"Rumpelstilzchen"

"Berliner Allerlei"
(Jahrgangsband 1920/21)

Verlag der Täglichen Rundschau / Berlin, 1922

Glossen 45 und 46
4. bis 11. August 1921


45


Valuta und Lebenslust - Tausend-Mark-Soupers - Auf der Gemäldeauktion - "Es gibt leider keine Fürsten mehr" - Berlins Bedeutung für die Musik - Zu Carusos Tode - Quietschmädchen auf dem Rummelplatz - Die Fliegen unter dem Hut

Unter dem Kabinett der Erfüllung, wie unser jetziges Regime sich nennt, ist die deutsche Reichsmark bisher um weitere 25 Prozent ihres schon vorher recht geringen Wertes gesunken. Unser Geld ist so billig, daß die Ausländer in Scharen in unsere Seebäder und nach Berlin kommen, um es hier zu verjuxen. Es ist so billig, daß es auch der Einheimische mit vollen Händen fortwirft; daher macht ja ganz Berlin den Eindruck, daß es von Genuß zu Genuß nur so taumelt. Im Frühsommer bekam der Amerikaner für eine 100-Dollar-Note bei uns 6000 Mark, heute schon 8000 Mark, also kann er zwei Tausendmarkscheine von jeder 100-Dollar-Note extra leichtsinnig flattern lassen. Der Deutsche aber, der etliche "Bräunlinge" gespart hat, sagt sich: noch ein paar Jahre Kabinett der Erfüllung, dann kann ich für diese inzwischen weiter entwerteten Tausender mir vielleicht noch gerade ein Hemd kaufen, also kaufe ich mir lieber jetzt ein Dutzend, und für den Rest wird mal tschumheidi gelebt. Und nun gar in den Kreisen der Schwerverdiener fliegt das Geld wie Spreu dahin. In der Fasanenstraße, in der Nähe des Kurfürstendammes, gibt es eine Gaststätte, in der man - höchst einfach - beim Eintritt 1000 Mark bezahlt; dann darf man an dem Abend essen und trinken, was man will. Das Restaurant ist sehr gut besucht. Mit Vorliebe speisen dort Berliner jüngere Sowjetvertreter, wenn sie sich von der schweren Arbeit erholt haben, Aufrufe an Europa für das hungernde Rußland zu erlassen. Auch Deutsche mit flackernden Augen kommen dahin. "Ein Tag gelebt im Paradiese" und "Nach uns die Sintflut", das ist so ihre Gedankenverbindung. Vornehmer noch sind etliche ganz neu ausgestattete Dachgärten auf westlichen Hotels. Da sind die valutastarken Ausländer fast ganz unter sich, die Amerikaner vor allem, dazu Engländer, Holländer, Skandinavier, da fliegen die Tausendmarkscheine, wie ehedem kaum die Taler rollten. Irgendwer muß sie doch aber erarbeiten. Oder irgendwer muß doch dafür verhungern. Und in der Tat wird alles aus dem alten soliden Deutschland herausgepreßt. Für jedes Souper da oben erhängt sich irgendwo in Deutschland ein Hauswirt, geht irgendwo in Deutschland die Familie eines höheren Beamten zugrunde, erwürgt irgendwo in Deutschland ein Arzt sein Gewissen und macht Geld durch dunkle Machenschaften. Wir leben scheinbar in einer Periode des glänzendsten Aufschwunges, die vielfach an die Gründerzeit nach 1871 erinnert, aber das Haus, in dem ich in Berlin zur Miete wohne, gehört jetzt einer schwedischen Gesellschaft, für die Kohlen einer oberschlesischen Grube, mit denen es beheizt wird, heimsen amerikanische Teilhaber die Hälfte der Dividenden ein, an der Ölfarbe, mit der jetzt die Fassade neu gestrichen wird, verdient die Hauptsache England, der Dampfer, auf dem ich einen Ausflug mache, gehört zum größten Teil dänischen Aktionären. Der Kapitalismus ist ebensowenig wie der Militarismus aus der Welt geschafft. Nur sitzen jetzt - die anderen an der Leitung.

Was sie eimerweise uns abzapfen, versuchen wir löffelweise wieder einzubringen. Der "Nepp" an Ausländern blüht in Berlin toller als je. Kellner und Chauffeure verrechnen sich grundsätzlich. Für Kleinigkeiten werden den Fremden unerhörte Preise abgenommen. Es sind ja nicht immer Schieber, die aus dem Auslande zu uns kommen, auch nicht immer Feinde, sondern oft wackere Gelehrte aus neutralen Ländern, die jetzt endlich dank der Valuta das Sehnsuchtsziel ihres Lebens erreichen, eine Studienreise durch Deutschland machen zu können. Die kommen dann verbittert zurück und erzählen: "Die Deutschen sind Betrüger!" Was Nepplokale sind, wo man für eine Flasche Surius 200 Mark bezahlt, weiß hier jedes Kind. Aber geneppt wird auch in der sogenannten Kunst. Vor allem der Bilder-Nepp ist zu wirklich tropischer Blüte gelangt. In der mittleren Friedrichstraße gibt es fast einen Bilderladen neben dem anderen, in dem man nur elendesten Kitsch und mäßige Kopien findet, wo aber dauernd Hochbetrieb herrscht, tagtäglich "große Auktion". Der Laden ist voll. Große und kleine Ölgemälde werden heruntergenommen und ausgeboten, ein wildes Steigern beginnt, fortgesetzt wird der eine oder andere "Kunstgegenstand" für 5000, 6000, 8000 Mark irgend jemand zugeschlagen. Der Nichtberliner Nichtkunstverständige, der da hereinkommt, wird in dem Gewirr alle Vorsätze los und bietet mit. Schon ist ihm etwas angehängt. Er weiß nicht, daß er - der einzige ernsthafte Bieter ist, daß sämtliche Anwesende außer ihm nur "Konzertbieter" sind, die gegen einen Tagelohn von 50 Mark - unter der einzigen Voraussetzung, daß sie gut gekleidet sind - sinnlos Zahlen zu brüllen haben. Alle Bilder, die diese Leute ersteigern, hängen am nächsten Tage wieder an der Wand. Aber wenn der Unternehmer auch nur zwei oder drei Bilder täglich wirklich los wird, sind seine Kosten reichlich gedeckt, ist der Verdienst unter Umständen sehr groß.

Die echte Kunst und auch das Kunsthandwerk klagen. Sie hatten sich im November 1918 von der großen Freiheit im Gefolge der Revolution ein goldenes Zeitalter erträumt, und nun ist der Alltag ganz nüchtern geworden. Ein junger Plafondmaler aus unserer Straße, dessen Arbeit beträchtlich über das Handwerkliche hinausgeht, hatte einst dauernd in zahlreichen Schlössern zu tun und wurde sehr geschätzt. Jetzt muß er seinen Beruf wechseln. Gewöhnlicher Anstreicher möchte er nicht werden, und zum Landschafter oder Porträtmaler langt es nicht. Im November 1918 war er voll rotglühender Begeisterung. Jetzt knurrt er: "Es gibt leider keine Fürsten mehr; unser Geschäft ist mies." Der Umschwung hat nur toten Künstlern (oder vielmehr den Besitzern ihrer Werke) genützt, nicht den lebenden. Unsere Fürsten haben die zeitgenössische Kunst unterstützt, soweit sie ihrem Geschmack - selbstverständlich - entsprach und soweit ihre Geldmittel reichten, so daß jedenfalls Hunderte tüchtiger Männer dadurch Arbeit und Brot hatten. Dann aber kam, als die deutsche Reichsmark auf wenige Pfennige fiel, das Wort auf: "Kunstsachen sind die besten Kapitalanlagen." Es wurde viel, sehr viel gekauft, aber nur patinierte Kunst, Bilder von ehrwürdigem Alter. Die spekulative Freude an neuentdeckten lebenden Kräften ist seit 1918 erstorben.

Sogar die Musik, wenn auch sie vielleicht am wenigsten von allen Künsten, hat unter dem Wandel der Zeiten zu leiden. Es ist nun einmal so, daß alles, was in Deutschland singt und spielt, nur über Berliner Agenturen und über Berliner Kritiken sich seinen Weg bahnen kann. Es genügt nicht, daß das junge stimmbegabte Mädchen seine Ausbildung im Konservatorium hinter sich hat. Es muß möglichst in Berlin aufgetreten sein und sich durch Berliner Zeitungsausschnitte mit anerkennenden Besprechungen über sein Können ausweisen, ehe die Agenturen im Reiche es den Vereinen anbieten oder selbständige Rundreisen für sie veranstalten. Was aber heute ein Saalabend in der Reichshauptstadt mit ausverschenkten Eintrittskarten kostet, das geht in die Tausende, und ob gleich das erste Mal die maßgebenden Kritiker erscheinen, das ist auch noch meist die Frage. Dazu kommt, daß Deutschland überhaupt sich heute "phänomenale" Künstler nicht mehr leisten kann. Schon früher entzog uns der Dollar die Besten; heute tut er es mehr denn je. Früher aber kamen die großen Sänger und Musiker trotzdem gern wenigstens zu kurzen Besuchen her. Erstens trafen sie nirgends in der Welt ein so musikhungriges, so musikverständiges, so hymnisch begeistertes Volk. Daher kommt es ja auch, daß mancher berühmte Ausländer, Ferruccio Busoni, Francesco d'Andrade und andere, sich einst für immer in Berlin niederließ und fest mit unserer guten Gesellschaft verwuchs. Es trat noch etwas hinzu: man wollte von dem Kaiser gehört sein. Er war nun einmal der strahlende "Lohengrin Europas", wie ein französischer Literat ihn genannt hat. Ein freundliches Wort von ihm oder das brillantenbesetzte "W" für die Krawatte entschädigte für das verhältnismäßig geringe Honorar, das die Hofoper zahlen konnte. Auch in den kleineren deutschen Residenzen war es ja ähnlich. Da heftete man den Meistern eben einen Orden an, und die ganze Gesellschaft hatte ihre Anregung und ihren Genuß durch Größen, deren sonstige Ansprüche eigentlich nur die Metropolitan-Opera in Newyork befriedigen konnte. So hatten wir wundervolle Erlebnisse. Kein wirklich Hervorragender ließ Deutschland links liegen. Heute wird, auch in Berlin, einem ihrer liebenswürdigsten nachgetrauert, Enrico Caruso, der sich uns so billig gab, daß die Intendanz, wenn er auftrat, sich mit einem Eintrittspreise von 20 Mark für das erste Parkett begnügen konnte. Der Mann raffte anderswo Millionen. Aber in Deutschland fühlte sich dieser Schwerenöter, der in seinem Lebenswandel freilich nichts weniger als hoffähig war, so wohl, daß er gelegentlich sogar ganz umsonst in Krankenhäusern und - anderen öffentlichen Häusern sang. Erinnerungen werden mit den Jahren brüchig. Zuletzt bleiben nur noch Bilder, nicht Töne. Caruso, der ein famoser Gesellschafter und flotter Zeichner war, hat sein eigenes Bild - halb Kaffeehauswirt, halb Preisringer - oft genug karikiert; ich selbst schätze eine dieser trefflichen Zeichnungen, in der er sich als Rhadames verulkt, besonders hoch. Aber er gehört zu den wenigen, ist vielleicht der einzige, dessen Ton dem nie verweht ist, der ihn je gehört hat. Selbst im Grammophon ist er noch unverkennbar. Mögen die besten Sänger der Welt das gleiche Lied in den Apparat singen: unter Hunderten erkennt man Caruso sofort heraus. Er war eben ein Phänomen. Übrigens auch als Darsteller. Er hatte auf der Bühne die "opernhaften" Bewegungen nicht nötig; er war ganz Verve und Nerv. Nun sind wir inzwischen ein ganz armes und noch dazu fürstenloses Land geworden. Um vor Fritz Ebert zu singen, wird niemand herkommen. Aber eine große Anziehungskraft ist uns noch geblieben: Bayreuth. Im kommenden Jahre wird es seine Pforten nach langer totenstiller Zeit wieder öffnen; und so wie Berlin für Konzertgeber den unumgänglichen Eingang in die mitteleuropäische Welt bedeutet, so gibt Bayreuth die Adelsbriefe für alle großen Wagnerbühnen aus. Wer dort gesungen hat, den notiert man auch in Newyork. Auch über den Bayreuther Festspielhügel geht es in das Dollarparadies.

Umgekehrt kommen von Amerika die Anregungen für das Amüsement der Masse zu uns. Das Varieté und der Rummelplatz nähren sich von Onkel Sams Ingenium, selbst der Film, der in Deutschland künstlerisch viel höher steht, kann sich seiner nicht erwehren. Auf den Rummelplätzen, deren es in Berlin so viele gibt, als hätten wir ständig Schützenfest, gehört der Ausrufer, auch der mit Megaphon, jetzt zum alten Eisen. Man überbrüllt sich gegenseitig nicht mehr. Man verlegt die Reklame in das Innere, sogar scheinbar in das Publikum. Da ist zwischen vielen anderen eine große Bude auf dem Platz am Bahnhof Friedrichstraße, aus der ständig ein so ausgelassenes Quietschen und Kreischen von Jungmädchenstimmen dringt, daß jeder frische Ankömmling besinnungslos seinen Obolus entrichtet und hineinstürzt, um sich auch halbtot zu lachen. Nun, es ist ja ganz nett, wenn auch nicht zum Totlachen. In der Bude aber stehen gelangweilt und mit ernstem Gesicht zwei halbwüchsige Mädels, die alle paar Sekunden unmotiviert losquietschen und loskreischen. Sie kriegen 30 Mark für den Abend. Auch ein Beruf! Immerhin: zwei Arbeitslose weniger. Auch die Sandwichmänner, die durch die Straßen Reklame gehen, nehmen zu. Überall lebt der Wettbewerb auf, überall wird im Kampfe ums Dasein kräftig losgelegt, und die Konkurrenz und die wieder regelmäßige und intensive Arbeit bessern an ihrem Teil die Sitten, die durch das Geldhinauswerfen auf der anderen Seite verdorben werden. Mitunter wagt jetzt schon irgendein alter Mann, der seit Einführung der neuen Freiheit und Frechheit auf den Mund geschlagen war, ein Wörtchen gegen die ganz Ungehobelten. Kommt da an diesem Montag in ein altehrwürdiges Bankgeschäft ein junger Fant von vielleicht achtzehn Jahren, Lackstiefel, Zigarette, Schiebergürtelchen, Hut auf dem Kopf, und wirft lässig den Scheck seiner Firma auf den Tisch. Der alte Kassierer beachtet das Blättchen nicht. Es wird ihm näher geschoben. Da blickt er auf, nimmt es immer noch nicht, sondern sagt nur ganz ruhig: "Mein Jungchen, du hast wohl Fliegen unter dem Hut?" Da flog der Hut aber vom Kopf! Das ganze Publikum lachte, und der junge Mensch stammelte eine Entschuldigung. Vor Jahr und Tag aber hätte das Publikum wahrscheinlich noch gegen den Alten Stellung genommen und Skandal gemacht. Die Besinnung kehrt wieder. Wir werden vielleicht noch einmal wieder ganz anständige Leute.
4. August 1921 (Donnerstag)


46

Indisch ist tiptop - Nirwana dicht bei Berlin - Strohwitwer und Sommerfrischler - Von der Spitzeder bis zum Sportkonzern - Verweiblichung der Herrentracht - Razzia - Die schwarzrotgelben Roten - Verfassungs-Gedenkfeier

"Indisch? Au, fein! Indisch ist tiptop." So sagt das kleine Fräulein und besieht interessiert den Becher mit Lackmalerei aus Karachi und das getriebene Messingbecken aus Benares. Ich zeige dem Mädel Bilder. Wir sprechen flüchtig von Kiplings Dschungelbuch. Da setzt die Leitung aus. Nun perlt zufällig das Wort Nirwana empor, und plötzlich erhellen sich die Züge der Kleinen. "Nirwana? Kenn ich! Da war ich vorigen Sonnabend." Ich falle aus allen Himmeln buddhistischen Losgelöstseins. Nirwana, sage ich, ist das Erlöschen der Lust, das Aufhören aller Leidenschaften. "Ach? Ganz au controleur, mein Herr: Nirwana ist die Tanzdiele auf dem Hausboot in Wannsee!" Wahrhaftig. Das kleine Fräulein hat recht. Warum in die Ferne schweifen, sieh', das Gute liegt so nah. Nirwana im Wannsee. Losgelöstsein - von der Polizei mit ihrem Feierabendbefehl. Eigentlich ist es kein Boot, sondern ein mächtiges Floß, darauf steht ein Sommerhaus mit flachem Dach, auf dem abends getanzt wird. Elektrisches Licht von hohen Masten, Blumen, Bäume in Kübeln, Teppiche, Korbsessel, Sekt, Jazzband, ein Koch und ein Konditor in weißer Mount-Everest-Mütze. Es ist nicht so zum Ersticken heiß wie drüben am Lande, von wo die Lichterreihen des Kaiserpavillons herüberschimmern. Und Stille ringsum. Nur selten klatscht und gurgelt ein Ruderschlag, nur selten rauscht in der Ferne ein Motorboot mit den Gästen irgendeiner Villa vorüber. Nun stehe ich selber mit dem kleinen Fräulein am Geländer des Hausbootes und sinne über die dunkeln Wasser hinweg. " Na? Also doch richtig Nirwana? Los, kommen Sie, der Shimmy steigt!" So blüht die indische Kultur in Berlin. In Einsamkeit und Zweisamkeit zu Dutzenden. "Schreiben wir mal eine Ansichtskarte an Tagore, nich?" Gewiß, mein Kind. Er wird kolossal erfreut sein. Sicher. Ich schwöre es beim Leuchten der Milchstraße über uns und gebe das Flimmern unseres Dachgartens auf den Wellen zum Pfande.

Bei solchen topographischen Schilderungen der Umgegend von Berlin wird man es begreifen, daß der hiesige Strohwitwer es schon eine Zeitlang aushalten kann. Wenn er will, ist kein Abend unbesetzt. Und immer in einer ganz anderen Gegend. Der Strohwitwer in einer Kleinstadt hat es nicht so bequem, er ist, wohin er sich auch wende, immer sozusagen auf der Kontrollversammlung, und hundert Argusaugen spießen ihn bei jedem Schritt. Schmunzelnd liest der Berliner Familienvater die Sommerfrischenbriefe der vorausgefahrenen Seinen. Da freut er sich doppelt an seinem Heim, denn die Briefe sind voll Klagen. Mutti schläft schlecht. In Wiesbaden ist es zum Umkommen heiß, schreibt sie, vor 1 Uhr nachts kann man nicht aufatmen, und die Matratze ist in der Mitte tief ausgebuchtet, so daß man wie ein Matrose in der Hängematte liegt. In Helgoland, schreibt eine andere, wäre es soweit ganz schön, nur gröhlten dort Nachtbummler in der Kaiserstraße noch um 2 morgens das Deutschlandlied just vor den Hotelfenstern. In Deep an der Ostsee hat eine dritte Mutti die halbe Nacht Flöhe fangen müssen, weil die Betten auf der Hundehütte gesonnt werden; und dann fing Lieschen an, ihre Mückenstiche zu kratzen. Aus Kiefersfelden schreibt eine, die Aussicht auf die Kufsteiner Berge sei herrlich, aber schon um 1/2 4 Uhr morgens krachten, knallten, klirrten auf dem Estrich des Ganges die Genagelten zum Örtchen gerade gegenüber, und es fehle nur noch, daß sie mit "Juhu!" die Türe zuschmissen. Und in Harzburg geht das Fenster des Hotelzimmers, des letzten, das noch zu haben war, auf den Hof hinaus über der Abwaschküche, wo bis nach Mitternacht Teller klappern und der elektrische Messerputzer schnarrt. Da verklärt diabolische Freude das Gesicht des Berliner Strohwitwers. Er legt sich abends geruhig mit der Zigarre ins Bett und liest ungestört in dem friedlich-stillen Hause - ein paar Routen im Baedeker durch. Bald schlägt auch ihm die Reisestunde. Aber er will bestimmt nicht so hereinfallen, wie die lieben Seinen; und einstweilen genießt er noch in vollen Zügen das von der "Gesellschaft" entblößte sozusagen menschenleere Berlin nebst Umgegend und vor allem die behagliche eigene Wohnung.

Der eine oder andere, bei dem nicht gerade Schmalhans Küchenmeister ist, wohl aber Dünnbeutel Reisemarschall,versucht noch schnell seinen Finanzen aufzuhelfen. Vielleicht, indem er deutsche Papiermark fixt. Vielleicht, indem er Einlagen bei einer Sportbank macht. Diese Sportbanken oder Wettkonzerne sind ein sprechender Beweis dafür, daß die Dummheit unausrottbar ist. Ben Akiba lächelt im Grabe: alles schon dagewesen. Früher einmal nannte man das Dachauer Banken. Im Jahre 1872 eröffnete die ehemalige Schauspielerin Adele Spitzeder in der Dachauer Straße in München unter Berufung auf geheimnisvolle Tips von hochgestellten Herren, die glänzende geschäftliche Transaktionen ermöglichten, eine Annahmestelle für das Geld der Leute, die nicht alle werden, und versprach unerhörte Zinsen. Andere ähnliche Institue wuchsen nach. Sie zahlten aus den stetig anschwellenden neuen Einlagen der Dummen den ersten Einlegern die Zinsen aus. Worauf die ersten Einleger schleunigst - bis auf ganz wenige Kluge - das Geld erneut hinbrachten. Das Fieber nahm überhand. Man hob seine Sparkassengelder ab, man nahm Hypotheken auf, man verkaufte seine Pfandbriefe und gab alles den Dachauer Banken. Schließlich hatten, als der unausbleibliche Zusammenbruch kam, rund 30 000 Menschen mit der für damals ungeheuren Summe von 8 1/2 Millionen Gulden das Nachsehen, und es war nur ein geringer Trost, daß die gerissene Adele für 3 Jahre ins Zuchthaus mußte. Sie ist erst 1895 gestorben. Nur noch ein paar Jährchen länger hätte sie unter uns zu weilen brauchen, um noch eine geniale Nachahmerin zu erleben, Frau Therese Humbert in Paris, der in dem gleichen Taumel, in der Hoffnung auf 100 Prozent Zinsen, alle Dummen Frankreichs viele Millionen zubrachten. Bis auch hier das Ende da war und in dem von der Behörde gewaltsam eröffneten Geldschrank der Humbert lediglich ein einsamer Hosenknopf gefunden wurde. Nun schreiben wir 1921 und sehen, daß die Menschheit noch immer dieselbe ist, nur daß diesmal die ganze Geschichte auf Rennsport frisiert und ganz und gar von kleinen Leuten für kleine Leute gemacht ist. Der eine der "Sportbankiers" ist früher Friseur gewesen, der andere Wahrsager, der dritte Pferdeschlächter, der vierte Ausrufer, und auch der fünfte, zehnte, zwanzigste haben mit Bank und Börse vorher nie etwas zu tun gehabt, sind niemals Bourgeois-Kapitalisten gewesen, sondern Männer des Volkes, die sich jedenfalls gut auf die Psyche ihrer Umwelt verstehen. Einer der größten dieser Konzerne hat geradezu kokette Geschäftsräume, die fast so aussehen, wie ein vornehmer Manicure-Salon, und darunter ein nettes eigenes Kaffee, gibt für viele Tausende von Mark ganzseitige Anzeigen in den großen populären Sportzeitschriften auf und speichert täglich ganze Waschkörbe voll Banknoten. Selbstverständlich muß sich hier binnen kurzem die Geschichte der Spitzeder und der Humbert wiederholen. Aber die Zeit ist gut gewählt, genau so wie damals in München die Gründerära und in Paris die der Kolonialen Expansion. Erstens verleitet die Teuerung und das Nichtauskommenkönnen und das Nichtmitmachenkönnen zur Spekulation. Zweitens glaubt das Volk heute einem Pferdeschlächter mehr als einem Kommerzienrat. Und schließlich hält sich heute jeder vierzehnjährige Laufbursche, der einmal bei einem Zigarrenfritzen 20 Mark "auf Platz" gesetzt und tags darauf 12:10 zurückbekommen hat, für einen ausgekochten Sports- und Geschäftsmann. So müsse man es machen. So werde man allmählich Millionär. Es ist ein Jammer, wieviel Notgroschen jetzt in die Sportbanken wandern, wo von ihnen die Unternehmer und ein riesiges Agentenheer leben. Und wie leben! Aber wenn man warnt, läuft man Gefahr, verprügelt zu werden. Man ist ja Bourgeois. Man will wohl alleine das schöne Geld schlucken. Da dächten zu Glück die Köhn und die Klante und die anderen wirklichen Volksmänner ganz anders und ließen auch das arbeitende Volk so verdienen, wie es bisher nur die Kapitalisten gekonnt hätten. Und leider greift die Regierung, die heute über so viel unumschränkte Macht verfügt, nicht ein, und leider lassen auch die Volksparteien ihr Volk im Stich. So muß denn eines Tages das fürchterliche Erwachen kommen.

Dann wandert alles, was man in der Hoffnung auf mühelose Riesengewinne sich angeschafft hat, ins Leihhaus oder zum Trödler, damit man überhaupt noch kurze Zeit leben kann, bis wieder harte Arbeit das Existenzminimum ermöglicht. Es wandeln jetzt Typen auf dem Asphalt, denen man auf fünfzig Schritt ansieht, daß sie zu den "ersten Ausgezahlten" irgendeines Wettkonzerns gehören. Diese jungen Männer, die vor kurzem vielleicht noch das Gepäckdreirad traten, tragen Lackhalbschuhe, violette Seidenstrümpfe, enge umgeschlagene Hosen, Jaketts mit Taille und weibisch gepolsterter Brust, eine Perle im gehäkelten Selbstbinder, einen fast krempenlosen Strohhut, und riechen zehn Meter gegen den Wind nach Parfum und Pomade wie ein italienischer Feldwebelleutnant. Das seidene Taschentuch lugt aus der Manschette hervor; es fehlt nur noch, daß es mit Valenciennesspitzen besetzt ist. Diese Verweiblichung der Herrentracht hat bei einzelnen Filmschauspielern begonnen, die mit geschnürter Taille und herausgearbeitetem Gesäß namentlich in Tanzszenen auf der Flimmerleinwand gute Figur zu machen glauben, aber sie war bisher auf die Ateliers beschränkt und offenbarte sich nicht auf der Straße. Wo sie da hingelangt, zeugt sie von Unbildung. Wahre Eleganz des Mannes ist völlig unauffällig. Kann man sie beschreiben, so ist es schon keine Eleganz mehr; nur ein gewisses "je ne sais quoi" gibt der Schlichtheit den letzten Schliff.

Das gerade fehlt den Leuten, die da meinen, daß nur Kleider Leute machen. Ihre Zahl ist unter den Zweideutigen und Lichtscheuen Legion. Es ist ganz amüsant, in einem beliebigen Berliner Café, das irgendeine bestimmte Zunft beherbergt, das zu beobachten. Immer ist irgend etwas Auffälliges an diesen Menschen; und wenn es nur ihr überlebensgroßer Stehumlegekragen ist, so einer, wie Maximilian Harden ihn zur Zeit seiner großen Moltke-Prozesse trug. Oder ihre weit herausgezupften Manschetten. Oder ihr großkarierter Raglan. Da sitzen beispielsweise im Kaisercafé in der Friedrichstraße die Brillantenschieber. Nicht einer von ihnen ist normal gekleidet. Kommt nun ein Normalgekleideter, ein wirklich Eleganter herein, etwa einer, dem man gerade um seiner korrekten Unauffälligkeit willen den Fabrikdirektor oder Gutsbesitzer oder ehemaligen Offizier ansieht, so wird er zum Brennpunkt aller Blicke. Schnell ist er abtaxiert. Dann sucht entweder ein Verschärfer wirklicher Brillanten (die wer weiß wo gestohlen sind) Anknüpfung mit ihm, oder ein Nepper mit Simili; beide Kategorien sind Stammgäste im Kaisercafé. In anderen Kaffeehäusern sammeln sich andere Zunftgenossen. Sie alle haben ihr bestimmtes Revier - und es ist der Polizei meist gut bekannt. Da gibt es nun gelegentlich ein Schauspiel, das der Kleinstädter freilich nicht hat, das nur in Berlin und allenfalls wenigen Großstädten sonst noch gratis dem Publikum geboten wird, nämlich die "Razzia" am hellen lichten Tage auf diese anscheinenden Gentlemen. In der guten alten Zeit, wo die Zweideutigen und die Eindeutigen noch nicht heerdenweise zusammenhockten, wurde hier und da mal einer verhaftet und dann vom nächsten Revierbureau, wo man ihn auf die Wachstube gebracht hatte, mit der "grünen Lise", dem rumpelnden Polizeiwagen, abgeholt und zum Präsidium geschafft. In der Republik von heute aber haben wir Großbetrieb. Da erscheint plötzlich eine Hundertschaft der Sicherheitswehr, sperrt, wie ich es eben erst "mitten darin" erlebt habe, einen ganzen Straßenzug ab, siebt alle Leute in und vor irgendeinem Café, und bepackt dann ihre Lastautos mit der Menschenfracht. Das erste ist voll und rollt ab,das zweite, das dritte, das vierte rückt vor, und jedes hat 24 Sitze auf der langen gepolsterten Doppelbank mit gepolsterter Lehne. Komfort muß sein. Wir sind ja fortgeschrittene Leute. Und es ist ein Vergnügen, mitanzusehen, mit welcher Liebenswürdigkeit jeder einzelne in dem Schock Verhafteter von den Grünen hinauf- und hineinbefördert wird. Denen ist freilich trotzdem nicht ganz wohl. Auch wenn aus der schnell sich ansammelnden vielhundertköpfigen Menge - es sind ja Berliner - die lustigsten Witzworte zu dem offenen Lastauto emporgerufen werden.

Der Berliner nimmt so leicht nichts tragisch. Er regt sich überhaupt nicht auf, weder im Bösen noch im Guten. Darum sind auch seine Revolutionen meist harmloser als die in anderen Gegenden Deutschlands. Und aus dem gleichen Grunde wird Berlin vielleicht am ehesten die Nachkrankheiten des November überwunden haben. Wir gehen bald in das vierte Jahr seit jenem Anfall von Delirium. Man fängt an, wieder spießbürgerlich zu werden: ganz waschechte Genossen fühlen sich verpflichtet, schwarzrotgelbe Schleifchen zu tragen, um ihre staatserhaltende Gesinnung zu demonstrieren. Wir wären auch noch weiter, wenn es keine fremdstämmigen Wühler, kein gedankenloses Lumpenproletariat, keine überhitzte Parteiregierung gäbe. Der arbeitende Deutsche und nicht zum wenigsten der arbeitende Berliner wird doch wieder einmal zum konkurrenzlosen Weltausstellungsobjekt. Nur lähmt ihn heute noch die Ohnmacht des Reiches. Wir alle sind mit Stacheleisen gefesselt.

Ich bin weiß Gott kein Illusionist. An dem Tage, an dem uns draußen im Felde der Funkspruch erreichte, daß in Berlin unter Zustimmung des Kaisers eine parlamentarische Regierung gebildet sei, stand ich mit zwei alten Oberstleutnants vor dieser Meldung. Sie sagten: diese volkstümliche Maßregel werde die stärksten Kräfte der Nation wachrufen. Da brauste ich auf. Finis Germaniae! Parlamentarismus sei regierende Feigheit und Dummheit, die Waffenstreckung an der Front werde die nächste Folge sein, die Monarchie werde stürzen, Deutschland für hundert Jahre zerschlagen werden, und die Republik bekomme es mit dem Bolschewismus zu tun. Also, ich bin sicherlich kein Illusionist. Aber nun wache ich an einem freudig-hellen Sommertage auf, an dem endlich auch meine Ferien winken, komme in das Regierungsviertel und sehe, wie überall mächtige Fahnen - freilich schwarzrotgelbe - auf den Dienstgebäuden in Sonne und Wind sich blähen, so wie einst, wenn wieder einmal ein großer unbegreiflicher Sieg wider die Übermacht errungen war. Da strömt alles Blut plötzlich zum Herzen hin, da möchte ich alle Welt umarmen, alle Regierenden wegen meines Kleinmuts um Verzeihung bitten. Ich springe aus der Droschke, ich halte den ersten besten Geheimrat an. "Ist es wahr? Hat der Botschafterrat in Paris schon entschieden? Bleibt ganz Oberschlesien ungeteilt bei Deutschland?" Er schüttelt erstaunt den Kopf. Was für komische Gedanken ich hätte. Ob ich wirklich nicht wüßte, was los sei. Wir feierten doch den Gedenktag der Weimarer Verfassung. Wer? Wir? Ich habe in ganz Berlin, abgesehen von den Regierungsgebäuden, kein einziges Haus beflaggt gesehen. Eine völlig tote Feier bietet mir an diesem Abschiedstage die Stadt. Nirgends ein "Flaggen heraus!" von Herzen. Alles ist frostig und offiziell; und manch einer denkt daran, daß der jetzige Reichstagspräsident Loebe in Weimar die Verfassung höhnisch einen Fetzen Papier genannt hat, über den die Entwicklung hinwegschreiten werde, und manch einer macht sich klar, daß diese angeblich freieste Verfassung der Welt den paar regierenden Parteibonzen die Ermächtigung zu jeder Knebelung der Andersdenkenden gibt, ja, daß wir nicht einmal ein verfassungsmäßiges Reichsoberhaupt besitzen, da die Amtszeit des "vorläufigen" Präsidenten Fritz Ebert mit der Nationalversammlung ablief und seine heutigen Erlasse daher jeder Gesetzeskraft entbehren. Nein, das Volk feiert die Verfassung nicht. Auf keinen Fall tut dies der aufgeklärte Berliner. Jahre der schwersten Enttäuschung liegen auch hinter der Reichshauptstadt. Keine Verfassung, nichts Geschriebenes, nichts Gedrucktes richtet uns wieder empor. Daß diese Erkenntnis Allgemeingut wird, das ist die stärkste Hoffnung unserer Tage. Und diese Berliner Millionengemeinde, die ihre besten Männer verdammt hat, wird noch einst mit Martin Luther bekennen: "Wenn Gott einem Volk hat helfen wollen, so hat er es nicht durch Bücher getan, sondern er hat ihm Männer geschickt!"
11. August 1921 (Donnerstag)



Glossen 43 - 44

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© Karlheinz Everts