"Rumpelstilzchen"

"Berliner Allerlei"
(Jahrgangsband 1920/21)

Verlag der Täglichen Rundschau / Berlin, 1922

Glossen 40 - 42
1. bis 14. Juli 1921


40

Das knallrote Stadtparlament - Städtische Schlagsahne mit Champagner - Mehr als 470 000 Berliner Ferienreisende - "Reise mit Frau und Kochkiste!" - Kinder aufs Land - Baltische Rückwanderer - In den Berliner Konsulaten der Randstaaten

An dem Sonntag des vorigen Jahres, auf den die Wahlen zum Berliner Stadtparlament angesetzt waren, lockte herrliches Sonnenwetter ins Freie. Mur die gut geschulten Wähler der sozialistischen Parteien ließen sich nicht locken. Als die Bürgerschaft spät abends vom Müggel- und Wannsee, von Tegel und Grünau, von der Machnower Schleuse und von Mutter Mochow bei Zehlendorf heimkehrte, war's geschehen, hatten wir eine sozialdemokratisch-kommunistische Mehrheit unter den neugewählten Stadtvätern. Die haben dann die Reichshauptstadt in Grund und Boden regiert. Die ewig streikenden städtischen Arbeiter sind lieb Kind, alles andere "bedrieft mir nich"; die Schulen werden an irgendeinen experimentierenden "Pädagogen" ausgeboten, in der Straßenbahnverwaltung die Fachleute aus dem Verkehr gezogen; für rote Funktionäre werden Unsummen bewilligt, die unabhängige Frau Stadtrat Weyl überfährt in ihrem teuren Dienstauto Proletarier, schon im Dezember hat Berlin kein Geld mehr, kriegt auch nichts mehr geliehen und - tut einen Griff in die Sparkassen: nicht weniger wie 58 Prozent der angeblich so goldsicher angebrachten Einlagen sind auf sozialdemokratisch-unabhängig- kommunistischen Schuldschein hin verschwunden. Ähnliches soll ja insgeheim auch außerhalb Berlins in anderen Gemeinden passieren. Die allgemeine Bankerott- und Raubwirtschaft wird nur von den Skandalen in den Stadtverordnetenversammlungen überdröhnt. Die Galerie spielt mit. Über diesem Theater vergißt man den Ernst der Lage.

Aber in dem Weyl-Reich fehlt es auch nicht an epochemachenden Leistungen für die 4 Millionen Einwohner. Wir haben es nun wirklich so weit gebracht, daß jeder fünfzehnte Deutsche ein Berliner ist, daß also rund sieben Prozent der Deutschen dem Berliner roten Klüngel unterstehen. Für die Leute muß doch etwas getan werden, wenn man an ihre Sparkassenmilliarde herangeht. Gedacht, gesagt, getan: schon wischt man ihnen mit dem Maurerpinsel - Schlagsahne in den Mund. Die sozialdemokratisch-unabhängig-kommunistische Regierung Berlins, die sonst nicht genug darüber zetern konnte, daß es an Vollmilch für arme Proletarierkinder fehle, vertreibt jetzt durch die in städtische Dienste getretene Meierei Bolle den köstlich süßen, fetten, weißen Schaum an jedermann, natürlich zu einem keineswegs proletarischen Preise, sondern für 30 Mark das Liter. Man kann davon kriegen, so viel man will. Namentlich sonntags früh sind die vielen Verkaufsstellen der Meierei in allen Stadtgegenden überlaufen. Erdbeeren mit Schlagsahne werden zum Volksgericht, - da wage einer nur noch einen Ton gegen unsere erleuchtete Kommune! Die Konditoreien dürfen ihre Baisers und Windbeutel und Schillerlocken immer noch nicht mit dem erfreulichen Rahmgemenge füllen, sondern sind auf Eiweiß und allerlei Ersatzkreme angewiesen. Die Stadt selbst will das Geschäft machen, statt es ihren steuerzahlenden Feinbäckern zu überlassen. Nun ist aber, was Kindermäulchen paßt, nicht immer auch Herrengeschmack, und was Frau Weyl vielleicht preist, braucht ihrem Manne, dem Stadtgewaltigen, noch nicht zu imponieren. Aber siehe da, es gibt noch Feinschmecker zu Berlin. An den wenigen heißen Tagen, die wir Anfang Juni erlebten, perlte milchig-schaumig an mancher Tafel ein weißes Getränk, das so aussah und fast so schmeckte wie Busah, das einem pfiffig lächelnd der einheimische Ägypter und auch der Krimtatare vorsetzt, wenn der Reisende fragt, ob der Mohammedaner wirklich keinen Alkohol genießen dürfe. Das ist nämlich alkoholisch vergorene reine Milch, von der man ebenso trunken werden kann wie vom Wein, nur daß sie erfrischender und nahrhafter ist. Was der Gent in Berlin jetzt trinkt, das ist aber nicht Busah, sondern - Champagner mit ungeschlagener Schlagsahne durcheinandergequirlt. Ein sehr bekömmliches Getränk für Kranke, Silberhochzeitspaare oder unter äußerer Hitze und innerer Kälte leidende junge Damen. Man nehme nur recht große Gläser, nicht die zarten Lilienstengel, und fülle erst vorsichtig zur Hälfte, denn zunächst wallt das Gemisch hochauf; wenn es sich dann beruhigt hat, ist es prickelnd säuerlich-süß und voll, Nektar und Ambrosia zugleich.

Das Rezept kommt wohl noch rechtzeitig für die überraschend vielen, die in diesen Tagen Berlin in Richtung auf Oberbayern verlassen. Ich sehe schon, wie im Allgäu die Goldgekapselten aus dem Rucksack ragen, um dann auf der Seealpe ihre Vermählung mit der Sahne zu feiern. Oder auf der Gotzenalm oberhalb des Königsees mag so etwas gut munden. Aber auch die Barmixer in Heringsdorf, Warnemünde, Westerland könnten statt ihrer ewigen Cobler und Flips endlich diese viel gesündere Mischung in ihr Programm aufnehmen. An Zuspruch wird es nirgends fehlen. Nach den bisherigen Bestellungen von Fahrkarten für Feriensonderzüge kann man darauf rechnen, daß, die fahrplanmäßigen Züge mit einbegriffen, über 470 000 Menschen Anfang Juli Berlin verlassen und das anderswo schönere Deutschland für einige Wochen bevölkern werden. Man kann schier nicht begreifen, wo das Geld dafür herkommt. Aber manch einer entzieht sich eben das Jahr über das Notwendigste, spart an Nahrung und Kleidung, macht Überarbeit, nur um die Sommerreise zu erschwingen und einmal wenigstens "zu leben wie früher" und alles, was dazwischen liegt, zu vergessen. Das ist verständlich. Unverständlich ist dabei nur das - Strecken, das wir uns in bitteren Jahren bei allem angewöhnt haben. Vierzehn Tage intensiv durchkosteter Ferien ("ein Augenblick, gelebt im Paradiese") können mehr wirken als ein Monat allzu bescheiden ausgestatteter Erholung. Das verstehen nur die meisten nicht. Das Fürchterlichste ist der neue Imperativ, den die Zeitungen aufgebracht haben: "Reise mit Frau und Kochkiste!" Das sei bekömmlich und billig. Jawohl, für den Hausherrn, aber doch nicht für die Gattin, die endlich einmal nicht Hausfrau sein, endlich einmal ein Tischleindeckdich haben soll, um von dem feiertaglosen Jahr sich zu erholen. Nun muß sie wieder schuften. Nun sind die anderen am Strande oder auf der Alm - und sie kann derweil kochen, die bäuerlichen Flohbetten lüften, Hänschens Wadenstrümpfe stopfen und Friedas Lodenumhang flicken, damit die liebe Familie nachher strahlend bei Tisch sitzen kann. Aber Vater tut sich noch etwas darauf zugute, daß er seiner Frau die Sommerfrische gönnt. Der Heldenvater. Der Idealist. Der Allerhalter.

Die Berliner Kinder armer Familien halten das Verreisen auch schon für ihr gutes Recht. Sie reisen meist ohne Eltern. Es gibt so viele gute Menschen in unserem Vaterlande, aber auch in der Schweiz, in Holland, in Schweden, in Finnnland, die sich Berliner Kinder zum Gesundfüttern erbitten. Die rhachitische "Lene mit die Semmelbeene" soll wieder gerade werden, der "Maxe mit die Mauke in't Jesichte" seine Skrofeln verlieren. Meist haben die Kinder phantastische Vorstellungen vom Lande. Es muß allemal ein Grafenschloß sein und ein Ponnywagen dabei. Und wenn sie dann zu einem lieben guten Volksschullehrer kommen und abends dicke Milch mit Pellkartoffeln erhalten, etwas herrlich Nahrhaftes nach heiß durchtobtem Tage, so sind sie wohl gar enttäuscht. Übrigens verschiebt sich der Standmesser der Ferienkinder allmählich, wie eben auch das Einkommen sich verschiebt. Früher hieß es meist: Vater ist Arbeiter. Heute ist er häufig genug Oberlehrer, Schriftsteller, Amtsrichter, Major a.D., Pfarrer, Regierungsrat, Kunstmaler, Privatdozent; in den sogenannten gebildeten Ständen ist die Unterernährung mit ihren Folgen am schlimmsten. Wernigerode am Harz und manches andere Landstädtchen wird diesmal voll von solchen um Gotteslohn aufgenommenen Kindern.

Unsere wirklichen Grafenschlösser in Ostelbien aber werden vielfach in dieser Zeit ihre lange Einquartierung los. Sie hatten baltische Flüchtlingsfamilien, einen großen Teil des Landadels aus Estland und Livland und Kurland, aufgenommen und mitunter ununterbrochen zwei Jahre lang beherbergt. Diese Standesgenossen fühlten sich auf deutschen Schlössern sehr wohl. Irgendeine Arbeit konnte man ihnen nicht gut auftragen, denn man hatte ja seinen eigenen Verwalter und Förster, seine eigene Beschließerin und Mamsell, und wenn auch die Balten im Notfall keinerlei Handanlegen scheuten, hie und da sogar als Fischerknechte in kleinen Dörfern wieder anfingen, so war Gästen gegenüber ein solches Angebot kaum möglich. Also unsere deutschen Junker sagten sich, daß Adel verpflichte, waren nach wie vor liebenswürdig, langweilten sich allmählich, ärgerten sich schließlich und sind jetzt darüber froh, daß die Rückwanderung einsetzt. Auch aus vielen Kleinstädten, in denen Balten Arbeit gefunden haben, beginnt der Abzug, nachdem das große Heimweh über diese deutschen Kolonisten des Nordens gekommen ist. Die Güter sind zwar geraubt, die Beamtenstellen eingegangen, auch mancher Arzt und Pfarrer wird schon durch Esten oder Letten ersetzt, aber doch gibt es hie und da ein Eckchen in der alten Heimat, wo man sich wieder anklammern kann. Also zurück in das "Gottesländchen" des Theodor Hermann Pantenius oder weiter hinauf nach Livland und Estland; deutsche Tüchtigkeit wird wieder emporkommen. Die Berliner Konsulate der beiden kleinen Randstaaten werden täglich von Balten überlaufen, die um eine Einreiseerlaubnis bitten. In liebenswürdiger und doch hoheitsvoller Art begegnet man ihnen. "Was Ihr früher wart, das sind jetzt wir, nämlich Herrschaften!", will jeder Blick und jede Handbewegung sagen. In prachtvollen, teppichbelegten und bildergeschmückten Räumen des Berliner Westens, zwischen vornehmen Möbeln bewegen sich, ganz Damen der Welt, in pompöser Aufmachung die Bureaudamen. Man weiß zwar nicht, woher die ganze Innenausstattung stammt, man ahnt nur, daß sie früher wohl in deutsch-baltischen Schlössern gestanden haben mag, aber bis zum Portier hinunter ist alles stilrein. Man ist entzückt, in gutem Deutsch expediert zu werden, korrekt und höflich und ohne jede Schikane. Anders ist es, wenn ein wirklicher Landsmann der pompösen Damen, etwa ein estnisches Bäuerlein, das in ein deutsches Heilbad geschickt war, hereintritt, sich an der Pracht seines Duodezvaterlandes freut und mit gemütlichem "terre terre" (Guten Tag) den Damen die Hand hinstreckt. Da wachsen sie geradezu majestätisch empor, da fehlt nicht viel, daß sie den "Kullen" Jürri oder Ans von oben herab so anranzen, daß ihm vor Schreck die Sprache versagt. Als wollten sie sagen: "Was ihr seid, das sind wir noch lange nicht, nämlich dummer Pöbel!!" Die Welt ist doch überall gleich. Wer von unten nach oben kommt, der tritt. Erst wenn er schon von den Vorvätern her oben ist, hat er moralisches Gleichgewicht und zeigt es durch Takt gegen jedermann. Bei frischen Emporkömmlingen, auch Nationen, ist der Takt ein äußerst seltenes Ding.
1. Juli 1921 (Freitag)


41

Schmalzstullen-Theater - Schönherrs "Erde" bei Exl - O Publikum! - Dante und Ebert - Die Courage zur Feigheit - Margueritentag für Oberschlesien - Frieda Hempel und Josef Schwarz

Die Staatsbühnen haben schon Ferien, das Charlottenburger Deutsche Opernhaus schließt in dieser Woche, bei Reinhardt stolpert dritte und vierte Garnitur über die weltbedeutenden Bretter. Hie und da spielen in Sommerpacht auswärtige Gesellschaften. Verstaubte Operetten, die der Besucher aus dem Reiche daheim besser gesehen hat, versetzen ihn in Erstaunen über den Berliner Kunstpegel. Der Rest ist - Schmalzstullentheater. So nennt der Berliner alles, was vom Schillertheater abwärts in dem Wochenanzeiger steht: die kleinen Bühnen im Zentrum und im Osten, zu denen der Jüngling mit gebrannten Locken wandert, der tagsüber vielleicht Handlanger im Kastenbiergeschäft ist, aber am Sonntag abend im "Theaterklub Thalia" der erste Liebhaber. Neben ihm sitzt die kleine Ausläuferin aus der Schnellplätterei. Beide begeistern sich und schwitzen Hand in Hand. Jedenfalls tropft es. Vielleicht von der Schmalzstulle, die sie in der Pause einträchtig verzehren wollen. Das sind die Künstlerischen, die Idealisten im Volk, denen der Film nicht genügt, die "wirkliches" Theater haben wollen. Bringt ihr dieselben Leutchen einmal in ein Schauspielhaus von Rang, so sind sie entgeistert. Bei der realistischen Darstellung dort fröstelt es sie. Ihre Welt ist die der schmalzigen Sentimentalität, des Tremolo der rollenden Augen und in die Luft geworfenen Arme. Das ist schön. Das ist wahr. Und die Schmalzstulle ist jedenfalls solider und echter als der schwarzgewichste Hechtrogen, der in dem Erfrischungsraum des vornehmen Theaters als Kaviar verkauft wird. Daß ihr mir nur ja nicht über meine Lieben vom "Theaterklub Thalia" lacht! Ich finde sie rührend. Tief in sich tragen sie ein Weltbild mit goldenen Türmen vor edlen Rittern. Aber auch unsere Schmalzstullentheater leiden schon unter der allgemeinen nachnovemberlichen Moralverlumpung. Besonders die Stücke "mit Gesangseinlagen" haben es in sich. Da duftet schon der Kabarettsumpf herein. Und unsere bühnenbegeisterte Hinterhofjugend ist ja so unschuldig und so aufnahmefähig. Ist da irgendein Verein in Pankow an der Berliner Panke, der einen Wohltäter hat, den Direktor einer großen Aktiengesellschaft, dem man ein Ständchen bringen will. Gesagt, gesungen. Und mit Zither und Klampfe bauen sich zwei Dutzend stimmbegabte Delegierte im Wohnzimmer auf, trinken den Geburtstagskaffee und fangen, noch mit Kuchenkrümeln im Halse, ihre Vorträge an. Die junge Frau des Direktors windet sich vor Entsetzen. Denn die Vorträge sind sogenannter Herrenabend schlimmster Sorte. Sie aber merken nichts davon, sind selig und lassen sich bekomplimentieren. Was für andere Schweinerei ist, für sie ist es Schmalzstullen-Romantik. Das Derbe erscheint ihnen als das Ritterliche. Als das Vornehme.

Man möchte sie allesamt am liebsten mit einem Abonnement auf wirklich gute Volksstücke in einem wirklich guten Theater beschenken. Gute Theater sind selten. Gute Volksstücke, die nicht in verlogener Sentimentalität machen, noch seltener. Beides zusammen gehört zu den Weltwundern. In dem Theater in der Königgrätzer Straße aber, wo den Sommer über der Direktor Exl aus Innsbruck mit seiner Tiroler Truppe gastiert, kann man es jetzt erleben. Da ist herber frischer Erdgeruch, da ist Schönherrs strotzende Kraft. Alle seine Stücke werden aufgeführt, Wie süßlich kommt einem ihm gegenüber das ganze österreichisch-sentimentale Getue vom Nullerl und dem ganzen übrigen Pfefferminzkram vor! In Schönherrs "Glaube und Heimat" geht die Tragödie eines ganzen Volkes über die Bühne, packen uns tiefste Probleme; und nie ist uns zähes, baumstarkes, wetterhartes Bauerntum so lebendig geworden wie in der "Erde" desselben Dichters. In dem historischen Drama aus der Zeit der Gegenreformation, dem erschütterndsten, was seit Schiller und Hebbel der deutschen Bühne beschert worden ist, ist manches noch deklamatorisch. Das können Berliner Künstler gut herausbringen. Aber die Erde, die Scholle, das kleine Stück Acker und Wiese, in dem der Bauer mit tausend Fasern verwurzelt ist und an das auch Knecht und Magd sich klammern, das können so lebensecht doch nur die Exl-Leute ins Rampenlicht setzen. Ich spreche hier nicht von "realistischen" Äußerlichkeiten. Daß die gekalkte Stube in der Kachelofenecke verrußt ist, daß der Roßknecht ein Loch im Hemde hat, daß die Drilchhosen der übrigen nicht aus der Köpenicker Dampfwäscherei Edelweiß kommen, sondern richtig in einem Stall sich umgetan haben, daß das Totenweibele wirkliche Zahnlücken hat, das nur nebenbei. Auch von der Sprache sei nichts Besonderes erwähnt, die diesen Schauspielern, die selber aus deem Tiroler Volke stammen, so natürlich aus dem Munde kommt; man könnte das ganze Stück ja ebensogut auf Friesisch umstellen oder im Schwarzwälder Wiesenthal spielen lassen, und es bliebe doch die Erde, die deutsche Bauernerde mit ihrer mehr als magnetischen Anziehungskraft. Nein, was hier wie eine Offenbarung wirkt, das sind doch die Menschen selbst mit ihrer ungeheuren Natürlichkeit und Unverbildetheit: auf einmal empfinden wir die Großstadt als unwahr, erkennen wir die Kluft zwischen einem Stubaier Seitentälchen und dem Wiener Ring oder der Berliner Friedrichstraße, auf einmal stinkt der Asphalt und duftet herb und kräftig die Mutter Erde. Wir erkennen die Stärke deutschen Kolonistentums nicht nur beim Eishofbäuerle droben, von dem die Wirtschafterin drunten beim alten Grutz sagt, er klettere wohl mit Steigeisen sogar in sein Bett, sondern wir ahnen dieselbe Stärke auch beim oldenburgischen Torfbauern oder bei dem Waldroder in Brasilien oder dem deutschen Rinnsalhüter im heißen Ferghana. Und wenn dann der sehnige alte Grutz, der wiedergenesene unzerstörbare Zweiundsiebzigjährige, den beim ersten Krankheitsanfall sorgsam und rechtzeitig vorher bestellten schweren Sarg auf die Bühne zerrt und, wie der Holzfäller Hodlers, mit gewaltigen Beilhieben, ganz Schwung und Linie, den mächtigen Kasten zertrümmert, da geht ein Stück Kraft jubelnd in die armseligen Asphalttreter über, die davor im Parkett sitzen. Der Vorhang geht nieder und wieder empor und wieder nieder, aber immer noch krachen die Hiebe als Lebensbejahung, bersten die zweizölligen Bretter, fliegen die Splitter.

Das Publikum ist gegenüber dieser Leistung freilich nicht ganz sachverständig. Leider auch nicht auf das Stück selbst eingestellt. Man hat sonst auf dieser Bühne immer die Orska gesehen, das Schlänglein. Dazu Sachen von Strindberg, Wedekind, Shaw und so. Man wartet also auf die erste kleine Perversität oder Frivolität. Die kleinen Dämchen mit den wissenden Augen im Parkett wollen verschämt und doch erregt kichern können. Sie tun es auch; an den unpassendsten Stellen. Etwa wenn es irgendeine Andeutung über die Fruchtbarkeit gibt und der annoch hagestolze Erstgeborene des greisen Bauern an ein spätes Eheglück denkt. Es ist eine Qual. Und die Exl-Leute müssen sich sagen, daß es sich halt doch nicht gelohnt hat, neulich für Anschluß der Tiroler an diese Berliner zu stimmen. Es ist ja dasselbe Pack wie in Wien. Nun hat man endlich den Dichter, der Herzen aufreißt, aber es knistern nur Sinne.

Der Kassierer kann sich das Publikum natürlich nicht aussuchen. Das tut man nur dort, wo Ehrengäste in der ersten Reihe prangen. So dieser Tage bei der Dante-Feier der Universität. Ein süddeutscher Gelehrter kam ganz benommen aus dieser wundervollen, auf einen großen Ton abgestimmten Veranstaltung, in der Harnack die Gedenkrede gehalten hatte, und sagte mir, so etwas Einziges könnten freilich nur die erlesenen Köpfe in Berlin aufbauen. Da allerdings saßen auch Kenner und Feinschmecker auf den Bänken. Dazwischen, klein und etwas gedrückt, der Reichspräsident; und gegen diesen Unfug, der mit dem braven Fritz Ebert getrieben wird, sollten Männer von Takt sich endlich wehren. Zwischen Ebert und Dante ist keine Brücke. Als Ebert noch Wirt einer kleinen Arbeiterkneipe war, ist dort vielleicht mal das Wort "Meine Tante, Deine Tante" gefallen, aber über Dante sicherlich nicht debattiert worden. Und nun schleppt man ihn in diese Feier. Ist es etwa nötig, ihn an einem Fortbildungskursus teilnehmen zu lassen? Sicherlich nicht. Er kann auch ohne dies seine Präsidentenzeit absitzen. Aber die Festveranstalter bleiben eben unter allen Staatsformen unverändert und immer auf der Suche nach irgendeiner für die gaffende Menge bestimmten Persönlichkeit. Etwas anderes war es schon, wenn man Ebert am selben Abend noch in das Festkonzert für die Oberschlesienhilfe kommen ließ. Das ist verständliche Repräsentation. Er saß dort, klein und etwas gedrückt, zwischen Rosen und Wirth, als Mittelpunkt eines ihm gegenüber aufgebauten Halbrunds von weißgekleideten jungen Mädchen mit Blumenkränzen im Haar und weißgelber Schärpe über der Brust. Das nennen Festkommissare stilvoll. Weniger stilvoll war die rein politische Rede des Herrn Wirth, die - man denke, bei einem Wohltätigkeitsfest - sogar stürmischen Widerspruch aus der Mitte der Versammlung hervorrief. Er sagte den Oberschlesiern, sie müßten warten, bis eine Welt der Gerechtigkeit die gegenwärtige Ära der Macht abgelöst habe. Tun könne man nichts. Über das Schicksal Oberschlesiens entscheide London, Paris, Rom, Washington. Wir in Berlin müßten nur "den Mut der Geduld" zu üben lernen. Da schüttelte sogar der greise Bankier v. Mendelssohn, der unweit von mir auf dem Seitenbalkon des Philharmoniesaales Platz genommen hatte, einigermaßen erstaunt den Kopf; und unten gab es verworrenes Lärmen. Die arme deutsche Sprache wird heute noch mehr vergewaltigt als die Oberschlesier. Gehört wirklich Mut zur Geduld? Dann müssen wir alle umlernen, bis die Energie der Impotenz uns erfüllt, bis der Entschluß zur Willenslosigkeit mit der Courage zur Feigheit sich paart und die Ehre des Verlumpens uns blüht. Der Festausschuß hatte sich vermutlich etwas anderes an Wirkung von Wirth versprochen. Einerlei: die Sammlung hat Beträchtliches ergeben. Obwohl man eigentlich von der organisierten Straßenbettelei mit knixenden kleinen Mädchen und die bunte Mütze lüftenden Untersekundanern schon genug hat. Halb Berlin lief wieder mit dem Gänseblümchen im Knopfloch umher. Der erste "Margueritentag" ist meines Wissens einst in Kopenhagen abgehalten worden, schon ein paar Jahre vor dem Kriege; dann trat er wie die Grippe seinen Lauf um die Welt an, und heute reitet sicher schon der Cowboy in Wildwest einen weiten Bogen, wenn er von ferne etwas Weißgekleidetes mit einer Sammelbüchse eräugt. Und doch, schon um der Freude der Jugend willen, an einem nationalen Hilfswerk mitzuarbeiten, lasse ich die Margueriten gern gelten.

Für arme deutsche Kinder, nicht nur in Oberschlesien, kommen fortgesetzt große Beträge noch immer aus dem Auslande, nicht nur von wohlgesinnten Neutralen, sondern namentlich auch deutschen Künstlern, die jenseits des großen Teiches Dollars gemacht haben. Geradezu fürstlich im Schenken ist die Sängerin Frieda Hempel, der unvergeßliche Stern unserer ehedem Königlichen Oper; das dürfen wir wohl als eine freiwillige Buße ansehen, denn während des Krieges hat sie sich wenig tapfer benommen und sich sogar dazu bewegen lassen, bei einem patriotisch-amerikanischen Rummel auf offenem Podium das Sternenbanner zu küssen. Nun gibt sie dafür mit vollen Händen das Verleugnungshonorar her. Nicht alle sind ihr gleich. Wollten da neulich die Deutschen Newyorks ein großes Konzert zugunsten unserer tuberkulösen und rhachitischen Kleinen veranstalten. Natürlich mit ersten Kräften. Um diese zusammenzubringen, bewilligte man einem der Sänger, Herrn Josef Schwarz, weil er es partout nicht billiger machen wollte, das selbst für amerikanische Verhältnisse hohe Honorar von 1800 Dollar für den Abend. Das sind heute nach unserem Gelde über 200 000 Mark. Vorstellungen, ob es nicht weniger sein könne, schlug Herr Josef Schwarz rücksichtslos ab. Bei der Abrechnung legte man ihm nochmals nahe, ob er nicht für die armen deutschen Kinder wenigstens auf ein paar hundert Dollars verzichten wolle. Nichts zu machen. Er nahm das Geld und verschwand. Die Deutschen Newyorks haben diesen Tatbestand jetzt dem deutschen Sängerbund mitgeteilt. Herr Josef Schwarz weilt zurzeit in Deutschland, vielleicht nur für kurze Zeit, und der berühmte Mann gibt auch hier Konzerte. Vielleicht wundert er sich, daß die Kritiker nicht mehr so großes Interesse an ihm nehmen. Man kann - das sei von vornherein zugegeben - von einem Künsteler nicht verlangen, daß er kostenlos seine Arien singt. In der Bibel steht: Wer dem Altar dient, der soll vom Altar leben. Der Pfarrer, der Arzt, der Anwalt, der Dichter haben auch ein sehr menschenfreundliches Gewerbe, aber man kann sie doch nicht umsonst der Welt materiell oder seelisch helfen lassen. Sie tun ohnehin schon viel um Gotteslohn. Aber solche Gemütsmenschen, wie der Galizier Schwarz, verdienen doch eine kleine Markierung in der Chronik der Zeit. Sie geben eine der vielen Antworten auf die bekannte Frage, warum der - Deutsche im Auslande so unbeliebt sei.
7. Juli 1921 (Donnerstag)


42

Am Ferienzug - Die vorhanglosen Sonnenfenster - Der Charlottenhof im Tiergarten - Leute, die "Ärgernis nehmen" - Ausländer-Überschwemmung - Der Maharadschah ist da - Postkarte mit der Kronprinzessin - Vom Anzug der Offiziere

Natürlich, so ein bißchen Sehnsucht in die Weite hat man ja, wenn man täglich hochbetürmt mit Koffern Autos rollen und auf den Bahnhöfen Urahne, Großmutter, Mutter und Kind (alle vier in Dirndlkleidchen) mit erwartungsvollen Gesichtern den Ferienzügen zustreben sieht. Wartet nur, balde komme ich auch! Vorerst lasse ich neidlos sie alle entströmen. Und freue mich an der deutschen Ordnung bei dem Dirigieren des ungeheuren Heerwurms. Ein berühmter Engländer hat einmal gesagt, Deutschland habe der Welt den Gedanken der Organisation geschenkt. Diese Geschichte mit den Ferienzügen wäre schon in Italien unmöglich, zum mindesten nicht möglich ohne greuliches Stoßen, unendliche Verspätung und vielen Lärm und aufgeregte Proteste. Aber die Deutschen - bitte sehr, sogar Berliner - schieben sich still und gesittet zum Zuge. Jedermann findet sein Abteil plakatiert, mit dem Namen des Reiseältesten versehen, jedermann hat seinen Sitzplatz, und pünktlich auf die Minute gleitet der Zug aus der Halle. Für diesen festlichen Tag erlebt man sogar das Wunder, daß der Fiskus auf die 50 Pfennig für die Bahnsteigkarte verzichtet, wenn eine besorgte Mutter ihr Kind höchst eigenhändig in das Abteil stopfen und dann an die Arbeit in Berlin zurückkehren will. "Und immer hübsch gerade halten, mein Kind, wenn du an mich denkst! Und verliere nur ja keines von deinen 14 Taschentüchern, hörst du?" Ja. Ja. Ja. Immerzu kommt ein geistesabwesendes Ja auf die Ermahnungen, während die Gedanken schon im Harz herumklettern. Die Abreisenden und die Zurückbleibenden sind stolz und froh und sagen sich, es fange doch wieder an, ganz schön und ordentlich zu werden im Deutschen Reiche. Und man hat einen Fensterplatz bekommen! Ach du liebe Güte, das ist ja wohl der Platz an der Sonne, den Bülow einst für die Deutschen reklamierte. Noch immer fahren nämlich die deutschen Eisenbahnwagen vorhanglos, denn die Revolutionierung Deutschlands begann bekanntlich damit, daß die Leute den Beruf dieser Fenstervorhänge zu Unterröcken erkannten und aus den breiten ledernen Fensterzugriemen Kindersandalen schusterten und aus den Polsterbezügen der ersten Klasse den nötigen Stoff für die Weihnachtssamtbluse herausschnitten. Also nun brät man in der Sonne.

Vor den Daheimgebliebenen tut der Tiergarten sich auf. Gewiß, der Schloßpark in Weimar oder die Zypressenhaine von Livadia mögen frischer und duftiger sein, aber auch diese Großstadtlunge, dieser Berliner Tiergarten mit seinen knorrigen Baumriesen, die nach der von Wilhelm II. befohlenen Durchforstung neues Leben bekommen haben, ist ganz wundervoll. Es ist ja auch noch genug Unterholz und Buschwerk da, also noch keinerlei Wohnungsnot für unsere Singvögel. Im Hochsommer singen sie nicht, sagen Sie? Aber gewiß doch! Wenn's im Naturgeschichtsbuch auch anders steht. Überlaut höre ich plötzlich: "Ich bin der Pirol, Pirol!" pfeifen. Zu sehen kriege ich ihn nicht, denn er ist voll Unrast, hält es keine zehn Sekunden auf demselben Aste aus. Aber da die Schwarzdrossel mit dem orangegelben Schnäbelchen - "Dixi, Dixi!" sagt sie, während ein Menschenpärchen sich zeigt, "Fritränk, Fritränk!" trillert sie, als sie mich Unternehmungslustigen erblickt. Es gibt wirklich wieder eine Frühtrunk im Tiergarten. Da ist eine einzige große Gartenwirtschaft, abseits der großen Heerstraße in der Nähe der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche gelegen, der Charlottenhof, den die meisten Nicht-Berliner überhaupt nicht kennen. Sie wissen nicht, daß es so etwas im Tiergarten gibt. Sie denken, nur im Boulogner Gehölz von Paris oder im Cambre-Park von Brüssel kenne man dergleichen. Freilich, so kokett ist der Charlottenhof nicht wie drüben die entzückenden kleinen Restaurants. Er ist auch nicht für legitime und illegitime Liebespaare berechnet. Morgens um 6 Uhr erscheinen hier Kurgäste und trinken ihren Brunnen, als seien sie in Karlsbad oder Kissingen, nur daß es sich hier viel billiger lebt unter dem grünen Blätterdach, das schon Friedrich den Ersten gesehen hat. Dazu die würzige Luft, das Vogelkonzert, tiefer Friede; kaum ein verworrenes Echo vom Brausen der Großstadt dringt hierher. Im Laufe des Vormittags erscheinen dann ältere Damen mit einer Handarbeit und trinken zum zweiten Male am Tage ihr Schälchen Kaffee, essen dazu ein mitgebrachtes Brötchen und plaudern mit anderen bekannten Damen. Es ist das reine Tantenheim, in das wir, wenn wir das Geld dazu hätten, gern unsere Schwiegermutter einkaufen würden. Aber das sind immer erst einzelne Gruppen. Vollbesetzt sind die vielen hundert Tische unter den alten Bäumen meist erst gegen Abend; dann sitzt der solide Berliner Bürger hier mit Weib und Kind, der höhere Beamte mit viel Bildung und wenig Geld, selten ein Wesen in luxuriöser Aufmachung, so gut wie niemals eines aus der Halbwelt. Das ist einer der so wenigen Plätze zum Aufatmen in der sonst so stickigen Metropole.

Dehnt man seine Erkundungsfahrten in dieser Gegend bis zum späten Abend aus, so ändert sich wieder das Bild. Die solide Behäbigkeit ist verschwunden. In den Tiergartenalleen, besonders auf den Seitenpfaden mit Büschen und Bänken, sieht man zwar noch Besucher, aber nur solche, die nicht gern viel auf Konversation machen. Die eine Sorte hat sich wortlos allerlei zu sagen und sitzt gar bald eng umschlungen auf irgendeiner Bank oder auf dem Rasen. Die zweite Sorte arbeitet ebenfalls wortlos, aber mit Schlagring oder Totschläger, wenn ihr nicht gleich "de Penunze" abgeliefert wird. Und die dritte Sorte, in blauer oder grüner Uniform oder auch in Kriminalzivil, stellt der ersten und zweiten nach. Gerade auch den harmlosen Pärchen. Einen Kuß in Ähren darf niemand verwehren, sagte der Hans zur Liese und ging mit ihr ins reife Korn, aber wenn er mit ihr in den Tiergarten geht, schleicht vielleicht ein Beamter hinterdrein und äugt beharrlich so lange, bis er vorschriftsmäßig "Ärgernis genommen" und nach Feststellung der Personalien die Anzeige aufgesetzt hat. Manchmal sind es auch falsche Polizisten. Die nur so tun, als wollten sie anzeigen, und statt dessen dann ein Lösegeld nehmen. Jedenfalls empfiehlt es sich, am späten Abend nur zu dritt und nur mit tüchtigem Knüttel den Tiergarten zu passieren, so gefahrlos er auch vor Einbruch der Dunkelheit ist.

Drüben Unter den Linden beginnt jetzt das Berlin der Ausländer. Man trifft kaum mehr Bekannte. Sitzt man an der Kranzlerecke, so hört man innerhalb fünf Minuten zehn verschiedene Sprachen. Und man wundert sich, daß diese Fremden sich eigentlich genau so benehmen, wie nach allgemeinem europäischen Urteil sonst die Deutschen, nämlich auffällig laut und ungeniert. Ich weiß noch, wie einem ruhigen Deutschen zu Mut ist, wenn er in Kopenhagen, während er seinen Mokka im Freien schlürft, an einem Nebentisch eine deutsche Gesellschaft lärmen hört, und wenn dann die umsitzenden Dänen verächtlich die Lippen schürzen. "Tysker!" Deutsche! Nur dies eine Wort. Und heute? "Dänen!" sagt achselzuckend jemand neben mir, als in unglaublichem Aufzuge, geschmacklos gekleidet und mit Brillanten besteckt, eine Gruppe von sechs Leutchen vor Kranzler am Rundfahrauto steht und laut mit dem Führer feilscht. Daneben, etwas stiller, versuchen zwei Japaner und zwei Japanerinnen einem Droschkenkutscher sich verständlich zu machen. Die ältere der beiden Damen ist spitz und gelb, das junge japanische Mädel, ein Ding von vielleicht 16 Jahren, hat ein ganz breites Vollmondgesicht in Khaki. Französische und englische Offiziere in Zivil, spanische und argentinische Kaufleute, skandinavische Studenten und Studentinnen in ihren weißen Mützen mit blau-goldener Kokarde, madjarische, serbische, litauische Waffenaufkäufer, Schieber aller Nationen, dazwischen auch Amüsierpublikum sämtlicher Erdteile, viel Neureiche vor allem, gleiten an uns vorüber. In einem prachtvollen achtzigpferdigen Auto auch der Maharadschah von Jhind. Er ist wegen eines Ohrenleidens in Berlin. Trotz aller Verleumdung der deutschen "Barbaren" weiß man in Indien und der ganzen Welt, daß die Deutschen immer noch die besten Ärzte haben, und unsere Kliniken und unsere Bäder werden nicht leer. Dieser Maharadschah, der übrigens, wenn er nicht gerade beim Arzte ist, sich in Berlin amüsiert wie jeder andere Fremde von Distinktion, hat natürlich schon ganze Papierkörbe voll von Bettelbriefen. Er ist, so heißt es, der Drittreichste der sagenhaft reichen Nabobs von Indien, er könnte, so heißt es, aus eigener Tasche den geamten deutschen Ententetribut bezahlen. Welch ein Unsinn! Die Leutchen kennen noch immer die Zahlen nicht. Und wenn sämtliche Schatzkammern Indiens sich für uns leerten, so kämen wir doch nicht aus der Schuldknechtschaft heraus. Die von uns verlangte Summe beträgt nämlich das - Fünffache sämtlichen auf der Erde überhaupt vorhandenen Goldes. Und man könnte allen deutschen Neugeborenen gleich die Inschrift aus Dantes Schattenreich zurufen: "Ihr, die ihr eintretet, lasset alle Hoffnung draußen!" Das will einem nur noch nicht recht eingehen. Man macht noch mit. Man amüsiert sich. Aber nicht nur in den Ferien, wo es begreiflich wäre, wird es an den Schlemmerstätten leer und leerer von Berlinern. Der Ausländer dominiert vollkommen. Im Kaiserhof und im Adlon sieht man Deutsche - abgesehen von der Bedienung - heute ebenso selten wie Türken im Pera Palace oder Tokatlian in Konstantinopel. Sogar die Tanzdiele im Lunapark ist ganz entdeutscht. Wenigstens soweit es sich um den Herrenbesuch handelt. Mädchen freilich . . . ja, Mädchen . . . ja, Damen . . . Unsere weiße Schmach ist schlimmer als die schwarze Schmach. Und wer immer noch "Deutsche Frauen, deutsche Treue" ansingt, dem bleibt der Ton in der Kehle stecken, wenn sein Geschick ihn nach Berlin oder in die besetzten Gebiete oder auch nur dahin führt, wo während des Krieges fremde Gefangene arbeiteten. Wir sind noch nicht in Ordnung, wenn es wieder Vorhänge an den Fenstern der Eisenbahnwagen gibt. Das ist etwas Äußerliches. Es ist auch innen noch manch Aufwaschen nötig, - aber mit Drahtbürsten und Schabeisen.

Da in Deutschland alles "so billig" zu haben ist, stopfen sich die Fremden alle Koffer voll. Etwas Merkwürdiges: sie kaufen, wo sie nur können, auch Ansichtspostkarten mit Bildern von Angehörigen des Kaiserhauses. Vor wenigen Monaten tauchten die ersten dieser Bilder schüchtern in den Schaufenstern auf. Heute sind sie ein glänzendes Geschäft, denn nicht nur Deutsche erstehen sie (für die Kinder zum Hinüberretten der Erinnerung), sondern auch Neutrale und Feinde. Besonders das kronprinzliche Paar hat es ihnen angetan. "Man kann nicht wissen." Und der Mann mit der Shagpfeife im Mund ruht nicht eher, bis sein Fremdenführer durch Antelephonieren der Briefkastenredaktion einer Zeitung festgestellt hat, daß die Kronprinzessin 178 Zentimeter messe. "Ist doch famose Rasse!" Eines - nicht nur das Fehlen des Hofes - entbehren die fremden Besucher sonst noch. Das ist die früher für Berlin so typische Garde, die Wachtparade, der Offizier. Was man jetzt sieht, das ist trotz aller Ansätze zur Besserung doch mehr oder weniger salopp, gar nicht mehr preußisch im alten Sinne, nicht mehr so kanpp und so adrett und so beherrscht. Gelegentlich sieht man, wenn auch selten, einen Offizier Unter den Linden oder in der Leipziger Straße, der, was früher in Uniform verboten war, eine Riesenzigarre aus den Lippen hängen hat, den Mantel offen wehen läßt, die Handschuhe in die sperrige Rocktasche gestopft hat. Das sind Nachlässigkeiten, die sich heute auch höhere Offiziere erlauben. Eben erst stand ich, vom Charlottenhof kommend, auf der Trambahn mit einem Generalmajor zusammen, der sich so trug. Sollte es wirklich nicht möglich sein, wenigstens auf diese äußeren "Zeichen der Zeit" zu verzichten?
14. Juli 1921 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts