das ist alles. Wenn Sie aber zu Besuch kommen, so nimmt die Dame des Hauses als selbstverständlich an, daß Sie auf dem Wege vom heimischen Waschbecken bis zu ihr Handschuhe angehabt haben, um ihr nun die einwandfrei reine und vollkommen unbeschuhte Hand geben zu können. Viele Berliner glauben, ganz unzweifelhaft beginne der Gent erst bei hell-modefarbenen oder weißen Gamaschen. Dann bin ich keiner. Ich ziehe mir nur im kältesten Winter oder in staubiger Gegend im Sommer Gamaschen über, also sehr selten. Immer nur dann, wenn der Zweck - Schutz gegen irgend etwas - gegeben ist. Daheim am Schreibtisch oder sonstwo in Gesellschaft wären sie irsinnig. An der natürlichen Sicherheit, mit der er sich zweckmäßig kleidet und - benimmt, erkennt man den Gent. Sonst ist er bloß ein Fatzke. Im allgemeinen nimmt man an, daß unsere Diplomaten dafür die feinste internationale Witterung hätten, aber das stimmt doch wohl nicht. Im demokratischen Klub in Berlin und im Reichstag läuft der Botschafter a.D. Graf Bernstorff ständig in Gamaschen herum und macht sie durch Hosenumkrempeln möglichst sichtbar: er ist der Inhaber der kürzesten Hosen des Jahrhunderts. Apropos Benehmen. Es ist zweckmäßig, sich die Fingernägel nicht gerade in Gesellschaft zu reinigen. Es ist ebenso zweckmäßig, Zahnstocher nicht bei Tisch zu benutzen. Beides stört nämlich erheblich das Wohlbehagen der anwesenden Mitmenschen. In den internationalen Zügen räumt der Kellner die Zahnstocher sofort von den Tischen des Speisewagens ab, sobald die deutsche Westgrenze hinter uns liegt, denn in anderen zivilisierten Ländern - nur Norditalien macht es auch noch wie wir - legt man Zahnstocher ebensowenig auf die gedeckte Tafel, wie Kämme oder Rollenpapier oder Seifenlappen.

Der falsche Gent, der sich immer fragt, was "man" tue, lebt nicht in Freiheit, sondern in entsetzlicher Sklaverei. Das Fürchterlichste ist dann der Sklavenaufstand, wenn etwa eine Hitzwelle alle Bande frommer Scheu gelöst hat. Ganz Berlin scheint heute vom Trag-den Hut-vorm-Bauch-Verein bevölkert zu sein. Der Bauch selbst aber dampft unter Rock und dicker Weste. Wer sich statt dessen zweckmäßig kleidet, der erträgt die ärgste Hitze, ohne sein Behagen zu verlieren, kann auch ruhig das Haupt gegen Sonnenbrand bedecken. Wer eine waschbare weiße Leinenhose besitzt, mag sie über die bloßen Beine ziehen, also auf die hitzende Makounterhose verzichten; ist er schlank, so genügt dazu das Tennishemd statt Jacke und Weste. Den weichen Kragen im Sommer pflegte sogar Bethmann-Hollweg zu tragen. Ist man dick, so macht die zweireihige Jacke, aber ohne Weste darunter, einen zum gutgekleideten und genügend gelüfteten Menschen, der den Kopf klar behält. Wenn nur die langen Haare nicht wären! Sie sind heute epidemisch. Der militärische Schnitt ist nicht mehr "modern"; daß er praktisch war, hat man vergessen. Es ist immer wieder dieselbe Geschichte. Man macht, was die anderen machen. Wie die liebe Damenwelt, der im Sommer die luftigsten Toiletten nichts nützen, wenn sie darunter mit einem Korsett gepanzert ist.

"Ist die Frau auch sehr dick,
Sie muß 'rin in die Kluft,
Und dann sitzt sie da beim Essen
Und da kriegt sie keine Luft"

singt Otto Reutter; man lacht - und läßt sich nächstens das Gerüst noch etwas enger ziehen. Unserer Berliner Herrenwelt hat André de Fouquières aus Paris kurz vor dem Ausbruch des Krieges klarmachen wollen, was der Gent anzuziehen habe. Seinem Vortrag ging eine schriftliche Botschaft voraus. Es hieß darin: "Der bestgeschnittene Cutaway wird durch eine papageienfarbene Krawatte in Grund und Boden ruiniert, und ein Frack, den eine violette Weste ziert, ist schon geliefert, bevor man ihn anzieht." Aber das sind Kinkerlitzchen. Sie treffen nicht das Wesen der Sache. Der berühmte Philosoph und Ästhet Professor Kuno Fischer in Heidelberg, der es sich nicht verdrießen ließ, eine öffentliche Vorlesung über Tracht und Mode zu halten, hatte im Sommer und im Winter die gleiche einfarbig lichtgraue Hose an, die aus der Biedermeierzeit zu stammen schien und ihm doch vortrefflich stand; und er sagte: "Der Schick, meine Herren, läßt sich nicht lehren, - nicht nur die Frau, sondern auch jeder Mann hat seine besondere Linie, und die zu erkennen, das ist Geschmack."

Und dazu gehört nicht einmal viel Geld. Über Reichtümer verfügen ja die wenigsten von uns. Aber schön und behaglich kann man es sich mit geringen Mitteln machen. Die Herrschaften, die zwei Treppen unter uns wohnen, nennen wir sie meinetwegen Joelsohns, waren im Juni vier Wochen in Baden-Baden und sind jetzt wieder für vier Wochen nach Westerland gereist. Ihre daheimgebliebenen Dienstmädchen liegen den ganzen Tag im Fenster, rauchen Zigaretten und gehen abends "umschichtig" aus. Die Herrschaften, die nur eine Treppe unter uns wohnen, nennen wir sie meinetwegen Tulpenthals, sind nach Heringsdorf - bitte, im Auto - und haben ihre Dienstboten - bitte, im Auto - persönlich mitgenommen. Dies und anderes wissen wir von unserer Grete, unserer Einzigen für Alles, die sozusagen gnadenhalber bei uns dient: einst hatten wir Köchin, Fräulein, Diener, Französin, aber heutigen Tages ist man eben, man weiß nicht wie, eine "heruntergekommene Familie". Also unsere Einzige für Alles hat so lange von den Herrlichkeiten, die die anderen genössen, geschwärmt, bis wir sie selber in Urlaub schickten, nachdem auch die Kinder in die Ferien gegangen waren. Nun sind wir, also Mann und Frau, allein. Wir haben nicht Ferien vom Ich, aber Ferien vom Dienstmädchen. Das ist einfach zum Übermütigwerden köstlich. Nicht nur das Fenster, sondern auch die Tür des Schlafzimmers steht sperrangelweit offen, da ja morgens niemand mit dem Besen davor uns stört. Zweimal täglich gehen wir in allerduftigster Bekleidung unter die kalte Brause. Abends nach Tisch spielen wir im Bademantel mit "fast nichts" darunter unsere Partie Billard. Zu Mittag gibt es prachtvolle Koteletts oder Filetsteaks, die man sich, wenn man zu 8 Personen ißt, nur selten leisten kann. Und alles steht immer am richtigen Ort, während das Dienstmädchen immer alles verlegt hatte. Es ist auch viel sauberer in der Wohnung als sonst. Nur wenn wir ausgehen, schellen etwaige Besucher, freilich vergeblich, und am Telephon bei uns antwortet auch niemand. Aber in dieser Zeit will mich ja auch wohl kein Verleger sprechen. So wie uns geht es zurzeit auch noch mancher anderen Familie. Die Ferien vom Dienstmädchen sind die schönste Einleitung zum eigenen Urlaub.

Aber auch für Einbrecher und Diebe ist zurzeit Hochkonjunktur. In weiser Voraussicht dessen, daß die Zahl der Bahndiebstähle jetzt mit dem steigenden Verkehr wieder anschwillt, hat das Verkehrsministerium beschlossen, die monatliche Diebstahlsstatistik fortan nicht mehr zu veröffentlichen. Wir sind ja nun bald schon drei Jahre Republik, und da gibt man etwas auf seine Reputation. Der revolutionäre Sturm und Drang hat sich noch nicht ganz ausgetobt, ist noch nicht ganz tot, und so soll er wenigstens - totgeschwiegen werden. Übrigens: geklaut wurde auch früher, nur nicht so toll. Wenn der Reichskanzler Fürst Bülow Hunderte und aber Hunderte von Herren zu dem üblichen parlamentarischen Bierabend einlud, so pflegte er auch immer zwei Kriminalkommissare mit einzuladen, die sich unauffällig in allen Räumen der Reichskanzlei bewegten, hier vor einem Bücherschragen, da vor einem Wandbild stehen blieben und - durch ein Taschenspiegelchen heimlich ihre rückwärtige Umgebung beobachteten. Es kamen sonst leicht Andenken weg. Selbst bei einer so illustren Gesellschaft. Aber frecher, viel frecher ist man heute. In Berlin-Wilmersdorf wurde vor einiger Zeit eine Vereinsfestlichkeit plötzlich von einer Schar von Räubern überrascht, die eine erhebliche Beute an Geldtaschen und Schmucksachen dabei machten. Der russische Oberst v. Freyberg ist in dieser Woche am hellen lichten Tage von einer Bande heimgesucht worden, die offenbar in bolschewistischem Auftrage ihm seine Akten raubte, während unten auf der Straße in Polizeiuniform verkleidete Genossen das zuschauende Publikum in Reih und Glied hielten. Gewiß, so etwas kommt nicht nur in Berlin, sondern auch in Köpenick oder Kötzschenbroda vor, und wenn Tante Eulalie uns schreibt, sie möchte uns gerne besuchen, aber in Berlin sei es ja so gefährlich, so lachen wir heimlich und bedauern es nur öffentlich, daß wir in einer so verruchten Gegend leben. Auch in Köpenick oder Kötzschenbroda ist die Achtung vor der Autorität des Staates in Verbrecherkreisen sehr gesunken. Es gibt überall Leute, die sich nicht einmal vor dem Schutzmann, geschweige denn vor Gesetzesparagraphen fürchten. Um so mehr muß der Staat sich anstrengen, ihnen das Handwerk zu legen. Weil so viele Kapitalien in das Ausland verschoben werden, hat beispielsweise das Brief- und Telephongeheimnis, auf das in der alten Zeit die Beamten eigens vereidigt wurden, längst zu den übrigen verlorenen Freiheiten sich legen lassen müssen. Zwar finden die gewitzten Leute immer wieder Auswege. Beispielsweise werden ganz ungeheure "Provisionen" an Firmenvertreter im Auslande überwiesen, und das ist ja unanfechtbar; und wenn es mal angefochten werden sollte, weil die "Provisionen" zu einem ausländischen Bankkonto des Geschäftsinhabers selbst sich verwandeln, so haben die Kapitalschieber schon längst einen neuen Weg heraus. Aber die Briefe von Hinz und Kunz, die keinen Pfennig Vermögen haben, werden auf der Überwachungsstelle geöffnet. Und an unserem Fernsprecher schaltet sich ein Mthörer ein, der geduldig stenographiert, auch wenn nur mein Jüngster eine Sonntagswanderung zum Kloster Chorin mit Kameraden verabredet. Für die Überwacher ist es manchmal ganz amüsant, besonders, wenn große Politiker mit kleinen Freundinnen sich unterhalten. Für die Überwachten ist es weniger angenehm. Ganz Berlin hat gelacht, als es neulich bekannt wurde, daß sogar ein Angestellter dieses Spitzelbetriebes selbst, ein Regierungsrat der Nach-November-Sorte, sich darüber beklagte, daß wildfremde Leute alles erführen, was er am Telephon spreche. In Republiken blüht immer die Spionage. Auch über die eigenen Leute. Als im März vorigen Jahres Kapp in die Reichskanzlei einzog, war das erste, was er vorfand, der alltägliche Bericht an den nach Dresden entwischten bisherigen Reichskanzler, was und mit wem seine Ministerkollegen tags zuvor gesprochen hätten. Das Heer der in diesem Dienst Beschäftigten wächst ins Ungeheure. Allmählich traut kein Mensch mehr dem anderen. Denn vielleicht liest mein Gegenüber meine Briefe. Oder die Stenogramme meiner Unterredungen. In Berlin nicht nur, sondern namentlich auch in Mitteldeutschland hat es zeitweise keinen einzigen Großindustriellen, Politiker, Gymnasialdirektor, Generalsuperintendenten, Stabsoffizier gegeben, der nicht "abgehört" wurde. Und manchmal auch ganz simple Leute, Rumpelstilzchen und Konsorten.

Jetzt, in den Hundstagen, läßt das alles ein wenig nach. Es ist ja niemand mehr da. Überwachte und Überwacher sind zum großen Teile ausgeflogen. Nur deshalb, weil fast alles in Ferien ist, sind auch die Freilichtspiele in Potsdam verhältnismäßig so schwach besucht. Vielleicht wird es nun - man hat bis in den August hinein verlängert - etwas besser, weil endlich die "Sensation" eingesetzt hat. Vorgestern wurde nach Schluß der Hermannsschlacht wieder das Deutschlandlied gesungen. Ein anwesender Japaner blieb sitzen. Schon ward ihm der Hut vom Kopfe geschlagen. Ich bin kein Freund von dieser Art Patriotismus. Ich bin selber zu Beginn des Krieges einmal sein Opfer geworden, weil ich im Hamburger Alsterpavillon meinen allmählich kalt gewordenen Kaffee endlich austrinken wollte und das ewige Gesinge und Aufstehen satt hatte. Unter all den Gröhlern war ich vielleicht der einzige Frontkämpfer. Auch der Japaner am Brauhausberge ist vielleicht ein eifriger "Prodeutscher". Nein, mit Huteintreiben rettet man nicht das Vaterland. Überhaupt nicht mit Demonstrationen irgendwelcher Art. Erst wenn das ganze Volk, zerquält und zergrimmt, bis zum letzten Kommunisten herunter es versteht, daß das Volk mehr bedeutet als die Klasse, daß der Landesfeind unser einziger Feind ist, daß Rache den Erniedrigten gesundmachen kann, - erst dann können wir wieder an eine Zukunft denken. Dann brauchen wir auch nicht mehr die Hermannsschlacht Kleists, sondern nur das eine Wort von Arndt:

"Schlagt sie tot! Das Weltgericht
Fragt Euch nach den Gründen nicht."

28.Juli 1921 (Donnerstag)



Glossen 40 - 42

Jahresinhalt

Glossen 45 - 46

© Karlheinz Everts