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Die lex Goltz - Entente-Damen und deutsche Damen - Berliner Geselligkeit auf Pump - Orchideen für 500 Mark pro Abend - The Germanman - Im Türkischen Café - Russische Großfürsten in Berlin - Lachen macht alt
Das Geschlecht v.d. Goltz hat auf seiner jüngsten Tagung in Berlin beschlossen, daß seine Angehörigen, falls sie nicht dienstlich dazu gezwungen seien, jede Berührung mit Ententeleuten vermeiden sollten. In keinem anderen Lande der Welt wären solche Richtlinien für die guten Familien überhaupt nötig. In Belgien und in Frankreich haben die dortigen Damen während des Krieges, wenn sie einem deutschen Militär nicht ausweichen konnten, auch nicht an ihm vorbeisehen konnten, dann wenigstens weltverloren so durch ihn hindurchgesehen, als wäre er Luft. Nur sehr wenige dachten anders, und dann waren es wohl keine Damen. Bei uns aber müssen die Grafen und Freiherren v. d. Goltz ihren Angehörigen den freiwilligen geselligen Verkehr mit Ententeangehörigen verbieten, um durch dieses Beispiel auch auf andere gute Familien zu wirken. Es sind nicht etwa nur Schieber, neue Reiche, die die fremden Überwachungsoffiziere zu sich einladen, sondern Deutsche aus allen Kreisen fangen an, gegenüber unseren Bedrückern plump vertraulich zu werden. Da ist es denn kein Wunder, wenn auch junge Mädchen der "besten" Kreise nichts dabei finden, sich Madame vorstellen zu lassen, vor Monsieur (Colonel oder General) einen Hofknix zu machen und dann sehnsüchtig auf die erste Einladung zum Hausball bei diesen Freunden zu warten. Warum denn nicht? fragen sie naiv; das seien doch nachgerade die einzigen Leute, die sich eine vornehme Geselligkeit leisten könnten, und ohne eine solche verbauere man doch.
Was vornehme Geselligkeit ist, scheint man gar nicht mehr zu wissen. Wir haben sie in Berlin jahrzehntelang in den verschiedensten Salons gehabt, die sich keinerlei Luxus leisten konnten. Heute aber wird sie nicht nur durch materielle Genußsucht, sondern auch durch Überästhetentum verteuert. Hat man's nicht dazu, so pumpt man's sich. Es wird ja heutzutage alles verliehen, nicht nur Fracks und Tafelgeschirr, wie Lehmanns es für den Konfirmationstag des Ältesten wünschen, nicht nur Flaschenbatterien Wein und ganze Kisten von Riesenzigarren, deren Rest dann unberechnet wieder zurückgenommen wird, nicht nur Tänzer, Plauderer, Sänger, nicht nur "Tischherren mit Titel" nach fester Taxe, nicht nur amüsante "Vierzehnte", die in unserer wieder abergläubischen Zeit die böse Zahl 13 unter den Anwesenden vermeiden helfen, sondern auch Teppiche, Klubsessel, Ölgemälde, Antiquitäten und vor allem - Blumen. Natürlich solche von Dauer, die sich womöglich vierzehn Tage hintereinander je dreimal vermieten lassen, zum Mittagessen, zum Fünf-Uhr-Empfang, zum Souper. Nichts macht so den Eindruck eines gesättigten Luxus, als wenn in verschwenderischer Fülle so perverse Sündenblumen, wie die Orchideen es sind, die Tafel zieren. Haben da Schulzes, neulich ein Essen für 24 Personen und sind tagelang vorher hochrot vor Aufregung, denn ein wirklicher italienischer Leutnant ist mit eingeladen und hat zugesagt. "Ohne Orchideen? Nischt zu machen!" erklärt energisch Frau Schulze. Also sie kommen an, für 2 Stunden gegen eine Miete von 500 Mark; alles bewundert diese raffinierten Pflänzchen, deren violette Volants an das duftige Geriesel von Pariser Unterröcken erinnern, und alles lobt den Geschmack der Hausfrau. Nun wird die Tafel aufgehoben, der Locotenente, der Leutnant, steckt sich zu Schulzes Entsetzen zwei Orchideen ins Knopfloch und seiner Tischdame einen ganzen Strauß an den Busen. Die übrige Gesellschaft folgt seinem Beispiel - und Schulzes müssen statt der Miete von 500 den Kaufpreis von 5000 Mark für die Blumen erlegen.
Dieser Italiener ist einem ein bißchen teuer gekommen. Aber was tut man nicht alles, um vor Müllers mit internationaler Geselligkeit auftrumpfen zu können; und was täte man noch, wenn gar ein Franzose einen beehrte! Dabei sind wir in den meisten Hauptstädten des Feindbundes noch geächtet. In London hat nicht einmal "the German man" seinen Laden wieder aufmachen dürfen, der in Finchley, in Norwood und anderen Vororten die Quartiere der dort ansässigen Deutschen aufzusuchen pflegte und ihnen allerhand heimische Genüsse vermittelte, Schwarzbrot und Wurst und Pilsener. In Berlin aber hat fast jede Nation der Welt ihr Stelldichein mit Speise und Trank wie daheim. Die Haupteinnahmen haben diese fremden Kaffeehäuser und Restaurants aber natürlich durch Deutsche, die mal ausländisch schwelgen, die mal Ausländer bewundern wollen. In der Motzstraße pflegte der dieser Tage von einem Armenier ermordete Talaat Pascha häufig seinen Kaffee "alla turca" zu nehmen, das winzige Schälchen mit dem breiig süßen Schwarz. Dazu eine Zigarette aus echtem Ismid-Tabak, dazu ein kleines Glas Douziko, den im ganzen Orient bekannten Anis-Schnaps, den der Türke "weißen Kaffee" nennt, weil der Koran Alkohol doch verbietet. Auch die Armenier haben ihre gesellige Zentrale in Berlin, nur im Norden, nicht im Westen, und der Grundstock ihres Heims, ist - bei einem Volke, das bisher ganz auf Agitation gestellt war, begreiflich - eine umfangreiche politische Bücherei. Am heimischsten sind aber von allen Fremden die Russen bei uns geworden. Überall brodelt der Samowar, überall gibt es eine gute Sakuska zum Schnaps - "und vor dem Schnaps einen Schnaps und nach dem Schnaps einen Schnaps" -, allwöchentlich ein bis zwei Mal spielt ein russisches Theater, und in der Wilhelmstraße, Ecke Hedemannstraße, floriert eine russische Buchhandlung. Neben dem offiziellen Sowjetrußland entwickelt sich ein "noch" inoffizielles weißes Rußland immer stärker in der Gesellschaft und auf der Straße. Auch die Großfürsten, die früher Deutschland nur auf dem Wege nach Paris durchfuhren, siedeln jetzt in Berlin. Von ihnen gilt Dmitrij Pawlowitsch als Kandidat Englands auf den Zarenthron, hat es aber trotzdem verstanden, auch deutsche Kreise für sich zu interessieren. Seine Begleiter sagen: "In Deutschland gefällt es uns; in Paris hat man uns behandelt wie die Hunde und uns erzählt, in Berlin gebe es bloß Verbrecher und nichts zu essen, das ist aber gar nicht wahr; wir leben gut, und jeder, der zu uns kommt, macht einen anständigen Kratzfuß!" Nun will auch Kyrill Wladimirowitsch nach Berlin kommen, der sich für den Kandidaten Deutschlands, hält und dem Einfluß seines Vetters Dmitrij, den er für einen "Ententeknecht" erklärt, entgegenwirken möchte. Wenn nicht er selber, dann sei doch vielleicht seine Frau, die geschiedene Großherzogin Viktoria Melitta von Hessen, zu großen Dingen ausersehen und könne eine neue Katharina II. für Rußland werden. Manchmal kommt einem diese ganze Berliner Russenkolonie wie mitternächtiger Theaterspuk vor. Es wird da noch höfische Etikette gewahrt. Als gelegentlicher Besucher wundert man sich, daß nicht auch noch ein Hofmarschall auftaucht, um mit langem Stabe dreimal auf den Boden zu klopfen.
Die Berliner Damen aber geben sich vor den Fremden Mühe, den Damen von Paris oder Brüssel oder Budapest zum Verwechseln ähnlich zu sehen, nicht nur in Kleidung und Benehmen, sondern auch in dem ungezügelten Verbrauch von allerlei Nervenreizmitteln. Dabei sind die Berlinerinnen, so sagen wiederum die Ausländer, viel zu wenig sorgsam. Sie wissen, daß einer jungen Frau die gelegentliche Zigarette zwischen kirschroten Lippen so gut steht wie einer Rokokodame das Schönheitspflästerchen. Aber nun rauchen sie gleich dauernd und unmäßig und merken es nicht, wie sie den Männern abstoßend werden, wenn die zwei Rauchfinger der rechten Hand und die Nägel dazu im Laufe der Zeit schwefelgelb werden und diese Farbe trotz allem Scheuern auch behalten. Und dann: wie ungezügelt lachen diese Berlinerinnen! Sie belachen die gleichgültigste Redewendung eines Ausländers als geistvollen Witz, sie lachen motiviert in den Operettentheatern und Kabaretts, Sie lachen unmotiviert bei jeder Gelegenheit, um ihr Nichtwissen zu verbergen, wo ruhig fragender Ernst ihnen viel besser stünde. Da aber das Lachen immer wieder dieselbe Muskelgruppe in Bewegung setzt, macht die Muskelarbeit sich allmählich in dem Eingraben von Falten bemerkbar. Wer viel lacht, wird früh alt. Es ist ein Amerikaner, der mit das sagt, ein Mann von 55 Jahren, der wie ein Dreißigjähriger aussieht, rosig und faltenlos. Er hat viel gearbeitet, sich wenig gepflegt, kaum besonders gut gelebt, das weiß ich. Und er sagt: "Ich sehe so jung aus, weil ich nichts zu lachen hatte in meinem Leben." Er mag schon recht haben. Aber auch Zorn und Kummer wird ihn wohl kaum je beherrscht haben, denn das sind schließlich doch ebenfalls anerkannte Faltenbringer.
17. März 1921 (Donnerstag)
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Oberschlesien in der Reichshauptstadt - Die bewußte Frau - "Das macht Männi" - In der Rigaer Straße und am Görlitzer Bahnhof - Verbrecher im Staatsdienst - Neue Berliner Prozesse - Prinz Friedrich Leopold und seine Söhne - Der Kunstschüler als Aushilfskellner
Es gibt nur wenige richtige Berliner in Berlin, und wenn man wirklich einen trifft, dann ist er sicher aus Breslau, lautet eine bekannte Redensart. Aber auch das stimmt noch nicht ganz. Dieser richtige Berliner mit "ick" und "det" sagt wohl, daß er aus Breslau sei, aber seine Wiege stand bestimmt in Ratibor oder Rybnik, in Kattowitz oder Beuthen. So ist Berlin voll von Oberschlesiern, noch mehr von Oberschlesierinnen, die Berliner geheiratet haben. Samt und sonders sind sie diesmal zur Abstimmung in die alte Heimat gefahren. "Also glückliche Reise, Alte, und wenn die Polen dich verschleppen, so sorg' dich nicht um mich, ich werde schon allein weiterkommen!" sagt einer unserer großen politischen Schriftsteller gemütspfiffig zu seiner Frau. So hat man gescherzt, wenn auch das Herz manchmal bange war. Aber tapfer sind die Frauen und die Mädchen gewesen und haben sich von dieser eintägigen vaterländischen Dienstpflicht um alles in der Welt nicht abhalten lassen. Das Stimmrecht für weibliche Personen hat doch sein Gutes, erklären allgemach selbst alte Hasser. Der eine von ihnen hat vielleicht in jungen Jahren wegwerfend gemeint: "Man soll nie einer Trambahn oder einem Mädchen nachlaufen; nach fünf Minuten kommt doch eine andere!" Der zweite hat vielleicht lächelnd den Aphorismus geprägt: "Wenn alle Frauen immer meinten, was sie sagten, und immer wüßten, was sie meinen, dann wäre das Leben furchtbar einfach!" Man wird dem einen wie dem anderen am Ende nicht ganz unrecht geben und trotzdem zugestehen müssen, daß der Typus des bewußten Menschen in unserer Frauenwelt zunimmt und die rein triebhaften Pflänzchen nicht überall die Regel bilden. Die Männer allein hätten keine deutsche Mehrheit in Oberschlesien organisieren können. Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben; daß im Daheim, in der Heimat, im Vaterlande die starken Wurzeln unserer Kraft nur sind, versteht bewußt die Frau. Und wo sie über die Ausschmückung der Züge etwas zu sagen hatte, die die Oberschlesier heimführten, da war sie es, die selbstverständlich das Schwarzweißrot erwählte. Als man dann in Berlin wieder ankam, hatten die Regierungsgebäude schwarzrotgelb geflaggt. Das war Erbschleicherei, weiter nichts.
Eine junge Dame aus Berlin M. hatte sich, während sie noch die Oberprima des Gymnasiums besuchte, verlobt, und wenige Tage vor der Reifeprüfung war die Hochzeit. Die Neuvermählte erschien trotzdem zum Examen; den richtigen Abschluß wollte sie sich doch nicht entgehen lassen. Die ältesten Gymnasiarchen schmunzelten und prüften sie milde. Als es zur Erdkunde kam, fragte man sie lächelnd, über welche Stationen in Deutschland für ihre noch bevorstehende Tiroler Hochzeitsreise sie die Fahrkarten lösen müsse. Sie dachte nach, wurde rot und sagte dann: "Ach, das macht Männi!" Da war denn eitel Sonnenschein im Konferenzzimmer; und einige der Herren prusteten los. So ist es vielfach im Leben. Auch die Politik bestimmt in neun von zehn Fällen Männi, wenn er mit der Gattin zur Wahlurne schreitet. Aber gerade die zehnte Stimme ist vielleicht entscheidend, und in diesem zehnten Fall ist es die Frau, die den Schwankenden stützt. Man sagt, es sei "echt weiblich"' (und man meint es in wegwerfendem Sinne), daß die Frau von Parteiprogrammen nichts halte und nichts verstehe. Aber das ist ja gerade ihre Größe, daß sie das Grundsätzliche betont, sich nicht in Einzelheiten verliert. Die Sozialisierung der sozialisierungsreifen Betriebe oder die Kontingentierung der Kaffee-Einfuhr oder die Umwandlung der Lohnabzüge in eine Lohnsteuer ist vielleicht auch gar nicht so wichtig wie die einfache Frage: "Wann hört die ganze Novemberei auf?" Wenigstens in Berlin sind die Frauen, auch die einfachsten Frauen aus dem Volke, die eifrigsten Werberinnen für Wiederaufrichtung des Königtums. Was Männi gemacht hat, ist nicht immer gut. Die Frau leidet am meisten darunter, daß die Männer verlumpen und die Kinder verwildern.
Ein Ereignis, das fast alltäglich so oder ähnlich sich wiederholt, sei hier erzählt. Schauplatz ist eine Volksschule im Norden Berlins, in der Rigaer Straße, deren Rektor zuweilen von einem bekümmerten Vater mit der Bitte aufgesucht wird, man möge den Sprößling doch einmal gründlich verhauen, zu Hause werde man seiner nicht mehr Herr. Das geschieht eines Tages. Da rennt der Junge hinaus, schreit auf der Straße Zeter und Mordio, weil ein "reaktionärer" Lehrer ihm eine Ohrfeige gegeben habe, im Handumdrehen gibt es einen Volksauflauf, und etwa 80 Männer stürmen die Schule, um die "Bürgerkanaille" für ihr Vorgehen gegen ein Proletarierkind zu bestrafen. Die Schutzpolizei muß alarmiert werden und das Haus säubern. Aber die Rigaer Straße behält ihren Volksauflauf, und erst am späten Nachmittag kann der Lehrer unter polizeilicher Bedeckung nach Hause geschafft werden. Solche Dinge werden von Woche zu Woche häufiger, weil das ganze heutige System - auch in der Schule unter dem neuen Berliner roten Kulturpapst Paulsen - auf eine Beseitigung jeder Autorität hinaus will. Es gehört ein gewaltiger Idealismus für die Lehrer dazu, um da die Lust am Volksdienst nicht zu verlieren. Sie werden von den Schülern wegen ihrer Rückständigkeit ja ausgelacht. Macht da eine Schule aus der Gegend am Görlitzer Bahnhof dieser Tage einen Ausflug nach Potsdam, wo das Glockenspiel der Uhr auf der Garnisonkirche gerade sein "Üb' immer Treu und Redlichkeit, bis an dein kühles Grab" herunterläutet. Ein zwölfjähriger Junge läßt sich das erklären und sagt verächtlich: "So'n Quatsch!" Das sei nur für die Dummen. Die Kapitalisten seien doch nicht redlich, und die Proletarier müßten ihnen das "Blutgeld" wieder abnehmen. Zuchthaus hin, Zuchthaus her. Heute könne man direkt aus dem Zuchthause heraus Bürgermeister oder Reichstagsabgeordneter oder Präsident werden. Zu lernen braucht man auch nichts. Alles Quatsch. Nur "dof" dürfe man nicht sein. Das sind die Kinder, vor denen die Mütter heute Todesangst ausstehen. Vor ihnen ist heute das Sparkassenbuch nicht sicher und morgen vielleicht nicht das graue Haar der Eltern.
Früher fragte man sich, welche Karriere man machen könne, wenn man die Fachschule besuche oder das "Einjährige" sich erwerbe. Heute gibt es gesicherte staatliche Laufbahnen sogar für Verbrecher. Der Bedarf an Spitzeln, Spionen, Agenten und sogar richtigen "schweren Jungen" ist sehr groß. Wie es für Stellensuchende sogenannte Musikerbörsen und Filmcafés gibt, wo Kapellmeister und Regisseure sich die Mitspieler holen, so haben wir in Berlin sozusagen konzessionierte Einbrecherdestillen, in denen amtliche Aufträge vergeben werden. Der Staatskommissar für die öffentliche Sicherheit, Weißmann, braucht natürlich nicht direkt mit der Hefe zu verkehren. Dazu hat man seine Leute. Einer dieser Unterkommissare, ein Mensch mit feistem Kurfürstendammgesicht, war nach der Tschechoslowakei geschickt worden, um gewisse bolschewistische Zusammenhänge aufzuklären, wurde in Oderberg eingelocht, brach aus und kam glücklich wieder in Berlin an. Seine Papiere aber hatte er verloren, und ihre Veröffentlichung in der Berliner kommunistischen "Roten Fahne" stand bevor. "Wir wollen das Kind schon schaukeln!", sagte er aber getrost zu Weißmann: in derselben Nacht wurde in der "Roten Fahne" eingebrochen, und man hatte die Papiere wieder. Es ist eben bei uns so, wie gemeinhin in allen neueren Republiken seit Venedig. Für wenige Scudi findet man einen "Bravo" zu allerhand dunklen Unternehmungen. Es gibt heute mehr bezahlte Bravos als früher Dienstmänner an den Straßenecken. Die sittlichen Begriffe "gut" und "böse" sind längst abgelöst durch die Begriffe: der Republik (oder der Regierung oder der Partei) nützlich oder schädlich.
Nicht alle Parteiprozesse freilich gelingen. Abgeblitzt ist auch der preußische Finanzminister Lüdemann mit seinem Antrag, den Prinzen Friedrich Leopold von Preußen entmündigen und seinen umfangreichen Besitz in die Verwaltung einer gewissen Gesellschaft übergehen zu lassen, die, vorsichtig ausgedrückt, in gewissen Beziehungen zu Parteikreisen Lüdemanns steht. "Es gibt noch Richter in Berlin!" Wir wissen uns von jeder Sympathie für diesen Prinzen frei, den sein eigener Schwager, der Kaiser, wegen mancher merkwürdigen Vorkommnisse von zwei Psychiatern hat untersuchen lassen und der im November 1918, um diesem Schwager den letzten Tort anzutun, auf seinem Glienicker Schloß die rote Fahne hissen ließ. Immerhin aber muß man ihm und seiner Frau, der Schwester der Kaiserin, zugestehen, daß sie ihre Kinder ganz prachtvoll erzogen haben. Senkrecht an Leib und Seele, würde Nietzsche sagen. Der Mann werde zum Krieger erzogen, das Weib zur Erholung des Kriegers, alles andere ist töricht, hat Nietzsche einmal gesagt; und als Krieger im höchsten Sinne, mit stählernen Muskeln, stählernem Willen, stählerner Selbstzucht und doch kindlichem Gemüte, so wuchsen diese Söhne auf. Den Heldentod des zweiten, des Prinzen Friedrich Karl, im Luftkampfe gegen Engländer hart über ihrer Infanterie, haben wir ja selbst erlebt; in diesen Osterferien jährt sich wieder einmal der Tag. Nichts Männliches war diesem Kämpfer fremd, nichts Prinzliches hob er hervor. In kurzer Sporthose rannte er 1914 im Frühling im Stafettenlauf Potsdam- Berlin in der siegenden Mannschaft mit. Auch im Schwimmen war er kaum zu schlagen, als Pistolenschütze und als Reiter stand er unter den ersten, im Fechten an der Spitze, und dem Fußball gehörte seine ganze Leidenschaft. Aber auch im Hockey war er glänzend in Form, und das ist merkwürdig, denn Hockeyspieler und Fußballer gehören eigentlich zwei verschiedenen Lagern an und zucken übereinander die Achseln, wie Allopathen und Homöopathen. Er war auf dem Wege zur klassischen Kalokagathia, wie die Griechen das vollendete Ebenmaß in Körper und Geist genannt haben. Sein einziger Fehler war die ToIlkühnheit. Die ist nicht deutsch. Deutsch ist die "besonnene Verwegenheit", wie Treitschke es ausdrückt und wie Richthofen sie übte. Mit beiden, Richthofen und dem Prinzen, bin ich im Felde dienstlich und gesellschaftlich wiederholt in Berührung gekommen und habe sie lieb gewonnen. Auch den älteren Bruder, den Prinzen Friedrich Sigismund, habe ich an der Front, als er eine Fliegerabteilung führte, etliche Male gesehen; er war nicht ganz so strahlender Heldenjüngling wie Friedrich Karl, war ruhiger und sachlicher, aber auch ein Mensch, von dem jeder sagte, er müsse eine ganz prachtvolle und glückliche Kinderstube hinter sich haben. Wenn es gestattet ist, von den Äpfeln auf den Stamm zu schließen, dann ist jedenfalls der Vater, der vom roten Lüdemann so befehdete Prinz Friedrich Leopold, trotz aller seiner herrischen Eigenheiten, Dandy-Schrullen und gewalttätigen Exzesse sicher nicht halb so schlimm, als die Hasser des Königshauses ihn hinstellen.
Man hat in den Kreisen der politischen Revolutionsschieber gar kein Verständnis für die Struktur der Leute aus dem alten System. Auch keine Ahnung von dem unbändigen Idealismus, der in ihnen lebt. Man hat noch vor zwei Jahren geglaubt, daß namentlich unsere gebildete Jugend den Staub des Vaterlandes abschütteln und auswandern würde, um anderswo unter günstigerer Umwelt ihren Studien zu leben oder ihre Begabung in Lohn umzusetzen. Das geschieht nicht. Man hält in der Heimat, der geschändeten, aus, man springt ihr bei, wenn irgendwelche Rote sie wieder einmal in die Luft sprengen wollen, und man arbeitet weiter, aus reinem Idealismus, unter Verhältnissen, die den Fremdlingen als unglaublich erscheinen. Gerade eben hören wir von einem Berliner Kunstschüler, der im vergangenen Jahre für sein Schaffen den Preis der Akademie erhalten hat. Abends, verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Aushilfskellner, nachts schläft er auf einem Stuhl im Wartesaal eines Bahnhofes, tagsüber studiert er weiter. Die Fremdlinge schütteln immer wieder die Köpfe, wenn sie einen Einblick in dieses "unauffällige" arbeitende Berlin in den Zwischenpausen, die das schwärmende Berlin ihnen läßt, bekommen, und sagen dann immer wieder: Die Deutschen können nicht untergehen!
24. März 1921 (Donnerstag)
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Der Frühling kommt - Stacheldraht in der Wilhelmstraße - Wie man früher Krawalle vermied - Scheidemann und der Kaiser - Der Annonceur - Ein Prinz mit dem Taktstock - Erzherzog Leopold Ferdinand als Brettlmime in Berlin - "Luderchen" - Nach der Parsifal-Woche
Das Gras schießt, und die Kommunisten schießen. Knospen werden durch die Sommerwärme und Eisenbahnweichen durch Dynamitpatronen gesprengt; also es wird Frühling in Deutschland. Wir sind das gewohnt; so ist es immer im März. Auch daß die geheiligte Gegend der Wilhelmstraße in Berlin, wo unser Landesvater Fritz Ebert sein Veilchendasein führt, durch Stacheldraht und Maschinengewehre gesichert wird, begrüßen wir als Frühlingsanzeichen. Wer Unter den Linden lustwandelt und in die Straße der Ministerien einbiegen will, wird barsch angehalten. "Ausweis!" Und trotz des Ausweises wird mancher abgewiesen. Er kann, wenn er in der Gegend südlich der Regierungszentrale wohnt, ja über die Budapester oder die Friedrichstraße einen Umweg machen. Man fürchtet elektrische Entladungen bei zu naher Berührung von Herrscher und Volk.
Karabiner des Sipomanns
Sichern die steile Höh',
Wo Ebert steht ...
Dazu natürlich Handgranaten im Koppel. Die Handgranate ist heute das Kennzeichen des Feldmarschmäßigen, der Entschlossenheit: des Bolschewismus wie auch des Antibolschewismus. Märzveilchen und Handgranaten sind in unserer Republik gewissermaßen Geschwisterkinder. Auch in Berlin hat es hie und da geknallt, aber in die Luft geflogen ist nur eine sogenannte Rotunde, ein öffentlicher Abort, und nicht, wie anderswo, ein Landgericht oder eine Brücke oder ein Bankhaus. Berlin will arbeiten. Die Ernüchterung ist hier größer als in Mitteldeutschland, und die Zahl der Illusionisten im Proletariat nimmt ständig ab. Man sehnt sich immer mehr nach den gesunden Zuständen, wie wir sie früher hatten.
Damals patrouillierten keine Panzerautos vor der Behausung des Landesherrn. Damals durfte das Volk bis an das Schloßtor branden. Einmal, während der großen Arbeitslosenkrawalle, war es besonders arg, und der besorgte Polizeipräsident kam angefahren, meldete sich beim Kaiser und bat ihn, diesmal auf seinen Ausritt zu verzichten; Majestät möchte doch nur einmal das schwarze Gewimmel draußen sich durch einen Vorhangspalt ansehen und auf das drohende Stimmengewirr hören. Aber Wilhelm II. erwiderte ruhig: "Nein, mein Lieber, nachdem das Volk Sie soeben in Uniform hier hat hereinfahren sehen, nachdem die Leute also wissen, daß ich vor ihnen gewarnt worden bin, ist es gerade meine Pflicht, zu ihnen hinauszugehen; sonst wäre ich nicht ihr König und Landesvater, sondern ein feiger Drückeberger!" Also die Pferde wurden gesattelt vorgeführt, der Kaiser mit Gefolge saßen im Hofe auf, und es ging hinaus. Die beiden diensttuenden Flügeladjutanten, zwei ältere Männer von Welt, Männer von erprobtem Takt, hatten inzwischen sich darüber verständigt, wie man durch einen guten Einfall die Lage entspannen könnte. Also noch im Torweg wurde im Dahinreiten dem herbe und ernst dreinschauenden Kaiser ein glänzender neuer Witz erzählt, er lachte laut auf, und als das Tor aufsprang, strahlte er noch so übers ganze Gesicht und lachte den ersten Leuten draußen so herzlich zu, daß die Hüte von den Köpfen flogen, im Nu eine ehrerbietige Gasse sich bildete und sogar, schüchtern zuerst und dann beherzter, das altgewohnte Hurra aufflog. Der Kontakt war wieder da. Die Sorgen des Polizeipräsidenten zerstäubten in ein Nichts. Niemals während seiner ganzen Regierungszeit hat Wilhelm II. es nötig gehabt, hinter Stacheldraht Schutz zu suchen, denn im Grunde ging es ja allen Leuten unter seiner Herrschaft gut, profitierte jedermann von dem ungeheuren Aufschwung unserer Wirtschaft und Weltgeltung. Sogar von Philipp Scheidemann erzählt ein hervorragender schwedischer Sozialdemokrat, daß er ihm noch während des Krieges gesagt habe: "Kein Monarch hat für sein Land jemals so viel getan, als Kaiser Wilhelm für Deutschland." Das will er jetzt natürlich nicht wahr haben und erhebt seine unverdorrten Schwurfinger zum Beweise des Gegenteils. Aber man glaubt ihm diesmal nicht. Und man vergleicht, wie es einst war und wie es jetzt ist.
Der Vergleich fällt nicht zugunsten der Gegenwart aus, selbst wenn ein rabiater Roter ihn anstellt. Aber allmählich läßt der Glaube an ein dauerndes Abwärts oder Aufwärts nach: daß sich die Weltgeschichte in Wellenlinien bewegt und daß wir nur zurzeit uns in einem Wellental befinden, das wird immer mehr allgemeine Erkenntnis. Jedermann findet sich damit, daß wir augenblicklich tief unten sind, so gut er kann, ab. Die falsche Scham verschwindet. Ein ehemaliger Offizier, der kein Vermögen, aber eine große Familie hat, ist kürzlich "Annonceur" in einer Berliner Riesenrestauration geworden, nachdem er den Rest seiner Ersparnisse als Vertreter bei einer Schwindelfirma verloren hatte. In die Küchen von Kempinski, Traube, Rheingold usw. fliegen die Bestellzettel der Kellner. Der Annonceur bekommt sie, ordnet sie blitzschnell und ruft in die Front der Köche und Konditoren mit mächtiger Kommandostimme, die das Brodeln und Zischen und Klappern und Schlagen überdröhnen muß, hinein: "Sieben Sahneschnitzel! Acht Melba-Eis! Zwölf Hasenrücken! Drei Brathuhn! Einmal Omelette Surprise! Dreizehn Krebssuppe! Drei Stangenspargel! Sechs Holländer mit Butter! Elf Zander! Zwo Forellen blau! Sieben Schokoladetassen! Drei Rinderbrust! Vier Real Turtle! Acht Matjes mit Bohnen! Zwo gefüllte Tomaten!" Das geht während der Hauptessenszeit mittags und abends ununterbrochen wie ein Trommelfeuer, da gehört Lunge dazu und vernünftige Ökonomie der Stimmbänder, und wenn tagsüber achttausend, neuntausend, zwölftausend Leute abgefüttert sind, dann hat der Annonceur ehrlich sein hohes Gehalt verdient und sinkt todmüde ins Bett. Wehe ihm, wenn er einmal Übersicht und Geistesgegenwart verliert. Dann ist im Handumdrehen "eine große Schweinerei da", dann schimpfen die Speisenträger, die Kellner, die Gäste, dann wird Nichtbestelltes aufgetragen, umgetauscht, wird kalt und gerinnt, dann kommt Bestelltes ewig nicht herunter, und der Ruf des Hauses leidet empfindlich. Es gibt im heutigen Berlin überhaupt die ungeahntesten Berufe für Gentlemen, die keine Arbeit scheuen. Am schnellsten geschwunden sind die Vorurteile noch in den sogenannten oberen Ständen. Eher wird manchmal ein Student Kanalräumer, als daß ein Hotelkellner Restaurationskellner wird.
Wer keine Vorurteile hat, jung, gesund, fleißig und nicht auf den Kopf gefallen ist, der findet heute noch immer irgendwelche Arbeit in Deutschland. Man braucht sich nicht etwa zu prostituieren, man kann "ehrlich" bleiben. Die unsichtbare Grenze, die man nicht überschreiten soll, ist freilich sehr verschieden. Schon das ist uns eigentlich wider das Gefühl gegangen, wenn Prinz Joachim Albrecht von Preußen in einem beliebigen Sommerrestaurant in Karlsbad, Eintritt 2 Kronen, in den Musikpavillon trat und dirigierte. Immerhin, er ist Künstler, er dirigierte nur dann, wenn eigene Kompositionen von ihm gespielt wurden, und er nahm kein Geld dafür. Es wäre noch weniger schön, wenn ein wohlhabender Fürstensproß den auf Erwerb angewiesenen Meistern des Taktstockes Konkurrenz machte. Ganz anders aber liegt es in dem Falle des Erzherzogs Leopold Ferdinand von Österreich-Toskana, der aus dem Gothaischen Almanach verschwunden ist (übrigens ziemlich gleichzeitig mit seiner Schwester, geschiedenen Toselli, ehemaligen Kronprinzessin Luise von Sachsen), nachdem er nach verschiedenen unerquicklichen Affären den bürgerlichen Namen Leopold Wölfling angenommen und auf alle Habsburger Rechte verzichtet hatte. Heute ist er die große Sensation für Berlin. Er tritt vor einem zahlungsfähigen p.t. Publikum als "Seine Hoheit" auf dem Bühnchen der Rakete auf, eines Kabaretts an der Ecke der Joachimsthaler und Kantstraße in Charlottenburg. Auch Kaiser Nero mimte. Aber der Erzherzog ist kein Nero gewesen, sondern nur ein morscher, sehr morscher Zweig seines Hauses, abfallreif schon lange vor dem Zusammenbruch. Während seine Schwester, die einst, um sich "ausleben" zu können, dem Hofe entflohen war, jetzt in der großen Stille versunken ist, gewinnt es dieser Erzherzog also über sich, von sich reden zu machen. Als wenn er nicht schon genug Veranlassung dazu gegeben hätte! Es ist wohl noch unvergessen, daß er eine gewöhnliche Straßendirne, die Adamowicz, ehelichte, die nachher schlampig wurde und ihm das Leben zur Hölle machte. Jetzt tritt er in einem "Sketch" auf, einem Einakter, der ihm sozusagen auf den Leib geschrieben ist. Wenn der Vorhang aufgeht, sehen wir das Empfangszimmer eines sehr eindeutigen Hauses vor uns; es kann in Triest oder Fiume oder Lissabon oder Marseille oder sonstwo in Europa sein. Drei Huldinnen rekeln sich da herum, betreut von einer alten "Gräfin", die natürlich aus Wien stammt. Franzl, der Kammerdiener Seiner Hoheit, meldet die Ankunft des Erzherzog-Admirals, der die Adresse seiner alten Jugendliebe erfahren hat und sie nun aufsucht, eben diese alte "Gräfin". Und nun kommt der tatsächliche, wirkliche Erzherzog Leopold Ferdinand in weißer Tropenuniform an, ein wenig still, ein wenig linkisch, ein wenig müde, eisgrau mit seinen 53 Jahren, sagt einiges - im Grunde nicht viel mehr als "Bitt' schön, meinerseits, ganz meinerseits! -" trinkt, verlegen und doch auch jetzt noch mit seiner guten Kinderstube turmhoch über den Mitspielern, etliche Glas Wein in dieser Gesellschaft, schaut sich hilflos und mit ein parr höflich-geistesabwesenden Worten nach den kichernden drei Favoritinnen um, walzt mit einer von ihnen nach den Klängen der Donauwellen über die Bühne und durch den Vorhang im Hintergrunde, lädt nach seiner Rückkehr gütig und doch tonlos die "Gräfin" ein, ihm nach Honduras zu folgen, läßt ihr ritterlich den Vortritt und verschwindet hinterdrein. Man hat den erschütternden Eindruck, daß eine galvanisierte Leiche sich selber persifliert. Ein paar österreichische Damen am Tische hinter mir - der Platz kostet 75 Mark, die Flasche Wein 106 Mark - legen den Kopf auf die Arme und weinen leise ins Taschentuch. Sie schämen sich. Hier wird mit der Schmach von Habsburg-Toskana ein Geschäft gemacht. Dafür, daß es ganz ordinär ist, haben die Berliner Textdichter gesorgt. Ihr Publikum wiehert, wenn in das kurze sentimentale Zwiegespräch Seiner Hoheit und Ihrer Erlaucht der Porzellan-Papagei im Bauer über dem Sofa plötzlich sein "Schatz, mach' Kasse!" schnarrt oder eine andere in solchen Tempeln oftgehörte Redensart. Der Erzherzog selbst, ein untersetzter, etwas gebeugter Mensch von gar nicht königlichem Wuchs oder Aussehen, schiebt sich nachher gleichmütig durch das Publikum hinaus. Etwas in ihm, was selbst der letzten Straßendirne noch im letzten Herzenswinkel loht, ist gänzlich erloschen. Er weiß nicht mehr, was Scham ist. Bereitwillig steht er Rede und Antwort. "Was kann man halt machen? Schaun's, ich hab' in meiner Jugend nur auf Admiral g'lernt. Das ist heut nix mehr. Meine Pension beträgt 3000 Kronen im Monat, das sind grad 280 Markln in deutscher Währung." Gegenüber dieser Hauptattraktion ist es eine wahre Erholung, die übrigen üblichen Kabarett-Nichtigkeiten hier anzuhören und anzusehen, eine Harfenspielerin, eine Tänzerin, ein paar Sänger und Witzmacher, ein lustig tolles Einbrecher-Schwänkchen.
Man merkt den nahenden Sommer leider nicht nur an Knospen und Stacheldraht, sondern auch an dem Theaterspielplan. Es kommt die Zeit, wo der Berliner nicht mehr ins Theater geht, sondern dies den herreisenden "Provinzlern" überläßt, während er selber in Wannsee die Sonne untergehen oder im Lunapark das Feuerwerk auffliegen sieht. Mit "Luderchen" von Tony Impekoven in der Komischen Oper hat dieser alljährliche Umschwung eingesetzt. Luderchen ist ein fesches Ding, das lieber abgefunden, als geheiratet sein will, zuerst bei dem Vater ihres derzeitigen Schatzes höchstehrsam als die Zukünftige des Sohnes auftritt und dann als die Gegenwärtige des alten Herrn mit diesem nach St. Moritz abdampft, aber ohne Anspruch auf Legitimität. In der Hoffnung auf Pikanterien werden die Besucher getäuscht. Nur sehen sie einmal in Wolle und Flanell das, was sie nachher in Seidenstrumpf und Spitzen sehen. Der übliche Schmarrn. Noch einmal aber hat die niedergehende Saison im früheren Königlichen und im Charlottenburger Deutschen Opernhause mit einre Reihe von Doppelaufführungen des "Parsifal" der Unsterblichkeit deutschen Geistes ihren Zoll dargebracht. Für das Schieberpublikum ist das ein zu langer Abend. Aber in mancher guten Familie ist monatelang für eine solche Osterfeier an der Hand Richard Wagners gespart worden. Und die Begeisterung für diesen Kultus des Heilig-Schönen hat schon Volksschichten erfaßt, für die früher "der Jrammophong" alles war. In einer bekannten Familie erzählte dieser Tage die Putzfrau mit leuchtenden Augen vom Karfreitagzauber. Man sah sie erstaunt an. Jawohl, sie sei schon dreimal in ihrem Leben im Parsifal gewesen. Diesmal habe ihr Mann, der eine Art Faktotum in einer Knopfhandlung ist, von 11 Uhr abends bis 9 Uhr morgens Kette gestanden, um endlich für 10 1/2 Mark die Karte für den vierten Rang zu bekommen. Nun könnten sie beide ein Jahr lang fröhlich weiterschuften.
31. März 1921 (Donnerstag)
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