"Rumpelstilzchen"

"Berliner Allerlei"
(Jahrgangsband 1920/21)

Verlag der Täglichen Rundschau / Berlin, 1922

Glossen 37 - 39
8. bis 23. Juni 1921


37

Die Selbstmordkurve - Arme alte Rentner - Eine Hundertjährige - Bei Simrocks - Zwei Böcklins gehen ins Ausland - Frau v. Mendelssohn - Im Seelenbad - Von Strauß bis Erdmann - Preisboxen für Damen

Wir wissen, daß alljährlich rund fünftausend Menschen, meist aus Mangel an Vorsicht beim Baden, in Deutschland ertrinken. Diesmal ist schon während der glutheißen Mai-Juni-Wende der Hauptteil davon "geschafft". Auch die Selbstmordkurve hat in diesen Wochen ihren höchsten Stand erreicht. Das war schon im guten alten Deutschland so, daß die Menschen, wenn überhaupt, so just im Frühsommer zu der Erkenntnis kamen, daß das Leben nicht lebenswert sei. Mitten im Grünen und Blühen, mitten in der vollen Verheißung der Natur das alte Lied: was nützet mir ein schöner Garten, wenn and're drin spazieren geh'n! Getäuschte, verratene, abgewiesene Liebe war der Hauptgrund. Der ist heute seltener geworden, Man ist nicht mehr so abweisend. Männlein und Weiblein in ihrer ersten Blüte bejahen das Leben und sind nicht wählerisch. Der Liebeskummer als Veranlassung zum Selbstmord hat also abgenommen, aber die Nahrungssorgen drücken um so mehr Leuten die Waffe oder den Gasschlauch oder die Morphiumspritze in die Hand, und zwar fast durchweg einsamen alten Leuten. Noch vor fünf, sechs Jahren waren sie am Stammtisch oder im Vereinskränzchen gern gesehen, hatten sie ihren abonnierten Sitz im Theater, gaben sie gern und reichlich für wohltätige Zwecke; denn sie waren ja wohlhabend. Inzwischen hat das Reichsnotopfer und manche andere Steuer ihnen die Hälfte genommen, und von dem Rest ist jede Mark nur noch 7 Pfennig wert. Die meisten Leute, die auf eine Kapitalrente angewiesen sind, haben somit heute nur etwa den fünfundzwanzigsten Teil dessen zu verzehren, was ihnen früher zur Verfügung stand. Selbst mit den so sehr "gestiegenen" Industriepapieren ist es im Grunde Essig. Wer früher bei 5 Prozent Dividende von seinen Aktien 4000 Mark jährlich erhielt, konnte doch ganz anders wirtschaften, als jetzt bei 20 Prozent mit 8000 Mark jährlich von der ihm verbliebenen Hälfte des Vermögens. Man regt sich im Volke über die hohen Dividenden auf. Aber viele unserer Dividendenschlucker sind wirklich arme Schlucker geworden. Sie möchten gern mit jedem beliebigen Arbeiter tauschen, wenn man dies im Alter von 70 oder 80 Jahren nur noch könnte.. Am schlimmsten haben es die früher sogenannten Sechserrentiers. Ich kenne eine greise Hausbesitzerin, die als "wahrhaft guter Mensch" früher ein Segen für ihre gesamte arme Umgebung war. Heute hat sie, um die Hypothekenzinsen und die notwendigsten Reparaturkosten aufzubringen, ihre eigene Vierzimmerwohnung vermietet, beschränkt sich selber auf ein Eckchen in der Küche und putzt morgens um 6 Uhr mit zitternden Händen die Stiefel ihrer "möblierten" Herren und Damen. Aus solchen - Kapitalistenkreisen füllt sich heute die Selbstmordstatistik. Am ausgiebigsten natürlich in der Großstadt.

Mitunter trifft man freilich auch auf rührende Ergebenheit ins Schicksal. Oben in der Tresckowstraße im Norden Berlins wohnt die alte Frau Brüsewitz, die im September dieses Jahres ihren hundertsten Geburtstag feiern soll. Ihre Nachkommenschaft kümmert sich kaum um sie. Sacro egoismo! Die Frau hat im Jahr eine Rente von 1200 Mark zu verzehren. Dafür kann man sich genügend Kartoffeln und Ersatzkaffee kaufen, und wenn man die entbehrlichen Brotkarten losschlägt, kann man sich Sonntags auch einen Hering leisten. Es langt auch zum Kochen der Kartoffeln und des Ersatzkaffees, nur zum Heizen im Winter langt es nicht. Die geistig vollkommen klare, körperlich freilich sehr geschwächte Alte liegt seit dem November 1918 zu Bett, kann nur noch zu den notwendigsten Verrichtungen täglich ein wenig aufstehen. Damals, im November 1918, wo sie es doch noch "gut" hatte, brach sie vor Kummer nieder, als es mit Deutschland zu Ende ging. Aber ihren Glauben und ihre innere Freudigkeit hat sie nicht verloren, hat auch nicht mehr "auf neue Zeit umgelernt", sondern sonnt sich in der Erinnerung an die glücklichen Tage des deutschen Volkes und wartet geduldig auf ihren hundertsten Geburtstag und den Gestellungsbefehl zur ewigen Heimat.

Ein anderes und doch wiederum ähnliches Bild drüben im Westen am Lützowplatz. Dort haust die achtzigjährige Frau Simrock, die Witwe des berühmten Musikverlegers; das war eine Mäcenaten-Familie, wie es wohl wenige in Deutschland gegeben hat. Simrocks, die ich vor etwa dreißig Jahren kennengelernt habe, waren stets auf der Suche nach begabten Künstlern, denen sie irgendwie helfen könnten. Ihre Tafelrunde wurde nicht leer von Musikern, Malern, Bildhauern, Dichtern, Schauspielern beider Geschlechter, und wer Erholung nötig hatte, der wurde auf das Schloß der Tochter geschickt, nach Adelboden in der Schweiz, wo er wochenlang oder monatelang im Korbsessel oder Klubsessel träumen und bei Schlaraffenverpflegung sich als geehrter Gast irgendeines Lords fühlen konnte. Der arbeitsame alte Simrock, musikalisch bis in die Fingerspitzen und Geschäftsmann bis in den kleinen Zeh, scheffelte Millionen, und er und seine ganze Familie gaben sie mit vollen Händen für die Künstlerwelt wieder aus. Mancher Große von heute hat aus diesem Hause einst ein laufendes Stipendium bekommen, von dem sonst niemand etwas ahnte. Und die jungen Leute befanden sich dabei in einer so kulturgesättigten Umgebung, wie man sie anderswo in Berlin kaum antreffen konnte. Die ersten Lenbachs aus einer Zeit, wo der Meister noch des Ruhmes bedurfte, hatte Simrock erstanden; und berühmte Böcklins, sieben an der Zahl, besaß er sogar mehr als der reiche Seidenfabrikant Henneberg in Zürich. Im Sommer, wenn die Familie des Musikverlegers verreiste, wurden diese Schätze der Nationalgalerie geliehen. Nun kommt dieser Tage eine auch schon grauhaarige Verwandte von mir, die zwar nicht Stipendiatin, aber um ihrer großen Gesangskunst willen Freundin des Hauses Simrock gewesen ist, nach langen Jahren wieder einmal dorthin. Der erste Blick gilt, wie immer, der Wand über dem Flügel. Die "Toteninsel" ist weg! Und auch Böcklins "Fischpredigt" soll folgen. Verkauft an das Museum in Basel. Der alte, vor etwa zwei Jahrzehnten heimgegangene Simrock hatte bestimmt, daß die Bilder in der Wohnung bleiben sollten, solange die Frau lebe, und daß er nichts dagegen habe, wenn nach ihrem Tode die Kinder die Gemälde an ein Museum verschenkten. Aber nun ist Deutschlands Zusammenbruch erfolgt. Der alte Musikverlag wird zwar von einem rührigen Enkel weitergeführt und geht gut, aber das Reichsnotopfer läßt sich nach den vielen freiwilligen Opfern der Familie nicht mehr aufbringen; man muß die wertvollsten Bilder veräußern. Von den neun Zimmern, in denen sie zwei Menschenalter lang sich bewegt hat, ist der alten Dame jetzt vom Wohnungsamt die Mehrzahl genommen worden. Bis an die Decke hinauf ist in den ihr verbliebenen jede Wand behängt. Wie gebrochen wankt die Greisin dazwischen einher. Sie ist noch immer die Güte selbst, hat noch immer eine offene Hand, es fehlt ihr natürlich auch nicht an den unmittelbaren Lebensbedürfnissen, aber doch ist sie gewaltsam aus dem Geleise geworfen, hat sie bisweilen Angsthunger, weil sie Hungerangst hat.

Es gibt manche ehedem reiche Leute, die mit fatalistischer Ergebenheit damit rechnen, daß ihnen stückweise auch das Letzte genommen werden wird. Für den deutschen Milliardentribut an die Entente ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Der Tribut muß erarbeitet werden. Auf dem Wege der Ausplünderung der Besitzenden wird noch nicht ein Zwanzigstel des Bedarfs gedeckt, aber unendlich viel Kultur zertrümmert. Manche der Noch-Reichen rechnen auch damit, daß die nächste, etwa noch rötere Regierung eines schönen Tages vielleicht gewaltsam überall eindringt und beschlagnahmt. In Sowjetrußland gibt es ja nicht einmal mehr ein Privateigentum an Möbeln. Vielleicht ist es daher als eine Art Versicherungsprämie gedacht, daß jetzt gewisse Kreise erhebliche Geldmittel unter der Hand - den Kommunisten zufließen lassen. So befindet sich Frau Paula v. Mendelssohn-Bartholdy, geborene Reichenheim, unter denen, die die graphische Kunsthandlung von S.B. Neumann am Kurfürstendamm finanziert haben, hinter der sich ein kommunistisches Propagandabureau verbirgt. Frau v. Mendelssohn, die Schwägerin des Staatskommissars für die öffentliche Sicherheit, Weismann, ist übrigens auch Geldgeberin der Münchener Zeitschrift "Wieland" gewesen. Die Gebefreudigkeit für alle möglichen sogenannten idealen Zwecke ist noch immer groß, aber nach den ersten paar Tributjahren in der Ententefron wird sie von selber aufhören müssen.

Einmal noch haben wir in vollen Zügen deutsche Kultur trinken dürfen, und zwar von jenem Born, der auch in Notzeiten nie ganz versiegen kann: das Gesamtwerk von Richard Strauß - ausgenommen nur die Elektra - wurde uns in dem staatlichen Opernhause zehn Tage lang hintereinander vorgeführt. Ich habe einmal, in der Genesung nach schwerem Typhus, alles, was Gerhart Hauptmann je geschrieben hat, um mich aufgehäuft und von Anfang bis zu Ende durchgelesen. Von nun an erst war mir der Dichter wirklich vertraut, obwohl ich einzeln schon alles irgendwann einmal vorher gelesen oder auf der Bühne gesehen hatte. So geht es einem auch mit Richard Strauß. Erst in dem ganzen Zusammenhang wird einem das Urdeutsche dieses Meisters so recht von Herzen offenbar. Und wenn er persönlich den Taktstock führt, erschauert man vor der ungeheuren Disziplin des von ihm beseelten Orchesters, das mit ihm atmet und mit ihm pulst. Er ist nicht der große Schwärmer, des Gottes voll, sondern der große Feldherr der Musik, dessen Stab Myriaden von Gefühlausdrücken gehorchen. Schade, daß er nicht, wie Wagner, auch Dichter ist. So sind mir seine wortlosen Symphonien, die die Festwoche natürlich nicht brachte, persönlich lieber als seine Opern; denn dies sind doch hie und da nur "in Musik gesetzte" Textbücher. Gewiß, er kann auch das; gebt ihm eine Logarithmentafel, und er komponiert sie euch herunter, daß euch der Kopf raucht, oder daß ihr euren alten Mathematikus in Unterprima vor euch zu sehen glaubt. Notabene: wenn der Titel "Logarithmen" für das Opus - bekannt gemacht ist. Nun sitzt man aber im Opernhause, hört die heiter-spritzige Musik des Rosenkavaliers oder die schwüleren Rhythmen der Frau ohne Schatten, und plötzlich, bei der Salome, kommt es einem doch zum Bewußtsein, welch eine Kette für diesen pfeilschellen Neutöner das Textbuch ist. Die ersten ekstatisch hingehauchten Worte des jungen Hauptmanns der Schloßgarde "Wie schön ist die Prinzessin Salome heute abend!" lassen unsere Sinne bei Wilde ebenso vibieren wie bei Strauß. Aber nun denke man sich den Dogmenstreit der Juden bei Wilde, wie er in wenigen Worten mit einem Schlage den ganzen kulturellen Hintergrund des Dramas erhellt, und dann die Musik desselben Judenquintetts bei Strauß, die weiter nichts ist als bestenfalls ein Sich-in-die-Haare-Fahren irgendwelcher schachernden Ghettogestalten um eine alte Hose oder ein Gramm Neosalvarsan oder ein Gericht übel duftender Fische. Man kann wohl Glaubensmut oder Liebessehnen oder Hoffnungsfreude sinnfällig in Musik setzen, aber nicht das Nicänische Symbol oder die Diskussion zwischen Luther und Eck. Das weiß Strauß sicher selbst. Und macht trotzdem das Unmögliche möglich. Nur allerdings in seiner ureigenen Musiksprache; und die ist nicht jedermanns Sprache.

Daß er der verständlichste unter allen großen neuen Vertonern ist, der zwingendste, der es am meisten vermag, uns zu seinem Verständnis zu erziehen, das steht nach langen Jahren der Debatte um ihn nun doch fest. Die Ganzmodernen schweifen bereits weit ab von dem, was noch bildhafter Ausdruck für Gefühl und Erlebnis und Willen ist. Von ihrem obersten, dem Rigenser Erdmann, wurde auf dem vorjährigen Tonkünstlerfest in Weimar unter Peter Rabes Leitung eine Symphonie zu Gehör gebracht, die noch Musik war und einmütigen Beifall errang. Seither aber hören wir von ihm, wenn er am Klavier steht, beileibe nicht sitzt, und mit vorgebeugtem Oberkörper die Hände auf die Tasten fallen läßt, nur visionäre Seufzer oder hysterische Schreie. Die expressionistische Musik wird der Malerei der Novembergruppe immer ähnlicher. "Das ist Rückenmarkskunst," triumphieren die Verzückten. Da ist mir aber der eiskühle Kopf unseres Richard Strauß denn doch lieber.

Selbstverständlich ist "ganz Berlin" im Opernhause gewesen, soweit es nicht auf der Suche nach Seelenbädern war. Das ist nämlich heute das Neueste, das Schickste. An den Strand oder in die Berge fahren kann jeder Affe. Man badet den Körper in Meerwasser oder in Höhensonne und trinkt dann zum Fünfuhrtee oder Vieruhrkaffee seinen Sherry-Cobler wie in Berlin. Aber die kranke Seele baden, besonders wenn man eine typisch unglückliche Frau eines wohlhabenden Mannes ist, das kann nur der Hochkultivierte. Man geht also nach Schloß Ellmau, wo Johannes Müller als Seelenarzt waltet, oder nach Schloß Lauenstein, wo sein Schüler Uhde Balsam träufelt. Man kommt getröstet und um ein prickelndes Sensatiönchen reicher zurück. Da versammeln sich an die hundert Pensionäre, die die Ferien vom Ich genießen wollen. Es geschieht in einem wundervollen Milieu, mit uralten Möbeln, mit Baldachin-Betten auf schweren gedrehten Säulen, mit Waschbecken aus Messing oder historischem Zinn, unter sympathischer Bedienung durch "Heimchen", lernende junge Damen aus guter Gesellschaft, und natürlich bei prima Verpflegung und köstlichen Stunden zu Füßen der Seelenheilande. Ich kenne Uhde nicht. Ich würde niemals über den hochverehrten Evangelisten und Denker Johannes Müller auch nur das leiseste Spottwort wagen. Aber wenn ich an die Besucher des Seelenbades denke, dann kitzelt's mich freilich am Zwerchfell.

Besonders, wenn ich zwei mit neugewaschener Seele Zurückgekehrte abends in einer Loge - des Metropol wiederfinde, weil sie schon wieder ganz andere Sensationen brauchen. Da gibt es nämlich allabendlich, man höre und staune, ein internationales Preisboxen für Damen. Eigentlich wollte ich sie alle interviewen, besonders die internationalen. Ich gelangte aber nur zu der einen, die nicht allzuweit von der Spree geboren sein mag, und erhaschte auch nur auf eine einzige Frage eine einzige kurze Antwort: "Wenn andere Damens sich im Reichstag wählen lassen, warum soll'n wa denn nich boxen dirfen?" Das ist einleuchtend; ohne Zweifel. Weniger einleuchtend ist es zunächst für die zahlreich erschienenen Zuschauer, daß die Boxerinnen wie die Chormädels einer Operette eine Art Ruderdreß anhaben. Kurzes Röckchen, weißen Sweater, große Badehaube. Die Meisterboxer haben doch nur einen Lendenschurz, und über ihrem durchtrainierten Körper sieht man die Muskeln wie stählerne Bänder laufen. Die Röckchen gibt man bald als notwendig zu. Man begehret nimmer zu schauen, was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen: eine von diesen armseligen Figuren ist gar nur 153 Zentimeter hoch und macht einen infantilen Eindruck. Der Sweater müßte eigentlich eine Blecheinlage haben, um den für Frauen so gefährlichen Mammalien-Stoß zu parieren. Die Haube schließlich mag eine notwendige Vorsorge dafür sein, daß nicht am Ende einer der Damen eine Haarnadel in die Kopfhaut gehauen wird. Innerhalb des viereckigen Kampfplatzes, den man "Ring" nennt, ist nun doch ein kleineres Viereck abgegrenzt. Auf diesem wird geboxt. Um die Federgewichts-Meisterschaft von Mittelgalizien. Eigentlich geben sich die Damen nur operettenhafte Ohrfeige. Alles ist einstudiert, auch der Sieg der angeblich deutschen über angeblich ausländische Boxerinnen, auch das angeblich impulsive Lospauken der angeblichen Ilona Kowacz, einer drallen Köchinnenfigur, die wegen unfairer Kampfesweise - sie tritt die Gegnerin vor die Schienbeine - distanziert wird und nun dem Manager zu Leibe geht und ihm einen Blecheimer an den Kopf wirft. Wenn ihr wüßtet! Wenn ihr nämlich wüßtet, daß sie das genauso alle Abende macht, weil es einfach zu ihrer Nummer gehört.

Und willst du wissen, was sich ziemt, so frage nur beim Metropole an.
8. Juni 1921 (Mittwoch)


38

Immer noch Tagore - Bei Max Hölz im Schwurgerichtssaal - Ein Kinofrüchtchen - Solidarität - Die Amateurfrage im Ruderverband - Kommunistische Wanderflegel - Gassenhauer und Volkslied

Der berühmte Inder Takur - englisch Tagore geschrieben und deutsch so von uns ausgesprochen - ist aus dem Berliner Gesichtskreis verschwunden. Geblieben sind nur die Stöße seiner Romane und Gedichte. Tritt heute jemand unschlüssig in einen Buchladen, so sagt der junge Gehilfe sicher sofort: "Vielleicht etwas von Rabindranath Tagore gefällig?" Und die Leute, die von den deutschen Erzählern Gustav Freytag oder Gottfried Keller oder Wilhelm Raabe nur eine schemenhafte Vorstellung haben, sie jedenfalls geistig nicht besitzen, stapeln sich die Bände von Takur auf. Die gehören heute ebenso zum Gebildetsein der Kurfürstendammer Art wie vor zwei Jahren "das Biedermeier". Sie werden aber noch schneller unansehnlich werden. Verjagt doch immer eine Kultursensation die andere.

Die neueste Sensation heißt natürlich Max Hölzl. Wer in den Salons von Berlin W. in diesen Tagen erzählen kann, er habe "ihn" gesehen, der ist der große Mann; für eine Eintrittskarte in den kleinen Schwurgerichtssaal gäbe heute manche Mondäne mehr als kürzlich für die Einladung in die Universitätsaula während des Tagore-Fimmels. Frau Wolf Wertheim hat seinerzeit dem Schuster von Köpenick, der in Hauptmannsuniform die Stadtkasse beschlagnahmte und den Bürgermeister verhaftete, in kongenialer Begeisterung eine lebenslängliche Rente ausgesetzt. Wer weiß, ob jetzt nicht auch für Max Hölzl schon Kassenscheine gezückt werden. Die Räuberromantik hat es unseren Schlagsahnemadamen nun einmal angetan. Nur ist in Wirklichkeit an dem Manne nichts, aber auch gar nichts Romantisches. Ich habe ihn einmal im Gerichtssaal kurz gemustert. Das genügt. Dieser kurze stämmige Kerl mit der flachen Stirn und den ausdruckslosen kleinen Augen unter dem schwarzen Haar erscheint in einem Sträflingsanzug, der ihm etliche Nummern zu groß ist und dessen Ärmel über den Handgelenken daher umgekrempelt werden müssen. Unwillkürlich möchte man weiter aufkrempeln. Der Mann hat doch sicher auf dem Unterarm eine Tätowierung, denkt man, einen blauen Anker und irgendeine obszöne rote Figur. Und eigentlich müßte er ein gestreiftes Trikot und ein schmutziges Halstuch und eine Schiebermütze tragen. Er ist ein Modell für Zille. Einer jener "Halbstarken" aus dem Bouillonkeller, die ihre Feigheit durch Rohheit maskieren und überhaupt nur möglich sind, weil sie eine noch feigere Umgebung haben. Seiner Zuchthausvisage entströmen nur deshalb große Worte, weil wir heute 1921 und nicht 1917 schreiben. Wir leben in einer Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten, wo schon Waschfrauen Kultusminister und Zuhälter Polizeipräsident geworden sind. Warum sollte man da nicht auch aus dem Zuchthaus heraus noch Chancen haben? Um Hölzl richtig zu würdigen, muß man den Beruf kennen, dem er im Vogtlande oblag, ehe er Mordbrenner wurde. Er verdiente sich damals sein Brot als Kinoerklärer. Wenn schon das gewerbliche Umgehen mit dem Kinoschund, wie er 1918 war, jedes Gefühl für gesunde Wirklichkeit abhanden kommen ließ, so mußte die Tätigkeit eines Erklärers vollends alles sittliche Empfinden ertöten. Die Aufgabe eines solchen Erklärers war es, die niederen Instinkte des Publikums zu reizen, durch schnoddrige Witze den Erfolg des stummen Lichtbildes bei der Hefe des Volkes zu steigern. Wenn zum Beispiel eine Entkleidungsszene abbrach, pflegte der Kientoppmaxe in die Menge zu rufen: "Na, wat jetz folgt, könnt a Euch woll denken!", und ein wieherndes Gelächter war sein Lohn. Mit rohen Redensarten wurde jeder Totschlag auf der Flimmerleinwand begleitet, mit schürender Hetze gegen alle "Kapitalisten" jede Bankettszene. Das neue Lichtspielgesetz hat diesen Beruf nun unmöglich gemacht. Sollte es noch irgendwo solche Schädlinge geben, so genügt eine Anzeige bei der Polizei, um den Erklärer auszumerzen. Max Hölzl aber, berauscht von den Erfolgen bei seinem Publikum, setzte da die Rednerrolle vor einem größeren Kreise fort und filmte schließlich selber Weltgeschichte auf seine Art, brannte das Haus eines menschenfreundlichen Arztes nieder, der seine eigenen - Hölzens - Genossen am Krankenbett pflegte, trat Pfarrer in die Eingeweide, schoß nach beliebigen Leuten in offene Fenster hinein und war unersättlich nach neuen krassen Bildern. Jetzt ist er vor Gericht sein eigener Erklärer, gibt sentimentale Unterschriften zu den Bildern und will der große Volksheiland sein. Ein Produkt aus der ersten Zeit unserer Scheidemann-Erzberger-Republik in Reinkultur. Die Männer des 9. November sitzen unsichtbar mit auf der Anklagebank.

Und doch vermag das Bürgertum ihnen noch nicht beizukommen. Alles, was rot ist, hat es seit jeher verstanden, was Solidarität ist. Das ging bis in den Sport hinein. Der Ruderklub "Vorwärts" in Treptow bei Berlin hat vortreffliches Material. Auch Menschenmaterial. Der große Deutsche Ruderverband aber hat jahrzehntelang jeden Handarbeiter ausgeschlossen. Der Engländer unterscheidet im Sport die Amateure, die aus Liebhaberei rudern oder boxen oder Ball spielen, von den Professionals, die es um Geld tun. Unser Ruderverband aber bestritt allen, die buchstäblich von ihrer Hände Arbeit leben, die Amateureigenschaft. Vor langen Jahren, als ich noch stählerne Sehnen hatte und jede freie Stunde auf dem Wasser lag, schließlich es sogar zum Amt des Trainers in unserem provinziellen Ruderklub brachte, hatte ich einen schweren Kampf gegen diese Tradition auszufechten. Ein prächtiger muskulöser junger Bäckermeister hatte sich bei uns gemeldet.. Aber knetete er nicht selber den Teig? Und schon sagten der Postassistent und der Buchhandlungsgehilfe und der Tuchhändler, das ginge nicht, der Mann sei kein Amateur. So behauptete sich die Kaste. Und so wuchs riesengroß die Klasse. Zu derselben Zeit - lang, lang ist's her - gab es einen bärenstarken, durchtrainierten Oberleutnant bei den Alexandergardegrenadieren in Berlin, v. Loeper, dem nächst dem geliebten Kommiß nichts über das Rudern ging. Er war ein hervorragender Schlagmann. Eines Tages kam es heraus, daß er unter einem Decknamen Rennen eines Klubs mitgerudert hatte, der aus fast lauter "Koofmichs" bestand. Er wurde bestraft. Um ein Haar wäre er aus der Armee hinausgeflogen. Das sind Sünden der Vergangenheit, die damals nur wenige erkannten. Heute brennen sie uns auf den Nägeln, und ein neues Geschlecht muß sie wieder gutmachen.

Das Überbrücken ständischer Gegensätze hat man eine Zeitlang von den Wandervögeln erhofft. Die Wanderflegel haben dies wieder zunichte gemacht. Die "echten" Wandervögel "mit Abzeichen", die vom Alt-Wandervogel und vom Wandervogel E.V., haben einen verzweifelten Kampf darum geführt, daß man sie mit den Wanderflegeln doch ja nicht verwechsele. Umsonst! Das Unkraut überwuchert. Man erlebt zu viel Abstoßendes von den "Unechten", die man als solche doch nicht immer erkennt. Marschiere ich da am vorigen Sonntag mit meinem Jüngsten und dem befreundeten Pfarrersbuben über Land, bis nach Trebbin, dem kleinen märkischen Städtchen. Auf dem Bahnhof kurz vor der Heimfahrt ein wüstes Gedränge von wüsten jungen Leuten. Schlampig angezogene, verschwitzte Mädels, die kahlen Beine mit zerstochenen und zerkratzten Waden in bloßen Sandalen, daneben, den Arm um ihre Hüfte gelegt, erst recht schmutzige Buben mit langen Haaren und die älteren mit offener zottiger Brust. Ein etwa zwanzigjähriger schwarzgelockter Mensch, der wie ein Odessaer Student aussieht, trägt eine rote Fahne. Etwa vierzehnjährige blonde, deutsche Rangen haben einen roten Sowjetstern aus Pappe angelegt. Es ist - die kommunistische Jugend Potsdams! An der Sperre gibt es großen Krach, denn irgend etwas stimmt mit den Fahrkarten nicht, es soll nachbezahlt werden. Auf einmal schreit alles nach der "dicken Wally". Die hat offenbar das Geld. Die dicke Wally, klein, watschelig, olivenfarbig, mit Negerlippen, kommt endlich und schlichtet den Tumult. Die ganze braune Wadenherrlichkeit drängt sich zusammen. Die rote Fahne schwankt voraus, ein Wagen vierter Klasse wird erstürmt, die erschrockenen Passagiere bekommen die dampfende Schar auf den Hals. Bis Berlin wird unentwegt gegröhlt. Zum Teil Lieder, die ein halbwegs gesitteter Schimpanse ablehnen würde. "Diese Wanderflegel!" sagt entrüstet jeder Ehrsame und schwört sich zu, die eigenen Kinder nie hinauszulassen zu wollen, es sei denn in Elternbegleitung jeden ersten Sonntag im Monat in den Zoologischen Garten.

Vielleicht kann unser altes gutes deutsches Volkslied hier ein Rettungswerk vollbringen und mehr zur Kenntlichmachung anständiger Wandervögel beitragen als der fliegende Kranich auf der Anstecknadel. Nicht die neu ersonnenen Klampfenlieder. Erst recht nicht das, was man in der Großstadt nur noch zu kennen scheint, die Tanzduette aus den Operetten. Die "Schlager" schlagen uns tot. Wenn ich irgendwo das

"O du mein Lieschen, Lieschen, Lieschen,
komm' doch ein bißchen, bißchen, bißchen
Auf die Diele,
Denn da ist's kühle"

höre, dann steigt mir schon die Galle ins Blut. Ich denke an das Heideröslein, das fränkische Bauernmädchen zweistimmig abends am Brunnen singen, oder an manchen mehrstimmigen Chor, den ich auf schwedischen Studentenkneipen gehört habe, und ich schäme mich, wie wir unsere alten köstlichen Schätze verludern lassen. "Die Pflege des echten Volksliedes ist das beste Gegenmittel gegen die üble Gassenhauermanie der Norddeutschen", hat der Berliner Chorleiter Professor Ochs erst kürzlich gesagt. Unser Kaiser hat sich schon seit Jahrzehnten mit Feuereifer dafür eingesetzt. Das Kirchenlied hat uns deutsches Wesen über den Dreißigjährigen Krieg hinweggerettet. Das Volkslied kann uns heute, wo das Elend wieder da ist, ähnliche Dienste leisten. Schon gibt es Arbeitergesangvereine, die auf jede politische Tendenz verzichten und reindeutsche Gesangspflege üben. Hier können ausgestreckte Hände hüben und drüben sich fassen und umschließen.
16. Juni 1921 (Donnerstag)


39

Im Lande Phrasien - Republikanische Konjunktur für Dichter - Hauptmanns "Weber" mit echten Säuglingen - Handgemenge im Reichstag - Ach, die neue Bluse! - Adele Schreibers Konterfei - Omama geht tanzen - Der unabhängige Stadtverordnete und sein Dienstmädchen

Friedrich dem Großen genügte es nicht, daß er ein großer Feldherr war. Er ersehnte sich vielmehr Unsterblichkeit durch seine Gedichte, die von der Mit- und Nachwelt ihm als herzlich mäßig bescheinigt werden. Fast alle tüchtigen Monarchen haben ähnliche kleine Schwächen gehabt. Wilhelm II. bleibt, was man auch sonst sagen mag, doch der Schöpfer jener deutschen Flotte, die vor dem Skagerrak die übermächtigen Engländer niederrang und jeden feindlichen Angriff auf unsere Küsten unmöglich machte. Aber stolz war der Kaiser auf die angeblich von der Mutter ererbte künstlerische Ader. Dabei schrieb und sprach er ein äußerst mangelhaftes modernes Kaufmanns- und Zeitungsdeutsch, voll von Inversionen ("und habe ich bemerkt") und falschen Bildern ("Marksteine der Entwickelung"). Nun ist die Flotte dahin. Aber das schlechte Deutsch ist geblieben. Ebert setzt Marksteine, Wirth drischt Phrasen von seinem Kabinett der Erfüllung, Rathenau schiebt Beethoven unter, er habe eine Fuge auf das harte Muß des Ultimatums komponiert. So kommen wir stilistisch in die übelste, verlogenste Gipsstuckatur hinein, wo nur flächenhafte nüchterne Wahrheit uns wohlbekäme. Wir leben in der Republik Phrasien. Im Reichstag hat neulich der Abgeordnete Bazille, der Sohn einer deutschen Mutter und eines bei uns heimisch gewordenen französischen Kriegsgefangenen von 1871, die geistige Unfruchtbarkeit der Zeit an den Pranger gestellt. Diese deutsche Revolution habe ja nicht einmal eine Literatur hervorgebracht! Freilich nicht. Aber auch der beste Roman über napoleonische Elendszeit und deutsche Wiedergeburt, Hans Hoffmanns "Eiserner Rittmeister", den wir jetzt alle, groß und klein, wieder lesen müßten, ist erst von einem Urenkel geschrieben worden, und als köstlich funkelnden Wein, in dem wir endlich die volle dichterische Wahrheit über den großen König finden, hat uns Walter v. Molo erst im vorigen Jahre seinen "Fridericus" kredenzt. Wir müssen also Geduld haben. Gärende Zeiten bringen selten wirklich gereifte Talente. Da kommen ganz andere Blasen an die Oberfläche. Der "Anschluß" ist die Hauptsache, die "Konjunktur" muß erfaßt werden. Im Herbst 1914 erlebten wir es zuerst. Da ist ein Intellektueller mit langer gelber Mähne, der den Kriegsdienst so haßt, daß er eine ganze Nacht hindurch unablässig Zigaretten raucht und starken Kaffee trinkt, um am nächsten Morgen dem Stabsarzt einen Herzklaps vortäuschen zu können. Gleich darauf aber schickt er an alle Prominenten einige von ihm verfaßte, nie wirklich empfundene Kriegsgedichte, in denen wie anno Toback Fahnen rauschen, Trommeln wirbeln, Trompeten schmettern, schnorrt um behördliche Empfehlungen für diese unlebendigen Zehnpfennigartikel und macht durch Massenabsatz der Blättchen ein glänzendes Geschäft. Im Herbst 1918 stellten solche Leute sich eilends wieder um. Der blonde Tolstoi-Apostel und Kriegsdichter ist mir aus den Augen gekommen. Aber derweil hat Bernhard Kellermann, der Tunnel-Prophet, sein Talent an den "9. November" verkauft, ein erbärmliches Machwerk der veränderten Konjunktur, in dem die Leute mit dem umgekehrten Karabiner und dem losen Halstuch über dem offenen Mantel und der roten Kokarde an der Mütze die großen Menschheitshelden sind und der alte General ein Trottel und Schuft. Dem anständigen Neutralen wird es übel von dieser deutschen Nation.

Vielleicht darf man denen, die von der jeweiligen Zeitströmung sich treiben lassen, nicht einmal allzu bittere Vorwürfe machen. Die Kunst geht nun einmal nach Brot. Und es hat keinen Zweck, etwa die Berliner Rotter-Bühnen zu schelten, denn wie der Herr, so das Gescherr, und Herr ist doch schließlich das Publikum. Wo es die Masse ist, da werden Masseninstinkte befriedigt. Das Theater der Fünftausend, Reinhardts Großes Schauspielhaus, hat dafür die feinste Witterung: jetzt, gerade jetzt, mußte es Gerhart Hauptmanns Weber in einer Neueinstudierung herausbringen. Jetzt, wo Hölzl vor Gericht seine Rodomontaden gehalten hat. Jetzt, wo Arbeitslose die Gewerkschaftshäuser stürmen. Wo einst das Deutsche Theater in Dürftigkeit und Enge die Tragödie des stammelnden Dichtermitleids spielte, um dessentwillen wir uns noch heute ehrfürchtig vor Hauptmann neigen, hat heute das Große Schauspielhaus in warenhausmäßiger Aufmachung alles vergröbert und verpöbelt und auf billige Effekte gestellt. Da schleichen nicht einzelne armselige Gestalten heran, sondern da gibt es Bataillone hungernder Weber. Da brüllt Dieterle, als hieße er Ledebour oder Höllein. Da gibt es "echte" Säuglinge auf den Armen der Weberfrauen, die zuerst nur satt und schläfrig in das grelle Scheinwerferlicht der Kunstscheune blinzeln, dann aber, rechtzeitig gezwickt, ganz "echt" zu quäken anfangen. Und wenn es schließlich gegen den Schutzmann Dreißiger losgeht, wenn die hungernden schlesischen Weber (deren geschichtlichen Urbildern übrigens rechtzeitig König Wilhelm I. geholfen hat) die Bude stürmen und buchstäblich alles kurz und klein schlagen, so rast der Beifall der oberen Ringe. Und wenn zehnmal die kommunistische "Rote Fahne" verboten wird, je nun, man geht eben ins Große Schauspielhaus und saugt sich dort voll Blutdunst. Das hat Gerhart Hauptmann nicht gewollt. Sein feiner, alter Schädel mit der hochgebauten Stirn, dieser Goethekopf von 1821, taucht auf der Bühne auf und dankt verschüchtert. Ich denke nicht daran, ihn etwa zu zensurieren. In Björnsons "Über unsere Kraft" gibt es noch realistischere Szenen, da fliegt eine ganze Generalversammlung von Aktionären mitsamt dem von Arbeitern unterminierten Gebäude in die Luft. Das ist anstandslos vor Jahren in Berlin gespielt worden. Unter dem starken Kaiserreich. Aber nun - und das ist mein einziger Vorwurf - wird dieses leise verwehende Elendslied Hauptmanns ganz auf Kraßheit herausgearbeitet, um als Kassenfüller zu wirken. In allen Berliner Fabriken dienen die Betriebsräte als Billetverteiler; das Große Schauspielhaus ist für den Rest des Sommers dadurch gesichert. Häusersprengen ist nun einmal die große Mode. Den Militarismus hat man beseitigt, aber das Faustrecht wird verherrlicht.

Einen "Markstein" bedeutet da die Reichstagssitzung vom 17. Juni, in der ein kommunistischer Abgeordneter mit der Faust auf ein Mitglied der Deutschen Volkspartei losging. Dr. Mittelmann ist ein eifriger Zwischenrufer. Wenn man auf der Rechten mehr von seiner Sorte hätte, würde das als Gegengift mäßigend wohl auf die Schreier der Linken wirken. Aber noch sind sie es nicht gewöhnt, gestört zu werden. Schon in Weimar hat deshalb Scheidemann sich einmal auf diesen Abgeordneten stürzen wollen. In ganz alten Zeiten ist einmal umgekehrt einer von rechts, der Freiherr v. Stumm, einem Abgeordneten von links, dem Freisinnigen Lenzmann, mit erhobener Faust nachgestürzt. Aber zu einem richtigen Handgemenge kam es bisher nie. Und auch diesmal ist das Allerärgste verhütet worden, zum großen Teil dank einer tapferen Frau. Die deutschnationale Abgeordnete Behm, ein stattliches kleines Persönchen mit weißem Scheitel, drängte sich sofort zwischen die Streitenden und "stand"; sie würde man, dachte sie, doch wohl nicht anrühren. Am selben Tage hatte ich Gelegenheit, mit Fräulein Behm zusammenzutreffen. Ich hörte, daß ihr beim Zusammenprall mit einem Unabhängigen eine goldene Busennadel abgerissen sei, die sich allerdings später wiedergefunden habe, und ich fragte sie nach ihren Empfindungen, als sie sich so ins Männergewoge gestürzt habe. "Ach Gott", sagte sie schämig, "ich dachte an die neue braune Bluse, die ich anhabe!" Das ist doch einmal wirklich nett und ehrlich gesagt. Solche Erlebnisse versöhnen auch die Frauenspötter allmählich mit dem ungewohnten Bilde der weiblichen Parlamentarier. Freilich, von der Behm bis zur Zietz und Zetkin gibt es noch allerlei Varianten. Ein ganz klein bißchen eitel sind sie wohl alle. Am meisten hat man in Berlin über die ehemalige Demokratin und jetzige Sozialdemokratin Abgeordnete Adele Schreiber-Krieger gelacht. In dem Probeband des amtlichen Reichstagsalmanachs gefiehl ihr ihr Konterfei nicht. Es wurde auf ihren Wunsch überklebt und eine neue Aufnahme gemacht. Die befindet sich nun in der endgültigen Ausgabe, ist aber noch weniger "vorteilhaft", und da muß nun der Prinzgemahl mobil gemacht werden. Herr Krieger schreibt einen bitterbösen Brief an den Reichstag, weil seine Frau so häßlich abgebildet sei, und - droht mit gerichtlicher Klage!

Man hat es wirklich nicht immer leicht mit dem schönen Geschlecht, sobald es aus dem Hause heraus in die große Arena tritt. Die eine treibt der Ehrgeiz zum politischen, die andere die Mannssucht zum Tanzturnier. Das erhält jung, das ist, nach neuester Lesart, kein losgelöstes Sichwiegen, sondern ernsthafter Sport. Je älter man wird, desto nötiger ist Körperkultur. Also gehen Mutter und Großmutter zusammen, beide in wadenfreiem Seidenkleidchen, zum Turnier. Die Kinder? Chloroformiert sie und hängt sie an die Wand! Dann sind sie ruhig. Warum sollen Mutti und Omama nichts mehr vom Leben haben? Ich kenne etwelche solcher Großmütter in Berlin, die keineswegs etwa dem Kurfürstendamm entsprossen sind. Nein, bester gebildeter Mittelstand. Auch Töchterschuldirektors lernen seit ein paar Wochen Shimmy und Jazz. Und dabei gehört zu dem ersteren doch wirklich allerlei Kraft, nicht nur Gefühl für Sykopen-Rhythmik. Ich versuche mir immer vorzustellen, ob in solchen Berliner Familien das Dienstmädchen, falls eins vorhanden ist, nun wirklich Mutter- und Großmutterstelle an den daheimgebliebenen Kindern vertritt. Die vielen Klagen über die Dienstboten fallen meist auf die Herrschaft zurück. Natürlich muß man seinen Hausgeist sich erziehen, aber Vorbedingung ist doch, daß man das Zeug zum Erzieher hat. Wo man auf eine wirklich tüchtige und vernünftige Frau in einer Familie des guten Mittelstandes stößt, die selber was kann und selber was anfaßt, macht man gewöhnlich auch die Erfahrung, daß alles mit dem Dienstmädchen zufrieden ist und dieses selber mit der Herrschaft. Wer aber nur mit Kenntnissen in Tanzen, Kunstgeschichte, Klavierspiel oder in Tanzen, Putzmacherei, Maschinenschrift in die Ehe tritt und keine Ahnung davon hat, daß Eier durch stundenlanges Kochen nicht weicher werden, der findet allerdings nie das richtige Mädchen. Eine Umfrage in bekannten soliden Familien hat mir ergeben, daß auch in der Großstadt die wirklichen Perlen unter den braven Hausangestellten sich noch häufig finden. Sie verwachsen mit dem Hause. Man muß sich von ihnen erst trennen, wenn sie nach Jahren unleidlich in ihrer Herrschsucht werden. Von der modernen Gesetzgebung, von der Abschaffung des Gesinderechts wollen sie nichts wissen. Sie sind die Perle, und "die Frau" ist die Frau, Punktum. Die vielverlästerte Bourgeoisie hat auch nur selten die Gesindeordnung, die ja sogar zu leichter Züchtigung das Recht gab, mißbraucht. Unsere Roten wußten wohl, warum sie das Gesinderecht stürzten. Ihre eigenen Leute müssen an die Kandare genommen werden. Hält da dieser Tage der Berliner unabhängig-sozialdemokratische Stadtverordnete Freund einen Vortrag in einer Versammlung. Man wirft ihm vor, daß er seine Dienstmädchen roh behandle. Oho! Sofort wird eine Kommission von Parteifreunden in seine Wohnung geschickt und kommt mit der Donna zurück. Ob sie vom Genossen Freund geschlagen worden sei? "Nein!" Allgemeine freudige Entspannung. In diesem Moment aber ertönt eine weibliche Stimme von der Galerie: "Det is keen Wunner, die is erst zwee Dage bei ihm, aber mir hat er jehauen!"
23.Juni 1921 (Donnerstag)



Glossen 34 - 36

Jahresinhalt

Glossen 40 - 42

© Karlheinz Everts