"Rumpelstilzchen"

"Berliner Allerlei"
(Jahrgangsband 1920/21)

Verlag der Täglichen Rundschau / Berlin, 1922

Glossen 34 - 36
18. Mai bis 1. Juni 1921


34

Eine Wrangel-Erinnerung - Wrangels Villa als "Schloßparktheater" - "Timon von Athen" in Steglitz - Der deutsche Shakespeare - Rosenmontags-Offiziere - Vom Pfingstverkehr - Im Boot, im Auto, im Flugzeug

Es war im sogenannten tollen Jahre. Die revolutionäre Bürgerwehr von Berlin hatte dem alten General v. Wrangel gedroht, seine Frau werde an den nächsten Laternenpfahl gehenkt, wenn er mit den königlichen Truppen einmarschiere. Er marschierte unbekümmert ein. "Ob se ihr nu woll uffhängen?", fragte er seinen Adjutanten, lächelte aber dabei ganz vergnügt. Er kannte seine Berliner; er wußte besonders, daß in revolutionären Zeiten der seinen Kopf behält, der ihn nicht selber verliert. Es gibt da immer einen toten Punkt, einen Moment der Lethargie, den man benutzen muß. Im November 1918 war diese Starre über die Staatserhaltenden gekommen, so daß der Umsturz ohne jede Anstrengung im geeigneten Augenblick triumphierte. Im Jahre 1848 hatte umgekehrt Wrangels festes Auftreten die Gegner gelähmt. Also marschierte er ein. Der aufgebauten revolutionären Bürgerwehr erklärte er: "Nanu verduftet!" Und sie verduftete. Frau v. Wrangel war selbstverständlich noch am Leben und blieb es noch lange. In dem schönen Landhaus im Dorfe Steglitz bei Berlin, mitten in einem kleinen Park, hatten die beiden Alten ihren behaglichen Unterstand, und mancher bekehrte Berliner pilgerte später zu ihnen hinaus.

Jetzt ist Steglitz ein Stadtteil von Groß-Berlin geworden. Über Schöneberg und Friedenau bis Steglitz ist es ein ununterbrochenes Gewirr von Häuserwürfeln. Alles die eine Großstadt. Als junger Mensch habe ich in den achtziger Jahren noch eine Aufführung des Schwankes "Das Milchmädchen von Schöneberg" erlebt, und über "Die Millionenbauern von Schöneberg" haben Max Kretzer und andere noch Romane geschrieben. Jetzt ist auch die Erinnerung an die dörfliche Zeit der Berliner nächsten Umgebung, wo am heutigen Nollendorfplatz Getreidefelder sich blähten, den Bewohnern geschwunden. Und auch die wenigen Häuser mit Geschichte machen neuen Mietskasernen Platz oder werden für andere Zwecke umgebaut. Kein einziges Bauernhäuschen bleibt als eine Art Museumsstück erhalten, wie etwa das kleine Stammhaus der Krupps mitten in dem Riesenbetriebe in Essen. Die Wrangelsche Villa, von manchen Leuten etwas übertrieben ein Schloß genannt, muß nun auch eine Umschöpfung über sich ergehen lassen. Sie wird zum "Schloßparktheater" von Steglitz. Vorerst ist das sogenannte kleine Haus eröffnet, das in seiner Raumkunst einem langen Kino-Stall gleicht; oder, wenn man den Mund durchaus voll nehmen will, den Berliner Kammerspielen Reinhardts. Das große Haus ist noch im Umbau begriffen. Mit verhältnismäßig wenig Mitteln hat man hier eine einfach-behagliche Stätte geschaffen, in der die Bewohner der südwestlichen Vororte - Durchschittstyp: gutes altes Beamtentum - zu erträglichen Preisen Kunst genießen können. Auch mancher Snob von Berlin W. rollt freilich hier heran. Von den Leitern des Unternehmens ist einer Dr. Lebede, ein klassisch gebildeter Oberlehrer, der auf ein Jahr Urlaub genommen hat, um Theaterdirektor zu spielen. Das ist kein übles Vorzeichen. Unter den besten deutschen Intendanten befanden sich kunstverständige frühere Offiziere. Und unser Gymnasiarch ist mehr wert als ein Geschäftsmann. Mit Shakespeares "Timon von Athen", dieser Fabel vom Scheiternmüssen jedes Ideologen, ob er nun als Menschenfreund oder Menschenfeind das Augenmaß für Realitäten verliert, ist das kleine Haus eröffnet worden. Eine wohltuende heitere Helligkeit, aus verdeckten Geißlerschen Röhren stammend, erfüllt den Raum; man sieht keinen einzigen Lichtkörper. Ein bayreuthisch völlig unterirdisches Orchester begleitet mit freudig aufgeregten Klängen die Handlung. Eine kleine soufleurkastenfreie Bühne baut sich stufenartig unmittelbar im Anschluß an den Zuschauerraum auf. Es ist alles prunklos und doch festlich. Da der teuerste Platz nur 25 Mark kostet, für die Zeichner eines Gründeranteils von 500 Mark sogar nur die Hälfte, haben wir hier den gelungenen Versuch vor uns, eine Schauburg für jene gebildeten Großstädter erstehen zu lassen, an deren Geldbeutel man nur Biedermeier-, nicht Schieberansprüche stellen darf. Vielleicht bringt das gute Beispiel Nacheiferung; jedenfalls empfehle ich allen nach Berlin Kommenden aufrichtig, sich die Sache einmal anzusehen. Der schlauchartig lange Raum zwingt die Darsteller, ein wenig zu schmettern, etwa wie wir in unserer Jugend Schillers "Räuber" hörten, und ich weiß nicht, ob jedes Stück das verträgt; dieser Shakespeare aber verträgt es sicherlich. Er ist ja so deutsch! Er trägt ja so das Herz auf der Zunge! Er ist ja so wahrhaftig und ausgelassen! Es kann nichts Unenglischeres geben. Die Zugeknöpftheit, das "Wahren des Gesichts", das Nichthineinsehenlassen ist heute das Kennzeichen des englischen Gentleman. Er ist Maske. Geschäftliche, gesellschaftliche, politische Maske; das Ergebnis eines jahrhundertelangen nationalen Drills einzig und allein auf den Erfolg. Das "merry old England" Shakespeares war da ganz anders, noch ganz germanisch. Heute aber wird Shakespeare in England nur noch historisch begriffen, ist er für das englische Theater gute Stube und kalte Pracht, während wir uns in ihm wohnlich fühlen, aus unserer deutschen Seele heraus seine unerbittliche Wahrhaftigkeit, seine sittliche Unbestechlichkeit erklingen hören. Max Trapp hat zu diesem "Timon von Athen" die neue Musik geschrieben. Das dünne Orchesterchen enttäuscht die straußverwöhnten Hörer, läßt aber doch manche überraschende Schönheit wirken. Im Vorspiel, in dem Tanz der fünf Sinne, in dem Tanz der zwei Hetären, in den Zwischenakten gibt man sich wohlig dieser Musik hin. Man sieht nur tief befriedigte Gesichter. Es wird so viel geboten. Shakespeare in seinem furchtbaren Ernst und in seiner derben Schalkhaftigkeit; beschwingte Musik und klassisch leichter Tanz; da zu ein Timon (Rudolf Klix) von mitunter prometheischer Kraft, ein Lucullus (Hugo Schuster) von einem prachtvollen Falstaff-Humor, und eine Reihe weiterer Darsteller von mehr als Durchschnittsmaß.

In Berlin selbst ist das Theater derweil ganz sommerlich geworden. Zum Teil werden alte Ladenhüter hervorgesucht, die vor zwanzig Jahren ihr Publikum hatten. Mit tiefem Erschrecken kann man da mitunter sehen, welchen Anteil auch die Bühne daran hat, daß unsere Demokratie im Weltkriege unseren sogenannten Militarismus entwaffnete. In England ging vor dem Kriege kein anständiger Mensch in eine Gastwirtschaft, in der Militär verkehrte; aber auf der Bühne, in der Presse, in den Music-Halls wurde Tommy Atkins verherrlicht. Und bei uns? Der gute Otto Erich Hartleben, dessen eigener Bruder aktiver Offizier gewesen ist und ihm die Idee des Stückes und manche Einzelheit gegeben hat, schrieb seinen "Rosenmontag", der jetzt wieder in Berlin aufgeführt wird, freilich nicht etwa nur zur Freude des demokratischen Tiergartenpöbels, der ihm die Logen füllte. Aber es ist erschütternd, über die Neueinstudierung des Stückes jetzt in dem Berliner Organ der Unabhängigen zu lesen, was es enthülle:

"Das Offizierkorps entpuppt sich als eine Bande schwachsinniger Halunken. Unter dem Dutzend Offizieren, das Hartleben auf die Bühne stellt, ist nicht ein einziger auch nur halbwegs wertvoller Mensch. Das Stück beweist, daß das Offizierkorps vor dem Kriege die Kloake der Nation war, in der sich Dummheit, Brutalität und Unmoral zu einer Atmosphäre von wahrhaft teuflischem Gestank vereinigten."

Selbstverständlich "beweist" ein Theaterstück, das von einer Kölner Fastnacht handelt, gar nichts, und Hartleben wollte auch gar nichts beweisen, sondern hat nur den rein menschlichen Rosenmontags-Menschen, wie er sie sah, Uniformen angezogen, ohne an Verhetzung zu denken oder sie auch nur zu ahnen. Er hatte als Dichter keine Ahnung davon, welche politischen Wirkungen davon ausgingen. Zu Beginn des Weltkrieges lernten dann alle um. Sie begriffen, daß wir doch ein Volksheer haben, und jeder junge aktive Leutnant wurde vergöttert. Nun ist die Armee zerschlagen. Der neueste Erlaß der Entente nimmt ihren Fahrradkompagnien sogar die Fahrräder, weil sie eine arge Bedrohung Europas bedeuteten. Und über den Trümmern dieses prachtvollsten aller Heere - steigt der "Rosenmontag" am Horizont wieder empor. Nur eines ist dabei verblüffend. Das Publikum wandelt sich wieder. Heute ist Hartlebens Tragödie wahrhaftig zu einer Feier für das alte Offizierkorps geworden: der größte Beifall der in der Erinnerung hingerissenen Zuschauer erbraust, als die Leutnants fröhlich im Stechschritt - diese alten lieben preußischen Gliederpuppen - in das Kasernenzimmer marschieren. Da werden dem Publikum die Beine elektrisch. Da rühren sich die klatschenden Hände.

Nun haben wir keine allgemeine Wehrpflicht mehr. Nur noch auf Turn- und Wanderfahrten gibt es, neben sonstigem Sport, ein körperliches Ausleben. Zu Pfingsten hat sich auf allen nur denkbaren Vehikeln ein Völkerstrom aus Berlin ergossen, über die Mark, in den Spreewald, bis zum Brocken und bis zur Bastei. Auf den vielen Wasserstraßen ein Gewimmel von Booten auf Wanderfahrt, und zwar nicht nur geklinkerte Halbausleger, sondern auch richtige Rennboote. Darin prachtvoll sehnige, braungebrannte Gestalten, denen man schon das Training für Grünau ansieht, auch die straffe Enthaltsamkeit gemäß dem alten Ruderergesang:

Schwöre ab dem Monopole,
Schwöre ab dem Alkohole,
Und vor allem, sei's, weil's muß,
Schwöre ab dem Weiberkuß
Und der Aphrodite!

Dabei ist's zu Pfingsten auf dem Wasser bei Berlin wirklich kaum mehr schön, ein Gedränge, wie bei Wertheim vor Ladenschluß, und im Handumdrehen hat man jemand angeeckt und sich den Bug aufgerissen, oder der Schlagmann "fängt einen Krebs", und die ganze Mannschaft, einschließlich des kleinen Steuermanns in der feinen Sonntagskluft, liegt im Wasser, das Mitte Mai noch gewaltig erfrischend ist. Daß die Berliner Wandervögel ganz Mitteldeutschland überschwemmt haben, ist selbstverständlich. Nur ein kleinerer Teil blieb in der Nähe und studierte außer der Natur auch die Geschichte in Brandenburg, Rathenow, Tangermünde und den anderen kleinen Städten der Mark, deren Wachttürme und Kirchen so unendlich viel reizvoller sind als das nahezu geschichtslos amerikanische Groß-Berlin. Die ganz Feinen machten eine Gesellschaftsreise im Auto: pro Tag, "alles einbegriffen mit Ia Verpflegung", 500 Mark. Und die ganz, ganz Feinen entflohen Berlin im Flugzeug. Irgendwohin. Egal. Bis Dresden 250 Mark. Dann wird man schon weiter sehen. Ein Bayer sagte mir einmal im Felde, ich solle einen Satz mit "immerhin" bilden. Und als ich ihn fragend ansah, antwortete er, der selber Kommandant eines Riesenflugzeuges werden sollte: "Wannst in ein Riesenflugzeug steigst, bist immer hin!" Immerhin: das war einmal. Heute geht es im Riesenflugzeug mindestens so sicher über Deutschland, wie ehedem im gelben Postwagen.
18. Mai 1921 (Mittwoch)


35

Die brennendste Frage - Der "Blonde Engel" im Komödienhaus - Einstein und Rabindranath bei Ministerialrats - 1921 und 1821 - Das Königliche Schauspielhaus - Die Große Kunstausstellung ein Pandämonium - Kein Humor mehr - Beim "groben Gottlieb"

"Wo haste denn dein Knopfloch?"
Dumme Frage, sagen Sie? Das wüßten Sie alleine, sagen Sie? Aber alle Ausreden helfen Ihnen nichts. Es ist nichts so dumm, als daß es nicht in Berlin als Frage gestellt werden könnte. Solche Frage werden zur Epidemie. "Ham Se nich den kleinen Kohn gesehn?", wurde vor zwölf Jahren jeder arglos Daherwandelnde von fast jedem Begegnenden angefaucht. "Mensch, was haste vor 'ne Weste an, sie hat ja keen Fassong?" hieß es einige Jahre später. Und jetzt trällert jede Großstadtmaid, die Ihren Weg kreuzt, sofort die Schicksalsfrage: "Wo haste denn dein Knopfloch?" Vielleicht taucht Ihnen eine Erinnerung an Goethes Spruchweisheit auf. Da heißt es einmal, wer das erste Knopfloch verfehle, der knöpfe die ganze Reihe falsch. Also Sie sehen bestürzt an Ihrem Angbongpoängchen hernieder. Nein, die Weste sitzt! Also, was will das Fräulein von Ihrem Knopfloch? Ja, da müssen Sie in den "Blonden Engel" im Komödienhaus gehen. In dieser Sommeroperette - Sie lachen sich kaputt, vastehnse? - gibt es die berühmte "Schwipsszene", es wird gesungen, getrunken, gekräht, getanzt, und da kommt denn auch das Stichwort: "Wo haste denn dein Knopfloch?" haben Sie es nun endlich? Ich meine: begriffen? Also wenn nicht, so gehen Sie hin an den Schiffbauerdamm. Sie haben in Ihrem Leben ja noch lange nicht genug Blödsinn gesehen und müssen ihn am Entstehungsort studieren. Morgen oder übermorgen grassiert das unentdeckte Knopfloch vielleicht schon in Kyritz. Und Sie wollen doch nicht rückständig sein?

Die Operetten tragen ja so ungemein zur Belebung unserer Konversation bei. Man kann doch nicht immerzu in tragischem Schweigen an dem Strohhalm in der Eisschokolade saugen. Also wird man neckisch und singt dem Begleiter oder der Begleiterin die Frage nach dem Knopfloch ins Ohr. Das eröffnet die weitesten Durchblicke. Was kann man sich "nicht alles bei denken"! Aus abgerissenen Coupletstrophen besteht ja der größte Teil unserer Bildung. Darum heißen wir die Dichter und Denker. Manch einer oder manch eine tut ja freilich so, als wüßte man mehr. Da habe ich jüngst bei dem Herrn Ministerialrat zu tun, November-Ausgabe natürlich, und Frau Ministerialrat, mit der ich nichts zu tun habe, rauscht herein, um Rumpelstilzchen mit Geist und Erdbeertörtchen zu füttern. Ich habe die Frau nie gesehen und werde sie hoffentlich nie wiedersehen. Sie starrt mich an und sagt schließlich: " Die Einsteinsche Relativitätstheorie, großartig, nich?" Woher sie denn davon wisse, frage ich ehrfürchtig. Ja, ihr Mann, der Herr Ministerialrat, habe ihr "viel von erzählt". Donnerwetter, alle Achtung. Ich gestehe ehrlich, daß ich zwar, was von zehntausend Deutschen noch nicht einer getan hat, den ganzen Versailler Friedensvertrag mit seinen 440 Artikeln und zahlreichen Anhängen durchstudiert habe, um mir Klarheit darüber zu verchaffen, wohin unser Weg gehe, auch daß ich einiges von Goethe und Wagner und Bismarck und Ernst Moritz Arndt gelesen habe, aber für die Relativitätstheorie sei ich wohl zu dumm. Meine einzige geheime Hoffnung sei, daß nach einem Jahre kein Mensch mehr von ihr sprechen werde. Wie es ja wohl auch Friedmanns Tuberkulosemittel und Steinachs Verjüngungsdrüsen gehen werde. Aber wenn der Herr Ministerialrat sich vielleicht die Mühe geben wollte, auch mich aufzuklären? Er wurde sehr rot, der Herr Ministerialrat. Dann machte er eine großartige, weltumfassende Armbewegung. Dann schickte er seine Zunge ins Hindernisrennen und stolperte einige Sätze. "Also alles ist relativ, nich? Also Sie denken, Sie sind schon mal an diesem Ort gewesen, wenn Sie uns mal wieder besuchen, nich? Inzwischen ist aber die ganze Erde doch ganz wo anders im Weltenraum, nich? Also alles ist relativ, nich?" Dann machte er von neuem seine Armbewegung. Dann sagte er, durch Einteins fabelhafte Entdeckung sei das Newtonsche Gesetz der Schwere aufgehoben. Nich? Zum Schluß waren wir alle drei so dumm wie zuvor. Da rettete wieder einmal die Frau Ministerialrat uns aus der bedrückenden Situation. "Aber der Rabindranath Tagore, großartig, nich?" Und nun erwarteten die Herrschaften von mir, denn Literatur sei doch schließlich mein Fach, ein geistiges Wannenbad. Ich habe sie schwer enttäuscht. Ich sagte ihnen, Schillers "Wilhelm Tell" sei mehr wert als alle orientalische Weichmäuligkeit, und man könne ruhig als gebildeter Mensch sterben, ohne Tagore auswendig zitieren zu können oder ihn in Halbleder auf Bütten zu besitzen. Wenn er nicht so gelblich aussähe und aus Indien stammte, sondern Piefke hieße und in Stallupönen geboren wäre, so würde kein Mensch in Deutschland nach ihm fragen. Auch wenn sein Name etwa Mbeletschwischi lautete, wären 90 Prozent seiner Berühmtheit dahin. Aber Rabindranath Tagore, das hat erstens Rhythmus und zweitens ein dreimal rollendes dramatisches r, und das macht sich so gut bei Geist und Erdbeertörtchen. Das ist mein voller Ernst. Aber Ministerialrats hielten es für Ulk; alle Welt glaubt, ich wolle sie zum Narren halten, wenn ich ihre Narrheiten nicht mitmache.

Die Berliner von 1921 leben in einem Papageienzeitalter. Alles schwatzt nach, was einer vorgebetet hat. Die Zeitung nimmt einem das bißchen Denken nachsichtig ab und unterrichtet einen prompt und verhältnismßig billig nicht nur über Rabindranath Tagore und Professor Einstein, sondern auch über den Grafen Keyserlingk und seine Schule der Weisheit, über den Dieselmotor, über das Land Ophir, über Expressionismus in der Musik, über die Intelligenzprüfung der Schimpansen. Die Berliner von 1821 waren die reinen Waisenknaben gegen uns, denn damals waren die Zeitungen kleine Quartblättchen mit wenigen Nachrichten, man entbehrte also die väterliche Einführung in jeglichen Geist und jegliches Wissen und mußte mühsam selber sich seine Bildung aufbauen; so saß man denn stundenlang bei Talgkerzen und dünnem Tee beieinander und las gemeinsam Klassiker oder Werke über Geschichte oder Länder- und Völkerkunde. Es gab auch noch kein Komödienhaus mit einem blonden Engel und noch zwölf andere Operettentheater. Aber das große Königliche Schauspielhaus am Gendarmenmarkt war von Schinkel gerade neu auferbaut und mit ein paar prachtvollen Begleitworten Goethes eingeweiht worden. Jenes Zeitalter Friedrich Wilhelms III. kommt uns karg und nüchtern vor. Wir vergessen, daß unter diesem König auch die Berliner Universität entstand, an der der anderswo verbannte Freigeist Fichte lehren konnte. Keine der neun Musen blieb den sandigen Marken fern. Nur war Terpsichore damals bekleideter als heute, und Klio war noch nicht zur Parteisekretärin ernannt. An diesem 26. Mai hat das nun nicht mehr Königliche, sondern "Staatliche" Schauspielhaus die Hundertjahrfeier seiner Erneuerung begehen können. Dieses Haus hat niemals Epoche gemacht, ist kein Meiningen, kein Moskau, kein Bayreuth gewesen, hat auch nie einen Reinhardt gehabt, aber in bürgerlicher Wohlanständigkeit und Stilreinheit von Geschlecht zu Geschlecht die Schätze namentlich unserer klassischen Periode hinübergerettet, hat die größten deutschen Darsteller des Jahrhunderts auf seinen Brettern erzogen, hat Wildenbruch zum Durchbruch verholfen und stellt noch heute Gustav Freytags "Journalisten" neben Lessings "Minna von Barnhelm" in einer mustergültigen und fast unnachahmlichen Aufführung hin. Augenblicklich, in unserer wirren Zeit, wo die Namen Jeßner und Jacobsohn mehr gelten als Hülsen und Hochberg, befindet sich das Schauspielhaus leider mitten im Experimentieren. Jedes Publikum hat schließlich das Theater, das es verdient, und wenn wir eines Tages wieder ein kunstverständiges, nicht bloß ein zahlendes Publikum besitzen sollten, wird auch die Bühne wieder zu einer gewissen künstlerischen Stetigkeit kommen.

Schier hoffnungslos dagegen scheinen Malerei und Bildhauerei zu entarten. Seit einigen Tagen ist die diesjährige Große Kunstausstellung in dem Glaspalast am Lehrter Bahnhof eröffnet, und hin und wieder sieht man mit allen Anzeichen der Verstörtheit ein paar Besucher durch die Riesensäle wanken. Es ist im Vergleich zu früher erschreckend leer, es fehlt nicht nur an Käufern, sondern auch an Beschauern. Als die alten Römer skeptisch geworden waren und eigentlich an nichts mehr glaubten, bauten sie "allen Göttern" aller Religionen ein Pantheon. Die jetzige Berliner Kunstausstellung ist auch solch ein Pantheon; sie ist nicht nur, wie früher, für die "akademische" Malerei und Bildhauerei da, sondern hat ihre Räume auch für die freie Sezession und sogar die völlig zügellose Novembergruppe weit geöffnet. Eigentlich ist es kein Pantheon mehr, sondern ein Pandämonium. Das einzig Tröstliche ist der überall mit einem deutlichen Pfeil angebrachte Hinweis auf die Notausgänge. Nur sollte man auch eine größere Zahl von Stühlen und Bänken für solche Leute aufstellen, denen angesichts dieser allerneuesten Kunst so plötzlich schwach wird, daß sie einen Ausgang nicht mehr erreichen können. Wir sind ja schon seit Jahren an allerlei Farbendelirien von Nichtskönnern gewöhnt. Wir wundern uns nicht mehr, wenn unter einem regellosen Gemenge von grellbunten Quadraten, Kreisen, Dreiecken, Bogen als Unterschrift steht: "Sinn der Mütterlichkeit". Oder wenn eine Skulptur, die einen kleinen Holzzaun und ein paar hölzerne Morgensterne in einer unerklärlichen Verschlingung zeigt, mit "Geste Freiheit" benamst wird. Die Allerneuesten geben sich gar nicht mehr die Mühe, dem Beschauer zu sagen, was es sein soll, was da vor ihm steht oder hängt, denn beim besten Willen wissen sie es selber nicht. In den Katalog wird einfach gedruckt: "Bild". Sonst nichts. Als Karlchen Mießnick noch nicht die Quarta erklommen hatte, sondern noch in der ersten Vorschulklasse saß, tippte er den Daumen in Mutters Johannisbeertopf, fuhr mit dem roten Finger auf einem weißen Bogen daher, spuckte darauf und goß schließlich Tinte darüber. Und als Karlchen Mießnick dann gefragt wurde, was das sei, sagte er: "Och, - Bild!" und schwieg sich über das Weitere aus. Willy Breest, Rudolf Möller und andere Beschicker der Großen Kunstausstellung haben sich zu dieser Simplizität hindurchgerungen. Mag doch das verdammte Publikum darüber grübeln, was das Bild darstellt. Heinrich v. Boddien nennt ein Gequirl farbiger geometrischer Figuren "Ja oder Nein". Otto Möller beklext etliche Schock bunter Quadrate mit den Worten "Café", "Zigarren", "23a", "Ullstein", "Hotel", "Manoli" und ähnlichem Durcheinander und Übereinander und schreibt darunter :"Stadt". Wenn jemand zum erstenmal in der Stadt ist, sich eine kolossale Bettschwere antrinkt und dann sich auf sein wild kreisendes Lager fallen läßt, so mag allerdings im Moment des Einschlafens die Stadt ihm so erscheinen. Von Hans Braß ist ein "Wald" da: ein kristallinisches Gemenge mit ein paar senkrechten Strichen dazwischen. Das ist alles bloß verrückt. Professor Dr. Weygandt von der Psychiatrischen Universitätsklinik in Hamburg weist in einer verblüffenden Studie unwiderleglich nach, wie nahe verwandt die futuristische Kunst mit den Schöpfungen seiner Geisteskranken ist. Epilepsie, beginnende Paralyse, angeborener Schwachsinn, Paranoia, Dementia praecox haben jede für sich ihre bestimmten Ausdrucksformen in verzerrten, bruchstückhaften, symbolistischen, lallenden, kontrastreichen, ideoplastischen Bildern. Man ist überrascht, daß man diese Zeichnungen aus dem wirklichen Irrenhaus in Serien gliedern kann, deren jede in irgendeine moderne Malrichtung paßt. Die Schematisierung anatomischer Unmöglichkeiten ist besonders auffallend. Nur macht Professor Dr. Weygandt allerdings eine bezeichnende Einschränkung. Er schreibt von der Ausstellung eines Malers in Berlin, die u.a. ein Selbstbildnis aus einem Stück Brot mit Knopf als Auge und Seife als Nase zusammengesetzt aufweist, daß mit so etwas doch wohl kaum ein Idiot sich zu brüsten wagen werde. Was für Idioten sind dann aber erst die Bewunderer der neuesten Kunst? Eine Gedächtnisausstellung für Max Klinger läßt einen im großen Mittelraum ein wenig aufatmen. Auch anderswo gibt es noch ein paar wirkliche Bilder oder Skulpturen. Aber die Masse des gequollenen Unsinns ist so groß, daß alles Übrige erstickt wird, ja sogar bis in die Abteilung für Architektur reicht die Ansteckung. Der ganze Kunstbolschewismus ist vollkommen undeutsch, ist uns von fremdstämmigen Händlern und Kritikern aufgeschwatzt und aufoktroyiert, endet auch wohl in der gleichen Kulturzertrümmerung wie das politische Werk der Lenin und Trotzki, aber unsere Halbgebildeten wollen eben nicht durch Ablehnung auffallen, finden nicht einmal den Mut zu einem einzigen befreienden Gelächter. Kunst kommt von Können, sagen die Altmodischen. Kunst ist die Nuance, heißt es heute. Und die allerneueste Nuance ist eben: meschugge.

Vergeblich schaut man sich nach dem guten alten Berliner Humor um, der sonst so schnell alles Verstiegenen Herr wurde, von der Rockhose bis zu den Damenbeinen mit daraufgemaltem Strumpf. Der Schusterjunge mit den spöttisch geschürzten Lippen ist allenfalls in ganz alten Jahrgängen der Fliegenden Blätter zu finden, nicht mehr im Leben, und der Bürger ist in den letzten Jahren grämlich geworden. Ein etwas hypertropher Alt-Berliner Humor ist nur noch kaserniert in der Jägerstraße in den sogenannten Original-Bauernschänken zu entdecken. Das wirkliche Original ist längst tot. Das war jener "grobe Gottlieb", der 1897 auf der Berliner Gewerbeausstellung in dem dort aufgebauten Alt-Berlin die erste Bauernschänke betrieb, eintretende Besucher beim Kragen packte und fragte: "Also du oller Dussel willst wohl Bier haben? Haste denn ooch das nötige Geld?" Er zog in die Jägerstraße, hatte einen Massenbesuch und machte ein ulkiges Raritätenkabinett auf, dessen sprudelnd launiger Erklärer er war. Im Keller der vier oder fünf heutigen Bauernschänken, "2200 Millimeter unter der Erde", findet es sich noch heute, nur ist aus dem mittelalterlich derben Humor inzwischen derbe Neu-Berliner Zote geworden, die für anständige Leute selbst in ausgelassenster "vorgerückter" Stimmung kaum mehr genießbar ist. Wer bei leidlich harmlosem Witz und behaglicher Grobschäuzigkeit sich erholen will, der bleibt lieber oben im Bierstübel, läßt sich und seine Damen von den in Zipfelmütze und Bauernwams bedienenden Burschen duzen, macht das Tschingtara und den ganzen Trubel fröhlich mit, gießt im Handumdrehen erhebliche Mengen Münchener Bieres hinter die Binde und vergißt auf eine Weile die Novembergruppe und Oberschlesien und Rabindranath Tagore und die Kriegsverbrecher-Prozesse. Es tut heute nichts so wohl, als einmal vergessen zu können. Tschintara Bum Bum. Bier her oder ich fall' um.
25. Mai 1921 (Mittwoch)


36

Bei unseren Großstadtbauern - Freibad Wannsee - Strandindianer - "Kindchen leih mir dein Mündchen . . ." - Dirndlkostüme - Man reißt sich um Tagore - Dichter und Denker - Otto Sommerstorffs Abschied

In den Laubenkolonien rings um Berlin reift der Segen. Vater steht tagsüber am Schraubstock, Mutter am Waschtrog, das Göhr wenigstens vormittags vor der Schultafel. Aber lange ehe die Sonne hernieder ist, stehen alle drei auf "ihrem Land", flicken am Drahtzaun, häufeln die Erde auf den Beeten, brutzeln Bratkartoffeln auf dem Spirituskocher, begießen sorgfältig jedes Pflänzchen und freuen sich schon auf das luftige Schlafen in oder vor der Laube nach des Tages Last und Hitze. Die Zahl dieser unserer Großstadtbauern nimmt immer noch zu. Der Arbeiter, der Kleinbürger ist immer noch in starker Mehrheit. Aber von Jahr zu Jahr schieben sich auch mehr Akademiker, höhere Beamte, Lehrer und Richter ein. Es gab eine Zeit, wo man an den Fahnenstangen der Lauben nur rote Läppchen sah. Aber neue Kolonisten kommen mit Schwarz-weiß-rot, und siehe da, bei den alten verschwindet hier und dort der rote Fetzen, und es tauchen die deutschen Farben auf. Man hat es als kleiner Mann früher allein nicht gewagt. Jetzt ist die Unterstützung da. "Un so anstännige Leite, diese Doktersch, janich stolz, janich von de richt'ge Burschasie!" Die Nachbarn werden miteinander bekannt, man trifft sich auch in der Bude des Generalpächters, wo man sich eine Berliner Weiße und anderes Getränk erstehen kann. Nun ist Erdbeerzeit. Schuhmachers laden Staatsanwalts zur Bowle ein, Oberlehrers traktieren Drehers mit Torteletts. Man spricht nicht von Politik, sondern von Landwirtschaft, dieser Quadratmeter-Landwirtschaft der Großstadtmenschen. Allenfalls auch von Kunst, was so für unsere Laubenkolonisten Kunst ist, nämlich vom Kientopp. Da ist von irgendeiner modernen Filmtragödie die Rede. "Wenn ick meine Olle mit ein' andern betappen täte," sagt Vater Schmudicke, "dann jäb's ne Leiche!" "Aber Herr Schmudicke," erwidert Frau Geheimrat entsetzt, "Sie würden Ihre Frau doch nicht erschießen?" "I wo wer ick," versetzt er schmunzelnd, "aber ick selber, ick lachte mir dot!"

Wer keine Laube oder keinen Anschluß an einen Laubenkolonisten hat, der sucht in diesen glutheißen Tagen seine Erholung im Freibad. Auch das gibt es in unserer seenreichen Gegend rings um Berlin in jeder Himmelsrichtung. Die Freibäder heißen so nicht etwa deshalb, weil sie kein Geld kosten; nein, eine halbe Mark ist das Mindeste, was der bloße Eintritt kostet. Sondern man badet am "freien" Strande, nicht in einer geschlossenen Schwimmanstalt. Es gibt Freibäder, die sogar 5 Mark Eintrittsgeld verlangen, aber alle sind überfüllt, und selbst die billigsten werfen dem Pächter in einem heißen Monat gering gerechnet 200 000 Mark Reingewinn ab. Die herzuströmende Menge ist eben ganz ungeheuer groß. In dem ältesten Freibad, am Wannsee, fühlt man sich wie im gestopften Konzertsaal. Obwohl der unendliche Himmel über uns ist und Wald und Wasser als Filter wirken, ist die anthropingeschwängerte Luft drückend, will der Menschendunst nicht verfliegen. Wer nur einmal zu Studienzwecken hierher kommt, dem schlägt der Dunst wie ein Hammer gegen den Schädel. Aber das wimmelnde Bild nimmt die Sinne bald allein gefangen. Es ist trotz allem doch das große Aufatmen. "Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!" so fühlt es der der Großstadt entronnene Berliner. Auch Menschliches-Allzumenschliches ist natürlich damit verbunden, aber doch scheint die schlimmste Zeit, die der Revolution auch des Minimums an Sitte, überwunden zu sein. Wir dürfen nicht vergessen, daß es in der "ehrenfesten" alten Zeit, zu Ausgang des Mittelalters, in den Badeanstalten der deutschen Städte viel orgiastischer zugegangen ist; wer die Einzelheiten unserer Kulturgeschichte kennt, rümpft über die heutigen Freibäder nicht mehr die Nase. Jedes Freibad hat seine besonders geschätzten Stammgäste. Das sind die Strandindianer, die kupferrot oder kaffeebraun einherwandeln, meist Männer in schon vorgerückten Jahren, die für das sonstige Treiben keinerlei Teilnahme bezeigen, einsame Sonnengänger, deren Haut stellenweise die Narben richtiger Brandwunden weist. Sie sind die olympische Ruhe selbst. In Aufregung geraten sie nur, wenn sie jemand erblicken, der noch um eine Schattierung brauner zu sein scheint. Da ist der ganze Ruhm in Gefahr! Es ist putzig mit anzusehen, wie diese Konkurrenten in weitem Bogen einander umschleichen. Die große Menge aber ist natürlich Jugend, Jugend beider Geschlechter. Da spritzt und kreischt es im durcheinandergequirlten warmen Wasser, in dem kein Tropfen "unbebadet" bleibt, so daß die nicht in Gesellschaft Gekommenen, die Unbeweibten oder Unbemannten, "die da wie die Flamingos lange Stunden stehen in flachen Teichen", kaum ihr ruhiges Plätzchen finden. Da wird am Strande Drittenabschlagen oder Schinkenkloppen oder Faustball gespielt, da werden Gewichte gestemmt, da sieht man schlanke Jünglinge die Kippe an Reck und Barren üben. Babys torkeln und quäken dazwischen, kleine Buben rennen gegen dicke Bäuche, Mütter mahnen, Väter fluchen, Töchter kauen Butterstullen. Hie und da liegt auch versonnen ein Pärchen, sie auf dem Bauche, das Kinn auf die Arme gestützt, er auf dem Rücken, die "Klampfe" spielend. Leise zirpt es und summt es. Irgendeine Melodie aus dem "Regimentspapa" oder sonst einer alten Operette.

"Kindchen,
Leih mir dein Mündchen,
Ein Viertelstündchen . . ."

Drüben in der Gegend der Pfaueninsel, gen Potsdam, küßt die rotgolden versinkende Sonne die Kiefernwipfel. Der weiße Strand wird bunt überhaucht. Nun bimmelt auch energisch die Glocke im Freibad und verkündet den Schluß. Vollgetrunken mit Sonne und mit Poesie, was so für das Jungvolk der Großstadt eben Poesie ist, machen sich die Wannseegäste auf den Heimweg. In der Eisenbahnquetsche wird es noch einmal so recht "gemütlich". Pärchen, die ihr Glück beisammen ließ, schwitzen einträchtig und selig, Getrennte stöhnen, Kinder heulen über ihre schmerzende Haut, auch den Strandindianern, die im Freibad selbst so trocken blieben wie eine Mumie im Völkermuseum, stehen die Wasserperlen auf der braunen Glatze, und jedermann sehnt sich - nach der nächsten Fahrt zum Freibad.

Wenn dann auf dem Berliner Wannseebahnhof die Wagentüren aufschlagen und die Menge herausquillt, jappt alles nach Luft und wundert sich, daß die übrige Menschheit es in dieser Asphaltwüste ausgehalten hat. Und ihr weiblicher Teil noch dazu geschnürt, mit einem Pelztier um den Nacken und in Stöckelschuhen. Aber ganz allmählich beginnt dieses gewohnte Bild in den letzten Monaten sich doch zu verändern. Das schlichte Dirndlkleid setzt sich durch. Früher liefen nur Kinder darin allenfalls herum, und die ihnen begegnenden Großen fanden dies in Hörweite herzig und erklärten außer Hörweite, daß es geschmacklos von Lehmanns sei, ihre Kinder so mit dem vorjährigen Aufenthalt in Tegernsee oder Oberstdorf protzen zu lassen. Jetzt tragen Dirndlkleider junge Mädchen nicht nur, sondern auch Damen im gefährlichen Alter, und nicht nur solche, die allsommerlich in die Berge gehen, sondern gerade die Ärmeren, bei denen es kaum bis zum Elbtal reicht. In Berlin ist jetzt ein Wort im Umlauf, das lautet: "In der 1. Klasse fahren die Leute, die mein und dein verwechseln, in der 2. solche, die mir und mich verwechseln, in der 3. die, die früher vierter fuhren, in der 4. - wir!" Und diese letzteren sind nicht dünn gesät, haben vielfach ihre Abiturientenprüfung gemacht und tragen Dirndlkleider. Die sind kleidsam und billig und entsprechen der Lage, in der sich binnen kurzem fast das ganze deutsche Volk befinden wird. Man muß aus der Not immer eine Tugend machen. Während des Krieges erzählten die Modeblätter viel von einer "deutschen Tracht", und doch waren die kurzen Röckchen "mit Wasserfall" und das übrige Gehänge nur Kopien nach heimlich eingeführten Pariser Mustern. Nun haben wir die deutsche Tracht: das Dirndlkleid. Wer allerliebst aussieht, der sieht auch darin allerliebst aus. Wer Geld hat, mag weiter Worth-Modelle tragen. Nur sollte man zum Dirndlkleid nicht Florstrümpfe und Brillantschmuck anlegen.

Die Niederländer, die gegen die Fremdherrschaft kämpften, wurden spöttisch "Geusen" genannt, Bettler. Sie nahmen das freudig auf. Es wurde ihr Ehrenname. Auch die Tracht "à la boche", das Dirndlkleid, wird vielleicht noch einmal berühmt werden. Wenn es nur etwas Eigenes ist, Tracht oder Schrift oder Sitte, so ist es schon gut. Aber nur die Not bringt die törichten Deutschen zu Anerkennung des Eigenen. Im übrigen laufen wir mehr wie je allem Fremden nach. Ist das ein Getue jetzt mit Rabindranath Tagore! Außer den Angehörigen der Universität waren zu seinem gestrigen Vortrag über Mittag in der großen Aula nur Ehrengäste, Landsleute, Pressevertreter, Abgeordnete, Minister geladen. Aber jeder einzelne, der eine Karte hatte, wurde darum bestürmt. "Ich halte jeden Preis!", schreit es aus dem Haufen der Belagerer. "Einen braunen Lappen!", gellt eine andere Stimme. Die Gattin sitzt derweil in ihrem Luxusauto drüben in der Behrenstraße und wartet auf den Erfolg der Bemühungen ihres Mannes. Nicht dabei gewesen zu sein, wo etwas los war, wovon alle Welt spricht, ist in Berliner westlichen Salons doch eine Schande. Aber wie soll man sich für die Tagore-Matinee eigentlich anziehen? Muß man nicht seine Bildung etwas orientalisch schon in der Kleidung betonen? Könnte nicht die Putzmacherin schnell aus etwas Voile und Brokat einen Turban zusammenstecken, auf dem man einen Reiherstutz mit Brillantagraffe anbrächte? Kein Heiland hatte je so viel Zulauf von Magdalenen. Sehr beleibte Magdalenen. Die kreischten dann auf, wenn der Keil der Nachdrängenden sie mit eckigen Studenten zusammenpreßte. Am Ende gar, fi donc, mit Zaungästen, die keine 1000 Mark berappt hatten. Der Saal, die große Empore, die Gänge sind alsbald gesteckt voll, Ellenbogen arbeiten, Frisuren fließen dahin, Druckknöpfe springen auf, Ohnmachtsanfälle mehren sich -, schließlich muß die Schutzpolizei gewaltsam Luft schaffen. Endlich erscheint "mit großem Vortritt" und so ehrfurchtsvoll von unseren Gelehrten begrüßt, daß nur noch die Palmwedel vom Jerusalemer Einzug fehlen, der Inder und spricht englisch zu den Deutschen. Es ist nicht gerade Pidgin-Englisch, aber doch ein Englisch, das nur der ganz versteht, der einmal einen indischen Boy als Windfächler oder Zigarettenanzünder in seinen Diensten gehabt hat. Rabindranath Tagore spricht nicht, sondern singt geradezu seinen Vortrag, in dem er Abkehr von der Welt des Kampfes und der hohen See und statt dessen Einkehr in seelischen Waldfrieden predigt. Kaum der zehnte Zuhörer versteht etwas davon; man verläßt sich darauf, daß es schon in der Zeitung stehen werde. Aber aller Blicke verschlingen die edle Erscheinung dieses Mannes, der in seinem grauseidenen langen Chalat hinter dem Pult emporragt. Es ist doch eine schöne Rasse. Ich kenne sie von Reisen und von den indischen Gefangenen im Kriege her, namentlich denen in Mesopotamien. Im Vergleich zu ihnen sind die Engländer Bastards. Aber unbegreiflich bleibt für fremde Beobachter, die das deutsche Volk nicht kennen, diese Erregung für Rabindranath Tagore, wo ein Ernst Moritz Arndt uns not täte. In dem interalliierten Kasino unserer Überwacher in Berlin freut man sich. Über die Deutschen natürlich. "Sie werden wieder Dichter und Denker!"

Die Herren mögen nicht so unrecht haben. Nur dichten und denken wir nicht deutsch. Gegen indische, dem Allgermanischen tiefverwandte Weisheit wäre noch am wenigsten einzuwenden, natürlich auch nichts gegen Tagores wundervolle Lyrik. Aber im übrigen steht unsere Kunst, in Sprache und Bild und Ton und Darstellung, immer mehr unter dem Einfluß jener Gehirnerweichung, die vom Pariser Montmartre ausgegangen ist. Wir haben bald keinen Schauspieler mehr, der noch Schillersche Verse wird sprechen können. Einer der letzten, Otto Sommerstorff, hat sich dieser Tage von unserer Bühne verabschiedet und geht für den Lebensabend zurück auf sein Gütchen in die steirische Heimat. Er paßt nicht mehr in die Baumklötzchen- und Farbentupfen-Kulissen der heutigen Zeit hinein, auch nicht mehr in ihre Stücke, auch nicht mehr in ihr fahriges Sprechen. Als junger Student wurde er einst in Wien in einer Liebhabervorstellung der "Räuber" als alter Graf Moor für die Bühne entdeckt. Dann hat er sein Leben lang in Berlin, vornehmlich am Deutschen Theater und am Königlichen Schauspielhaus, feurige junge Helden gespielt, hinreißend gespielt. Die sonore Musik seiner Sprache wird ebensowenig vergessen werden als seine prachtvolle Erscheinung mit dem ausgesprochenen Schillerprofil. Und immer waren beide am gleichen Theater beisammen, er und seine Frau, die anmutige Teresina Geßner. Beim Frühstück konnten sie sich immer gegenseitig, halb belustigt und halb gerührt, die schwärmerischen Liebesbriefe vorlesen, die sie zu Hauf bekamen, er von den "höheren Töchter", sie von den Oberprimanern. Und dann fielen sich die beiden um den Hals. Es gab auch wohl höhere Semester, die ihre Begeisterung da in materieller Form kundtaten, und an Blumen erlesenster Pracht fehlte es nie in dem glücklichen Hause, in dem es nach der Parole ging: Getrennt sich bewundern lassen, vereint sich daran freuen. "Ich wußte ja gar nicht, was du für ein Kerl bist!" konnten sie sich dann gegenseitig aus schalkhaften Augen sagen. Ich habe Sommerstorff vor wenigen Wochen, zuletzt in einer stummen Rolle gesehen. Da war er der strahlende, goldene, über Menschenmaß hinausragende Erzengel in der Josephslegende von Strauß. Der wundervolle Kopf gegen den tiefblauen Himmel ist ein bleibendes Bild. Nun zieht er mit seiner Resi heim, der gute deutsche Steirer Otto - Müller. Er hätte des kühneren Bühnennamens Sommerstorff gar nicht bedurft. Auch als Otto Müller wäre er der große und berühmte Held und Tragöde geworden.
1. Juni 1921 (Mittwoch)



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© Karlheinz Everts