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Meisterschaftsboxen - Alles beim Trödler - Hildebrandts Luftschiffer-Bibliothek - Ein Feldmarschall in der Volksküche - Der Museenbesuch wird gedrosselt - Das neue Publikum in den Staatstheatern - Intendant Jeßners verlorener Prozeß - La Kaverno di Zarathustra - In der Kokainhöhle
Auf dem Wege über das Boxen wird allmählich auch die studentische Mensur in Deutschland vielleicht Gnade finden vor den Augen der Masse, nachdem bisher jahrzehntelang die Arbeiterpresse diese Zweikämpfe als privilegierten Mord verdammt hat. Beides ist Sport, bei beiden Sportarten sind Todesfälle möglich, aber selten; bei beiden ist "Abfuhr" oder" Knockout" erwünscht, also völlige Kampfunfähigkeit des Gegners das Ziel, beide sind ein sehr blutiges Schauspiel. Der einzige Unterschied ist der, daß die berufsmäßigen Boxer für Geld auftreten, während die studentischen Mensuren unbezahltes Privatvergnügen sind. Mit vielen Tausenden, die willig bis zu 250 Mark für den Sitzplatz bezahlten, habe ich mir jetzt im Zirkus Busch das deutsche Meisterschaftsboxen angesehen. Das ist nichts für zarte Nerven. Hie und da sieht man zwar einen Schieber mit seiner kleinen Freundin, aber fast durchweg füllen doch nur Männer die Bankreihen. Ein Sprecher, den man auf dem Brettl Conférencier zu nennen pflegt, ein Vorkäuer, eröffnet den Tag mit ein paar überflüssigen, schmalzig-falschen Worten über die Bedeutung des Sportes "in dem stolzen Bau der Völkerversöhnung". Man hätte sich das ebenso sparen können, wie die Schleifen in italienischen und - französischen Farben in dem Siegerkranz, den die Direktion dieses Abends dem Engländer Tom Cowler, der eine Einlage ausfocht, widmete. Der Kampf der Federgewichte um den blauen Gürtel der Meisterschaft sieht den bisherigen Meister Fritz Rolauf siegreich über seinen Wettbewerber F. Abele aus Stuttgart. Abele ist das, was man bei Rennpferden "fit and well" nennt: kein Lot Fett sieht man an seinem Körper, nur ausgearbeitete Muskelbänder, die darüber hinlaufen; er gäbe ein vortreffliches anatomisches Modell für den Bildhauer. Im ersten Gange schlägt er dem Gegner den Nasenrücken blutig. Im Zweiten aber erhält er einen so wuchtigen Kinnhaken, daß er wie vom Blitz gefällt hintenüberstürzt und liegen bleibt. Es ist aus; schneller, als man nach Abeles gutem Sport erwartet hätte. Um die Leichtgewichtsmeisterschaft tritt Prenzel-Hamburg erfolgreich gegen den bisherigen Titelinhaber Dubois in den Ring. Dubois ficht in eigenartiger, stets gebückter Haltung, beide Fäuste dicht vor dem Gesicht, die Ellenbogen zum Schutz vor der Magengrube. Man sieht die Augen zwischen den dunklen Fausthandschuhen glühen. Er lauert auf "seinen" Moment zum Zuschlagen. Dazu läßt ihm aber Prenzel in hageldichten Hieben keine Zeit. Immer wieder muß Dubois zu Boden, ruht sich aus, erhebt sich wieder, ehe ausgezählt ist -, in der zweiten Runde aber fällt ihn ein rechter Haken, er stürzt wie leblos aufs Gesicht, das alsbald graugelb von Staub und Kreide und Kolophonium wird; Arme und Beine aber liegen regellos daneben wie bei einer umgeworfenen Gliederpuppe. Man hebt ihn nach dem Auszählen auf, fegt das "Ruhmesgemüse" weg, nämlich die aus Prenzels Lorbeerkranz entfallenen Blätter, und Tom Cowler tritt gegen Guiseppe Spalla in den Ring, der englische Koloß gegen den kleineren, aber kräftigen und geschmeidigen Italiener. Dieses Zwischenspiel ist für viele Besucher die Hauptsache, denn, so sagen sie, nur Ausländer sind wirklich "von Klasse" im Boxen. Eigentlich verläuft der Kampf aber uninteressant. Bei der Reichweite seiner Riesenarme braucht der alte Cowler, von dessen gelichtetem Schädel vorn ein stehengebliebenes Haarbüschel in die Stirn hängt, gar kein besonderes Temperament aufzubringen, besonders da er bei seinem Gewicht von 192 Pfund sehr hart schlagen kann, wenn er einmal zuschlägt. Spalla arbeitet sich vergeblich an dieser Nilpferdhaut ab. Cowler zeigt nur grinsend seine Goldplomben über dem breit und eckig vorspringenden unrasierten Kinn, das unverwundbar wie die Panzerkuppel eines Forts zu sein scheint. Spalla geht zu viel "in Clinch", er klebt, um sozusagen im sicheren toten Winkel zu sein, wird abgeschlenkert, geht im 5. Gange bis auf 10 nieder, bekommt im 6. einen Schwinger links und gibt völlig ausgepumpt im 7. Gange auf. Die letzte Programmnummer soll zwischen dem Berliner Naujocks und dem Magdeburger Wiegert die Entscheidung um die Meisterschaft im Zwischengewicht bringen, endet aber unentschieden nach voll ausgekämpften 20 Runden. Der Magdeburger schlägt sehr schnell und hart, aber seine Schwinger verfehlen meist ihr Ziel, da Naujocks fabelhaft gewandt ausweicht. In der 3. Runde bekommt der kleine muskulöse Naujocks einen mächtigen Hieb auf die Magengrube, schluckt ihn aber gut. Seinen Gegner schlägt er allmählich über und über blutrünstig, hat aber nicht die Wucht zu einem auf einmal entscheidenden Stoß. Noch in der 20. Runde, nach etwa einstündigem Faustkampf, springt Naujocks frisch wie ein Gummiball herum. Selbst die Zuschauer, die nach einem Knockout lechzen und gebrochene Nasenbeine oder über den Kampfplatz kollernde Vorderzähne sehen wollen, sind von der Technik dieses Kampfes befriedigt. Nur hie und da wischt sich jemand die feuchte Stirn und ruft nach einem Cognac. Die Gladiatorenkämpfe, von Rom vererbt, von England gepflegt, von Deutschland übernommen, haben schon ihr Publikum bei uns, aber dieses Publikum erkennt, daß es seine Nerven noch trainieren muß. Man sieht bleiche Gesichter nicht nur in den Logen und im Parkett, sondern auch oben auf dem "Steh-Bums" zu 50 Mark; und wenn man den Gefühlen dieser Leute nachspürt, so erfährt man in den meisten Fällen, daß es nicht das viele Blut ist, das ihnen Übelkeit erregt, sondern das Bewußtsein, daß da unten von uns bezahlte Menschen sich für Geld "in die Fresse hauen": dieser Sport ist ein Gewerbe. Aber vielleicht trägt er dazu bei, daß man fortan im Volke milder über ständische Turniere denkt, über das Pauken der Studenten und das Lanzenstechen der alten Ritter.
Früher habe ich den Vielgeliebten, unseren Schwergewichtsmeister Breitensträter, boxen sehen, diesen typischen Deutschen, dessen blonder Haarschopf wie goldene Helmzier über der Stirne steht. Er ist der größte Geldverdiener in der Zunft; und das ist es, was diesen Leuten den eigentlichen Nimbus verleiht. Nun kann freilich nicht jedermann boxen. Ebenso kann nicht jeder alte Herr, den die Revolution aus dem Geleise geworfen hat, Schieber oder Brettlsänger werden. Auch mancher Mann, der noch annähernd "in den besten Jahren" sich befindet, lebt heute davon, daß er allmählich verkauft, was er in seinem Leben gesammelt hat, was seinem Leben Inhalt gab. In Berliner Althandlungen tauchen jetzt die seltensten wissenschaftlichen Werke auf, nicht nur Briefmarken und Porzellane und Schmuck und Silhouetten. Der Hauptmann a. D. Hildebrandt, der bekannte Luftschiffer, galt vor zwanzig Jahren als einer unserer "wohlhabenden" Offiziere. Er konnte seiner großen Liebe leben, alles zu sammeln, was jemals über sein Arbeitsgebiet veröffentlicht war. Jahrhunderte alte phantastische Schmöker über die Eroberung der Luft waren dabei. Seine elegante junge Frau, das erste weibliche Wesen, das in Deutschland - mit Orville Wright - im Flugzeug sich erhoben hatte, teilte seine Sammelfreude. Nun ist durch Reichsnotopfer und andere Steuern das Vermögen zusammengeschmolzen, von dem Rest gilt jede Mark nur noch acht Pfennig, und Hildebrandt, ein aufrechter königstreuer Mann, der nie seine Knie vor dem November-Baal gebeugt hat, muß seine Lieblinge, die Bilder und Bücher und Modelle, verkaufen. Es ist die vollständigste auf Erden bekannte Bibliothek über Luftschiffahrt; in allen Sprachen der Welt. Sie zerstäubt jetzt auf dem Wege über Berliner Antiquare wieder über die ganze Welt. Das ist nur ein einzelnes, an sich belangloses Beispiel von vielen. Aus anderen Familien kommen Altertümer bis zu eigenhändigen Briefen des Großen Kurfürsten auf den Markt. Kleine exotische Götzenbilder und sonstige Kostbarkeiten, die unsere Afrikaforscher und Asienerschließer heimbrachten, enden im Boudoir irgendeiner Mondäne, die klingende Beziehungen zu valutastarken Ausländern hat. Wir verarmen nicht nur, sondern wir werden auch geschichtslos. Trophäen von 1813 schleppen die Franzosen ohne Bezahlung weg, obwohl der Versailler Vertrag ihnen nur Trophäen von 1870 zuerkennt. Und doch ist diese tausendfältige stille Not in Deutschland noch gar nichts gegen das Elend, unter dessen Druck im benachbarten Österreich die letzten Säulen des geborstenen alten Staates stehen. Der Feldmarschall Conrad v. Hötzendorff, der ehemalige Generalstabschef, der schon vor einem Jahrzehnt mit klaren Augen den Kampf gegen Italien kommen sah, einer der wenigen genialen Köpfe, die unter dem schwarzgelben Banner sich durchsetzen konnten, lebt jetzt in Innsbruck in jammervoller Lage. Nur ein Zufall - denn der alte Baron v. Conrad selber schweigt - hat mir in das Heim des tapferen Bundesgenossen geleuchtet. Dieser Feldmarschall v. Conrad, dessen greise Frau die letzten Schmuckstücke aus glücklicheren Tagen hergibt, um den Hunger zu stillen, hat nach unserem Gelde eine monatliche Pension von 438 Mark für sich und die Seinen zu verzehren, während Innsbrucker Fabrikarbeiter mit einem Durchschnittslohn von 1000 Mark nur knapp auskommen können. Der Feldmarschall holt sich sein Essen täglich aus der Volksküche für arme geistige Arbeiter ...
Je schwieriger die äußeren Verhältnisse für unsere geistigen Arbeiter sind, desto mehr sollte der Staat dafür sorgen, daß wenigstens die Möglichkeit der Aufnahme geistigen Stoffes ihnen erleichtert wird. Unsere neue deutsche Republik denkt darüber freilich anders. Die Berliner Königlichen Museen waren früher niemand verschlossen. Jetzt heißen sie Staatliche Museen; und der Beamte, der das Wort "königlich" in den noch vorhandenen Formularen, die aufgebraucht werden sollen, nicht ausstreicht, wird bekanntlich, um republikanisch fühlen zu lernen, disziplinarisch mit 300 Mark Geldbuße bestraft. Doch dies nur nebenbei. Die Hauptsache ist die, daß man seit dem 1. April den Genuß, Bilder von Menzel oder ägyptische Mumien oder den Altar von Pergamon oder vorweltliche Saurierskelette sich anzusehen, bezahlen muß. Wie im Lunapark oder auf sonstigen Rummelplätzen erhöhte Preise an "Elitetagen" erhoben werden, damit die bessergestellte Amüsierwelt unter sich sein kann, und geringere Preise an gewöhnlichen Tagen für gewöhnliche Leute, so gilt jetzt auch in den Staatlichen Museen je nach dem Wochentage ein verschiedener Tarif. Man muß bis zu fünf Mark entrichten. Ich habe früher regelmäßig mit meinen Kindern das Museum für Meereskunde besucht, das nächst der Ruhmeshalle im Zeughause, wo die große deutsche Geschichte aus vier Jahrhunderten uns grüßt, wohl am meisten die Herzen erhebt und die Phantasie befruchtet. Wenigstens den hier aufgestellten vor den Takuforts zerschossenen Schornstein des "Iltis" mußte man sich immer wieder schnell mal ansehen. "Germans to the front!" Da pflegte nachher den Berliner Buben der Schwur "Ich will Seeoffizier werden!" aus den Augen zu blitzen; oder Schiffskapitän oder Ozeanograph oder Taucher oder Weltentdecker. Die heutigen Buben aber müßten schon das ganze monatliche Taschengeld ausgeben, um einmal hineinzukommen. Und der Erfolg? Ein Bekannter von mir ist dieser Tage in die Gemäldegalerie gegangen, um an alten Meistern sich die Seele zu stärken: er war stundenlang mutterseelenallein, mißtrauisch angestarrt von einer ganzen Schar von Saaldienern. die um dieses einzigen Besuchers willen ihre Zeit abstehen mußten. Da ist die Reichspost noch nobler. Sie verlangt zwar, seitdem die Revolution zu einer so fabelhaften sittlichen Läuterung des Volkes geführt hat, daß überall kleine Andenken an die große Zeit eingesteckt werden, eine Mark Leihgebühr für den Federhalter am Schalter, erstattet aber das Geld bei Rückgabe dieses Wertgegenstandes wieder.
An anderen Bildungsstätten, vor allem in den Theatern, ist einem der geistige Brotkorb schon längst höher gehängt worden. Im Berliner Staatlichen Opernhaus kostet ein Parkettplatz vorn jetzt glücklich 100 Mark. Aber die Theater sind nicht wie die Museen infolgedessen verödet, sondern nur das Publikum ist ein ganz anderes geworden. Ich bin neulich wieder einmal in "Hoffmanns Erzählungen" gewesen, wohin man auch unmusikalische Damen führen kann. Der orientalisierende Singsang Offenbachs, vor allem die Barkarole, ist ja von suggestiver Eindringlichkeit. Aber meine Begleiterinnen, die shon lange nicht mehr im "Königlichen" gewesen waren, konnten ihre Enttäuschung nicht bergen. Was ist aus dem Ersten Rang, zu dem man sonst so gerne hinaufschaute, geworden! Wie anders sieht es im Zweiten, im Dritten und im Olympe aus! Zunächst: das farbenbunte Militär ist verschwunden. Früher blitzten hier die Litzen aller Garderegimenter. Da der Monarch sowoeso den Fehlbetrag "seiner" Theater deckte, konnte er es sich leisten, reihum jedem Regiment in Berlin, Spandau, Potsdam, sowie den militärischen Akademien und sonstigen Anstalten je eine Anzahl Karten täglich durch die Intendanz zur Verfügung stellen zu lassen. Da ging denn der Leutnant, der Hauptmann, der Stabsoffizier - auch die nach Berlin Kommandierten aus dem ganzen Reiche - gelegentlich im Waffenrock mit Achselstücken und Orden hin, genoß unendlich Schönes, was er sich sonst vielleicht nicht hätte leisten können, und repräsentierte vor den ausländischen Besuchern ein Stück des glänzenden Kaisertums. Dann sah man charakteristische Gelehrtenköpfe in den oberen Rängen, das ganze geistige Berlin, schließlich unsere frische Gymnasialjugend, unsere "höheren Töchter", auch manche alleinstehende Dame, der es ein Bedürfnis war, sozusagen in Fühlung mit unseren großen Dichtern und Tonschöpfern zu bleiben. Heute dagegen ist es fast ausschließlich, abgesehen von dem Olymp, der neue Reichtum, der die ersten Theater der Reichshauptstadt bevölkert, und dazwischen auf den vielen Freiplätzen das Gewimmel der neuen Regierenden oder ihres Anhanges. Allein der Berliner sozialdemokratische Polizeipräsident hat täglich über fünfzig Freikarten in den Theatern zu vergeben. Man kann sich denken, welche Fülle von Intelligenz da zusammenströmt. Der alte Lavater könnte erneut physiognomische Studien machen. Das knabbernde "Mäuschen" ist da natürlich auch keine Seltenheit; die neuen Machthaber wissen schon, wer einer Zuwendung wert ist. Es ist sehr lehrreich, daß sogar der neue Intendant Jeßner vorgestern in einem Prozeß geltend gemacht hat, daß er ein gänzlich anderes Publikum habe. Er hatte sich geweigert, eine Anzahl von Stücken aufzuführen, deren Verfasser einen Kontrakt "von früher her" besaßen, denn der Geschmack der heutigen Besucher sei eben völlig verwandelt. Es ist ein besonderer Witz der Weltgeschichte, daß sogar Hermann Sudermann, der Liebling der Tiergartendemokratie, zu den Abgeschlenkerten gehört. Aber unsere Richter sind unerbittlich; Jeßner hat den Prozeß verloren.
Wie die Extreme sich überall berühren, so auch in Berlin: an der einen Stelle bauschen sich seidene Röcke in sündhaft teuren Bogen, an einer anderen Stelle buddeln Überkultivierte sich einfache Unterstände in märkischen Sand. Vierzehn Tage lang ist "La Kaverno di Zarathustra" bei Spreenhagen unbehelligt geblieben. Auf Esperanto heißt das Höhle des Zarathustra, ließ ich mir sagen. Dieser Zarathustra aber lebt nicht einsam in eisigen Höhen, sondern hat einige 30 Jünger - mehr Weiblein als Männlein - um sich gesammelt, um ein kommunistisches Naturmenschendasein zu beginnen. Er heißt Dr. Goldberg, ausgerechnet Dr. Goldberg. Zweige und Zeltbahnen decken die Löcher. Darin wurde nun wochentags nachmittags und sonntags vom Morgen bis zum Abend Robinson gespielt, allerlei gekocht, in Rauch und Phrasendunst gelebt; gelegentlich sprang die ganze Gesellschaft, unbekleidet natürlich, wie die Frösche ins Wasser. Daran nahmen ehrsame Leute der Umgegend Anstoß, und die Polizei verbot schließlich "La Kaverno di Zarathustra". Vielleicht hätte sie besser getan, die Leute zu isolieren. Dann wäre der Unsinn von allein zusammengebrochen, wie alle ähnlichen Gründungen seit Jahrhunderten, noch zuletzt die Gemeinschaft der Tolstoi-Anhänger im russischen Gouvernement Poltawa und gleichzeitig in Kanada auf der anderen Seite des Ozeans. Die zum Teil sehr jugendlichen Goldberg-Anhänger fühlen sich nun als Märtyrer. Ihr ganzer, übrigens sehr unsauberer Freiluftstaat ist an sich nur im Sommer möglich, ferner auch nur so lange, als sie alle "nebenbei" noch wegen des doch notwendigen Gelderwerbs ihrem bürgerlichen Berufe in Berlin tagsüber nachgingen. Sie planten draußen zwar "große Kulturen", aber in Wahrheit rekelten sie sich nur herum.
An Höhlen fehlt es in Berlin überhaupt nicht, wenigstens nicht in übertragenem Sinne. In der Nähe meiner Wohnung ist eine Kokainhöhle in einem Keller aufgehoben, wo Leute jeglichen Standes und Alters "schnupften". Kein Chinese, wie in den roman- und filmhaften Opiumkneipen San Franciscos, sondern ein Berliner Kellner leitete das Geschäft. Wer kein Geld mehr hatte, um sich einen Kokainrausch anzuschnupfen, von dem nahm er auch Sachen. Ein Smoking galt tariflich 4, ein Cutaway 8, ein silbernes Damentäschchen 10, ein Konversationslexikon 12 Gramm Kokain. Bei der Aufhebung der Spelunke fand man zusammengekauert in elendem Zustande drei Personen vor; ein junges Mädchen, gänzlich entstellt, hatte seit fünf Tagen die Stätte nicht verlassen, hatte nichts außer Kokain genossen, war aus einem Rausch in den anderen getaumelt. Völker, in denen die Verzweiflung umgeht, vergiften sich so. Vor etwa fünfzehn Jahren schon stand es ähnlich in Paris. Aus Saigon und anderen überseeischen Lasterhöhlen kamen Opium und Haschisch und Kokain; in einem aussterbenden Volk wurde dieser langsame Selbstmord epidemisch. Aber das Land blieb gesund, während die Großstadt verdarb, und die Jugendbewegung der Boy-Scouts und der Sport und der Revanchegedanke rissen die Nation empor. Der Student, der im Quartier Latin mit seiner Grisette irgendwo über dem Absynth sitzt, verschwand. Überall sah man Fußballer. In wenigen Jahren entstand ein neues Frankreich, das sogar den Weltkrieg übermochte. Auch wir - wollen nicht verzweifeln . . .
28.April 1921 (Donnerstag)
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Kein großer "Trip" mehr - St.-Moritz-Ersatz - Der verregnete Himmelfahrtstag - Wandervögel und Jahnjünger - Republikanischer Personenkultus - Die neue Standarte des Reichspräsidenten - "Lieschen steht nach Rückenfett" - Keine Boykottstimmung - "Potasch und Perlmutter" im Deutschen Theater
Unter den Blaßgesichtern und Nachtgesichtern des alten und neuen Berliner Westens konnte man früher Ende April schon verwegen aussehende Rothäute entdecken. Das galt erst als das richtige Zeichen der Vornehmheit, wenn man den Braungebrannten schon aus ihrer äußeren Erscheinung ablesen konnte, daß sie den üblichen "Trip" der Leute von Welt mitgemacht hatten: St. Moritz, Ägypten, Riviera. Der schönste Luxuslederkoffer kam sich wie ein Prolet vor, wenn neben ihm andere lagen, die die Klebemarken von Shephards Hotel, Suvretta-Hotel und Hotel des Anglais trugen. Es gab Leute, die sich von den hochmögenden Portiers dieser Gaststätten im Engadin, am Nil und an der Azurküste einige Vorratsmarken erstanden, um die etwa abgefetzten immer wieder ersetzen zu können. Das sind gewesene Zeiten. Im ersten Jahr nach dem Kriege hatte wenigstens die Schweiz leidlich starken deutschen Besuch; Sogar die Familie Erzbergers hatte in St. Moritz ihre Zimmerflucht in dem teuersten internationalen Hotel. Inzwischen ist auf allen Gebieten das Geschäft "stiller" geworden, - die Vermögen der Kriegs- und Revolutionsgewinnler sind zwar nicht gänzlich zerrüttet, aber die horrenden laufenden Einnahmen viel geringer geworben. Man gibt nicht mehr so viel aus. Man kann auch nicht mehr, wie vor dem Kriege, überall hinreisen, denn viele Ententeländer sind nicht nur für deutsche Reiseprotzen, sondern für Deutsche überhaupt gesperrt, es sei denn, daß ihre Anwesenheit, wie ausdrücklich in den Bestimmungen steht, im wirtschaftlichen Interesse des Besuchslandes liegt. Besonders die Engländer sichten genau. Von sämtlichen deutschen Zeitungen beispielsweise sind bisher nur die Vertreter der "Vossischen Zeitung" und der "Frankfurter Zeitung" zum Wohnen in London zugelassen, auch ein Korrespondent des "Berliner Tageblattes" noch nicht einmal. Für Berlin W. bedeuten diese Zustände, die unsere verwöhnten Kommerzienratstöchter als unerträglich empfinden, zunächst eine Verlängerung des Berliner Saisontaumels bis in den Sommer hinein, eine Verewigung der Blaßgesichter und Nachtgesichter. Und trotzdem tauchen schon wieder vereinzelte Rothäute auf.
Sie haben bestimmt nicht am Cresta Run dem Wintersport zugeschaut, bestimmt nicht von Heliopolis den Ausflug zu den Pyramiden gemacht, bestimmt nicht ihre letzten Tausendfrankenscheine in Monte am Spieltisch gelassen. Gespielt, ja, das mögen sie wohl haben. Aber wohl nur bei einem Ausflug in die Sächsische Schweiz im böhmischen Grenzort Herrnskretschen. Oder in Zoppot im Freistaat Danzig. Oder gar nur in den unzähligen fliegenden Spielklubs in Berlin selbst. Die gesunde braune Hautfarbe aber ist "Ersatz", wie so vieles seit 1914. Man nimmt nicht mehr das viel angepriesene Braunolin, mit dem sonst im August die Frau Rechnungsrat sich vier Wochen Norderney oder Westerland anzuschminken pflegte, obwohl sie nur acht Tage bei der Tante in Polzin gesessen hatte. Nein, man geht unter die künstliche Höhensonne. Die chemischen Strahlen des elektrischen Lichts, das durch Quecksilberdämpfe geht, befördern den Haarwuchs, reizen den Stoffwechsel, bräunen die Haut nahezu genau so wie die Sonne in St. Moritz. Nur die gute Luft und den guten Sport und die gute Verpflegung zaubern sie nicht her, denn sie sind und bleiben eben Ersatz. Aber die Höhensonne wird viel, sehr viel in Anspruch genommen, und mancher Arzt oder Heilgewerbetreibende, der eine hat, lebt von den ständigen Abonnenten.
Wer sich auch das nicht leisten kann, der nimmt die Beine in die Hand und sucht wenigstens sonn- und feiertags außerhalb des Berliner Dunstkreises die natürliche märkische Flachlandsonne auf. Unsere Wandervögel, zu denen jetzt nicht nur in recht großer Zahl Schüler der höheren Lehranstalten gehören, sondern auch Studenten, Kaufleute, Ingenieure, jüngere Beamte, übertreiben es nur manchmal, biwakieren womöglich noch eine Nacht dazu im Walde und frieren sich die Bräunung wieder ab. Der Himmelfahrtstag ist diesmal eine Enttäuschung bis zum Zähneklappern gewesen; betränt von kaltem Landregen saßen überall an den Ufern der Spree und der Havel, weiter am Kloster Chorin, in der märkischen Schweiz, im Spreewalde die Wandervögel unter ihren Zeltbahnen, kochten Reis, klampften Trübsal, schritten endlich in quatschnaßquietschenden Stiefeln fürbaß und setzten sich als feuchtkalte Bündel dann wieder in die Eisenbahn. Auch die verregneten "Herrenpartien" waren Legion; die freilich endeten meist in einer molligen Kneipe, wie es bei ihnen seit altersher der Brauch. Unsere richtigen Wandervögel trinken nicht und rauchen nicht. Das ist ihr großes Plus auf der Habenseite, das tröstet die sonn- und feiertags einsamen Eltern, die auch sonst mit der eifrig hervorgekehrten Einfachheit der Sitten sehr einverstanden sind: ein graugrüner Leinenkittel mit bunter Brustschnur ist schließlich billiger als ein Cutaway, die Hutlosigkeit spart Geld, und das gleiche gilt von den nur alle paar Monate geschnittenen Haaren. Vor dem Kriege erregte es noch Aufsehen, wenn der glatzköpfige Rechtsanwalt Kohn XIV. vom Landgericht III plötzlich mit Schillerkragen und darunter offener Brust mit schwarzem Haargekräusel in die Untergrundbahn einstieg. Heute tut er es nicht mehr. Aber die Jünglinge in Wandervogeltracht fallen in dem Berliner Straßenbilde gar nicht mehr auf. Die Zeiten und die Sitten - und auch die Illusionen wiederholen sich. Unter dem napoleonischen Druck vor hundert und einigen Jahren entstand in der Berliner Hasenheide die grauleinene, langhaarige Turnergemeinde Friedrich Ludwig Jahns, von der, bei allerlei Anerkennung ihrer teutschen Gesinnung, Treitschke schreibt, daß sie der Meinung gewesen sei, mit Bauch- und Riesenwellen den Feind aus dem Lande treiben zu können. Die Wandervögel tun dasselbe mit Natur- und Heimatliebe, mit Volksliedern und Reigentänzen. Ihr hymnisches Gehobensein wirkt auf Männer mit hartem Tatsachensinn erschütternd. Wir werden wieder zu Dichtern und Träumern, während der Feind uns an der Gurgel packt. Jene Stimmung ist jedenfalls noch nicht in unserer Großstadtjugend vorhanden, die in der napoleonischen Zeit unsere Vorväter zu Taten stählte. Es fehlt der glühende Haß gegen fremde Bedrücker und gegen mitschuldige Deutsche, es fehlt die Teilnahme am Erleben der Nation; dies Wandern ist noch Weltflucht.
Zu große Teile unseres Volkes bespiegeln sich noch wohlgefällig in dem Erreichten, in der Freiheit, die wir angeblich errungen haben, in der Selbstregierung des Volkes und ähnlichen Traumbildern. In der neueröffneten "Großen Kunstausstellung" fehlen die Porträts wirklich großer Männer, wie wir sie früher kannten, aber die neuen Herren spreizen sich in Öl und Kreide. Im preußischen Landwirtschaftsministerium werden die lebensgroßen Bilder des Sozialdemokraten Braun und des Unabhängigen Hofer aufgehängt. Für diesen Personenkultus hat unser armer Staat immer noch Geld.Von dem jetzigen Kommunisten Adolf Hoffmann ist sogar eine Marmorbüste für das Kultusministerium als Denkmal seines analphabetischen Wirkens vorgesehen. Auch haben wir zur Zeit des Entente-Ultimatums nichts Dringenderes zu tun, als in der neuesten Nummer 45 des Reichs-Gesetzblattes die Bestimmungen über die Standarte des Reichspräsidenten zu veröffentlichen. Wo Herr Fritz Ebert auftaucht, soll also fortan ein "gleichseitiges, rotgerändertes, goldgelbes Rechteck, darin der Reichsadler, schwebend, nach der Stange gewendet" wehen. Die Heraldiker und die Zoologen ringen allerdings die Hände, wenn sie diesen Pleitegeier sehen. Er ist nicht einmal ein Geier; dieses unbewehrte, unheraldische Vieh, das allenfalls einem hölzernen Kakadu ähnelt, ist noch lächerlicher als die Nationalversammlungs-Briefmarken von 1919. Aber es gibt Leute, die sich daran freuen. "Fortschritt", sagen sie. Diesem kronenlosen, szepterlosen Reichsadler fehlt auf der nunmehr ganz kahlen Brust das Mittelschild mit dem Preußenaar und dem Herzstück, den weißschwarzen Zollernfarben. Die Fähnchenindustrie freilich sieht scheel darein. Die neue Standarte des Reichspräsidenten ist anscheinend so "unabsetzbar" wie Herr Ebert selbst; auch der klassenbewußte Arbeiter kauft sie nicht für seine Kinder.
Ein wirklicher Fortschritt schien allen Berlinern dagegen der Erlaß über die Milderung der Zwangswirtschaft zu sein, der nicht nur die entfernte Möglichkeit eröffnet, daß es irgendwann einmal Schlagsahne geben kann, sondern vor allem die Hoffnung erweckt, daß man seinen blassen Kindern wieder herzhafte Vollmilch gönnen kann. Für die Säuglinge ist ja immer noch das Notwendigste geschehen. Aber Zehntausende von Großstadtkindern etwa zwischen dem vierten und achten Lebensjahre haben während des ganzen Krieges keinen Tropfen dieser natürlichsten und besten Kindernahrung erhalten -, und man sieht es ihnen jetzt an. Wir atmen auf, daß nun die ganze Zwangswirtschaft allmählich abgebaut wird. Als sie zuerst eingeführt wurde, war man stolz oder man lachte. Ich weiß noch, wie wir im Felde losplatzten, als einem Kameraden, einem jungen Reserveoffizier aus dem Volksschullehrerberuf, aus Berlin von einem Kollegen geschrieben wurde, ein kleines Mädchen sei zu Beginn der Stunde nicht dagewesen, und auf seine Frage nach ihr hätten die anderen Kinder gerufen: "Lieschen steht nach Rückenfett!" Jetzt denkt man mit Schaudern an die Zeit zurück, wo in den Fleischerläden nur Blumentöpfe glänzten, in den Schokoladengeschäften nur Attrappen, in den Kolonialwarenhandlungen nur allerlei Ersatzpulver und in den Gemüsekellern nur Kohlrüben. Leer und leerer wurde es auch in den Textil- und Warenhäusern. Man bettelte in der Kleiderkommission um die Genehmigung für einige Taschentücher oder eine einfache Wollbluse. "Was, zwei seidene Kleider haben Sie noch und verlangen nun eine Wollbluse?" "Mein Gott, ich kann doch nicht im Ballkleid meine Rüben kochen!" "Ist uns ganz egal, meinetwegen können Sie in großer Toilette Dielen scheuern!" Diese Aufsichtsdamen wurden überall unsere Zwingherren; langsam kam die Korruption. Mit unendlicher Bitterkeit stand in der Großstadt der arme Gebildete neben dem Schwerverdiener der Rüstungsindustrie. "Wat? Auch Damens mit Hüte wollen Blutwurscht? Nee, ich vakofoe nich an feine Leite!" Oder man mußte eine neue Wasserkanne erstehen, bekam sie nicht, ließ sich dagegen vier Zahnbürsten aufschwatzen, denn die würden auch bald ausgehen. Man kam mit den unmöglichsten Sachen heim, aber das Notwendige war nicht zu haben. Die Hälfte des deutschen Volkes war unterernährt und schließlich siech. Wir haben jetzt ein neues Reichsschulgesetz bekommen, wir hören von dem kommenden "Weltanschauungs-Unterricht", und doch wäre es besser, statt Weltanschauung Volksgeschichte zu lehren, die Geschichte der letzten Jahre: wie die Engländer unsere Gesundheit zerbrachen, und wie schließlich unsere Politiker uns ans Messer lieferten.
Die meisten Deutschen wissen davon kaum etwas, wußten es nicht oder haben es schon vergessen. Schule, Schauspiel, Kino müßten es uns lehren. An allen Schaufenstern müßten graphische Darstellungen englischen Kindermordes und französischer Sadistentaten kleben. Kein Entente-Angehöriger dürfte ein Unterkommen in deutschen Gasthöfen finden, wie ja noch heute in London sich jedes Hotel vor Deutschen verschließt. Jegliche überflüssige Feindware sei gebrandmarkt. Aber wie ich kürzlich in einer großen Berliner Weinhandlung eine Kleinigkeit kaufe und zu meinem Erstaunen neben mir ein ausländischer Käufer sich ganze Kisten deutscher Liköre, besonders Allasch und Mampediktiner, notieren läßt, sagt der Chef des Hauses zu mir: "Ja, die Fremden wissen, was gut und billig ist, unsere Herren Berliner aber wollen nur französische Spirituosen haben, nicht weil sie besser schmecken, sondern weil man mit der Etikette protzen will!" Diese harmlosen Deutschen führen auch auf ihren Bühnen zu großem Teil geistige Importware auf. Die ist freilich manchmal - beschämend anständig. Unsere eigenen Schwänke und Possen sind, seit wir über die Ära Moser herauswuchsen, gleich ins Obszöne umgeschlagen. Man kann nun "Charleys Tante" nicht in einem Atem mit Freytags "Journalisten" nennen; ein wirklich feines Lustspiel haben uns die Angelsachsen noch nicht gebracht. Aber doch Schwänke, in denen man unbesorgt sich sattlachen kann, auch in Gesellschaft seiner Töchter. Im Deutschen Theater Reinhardts ist jetzt eine Sommertruppe mit "Potasch und Perlmutter" eingezogen, einem jiddisch-amerikanischem Schwank, der schon Hunderttausenden drüben das Zwerchfell erschüttert hat. Da gibt es kein Tüfteln und Spintisieren, keine Brunst und keinen Nervenkitzel, sondern nur Komik, schreiende Komik im Grunde harmlos guter Menschen. Manches Überwältigende kommt freilich nur im englischen Text zur Wirkung; wenn der eine der Ghettohelden auf die Frage nach seiner Herkunft sein "I am a freeborn american citizen" lispelt, so wälzt sich das Newyorker Parkett vor Lachen. Aber es bleibt noch übergenug für Berliner und andere Deutsche darin. Für uns, die wir heute unter dem Druck des Entente-Ultimatums die rechte Fröhlichkeit nicht aufbringen können, klingt auch das Lachen aus dem Deutschen Theater heraus unnatürlich und grell. Aber man kann es den Besuchern gönnen. Es ist ein gesundes Lachen. Gesunder als das heiße Kichern in Schnitzlers "Reigen" oder als das satte Schmunzeln in den zahllosen Berliner Kabaretts.
5. Mai 1921 (Donnerstag)
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Die Berittenen am Anhalter Bahnhof - Stiefelputzen gefällig? - Es wird immer orientalischer - Modeschau auf Pferderennen - Im Lunapark - Was die Generale Bellingham und Malcolm über die Berliner sagen - "Immer lustik!" - Exminister und Dienstwohnung
Wer aus Süd- oder Mitteldeutschland auf dem Anhalter Bahnhof in der Reichshauptstadt eintrifft, ist beim Hinaustreten freudig überrascht, alle Anzeichen vornovemberlicher Zucht und Ordnung zu erblicken. Es ist sauber, auf dem freundlich grünen Askanischen Platz walten sorgsam Gärtner, und sogar zwei berittene Schutzleute thronen hoch über allem Verkehr. Nicht mehr blaue, sondern grüne. Das macht aber nichts. An Änderungen der Uniform gewöhnt man sich, wenn keine Änderung des Wesens damit verknüpft ist. Als beim Militär statt der ursprünglich grauen Hose der Befreiungskriege unter Wilhelm I. die schwarze Hose eingeführt wurde, hat man gemault und nachher sich doch daran gewöhnt. Als dann im Weltkriege unter Wilhelm II. die schwarze wieder verschwand, hat man die neue graue für gar nicht kleidsam erklärt, aber sich wiederum an sie gewöhnt. So geht es uns auch mit den berittenen Schutzleuten. Ob blau, ob grün: wir haben sie wieder, diese ehernen Felsen in der Großstadtbrandung, die so unendlich beruhigend wirken. Ein bißchen jünger und ein bißchen soldatischer sehen diese Schutzleute aus, als ihre etwas behäbigen Vorgänger der früheren Zeit, die manchmal einem Münchener Hatschier an Gewichtigkeit glichen. Die monumentalen Pferde sind wie ehedem. In ihrer erhabenen Würde - man muß an ihnen hinaufsehen, wie an dem Colleoni-Standbild in Venedig - zucken sie wohl nicht einmal beim Heranschwirren einer Bremse. Nur von hinten lassen sie sich nicht gerne beikommen. Dan wirbeln sie ihren Schwanz herum, als wäre er ein Feuerwerksrad. Man wird ordentlich gerührt in der Erinnerung, wenn man sich vorstellt, wie häufig man früher just dann mit seinem Gesicht in den Bereich dieser fliegenden Bürste kam, wenn der Kaiser an der Spitze der Fahnenkompagnie gerade an uns vorbeiritt oder wenn wir soeben den King Edward in der Galakarosse eräugen wollten oder der erste Chargierte des Korps Soundso uns zum Gruße den weißen Stulphandschuh an das Cerevis erhob.
Sowie man an den beiden Giganten vorüber ist, fängt es aber an, schon etwas mehr nachnovemberlich auszusehen. Aus dem Weltkriege hat der deutsche Großstädter das polnische Wort "dobsche" als Bezeichnung für gut oder ja hereingebracht, ferner den französischen "Sambre et Meuse"-Marsch für alle Leierkästen und schließlich - den in Balkanländern so einträglichen Beruf der Stiefelputzer. Gleich am Askanischen Platz hocken die ersten. Es gibt hier keinen Bukarester oder Konstantinopler Staub und Dreck, die Eitelkeit ist hier wohl auch nicht so groß, aber immerhin, das Stiefelputzen auf offener Straße bürgert sich ein. Man sieht hier nicht mehr, daß jemand, ehe er seinen Vorgesetzten den Antrittsbesuch macht, vor der Haustür mit dem eigens dafür mitgenommenen "gebrauchten" Taschentuch sich die Stiefel abwedelt. Er läßt sie lieber noch einmal putzen. Die Nigrin-Postamentchen und sonstigen Wichsreklame-Schemel sieht man überall. Das Gewerbe nährt seinen Mann. Je nach der Gegend bezahlt man 50 Pfennig bis 3 Mark für dieses Aufpolieren der Pedale. Hat man die Stiefelputzer auf dem Askanischen Platz glücklich passiert, so wird es in der Königgrätzer Straße vollends orientalisch. Als ginge man den Basar entlang. Da breiten ein paar Jünglinge schweigend und geschäftig immer neue Tuchballen auseinander, daneben preist ein zungengewandter Anreißer Seife an, dann folgen Handwagen oder auch nur Schemel mit Schokolade, mit Büchern, mit Obst, mit Aktentaschen, mit Ansichtskarten, mit Regenmänteln, mit warmen Würstchen, mit Makohemden, mit Zigaretten, mit Herrenartikeln, mit Stahlwaren, und auf dem kurzen Wege bis zum Potsdamer Bahnhof zähle ich so 56 fliegende Läden am Rande des Trottoirs. Wo die Ware herkommt, ist wohl nicht immer einwandfrei festzustellen, als sicher aber wohl anzunehmen, daß die Verkäufer fast durchweg Arbeitslosenunterstützung beziehen.
Sie sind durchweg gut gekleidet, sie leben anscheinend gut, also muß doch wohl auch gut gekauft werden. Oskar Tietz, der vielfache Warenhausbesitzer, veröffentlichte jüngst einen Aufsatz, unsere Kaufkraft sei um etwa 80 Prozent gesunken. Auf der Straße hat man nicht diesen Eindruck. Noch weniger an den Vergnügungsstätten. Berlin geht mit nicht weniger als 13 Operettenbühnen in den Sommer, und alle sind allabendlich voll. Das alte gute Paulanerbräu an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, wo man billig und gut aß und trank, ist in ein "mondänes" Weinrestaurant verwandelt worden und seither überfüllt; eine ähnliche Entwicklung sehen wir überall in der Stadt, - weil der alte solide Mittelstand als Zahler nicht mehr in Betracht kommt, richtet man sich auf Luxus und Leichtsinn ein. Auf den Rennplätzen - Karlshorst, Hoppegarten, Grunewald, Mariendorf - herrscht eine so drangvoll fürchterliche Enge, daß nur ein kleiner Teil der Besucher überhaupt einen Pferdeschwanz zu sehen bekommt. Aber der Totalisator setzt an einem Sonntag 5 Millionen Mark im Durchschnitt um. Man versucht, nach französischem Vorbild, jetzt Pferderennen und Modeschau zu verbinden. Ein in doppeltem Sinne eitles Bemühen: die Probierdamen müssen sich im Gedränge buchstäblich ihrer Haut wehren und kommen zerknittert heim, ohne für ihre Firma als wandelnde Reklame gedient zu haben. Ist das Wetter einmal wirklich schön, geht es nicht nach dem alten Verse:
Im wunderschönen Monat Mai,
Als alle Knospen sprangen,
Da hab' ich meinen Ofen neu
Zu heizen angefangen,
so werden die Theater und Kabaretts nicht leerer, und trotzdem ist auch alles, was im Freien zu Vergnügen lockt, mit Menschen übersät, selbst wo der Eintritt einen gehörigen Batzen kostet. Verdienen die Leute heute so viel? Oder ist wirklich nur der Leichtsinn größer geworden? Im Lunapark in Halensee, dem größten und "vornehmsten" Rummelplatz Berlins, der an Coney Island erinnert, sehe ich das Riesengewimmel von jungen Mädchen, meist vom Bureautyp, und schüttele den Kopf. Da gibt man doch, wenn man kaum etwas verzehrt, auch nur einen Teil der 47 "Attraktionen" aufsucht, im Handumdrehen seine 100 Mark aus. Ein leitender Beamter des Hauses Rudolph Hertzog versucht mich darüber aufzuklären. "Passen Sie auf," sagt er, "wie viele Begleiter dieser jungen Damen nur gebrochen Deutsch sprechen, dann haben Sie die Erklärung, und die andere hätten Sie, wenn Sie wüßten, wie jammervoll es in Berliner Familien mit Bett- und Tisch- und Leibwäsche aussieht." Also passe ich auf. Da läßt ein Amerikaner zwei Mädels immer wieder ein paar Runden im Hippodrom reiten. Nach einer Stunde sind 94 Mark dafür ausgegeben. Da läßt ein Japaner seine Begleiterinnen Bälle werfen: trifft man den Zielpunkt, so klappt das Bett, auf dem ein Rummelplatz-Angestellter liegt, um, und dieser Insasse liegt unter dem Halloh der Zuschauer am Boden auf der Nase. Schon ist er wieder oben auf dem zurückgeschnellten Ruhelager und hetzt und höhnt die Nichttreffer. Kasseneingang in einer Stunde: 370 Mark. Und man saust mit der Berg- und Talbahn, man geht zu Hagenbecks Dressuren, man zerklirrt Porzellan, man lacht vor Zerrspiegeln, man schaukelt auf dem Riesenrad, man steuert im Wackeltopf über den eisernen "wogenden" See, und alles kostet Geld. Nur die Seiltänzer und das Feuerwerk kann man ohne Sonderzahlung sehen. Und wenn gar erst das Sudanesendorf fertig ist, was wird da für Geld umgesetzt! Alleweil im Mai öffnet der Lunapark seine Tore. Zehntausende freuen sich darauf. Sein in drei offenen Riesenterrassen nach dem Halensee zu aufgebautes Restaurant vertreibt an Speise und Trank täglich so viel, daß die Bewohner dreier Kleinstädte davon leben könnten. In diesem Jahre kommt der Lunapark uns futuristisch. Die ganze Bemalung selbst der letzten Musikpavillons ist ein einziger kannibalischer Aufschrei. Dazu das Juchzen der Menge, der Lärm der Ausrufer, das Tschingtara der Kapellen: ein geradezu grotesker Gegensatz zu dem friedlich-idyllischen Bilde der dahinter im Grün gebetteten vornehmen Villen in Halensee. Hier wohnt auch Dernburg, der frühere Bankdirektor, später Kolonial-Staatssekretär, jetzige demokratische Abgeordnete. Er hat einen langen gerichtlichen Kampf gegen den Lunapark-Lärm ausgefochten und ist unterlegen. Der einzige Trost für die Anwohner ist die gegenwärtige frühe Polizeistunde; schon um 11 Uhr abends und nicht erst spät in der Nacht hört der ganze Zauber immer wieder auf.
Die Vergnügtesten an solchen Stätten sind heutzutage die Ausländer. Sie alle schütteln die Köpfe über dieses "taumelnde" deutsche Volk. Im Reichstage wird die Unterwerfung unter die Ententepeitsche unterschrieben, und an demselben Abend drängen sich Zehntausende zum Lunapark, und ganz Berlin ist ein einziger Widerhall von Lachen und Scherzen in ungezählten Amüsierlokalen. Dieser Tage trafen die englischen Überwachungsgenerale Bellingham und Malcom mit einem meiner Bekannten dienstlich-geschäftlich zusammen. Beide äußerten ihr fassungsloses Erstaunen über die guten Deutschen. "Wenn wir umgekehrt deutsche Überwachungskommission in London wären, so würden wir nicht wagen, auch nur eine Tasse Bouillon ohne Angst vor Vergiftung zu nehmen. Aber in Berlin können wir so ruhig wie daheim leben und uns immer wieder nur wundern, daß wir nicht totgeschlagen werden." Solche Worte ätzen wie Jod. Überall ist es freilich nicht so. Im besetzten Westen mehren sich die Fälle, daß weiße oder farbige Sodaten spurlos verschwinden, bis einmal der Rhein oder ein alter Brunnen sie wieder hergibt, und die interalliierte Rheinlandkommission vertuscht diese Fälle, weil sie den suggestiven Einfluß einer Veröffentlichung fürchtet. In Hamburg trinkt kein Mensch aus guter Familie mehr einen Schluck Bordeaux oder Burgunder, weigern die meisten Hotels einem Franzosen die Unterkunft. In Berlin aber kann folgendes passieren: ein englischer Soldat in Uniform fährt auf seinem Rade schräg über die Straße in einen eiligst bremsenden Autobus hinein, wird durch den Zusammenprall umgeworfen, kann aber ohne jeglichen Schaden wieder aufsitzen und davonradeln; und das Publikum - fällt über den Chauffeur her und verprügelt ihn. So geschehen an einem Maimontag 1921 in einer belebten Straße des Berliner Westens, in der Hauptstadt des vom Feinde satanisch zerquälten deutschen Volkes!
Leben und leben lassen ist eben die einzige Parole des deutschen Großstadtpöbels mit und ohne echte Perle im Schlips. "Heute lustik, morgen lustik, immer lustik!" sagte König Jérôme von Westfalen, als Kassler Bürgertöchter und Damen auch des Landadels in schamloser Entblößung sich zu seinen Festen drängten. "Bloß keene Politike!" sagt der Berliner, wenn er auf flammende nationale Entrüstung stößt. Wenn er liest, daß die Bayern aufrechte Männer bleiben wollen oder daß die Schlesier zu den Waffen eilen, dann zuckt er die Achseln: Geschäftsverderber! Die fürchterliche Entscheidung im Reichstage, der Kniefall der Jasager vor der Entente, die Rückbildung des Kabinetts zur alten Weimarer Zusammensetzung lockte kaum ein paar Neugierige aus dem Bau. Man findet höchstens, daß die neue Zeit doch "recht amüsant" sei. Nie hörte man früher solche Geschichten aus der Korona der Regierenden wie heute. Am meisten lacht man über den Pfiffikus, diesen demokratischen Minister Schiffer, der durch seine Wohnungsaffäre der Held des Tages in allen Gesellschaften der Nachnovemberlichen geworden ist. Ja, das wäre der Rechte. Der sei doch allen über. Also dieser Minister Schiffer, der aus Oberschlesien stammt, aber von Geblüt weder Slawe noch Germane ist, ist ein sehr fleißiger, sehr betriebsamer, rednerisch sehr lebhafter Herr, der an einem Tage, an dem er nichts "formuliert" hat, kein Kompromiß gefunden hat, nicht ruhig schlafen zu gehen vermag. Seine Karriere im Oberverwaltungsgericht verdankt er, der ehedem Rechtsnationalliberale, der Fürsprache eines vornehmen politischen Gegners der Rechten. Nach dem berüchtigten November zog ihn die große Konjunktur zur demokratischen Partei. Er war einmal kurze Zeit Finanzminister. Er wurde später Justizminister. Und da sagte er sich: "Hier bin ich, hier bleibe ich!", ging aus der Dienstwohnung nicht hinaus, als Blunck das Amt bekam, blieb in ihr hausen, als Heinze das Portefeuille erhielt und nun sozusagen von Dresden aus, wo die Familie noch wohnt, die Geschäfte wahrnehmen mußte. Man bekommt eher eine Zecke aus dem Hundefell heraus, als einen richtigen modernen Parlamentsdemokraten von der Futterkrippe weg. Also Blunck wohnte als Chambregarnist bei Schiffer, Heinze tat dasselbe, und nun ist Schiffer in dem neuen Kabinett - wieder Justizminister geworden und wieder von Rechts wegen Inhaber des Palazzos. Aber es kommt noch viel besser. Schiffer hat die fürstlich eingerichtete Wohnung Jahr und Tag ganz umsonst bewohnt, nur zuletzt als Miete eine kleine Anerkennungsgebühr anbringen können. "Aber, Exzellenz, wir können doch von Ihnen keine Miete nehmen, eine solche steht ja gar nicht im Etat!"
12. Mai 1921 (Donnerstag)
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