"Rumpelstilzchen"

"Berliner Allerlei"
(Jahrgangsband 1920/21)

Verlag der Täglichen Rundschau / Berlin, 1922

Glossen 28 - 30
7. bis 21. April 1921


28

O segensreiche Ordnung! - Die Leichenfeier für Sylt - Schüttler - Wer beim Film sein Glück macht - Spielhonorar und Toiletten - Pola Negris Pech - Die Entlobungsseuche

Kennen Sie den Schwager des ehemaligen Kaisers von China? Nicht? Aber ich! Sehen Sie, da vorne vor uns geht er. Das sei ja bloß ein Berliner Schutzmann, sagen Sie? Natürlich! Aber er ist es doch. Der Kaiser von China ist bekanntlich "der Sohn des Himmels", nicht wahr? Schön. Des Himmels segensreiche Tochter ist aber, laut Schiller, die Ordnung. Merken Sie noch nichts? Nun, der Schutzmann ist doch im Staate der Mann der Ordnung! Na also. Dann ist er doch der Schwager des Kaisers von China, wenn er der Mann der Schwester des Kaisers ist! Siehste woll. So kalauert der Berliner sich durch das triste Leben. Er weiß freilich, daß die Sache nicht ganz stimmt. Die Ordnung, die wir heute haben, ist nicht die segensreiche Tochter des Himmels, sondern ein Bastard aus dem Verhältnis zwischen Severing und den Kommunisten. Einer der wildesten Schreier wider diejenige Ordnung, die wir Altmodischen noch kennen, war Sylt, dem die Berliner es zu verdanken haben, daß sie gelegentlich kein Licht, kein Gas, kein Wasser bekommen und daß dann immer einige neu eingelieferte Insassen der Krankenhäuser, die durch eine Operation gerettet werden könnten, sterben müssen, da es erstens an Licht mangelt und zweitens die Instrumente nicht ausgeglüht werden können. Nicht von einem übereifrigen "Grünen", sondern einem der ruhigsten und ältesten Kriminalbeamten hat Sylt, der als Aufstandsprediger verhaftet war, bei einem Fluchtversuch die tödliche Kugel bekommen. "Gott sei Dank!", sagen viele, auch Arbeiter; denn dieser Sylt ist, beiläufig bemerkt, auch einer der ärgsten Beschimpfer der nichtkommunistischen sozialdemokratischen Arbeiter gewesen. Nun wird er aufgebahrt. Die rote Fahne mit dem Sowjetabzeichen deckt in breiter Pracht den Sarg; mit dem Abzeichen jenes Sowjets, der - laut Sinowjew-Apfelbaums offizieller Erklärung - nicht nur die gesamte westeuropäische "Ordnung" über den Haufen rennen, sondern auch die Severing und Genossen bei nächster Gelegenheit henken will. Tut nichts. Der Mann der Ordnung, der Severingschen Ordnung, muß dafür sorgen, daß die Leichenfeier zu einer ungestörten, ungeheuren Verherrlichungs-Demonstration für den toten Ordnungsfeind wird. Chinesische Zustände, sagen Sie? Ach, in Berlin hat man sich schon an ganz andere Dinge gewöhnt. Von russischen Zuständen, türkischen Zuständen sprach man früher bei uns. Von preußischen Zuständen kann die Welt jetzt sprechen.

Da ist es wirklich kein Wunder, wenn beispielsweise die Bayern sich für solche Ordnung bedanken und lieber selber ihre eigene haben. Sogar in dem "roten" Sachsen ist man vielfach bereits weiter als in Preußisch-Berlin. Die Berliner Besucher der letzten Leipziger Messe erzählen erstaunt, daß man in der großen Pleißestadt stundenlang umherwandern könne, ohne einen richtigen Bettler zu sehen. In Berlin gibt es keine einzige Hauptstraße, in der man nicht Gefahr läuft, alle paar hundert Meter über einen Schüttler zu stolpern. Zumeist sind es "künstliche" Schüttler, die das Gliederzittern gewerbsmäßig ausüben, ohne daß irgendeine Krankheit vorliegt. Wenn früher unsere Tante Eulalia "ihre Nerven bekam" und plötzlich, wenn wir mit ihr urgemütlich in den rheinischen Winzerstuben oder sonstwo saßen, bemitleidet zu werden wünschte, lehnte sie sich in den Sessel zurück, stützte ein Bein nur auf die Zehen, und dieses Bein schüttelte sich alsbald, daß die Gläser klirrten. Das kann man sehr schnell lernen. Wenn Tante Lalchen weg war, machten wir alle es ihr nach. Schwerer ist es schon mit dem Arm oder mit dem Kopf, aber bei einiger Übung hat man es auch bald heraus. Wer sich nun als gewerbsmäßiger Schüttler in Berlin etabliert, der ist vor der Polizei so sicher, wie ein Blödsinniger im Orient: versucht ein Schutzmann es auch nur, den Mann, der in einem billig gekauften alten Waffenrock da auf dem Bürgersteig sitzt, nach seinen Papieren zu fragen, so nimmt das sentimentale Berliner Publikum sofort Partei gegen den Schutzmann, und er kann froh sein, wenn er unverhauen aus dem Menschenhaufen entkommt. Zwei junge Kriegsteilnehmer aus guter Familie wetteten in der vorigen Woche, ob wohl ein Schüttler auf 200 Mark Tageseinnahme kommen könne. Der eine von ihnen trägt einen bekannten preußischen Adelsnamen. Ich nenne ihn nur deshalb nicht, weil sonst Herr Severing ihn - ihn allein - sofort wegen Bettelns und Betruges ins Kittchen sperren würde. Also dieser junge Herr kostümiert sich entsprechend, setzt sich an dem warmen sonnigen Tage auf dem Spittelmarkte mitten in das geschäftige Berliner Leben, schüttelt, zittert, schlenkert - und hat am Abend 217 Mark eingenommen.

Es ist freilich noch nicht so weit, daß die Kinder, wenn man sie fragt, was sie einst werden wollten, antworten: Schüttler. Sind die Kinder weiblichen Geschlechts, so sagen sie allenfalls: Filmdiva. Kam da vor etlicher Zeit ein siebzehnjähriges junges Ding nach Berlin gereist, um "beim Film" ihr Glück zu machen. Für Hunderte ist es das Unglück. Aber dieses Mädel war unter fünfhundert die eine Ausnahme. Sie ließ sich bei dem Direktor einer unserer größten Filmunternehmungen melden, der die gänzllich Unbekannte natürlich abweisen ließ. Sie erzwang trotzdem - da war das Glück ihr hold - eine kurze sachliche Unterredung, imponierte durch diese Energie und Sachlichkeit und erreichte durch einen Blick des Direktors auf ihre Haare, ihre Augen und - ihre Beine, daß er, halb belustigt, in einen Versuch einwilligte, zumal da es sich, wie wohl bemerkt werden muß, um ein gebildetes und elegantes Mädchen aus sehr gutem Hause handelte. Heute, wenige Wochen später, hat das Mädchen ein festes Monatsgehalt von 2000 Mark und an Spielhonorar bisher 3500 Mark. Dieses ist freilich für ein einziges Kostüm draufgegangen. Es klingelt. "Übermorgen, bitte, totschick in modernster Straßentoilette!" Das ist Befehl. Wird er nicht befolgt, so ist man schon unter den Rädern. Zunächst war das Mädel (ja, der Wuchs!) als Page aufgetreten, und dazu wird alles, wie überhaupt "das Historische", geliefert. Aber moderne Kleidung muß man sich selber besorgen. Das Talent manchen Filmsterns besteht, wie auch das mancher Operettengröße, nur in den Toiletten. Vielleicht wird die junge Dame, von der wir hier sprechen, einmal ein Stern. Ihre blonden Haare, ihre trotzdem nachtdunklen Augen, ihre schmalen Fußknöchel photographieren sich gut, und sie hat ein außerordentliches mimisches Ausdrucksvermögen, das schließlich doch nur die Außenseite eines reichen geistigen Innenlebens ist. Draußen in der Filmstadt wird das übrige für ihre Körperkultur getan. Man kommt an, nimmt ein Bad, turnt, arbeitet im Ruderkasten, wird massiert, manikürt, pedikürt, man müllert, man studiert, man agiert schließlich vor dem Kurbelkasten und ist nach acht Stunden ehrlich todmüde. Zieht man am Ende des Monats die Bilanz, so hat der Schneider das ganze Spielhonorar bekommen und noch vom Gehalt so viel dazu, daß für den eigentlichen Lebensunterhalt nicht viel mehr als in anderen Berufen bleibt, in denen ein junges Mädchen Tüchtiges leistet. Gewiß, man hat bessere Toilletten. Es ist auch romantischer, zu filmen, als tagsüber fünfzigmal zu tippen: "Antwortlich Ihres sehr geehrten Vorgestrigen . . ." Aber, wie gesagt, von 500 kommen 499 unter die Räder, und die eine, die sich - aber auch nur für die Zeit ihrer Jugend - eine auskömmliche Stellung verschafft, bleibt in der Mehrzahl der Fälle ein Sternchen sechsten Grades und erlebt es nie, daß sie als Lira Lara oder sonstwas in meterhohen Reklamen an allen europäischen und tschechoslowakischen Anschlagtafeln prangt.

Die Flimmersterne ersten Grades wühlen freilich in Perlen. Ihren Ruhm müssen sie dafür mit einem Verzicht auf jedes Inkognito bezahlen. Sie können niemals Hand in Hand mit einem lieben Menschen weltvergessen um den Schlachtensee bummeln, denn sofort stauen sich alle Wanderer zu Klumpen, starren sie an und sagen: "Ooh, die Lira Lara!", und am nächsten Morgen steht es in der Zeitung. Auf dem kommunistischen Parteitag in Halle blieb Erna Morena keine zwei Minuten unentdeckt. Auch der Pola Negri, der "schwarzen Paula", die an irgendeinen unsagbar polnischen Grafen verheiratet ist, behagen augenblicklich weder ihre Perlen noch ihre Berühmtheit. Die ersteren wurden ihr gestohlen, und zwar eines Abends in einem Hotelzimmer, das nicht ihr Zimmer war. Nun hat sie ihre Perlen wieder. Aber zu der Gerichtsverhandlung in Berlin ist sie nicht erschienen, denn es ist peinlich, von einem als Zeugen vorgeladenen Hoteldirektor sich sagen zu lassen, man sei ja gar nicht Hotelgast gewesen.

Nicht alle großen Darstellerinnen heiraten einen Grafen oder einen Bankier oder einen Botschaftsrat. Wer zum Film geht, vermindert sogar seine Heiratsaussichten, und das dürfen die vielen, die sich dazu drängen, auch nicht vergessen. Frauen, die begehrenswert sind, sind selten besitzenswert. Das ist nachgerade allgemeine Erkenntnis in der Männerwelt. Man sieht sich solch einen Paradiesvogel an und fragt sich sofort: "Was kostet der Schwanz?" Schon die Zigarettenrechnung der jungen Damen erschreckt die Werber. Alles "Totschicke" gefällt den jungen Männern nur so lange, als sie es nicht selber zu bezahlen brauchen, und auch die vollendete sachverständige Grazie, mit der ein junges Mädchen im Restaurant Artischoken aussaugt, tröstet nicht über die Hilflosigkeit hinweg, die dasselbe junge Mädchen wahrscheinlich bei der Herstellung einer einfachen Kartoffelsuppe bezeigen würde. Man spricht in Berlin jetzt viel von der Entlobungsseuche, die ärger grassiert als die Grippe, und auch nicht nur in Berlin allein. Hier und da windet ein Mädel sich in Schmerzen, heult, wird ins Bett gepackt oder aufs Land geschickt, weil sie einen nervösen Zusammenbruch erlebt, wie der Hausarzt erklärt. Sie ist entlobt: "er" hat ihr aufgekündigt, obwohl sie ihm doch so sehr imponiert zu haben glaubte, obwohl sie ihn doch so fest am Bändel zu haben vermeinte. Der Grund ist in neun von zehn Fällen der, daß der Mann erkennt, dieses Mädel werde an seiner Seite den harten Lebenskampf nicht bestehen können.. Auf Vermögen, ja auf Aussteuer sogar kann man heute, unter dem Zwang unserer Verarmung, verzichten. Ungezählte junge Ehepaare wohnen in Berlin in einem oder zwei möblierten Zimmern. Aber was der Mann haben muß, das ist eine frohe Frau, die in Arbeit sich gesund erhält, und ihm, dem vom Daseinskampf Zermürbten, das Daheim behaglich und sonnig macht; - und das traut er heute noch nicht der Hundertsten zu, die seine Wege kreuzt. Die eine oder andere begehrt er und verlobt sich mit ihr, aber die feierliche Besitzübernahme auf dem Standesamt lehnt er oft ab, wenn er nach wenigen Monaten alle Unzulänglichkeit erkannt hat. Die Paradiesvögel werden nicht mehr geheiratet. Das brave Haushuhn, das schlichteste, das unauffälligste, steigt im Kurse.
7. April 1921 (Donnerstag)


29

Sonntags bei Portiers - "Boomblüte!" - Wie man in Werder kampierte - Frühling in Sanssouci - Vor dem Antikentempel - Verkehrserschwernisse am Beisetzungstage - Großbetrieb mit Diebesgut - Stramms Stenodrama in den Kammerspielen

Von der Asphaltwüste zwischen den Steinburgen der Großstadt hebt sich ein Brodem. Es ist, als ob der Winter, der herbfrische Geselle, jetzt in irgendeinem Müllkasten verwese. Der Berliner aber ist nicht poetisch und nennt alles beim richtigen Namen. Vor den vierstöckigen, fünfstöckigen Häusern steht am Sonntag nachmittag ein Stuhl, darauf sitzt der "Herr Pochtjeh", und dieser Portier gibt seine Weisheit zum besten: "Meine Olle hat eenen jroßen irdenen Pott, da sind imma Faßbohnen drin, un wenn die anfangen zu stinken, denn is Frühling!" Auch die übrigen Portierfamilien sitzen vor den Häusern und tauschen ähnliche Bekenntnisse aus, ehe sie dazu übergehen, die "Parteien" durchzuhecheln, die Mieter. Überall haben die Herrschaften sich zu einer Portier-Zulage an den Hauswirt entschließen müssen, und mit den Trinkgeldern, die nebenbei am Fahrstuhl abfallen, steht man sich doch so auf rund 1800 Mark monatlich neben freier Wohnung, Heizung und Beleuchtung. Aber seine richtige Ruhe hat man doch nur am Sonntagnachmittag. Da verkehren keine Lastfuhrwerke, die Kinder können mitten auf der Straße ihren "Triesel" - ihren Kreisel - peitschen, und der Fahrstuhl steht still, denn die Parteien sind ausgeflogen. Zum Pferderennen in Karlshorst; oder zu einem Bummel an itgendeinem Grunewaldsee; oder zur Bootspartie in Treptow; oder zur Baumblüte in Werder.

"Boomblüte!" Dieses Wort hat in Berlin dieselbe elektrisierende Wirkung, wie "Salvator!" in München. Vater wischt sich den Schnurrbart, Mutter holt das Seidene hervor, die Kinder zappeln und kreischen. Wer nicht alljährlich zur "Boomblüte" nach Werder fährt, der gehört nicht zum richtigen Berliner Mittelstand. Das ist eine Sache, wo man sich mal "mit Muttern" bekneipt, während am Himmelfahrtstag ebenso herkömmlich die reine "Herrenpartie" steigt. Mit Blütenzweigen in den Händen, Obstwein in den Gliedern, Sonnenbrand auf den Gesichtern dürfen auch die Kinder an diesem Tage mal ein bißchen torkeln. "Werder an der Havel." So steht es im Lehrbuch für Erdkunde. Die Havel aber ist hier, wie so häufig, wieder einmal ein See. Schon ohne diese großen Flußbuchten gibt es über 2400 "selbständige" Seen in der wassergesegneten Mark Brandenburg, aber die Havelseen sind und bleiben die schönsten, weil sie auf dem Wasserwege alle hintereinander passiert werden können und immer wieder neue Reize enthüllen. Wenn man zu Fuß westlich Potsdam aus dem Buchendom des Wildparks heraustritt, sieht man drüben jenseits des Sees Werder terrassenartig ansteigen, den ganzen Höhenzug dieser Gartenstadt übersät mit rosaweißer Blütenpracht. Weit rechts oben, zum Bahnhof zu, ragen große Gasthofkasernen aus dem Waldesgrün. Man ist auf Massenbesuch in dieser Berliner Obstkammer gerüstet. Billig ist es auch dort nicht mehr, die Flasche Obstwein kostet 20, und ein kleiner Blütenzweig 5 Mark, aber die Frühlingsseligkeit muß ausgekostet werden. Früher gab es in Werder sogar ein Nachtlager umsonst. Die vorsorglichen Werderaner brachten große Strohbündel und warfen sie kilometerweit am Bahndamm entlang ins Gras. Da schliefen nun Tausende ihren Rausch aus, um dann in aller Herrhottsfrühe am Montag in der Taufrische zu erwachen und jetzt mit klaren Sinnen den wirklichen Frühling zu genießen, ohne Staubwolken, Gedrängel und Prostgeschrei. Der Wein macht zutraulich. Wer da abends schwergeladen am Bahndamm sich niederließ, für den war die grantige "Olle" auf einmal das "Pusselken" geworden, und eine sonst seltene Zärtlichkeit vergoldete das Familienidyll. Nur manchmal gab es Mißverständnisse, und irgendeine schrille Stimme erklang: "Mein Herr, Sie irren sich, ich bin jarnich Ihre Dame!"

In diesen Tagen sind viele nur beim Weiterwandern nach Werder gekommen, die nicht von Baumblüte und Obstwein angezogen wurden. Sanssouci war ihr eigentliches Ziel. Man will sich beim Alten Fritz eine Herzstärkung holen und dann scheu und still den Parkwinkel anschauen, in dem die Kaiserin ihre letzte Ruhestätte finden wird. Die marmornen Nymphen und Faune, die Römerköpfe und Franzosenbüsten, die Taxushecken und Kugelbäume, dieses ganze Gemisch von Rokoko und Plutarch ist uns heute etwas Fremdes, aber es wird unendlich persönlich, sobald man sich Friedrich den Großen hineindenkt. Der Blick von unten die Terrassen hinauf, die von dem flachen, langgestreckten und doch koketten Schlößchen zwishen blühenden Magnolienbäumen bekrönt werden, ist unvergeßlich schön. Weiter links überragt als historische Anekdote die "Windmühle von Sanssouci" die Bäume. Ungezählte Tausende fluteten am letzten Sonntag hier einher. Und dann - still, ganz still - wendeten sie sich von der leuchtenden Vergangenheit ab und der gramvollen Gegenwart zu, weiter nach Westen hin, wo es keine Standbilder und keine gestutzten Bäume mehr gibt, sondern einen schönen freien Park um das Neue Palais herum. Man sieht wieder breite Rasenflächen. In einem verschwiegenen, verwachsenen Winkel aber, schier märchenhaft, birgt sich unter jungem Laub der kleine Rundtempel, in dem die Kaiserin beigesetzt werden soll. Nicht weit davon sieht man noch Spuren ihrer Hand: Bäumchen, vor ihr an Hochzeitstagen der Kinder und bei ähnlichen Gelegenheiten gepflanzt, daneben kleine Porzellanschilder mit Datum und Anlaß. Das letzte vom 31. Juli 1914: Kriegstrauung im Hause Hohenzollern. Auch zur Erinnerung an die eigene Silberhochzeit 1906 sprießt und grünt etwas in die Höhe. Den kleinen Tempel hat Friedrich der Große für einen Teil seiner Sammlungen erbaut; die Kaiserin selbst hat hier ihren Sarg herhaben wollen. Nun wollen weitere Tausende am nächsten Dienstag hin, nicht zu einer politischen Demonstration, sondern zu einer stillen Ehrung alles Verlorenen. Noch einmal wird die alte Armee aus dem Grabe auferstehen, leibhaftige Generaladjutanten werden die Zipfel des Bahrtuchs halten, Offiziere der Garde leuchtend Spalier bilden, daneben die gebildete Jugend, die Frauenvereine, alles, was "vaterländisch" fühlt, - und in ihrer Angst vor dem Eindruck dieses stillen Heerbannes der Toten bestimmt die Regierung, die noch am vorigen Sonntag, weil so schönes Wetter war, im letzten Augenblick zahlreiche Sonderzüge nach Potsdam einlegte und bei einem Jahrmarkt oder einem Tonkünstlerkongreß oder einem Schützenfest es wieder täte, daß nur ein einziger - ein einziger - Sonderzug für die allernächsten Trauergäste gestellt wird und im übrigen der Wochentagsverkehr in Kraft bleibt. Sie "warnt vor Zuzug", sie drosselt ihn, sie steckt den Kopf in den Sand, um nichts zu sehen. Aber es gibt Dinge, die mächtiger sind, als republikanische Bureaukratie. Ein Andenken aus der alten Zeit geht mit in die Gruft und spricht von dort aus vernehmlich in die Lande zu allem Volk: die Kaiserin-Standarte. Zum letzten Male sah ich diese gelbe Flagge mit Krone, Kreuz und Adler von der "Iduna" wehen, als die Kaiserin auf der Reede von Swinemünde an der deutschen Flotte entlangsegelte und die Zarenjacht umfuhr. Ich stand auf der "Hohenzollern", sah hernieder auf dieses deutsche Glück: der Kaiser froh und gebräunt, neben ihm, ein echtes Kind des "meerumschlungenen" Schleswig-Holstein, die hohe Frau, beide in einem der seltenen Augenblicke höchsten faustischen Genügens. Nun haben die deutschen Seeoffiziere, die bisher die Standarte geborgen hatten, sie im Tode der Besitzerin zurückgegeben, und um den Fahnenschaft liest man auf silbernem Ringe in tiefster seelischer Erschütterung die Worte:

Die Flagge der Kaiserin.
Ich habe Tage des Glücks gesehn,
Sah Deutschlands Ruhm und Deutschlands Vergehn.
In Tagen des Elends und Tagen der Schmach
Folg' der seligen Herrin zur Ruhe ich nach.
Verbleiben will ich an dieser Statt,
Bis das Reich wieder Krone und Kaiser hat.
Herr Gott hilf!

Der Schrei wird weit hinaushallen in diesen Tagen, in denen man von der glorreichen Republik außer der kleinlichen Schikane der Sonderzugverweigerung kaum etwas merkt. Wir sind wieder zu der einen großen Familie geworden, wir alle in Berlin und Potsdam, die wir im November 1918 nicht rot zu sehen gelernt haben.Der Reichsverkehrsminister Exzellenz Groener gehört freilich nicht dazu. Und diese große Familie will der heimgegangenen Stammesmutter die letzte Ehre erweisen, wenn auch wirklich nur der einzig "passende" Zug um 4 Uhr 50 Minuten morgens möglich wäre oder gar ein Hinauswandern schon am Abend und ein Übernachten im Busch. Nur wenn bösestes Wetter sich mit der Regierung verbündet, werden wir an diesem Tage keine Völkerwanderung erleben. Als Rosa Luxemburg, die revolutionäre polnische Jüdin, beerdigt wurde, verbot die löbliche Regierung jede Schulstrafe an Kindern, die an diesem Tage geschwänzt hatten. Nun wird die Kaiserin Auguste Viktoria beigesetzt, und der Regierung bricht der Angstschweiß aus.

Sie ist ja machtlos. Sie kann zwar - nun schon jahrelang - das Mausoleum in Charlottenburg gesperrt halten, so daß kein sehnender Deutscher zu Luisens Grabmal pilgern darf, nur Einbrecher sich einmal den Zugang verschafften; aber sie kann nicht verhindern, daß die Straßen Berlins allmählich denen Krakaus oder irgendeiner anderen Ghettostadt gleichen, wo ungestraft gestohlene Ware vertrieben wird. Dieser wilde Straßenhandel ist ein Charkteristikum verlumpter Völker. Im vorigen Jahre ging es hauptsächlich am Schönhauser Tor hoch her. Jetzt ist die Gontardstraße dicht am Polizeipräsidium der große Stapelplatz, am Mühlendamm entwickelt sich ein zweites Schacherzentrum, und einzelne Händlergruppen tauchen in der ganzen Stadt auf. Ich meine nicht die Harmlosen, die eine aus Scherben neu gekittete Kaffeetasse mit dem Hammer bearbeiten und wieder zusammenfügen, oder an "unzerreißbaren" Hosenträgern zerren, oder zuckersüße Hirseplätzchen vor aller Augen backen, sondern die Scheuen, die urplötzlich ganze Ballen "prima Hosenstoff" auf dem Bürgersteig ausbreiten, in der rechten Rocktasche Brillantringe, in der linken obszöne Postkarten auf Lager und im übrigen ihre Papiere mitsamt Arbeitslosenbescheinigung in Ordnung haben. Aber auf die Papiere allein kann man sich nicht verlassen. Mit affenartiger Geschwindigkeit packen diese Leute ihre zauberhaft billigen Kammgarne und Cheviots zusammen, wenn irgendwoher ein verlorener Pfiff ertönt, und sind wie von der Erde verschluckt. Gravitätisch erscheinen zwei grüne "Greifer" im Zeremonialschritt mit Seitengewehr und Pistole oder Karabiner, entschwinden ebenso würdevoll, und hinter ihnen steht sofort wieder die geschlossene Reihe der Händler mit Diebesgut auf, mit affenartiger Geschwindigkeit wird ausgepackt und im Handumdrehen verkauft, so daß man den Eindruck hat, in wenigen Tagen werde ganz Berlin "neu eingekluftet" sein. Jede Preissenkung in den großen Spezialgeschäften wird von dieser Gilde noch unterboten. Sie braucht ja keine Ladenmiete zu zahlen und hat keine Rechnung beim Tuchfabrikanten zu begleichen, sondern nur einen Anteil vom Reingewinn an ihre Lieferanten abzuführen, und die arbeiten nicht mit Webstühlen, sondern mit Dietrich und Brechstange, was weniger zeitraubend und kostspielig ist. Du kaufst dir eine Hose. Sie sei dir zu lang, sagst du? Sag's lieber nicht. Bestenfalls antwortet dir der Mann: "Ick kann doch nich uff Maaß klauen!"

Das malerische Berlin - Lumpen sind immer malerischer als Honettigkeit - hat unter diesen Zuständen vielleicht gewonnen, das mag sein. Dafür wird es auf anderen Gebieten immer nüchterner bei uns. Schon klagen unsere großen Schauspieler, daß das Publikum mit Expressionismus und Primitivität übersättigt sei und daß die Bühne unbedingt wieder der reizvollen Bilder bedürfe. Der republikanische Staatstheaterintendant, Jeßner, ist zwar nicht dieser Ansicht und spricht auf dieselbe Rundfrage hin immer noch von der notwendigen "Revolutionierung" der Kunst. Kein Mensch glaubt es ihm mehr. Man hat Hunger nach dem Schönen früherer Jahre, man bekreuzigt sich vor der modernen Inszenierung. Man weiß ja gar nicht mehr, wohin man seine heranwachsenden Kinder bringen soll, um sie nicht schwer zu enttäuschen: der "Wilhelm Tell", der offenbar zu "nationalistisch" ist, wird lange nicht mehr gegeben, und Schillers "Räuber", die ich einer jungen Nichte aus dem Auslande zeigen wollte, kampieren in "böhmischen Wäldern", die aus je drei symmetrischen Baumstamm-Andeutungen links und rechts im Hintergrunde bestehen. Das junge Ding ist zum ersten Male, um ihr Deutschtum nicht zu verlernen, von weither auf ein halbes Jahr in der Väter Heimat geschickt worden, hat aber in dieser Aufführung der "Räuber" nur - gelacht. Das sei ja alles so unwirklich, sagt das Mädel; die steifen Bäume und die brüllenden Menschen. Die reine Travestie. So hätten sie daheim als zehnjährige Kinder Theater im Schlafzimmer gespielt. Diese Primitivität wird nun auch auf das Wort übertragen. Reinhardt läßt in den Kammerspielen Stramms "Kräfte" aufführen, die Tragödie einer von Liebe und Haß strotzenden Frau, die aus Eifersucht den Mann in den Tod jagt, seine angebliche Geliebte zum Küssen des Leichnams zwingt, sie dann ermordet und zuletzt sich selbst ums Leben bringt, also eine Moritat, die der als Hauptmann der Reserve gefallene Postbeamte und reputierliche deutsche Dichter Stramm uns wirklich nur durch etwas ganz Ungewöhnliches schmackhaft machen kann. Er versucht es durch die Virtuosenleistung des Telegrammstils. Er gibt sozusagen ein Stenodrama, um nicht zu sagen Mimodrama. Die vier Personen - das Ehepaar, die Freundin, der Freund - sprechen nur in einsilbigen oder wenigsilbigen Ausrufen, wie: "Ich?", "Du!", "Ach!", "Küssen!", "Hier?" oder gar bloß mit Achselzucken, Fingerspreizen, Lippenschürzen, Augenrollen. Das ganze Textbuch hat nur 36 winzige Seiten, und die Hälfte davon besteht aus Regiebemerkungen. Selbstverständlich kann eine Künstlerin wie Agnes Straub daraus eine verblüffende Leistung machen. Wir gehen aber doch nicht ins Theater, um uns verblüffen zu lassen; diesmal verließ das Premierenpublikum die Kammerspiele ohne Beifall und ohne Zischen, wie erstarrt, weil niemand wußte, wodurch er sich mehr blamiere. Es gibt Geiger, die auf einer einzigen Saite gar lustig zum Tanze aufspielen können, und wenn auch diese noch platzt, durch "Hmta, hmta, hmtata" die Paare im Dreh erhalten. Nur im Theater verlangt man mehr als Zungenschnalzer und geplatzte Saiten. Was die "revolutionierte" Kunst uns hier vorsetzt, ist nicht mehr deutsch, nicht mehr Kunst, sondern fremdes Artistentum.
14. April 1921 (Donnerstag)


30

Die Kaiserin und Hindenburg - Kronprinzessin Cecilie - Ufa-Premiere - Der Film als Machtfaktor, der Film als Kunstsurrogat - August Scherl - Die Lektüre des Kaisers - Reinhardts "Sommernachtstraum" - Die Unsicherheit in der Großstadt - Häusliche Diebeszunft

Keine Truppen kommen mit schmetternder Musik, Keine Leibschwadron reitet voran, kein dumpfer Paukenschlag erdröhnt, nicht einmal ein winziges Bläserkorps spielt, wie doch sonst bei der Beerdigung eines beliebigen wohlhabenden Bürgers, wenigstens "Jesus, meine Zuversicht" oder Chopins Trauermarsch: still, in wortloser Trauer, wird die Kaiserin am 19. April 1921 heimgetragen. Aber noch nie sah die alte Fritzenstadt eine solche Menge von Leidtragenden. Potsdam ist ein wimmelnder Ameisenhaufen. Allein in dem Spalier vom Bahnhof Wildpark bis zum Antikentempel stehen 47 000 Mitglieder von Korporationen, Deputierte von Vereinen, und hinter ihnen nicht Zehntausende, sondern Hunderttausende bis zu 10 Gliedern tief. Man sieht, vielleicht zum letztenmal, die Heerführer des großen Krieges und die Staatsmänner des Kaiserreiches in Trauergala beieinander, dazu vollzählig in blitzendem Helm die hochragenden Herren des Kürassierregiments "Königin". Allen überhehr aber einer: Hindenburg. Das fassungslose Staunen über einen Menschen von Vorzeitgröße packt die Menge erst bei seinem Anblick. In dem feldgrauen Auto, das am Bahnhof Wildpark vorfährt, sieht man die mächtige Gestalt des breitbrüstigen Riesen sich tief beugen, damit er überhaupt zum Wagenschlag heraus kann. Nun steht er vor dem Gittertor des Bahnhofgärtchens, stülpt sich den Generalshelm mit flatterndem Federbusch auf den kantigen Schädel und hebt langsam den blauen Marschallsstab zum Gruße. Eine hastige, fahrige Bewegung bei diesem Manne wäre unmöglich, alles an ihm ist wuchtige, gesammelte Kraft. Es geht wie ehrfürchtiges Brausen durch die barhäuptige Menge. Man kann an sich selbst, man kann am Volke, am Staate verzweifeln, an diesem Manne aber nie; er steht da in alter felsenfester Treue, ein leuchtendes, begeisterndes Vorbild für alle Zeiten. Es kann auch gar nicht anders sein, als daß er nachher im Trauergefolge, der übrigen Generalität voran, einen einzigen nur neben sich hat, den Bestgehaßten, dem er aber die Treue wahrt, den General Ludendorff. Man sieht es, und man erschauert. Einen halben Schritt rechts dahinter erblickt man den Großadmiral v. Tirpitz, dem die verstorbene Kaiserin so fest die Stange hielt, weiterhin noch manchen Klugen und Großen. Aber man hat doch nur den einen tiefen Atemzug getan, als man ihn sah, den Feldmarschall, ihn, der eine Welt im Banne hielt, bis das eigene Volk sich ihm versagte. Ganz gebeugt, nur noch ein blasser Schatten ihrer selbst, schier gespenstig unter dem dunklen Schleier, schreitet die Kronprinzessin als erste Angehörige der Familie, geleitet von dem Prinzen Eitel Friedrich, der heute, wo ein kurzer, rund geschnittener Kinnbart ihn noch behäbiger als sonst erscheinen läßt, längst nicht mehr die strahlende Siegfriedgestalt ist, in der er einst als Hauptmann der Ehrenkompagnie die Braut des Bruders nach Potsdam geleitete. In tiefer Bewegung wird die Kronprinzessin von den Tausenden begrüßt, die einen Blick auf sie erhaschen können. Sie hat eine gütige Mutter verloren; das muß manch einer von uns erdulden. Aber was ihr Gesicht so dünn und durchsichtig und alabastern gemacht hat, das ist doch wohl noch anderes: das Weh des Getrenntseins von ihrem Manne, die Sorge um ihn, den mit 38 Jahren Ergrauten, und nicht zuletzt das ganze Herzeleid um unser armes, betörtes Volk, das diese klügste und auch politisch reifste unserer Fürstentöchter zu tragen hat.

Die beiden, die Kaiserin und die Kronprinzessin, haben sich vortrefflich verstanden, obwohl jene mehr Frau und diese mehr Dame war; denn ihre Sorgen waren dieselben, ihr Blick der gleich geschärfte. Die Heimgegangene hat oft Dinge gefühlt, die noch kein Verstand der Verständigen sah. Ein rotes Berliner Blatt schreibt heute roh, sie sei eine beschränkte, ja dumme Frau gewesen. Und doch hat sie als eine der ersten in den hinter uns liegenden Jahren die Gefahr erschaut, in der das Reich und das Hohenzollernhaus sich befanden, hat mit schwerer Sorge schon im Herbst 1914 die Dinge im Hauptquartier beurteilt und in ihrer Art - aber ganz anders, als 1870 die Bismarck verhaßten fürstlichen Damen - eingegriffen. Intuitiv erkannte sie wirkliche Größe, durchschaute sie die Jämmerlichkeit der Bethmann und Müller und der übrigen "Lenker" unserer damaligen Geschicke. Im April 1915 ließ sie in Charleville Tirpitz zu sich kommen, der - er kannte ja die Kaiserin - ganz ungeschminkt ihr die Lage schilderte und es beklagte, daß der Kaiser hier umgeben und eingeschlossen sei von einer weichen Masse. Da wehrte sie nicht etwa ab, da spielte sie nicht etwa die beleidigte Majestät, sondern sagte: "Ja, leider ist es so!" und versprach, alles, was sie könne, für Heranziehung Hindenburgs und für größere Energie der Kriegführung zu tun; man solle ihr, einer deutschen Frau, nicht nachsagen, daß sie um ihrer sechs Söhne willen weichmütig werde, fügte sie hinzu. Sie hat ihr Versprechen gehalten, sie hat die berühmte Zusammenkunft des Kaisers mit Hindenburg in Posen zustande gebracht, hat die beiden dann auch, wie sie da im Gespräch beieinanderstanden, photographiert und dafür gesorgt, daß das Bild Millionen von Deutschen vor die Augen kam; denn diese einfache Frau wußte besser als mancher Minister, was Propaganda sei und wonach das bang schlagende Herz des Volkes frage.

Am Vormittag: Heimführung der toten Kaiserin. Am selben Nachmittag: Ufa-Filmpremiere am Kurfürstendamm. Unvermittelt und grell berühren sich die Gegensätze. Man hat noch das Schluchzen im Ohr, mit dem vor dem Antikentempel in Sanssouci schlichte Frauen und vornehme Damen Abschied nahmen, und nun sieht man schlichte Frauen und vornehme Damen in lachendem Jubel vor der Flimmerleinwand. "Peter Voß, der Millionendieb." Fünfte Serie. Spanien. Im ersten Rang des Filmtheaters sitzen Harry Liedke und die übrigen Darsteller der Jagd nach dem Millionendieb, sitzen zwischen Lorbeerkränzen, Blumenkörben, Widmungsschleifen und sehen sich selber sozusagen im Riesenspiegel, auf der Leinwandfläche vorn, und lachen über die eigenen Grimassen. Das Publikum aber verdreht die Hälse, sieht mehr nach rückwärts zu den lebendigen Helden und Heldinnen des Abends als nach vorwärts auf die Bilderfolge, macht verzückte Augen, lacht, jubelt und klatscht Beifall. Carlyle hat ein Buch über Helden und Heldenverehrung geschrieben. Er meinte Bismarck und solche Leute; er kannte eben noch nicht Harry Liedke, Henry Bender und die Mia, die Maja, die Moja, sonst hätte er wohl noch begeisterter geschrieben. Ich habe gar nichts gegen den Film. Er ist eine Macht, mindestens so stark wie der Mond, der alle Ozeane in Flut und Ebbe um die Erde peitscht, denn er, der Film, kann alltäglich Millionen von Menschen lehren und bilden, läutern und vergiften, rühren und erbittern. Er kann mehr als alle Pfarrer, alle Künstler, alle Versammlungsredner; mehr sogar als aller Alkohol der Welt, und dessen Macht ist doch wahrhaftig grauenvoll. Also darüber spöttele man nicht. Der Film ist eines der Hauptprobeme für Volkswirtschaftler, Pädagogen, Staatsmänner. In Deutschland ist er eine Großindustrie. Er gibt unseren tiefsten Menschendarstellern die noblen Mittel zu einem ihrer würdigen Lebensunterhalt, beschäftigt eine Legion von Malern und Architekten und könnte (könnte!), wenn wir einen Northcliffe hätten, das Urteil über Deutschland und die Deutschen in allen fünf Erdteilen umstoßen. Die Ufa, die Universum-Film-Aktiengesellschaft, sollte ursprünglich ein Werkzeug dazu sein. Die alte kaiserliche Regierung, der allmählich ein Licht über diese Dinge aufgegangen war, hatte sich mit etlichen Millionen Mark an dem Unternehmen beteiligt. Die neue republikanische Regierung zieht ihre Beteiligung wieder zurück, da sie ihre Propagandamittel notwendiger auf innerpolitischem Gebiete gegen die Rechte braucht. Nun muß die Ufa einfach Geld machen wie andere Firmen auch. Den Riesenfilm "Anna Boleyn" hat sie für 10 Millionen Mark an einen amerikanischen Agenten verkauft; der wurde ihn vier Tage später für 20 Millionen Mark an eine große Gesellschaft los. Der Millionendieb Peter Voß aber, dessen Teil 5 in dieser Urvorführung am Dienstag wir erlebten, ist nicht so weltbewegend. Mich bewegt der Film - jeder Film - überhaupt nicht. Wie gesagt, ich achte ihn, denn er ist eine Macht. Ich liebe auch die Engländer nicht und spotte doch nicht über sie. Nur das Vergröbern, das Übertreiben, das die Kunst einfach meuchelt, und die unanständige Hast, die aus Menschendarstellern Akrobaten macht, stören mich beim Film. Auch in dieser spanischen Serie der Diebesjagd durch alle Länder. Einzelnes ist ja sehr hübsch, sehr anschaulich, namentlich die Szenenfolge aus dem Stierkampf. Was diese kleinen, wendigen andalusischen Stiere, die wie ein Böcklein springen können, für ein Kampfgegner sind, zumal da sie Hörner haben wie ein paar Lanzen, das kann sich der Deutsche, der nie einer Corrida beigewohnt hat, und an unsere kurzgehörnten, ungeschlachten Simmenthaler Riesen denkt, sonst kaum vorstellen. Aber alles schnurrt mit einer so irrsinnigen Eile ab. Wenn auf der Flimmerleinwand jemand ißt und trinkt oder vielmehr stopft und gießt, so hat man Angst, daß er im nächsten Augenblick ersticken und blaurot umfallen werde. Keine Darstellerin steigt eine Terrasse mit königlicher Würde hinauf oder herab, sondern rast wie der Schnelläufer von Marathon. Aus einer Entfernung von Kilometern, eben noch ein Pünktchen, kommen Reiter mit der Geschwindigkeit eines Blitzzuges herangebraust. Das Kommen und Gehen bei Gesellschafts- und sogar Liebesszenen vollzieht sich so, als wenn in höchster Not alle diese Leute schnell ein gewisses verschwiegenes Örtchen erreichen wollten. Diese greuliche, konstitutionelle Unwahrhaftigkeit des Films macht aus jedem Schauspieler einen Jongleur. Das Menschengehopse ist unwürdig. Aber das Publikum rast vor Begeisterung. Es starrt so verzückt nach dem ersten Rang, wie früher unsere jungen Mädels im Parkett des Opernhauses nach der Hofloge.

Übrigens nicht nur die jungen Mädels. Dieselbe Gewohnheit hatte der soeben verstorbene große Zeitungskönig August Scherl. Er selbst blieb immer im Dunkeln, aber er liebte das Strahlende. Im Opernhaus saß er immer tief im Hintergrunde der Proszeniumsloge, aber mit brennenden Augen hing er unverwandt an der Kaiserloge. Allsonntäglich ging er in den Dom. Aber, wenn auch diskret und unauffällig, suchten seine Blicke nicht den Prediger, sondern die kaiserliche Familie. Dieser Scherl, der, als er einmal beim Ordensfest die Schleife zum Roten Adlerorden dritter Klasse bekam, einen jungen Mann zum Reichskanzler Grafen Bülow schickte und ihm brüsk sagen ließ, derartige Lappalien nehme er nicht an (er bekam nachher auch noch einen Halsorden), war von einer geradezu kindlichen Ehrerbietung gegenüber dem Monarchen. Selber rastlos in seinen grandiosen Plänen, die nicht nur die Umwandlung des deutschen Zeitungswesens ins annähernd Amerikanische einleiteten, sondern sich auch auf Sparprämiensystem, Einschienenbahn und Dutzende anderer Nabobentwürfe erstreckten, hatte er an der Rastlosigkeit Wilhelms II. seine tiefinnere Lust und duldete in seinen Zeitungen kein herbes Wort wider den Kaiser. Man nannte ihn mit Unrecht einen Byzantiner; dazu war er viel zu menschenscheu, sah er doch oft wochenlang außer seinem Haarkräusler niemand außerhalb des engsten Familienkreises. Es hieß immer, der "Lokalanzeiger" sei die einzige Zeitung, die der Kaiser unzerschnitten bekomme, und daher erfahre der hohe Herr auch so wenig aus dem Volke. Das gehört aber nur zu dem vielen erlogenen Klatsch, der allmählich den Monarchen umsponnen und unpopulär gemacht hat: ich kann es bezeugen, daß dem Kaiser, außer ausländischen Journalen und Wochenschriften, täglich die zehn größten deutschen Zeitungen aller Parteirichtungen völlig ganz auf den Tisch gelegt wurden und daß er sie mit eingehendem Interesse, freilich auch mit der Schnelligkeit des geborenen Redakteurs, durchzusehen pflegte. Die Zeit dazu nahm er sich in aller Herrgottsfrühe und oft noch nach Mitternacht, wenn sonst jede Minute am Tage besetzt war, denn einseitig informiert sein wollte er nicht. Er brauchte ja auch noch nicht ins Kino zu laufen. Den Wert der lebenden Lichtbilder sah er durchaus ein, schätzte besonders den Lehrfilm, hatte auch für den Groteskfilm etwas übrig, aber nichts für den schmalzig-sentimentalen. Auch er wurde durch das Unnatürliche im Film, das Rasen des Bandes, in seinem Urteil sehr beeinflußt.

Wer mit Auge und Ohr sich wirklich an Poesie sattrinken will, wer der Flimmerleinwand und der Kaffeehausmusik überdrüssig ist, der pilgert jetzt abends zum "Sommernachtstraum" im Großen Schauspielhause. Mit dieser zartesten, verträumtesten, schalkhaftesten Schöpfung Shakespeares hat Reinhardt einst seinen Ruhm im Deutschen Theater begründet. Man kann aber ein Märchenwunder nicht in einer Arena, auf die von allen Seiten dreitausend Zuschauer starren, offen sich abspielen lassen; da liegt es wie auf dem Seziertisch im Lichte der Bogenlampen, und jeder Zauber und jeder Duft ist dahin. Noch immer umweht unsereinen glückhaft und lieblich die Erinnerung an jene ersten Aufführungen vor etwa zwanzig Jahren, wo man so ganz herzhaft über die derbkomischen Rüpelszenen lachte und so innig in die hauchzarte Poesie des Waldzaubers der Sommernacht sich versenkte; holde Jugendeselei überkam die ältesten Grauköpfe. Nun erschienen die Anzeigen an den Säulen: der "Sommernachtstraum" im Großen Schauspielhause. Weh uns Armen, die Poesie wird als Massenopfer hingeschlachtet, so dachte man. Aber das künstlerische Gewissen und der Gedanke an seine erste Großtat auf der "Guckkastenbühne", wie das normale Theater von dem Dreitausendwahn genannt wird, hat diesen Reinhardt jetzt vor dem Äußersten bewahrt, nachdem er schon einmal den "Hamlet" in der Arena vor die Hunde hat gehen lassen. Für den "Sommernachtstraum" ist die Arena in der Mitte des Zirkusraumes, in die man in vielen Reihen Stühle gestellt hat, wieder zum Parkett der Zuschauer geworden, im Guckkasten-Ausschnitt spielt das eigentliche Zauberische sich ab, und die Vorbühne - als geneigte Rasenfläche - dient glücklich nur dazu, daß die Elfen darüber hinweghuschen und die Rüpel darüber hinwegkollern, und macht uns zu Teilnehmern der Sommernacht, über der aus dunkelblauem Himmel die Sterne funkeln; mit dem Rücken gegen uns sitzt da auf dem Throne das Traumkönigspaar, mit ihm zusammen sehen wir auf den Feenzauber rundum, wir sind also nicht das Objekt von schauspielerischen Anstrengungen, nicht auf uns drein spricht und agiert der Mime, sondern wir sind Subjekt und um uns herum schwebt und gaukelt die erdentrückte Phantasie, huschen und wiegen sich, gestellt durch die Eduardowa vom ehemaligen Petersburger Hofballett, die traumhaften Sommernachtsgeister.

Wenn es nur nicht so oft ein böses Erwachen gäbe. Noch glühen einem die Wangen von dem Erlebnis des Abends, und schon kriecht die Angst heran: was mag inzwischen zu Hause geschehen sein! Man hat alle Schränke abgeschlossen, man weiß auch, daß der Schmuckkasten leer ist, denn alles gab man im Kriege dem Staat, man ist auch sicher, daß der Herr Portier keine fragwürdigen Leute ins Haus läßt, man weiß auch, daß der reiche Mann im ersten Stock einen Hund und einen Wächter zwischen Vorder- und Hintertreppe von 9 Uhr abends ab die Nacht hindurch patrouillieren läßt. Wie aber, wenn "des Hauses redliche Hüterin", die neue Küchenfee, mit dem bißchen Tafelsilber und der Wäsche auf und davongeht, ihrem auf der Straße harrenden Galan noch die zwei Pelze aus der Mottenkiste und einen Arm voll Kleider aus dem Fenster heraus zuwirft? Das ist es, was so vielen Berliner Familien jetzt die Ruhe raubt. Die Hausdiebstähle nehmen überhand, und Kleider und Wäsche sind doch heute ein fast unersetzlicher Schatz. Früher kam die neue Marie oder Minna mit ihrem polizeilich gestempelten Dienstbuch an, das nur unvorbestrafte Dienstmädchen erhielten, und bei irgendeiner darin eingetragenen früheren Herrschaft konnte man sich nach der "Neuen" erkundigen. Die Republik aber hat die Gesindeordnung abgeschafft. Die Mädchen kommen mit ihrer Klebekarte an, damit basta. Es sind berufsmäßige Verbrecherinnen darunter, manchmal auch Straßendirnen, die der Zuhälter dazu abgerichtet hat, mal "ein großes Ding zu drehen". Weitere gefälschte Papiere sind um ein Billiges zu haben. Der ganze Arbeitsmarkt für sogenannte Hausangestellte in Berlin ist auf diese Weise dank unseren republikanischen Fortschritten verseucht. An den Anschlagsäulen sieht man täglich große Belohnungen für die Wiederbeschaffung gestohlenen Hausgutes ausgelobt, das in neun von zehn Fällen nicht von Einbrechern, sondern von Dienstmädchen entwendet worden ist. Zu fassen sind sie kaum je. Und unseren Regierenden liegt ja auch nicht viel an der Sicherheit des steuerzahlenden Bürgers. Der beneidenswerte Kleinstädter hat es da viel besser; zwar hat er keine Pferderennen, Ufa-Paläste, Große Schauspielhäuser, Nackttänze, 1000-Mark-Gedecke in Luxusrestaurants, Staatsaktionen, Negerboxer, Reichstagsrüpel, zwar wissen alle Nachbarn, was für einen Braten er Sonntags hat, aber dafür ist seine Marie oder Minna, wenn auch nicht immer eine Perle, so doch ein richtiges Dienstmädchen, das rundherum bekannt ist, durch keine Schwindelpapiere ihr Vorleben fälschen kann und sich nicht eines schönen Sommernachtsabends als Angestellte einer Diebesbande entpuppt.
21. April 1921 (Donnerstag)



Glossen 25 - 27

Jahresinhalt

Glossen 31 - 33

© Karlheinz Everts