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Sehnsucht nach der Kleinstadt - Das Grenzspendefest im Esplanade - Niedrige Absätze werden Mode - Moltkes Erzählungen - Die Regierung verbietet ein Geschenk für Haus Doorn - Die Erkrankung der Kronprinzessin - Hohenzollernkaufhaus
Man bekommt hin und wieder eine wilde Sehnsucht nach der Kleinstadt. Zwar ist die Akustik dort allzu gut; was man heute mit der eigenen Frau bespricht, das weiß morgen schon die dritte und vierte Straße, und was man heute braten will, das hat die halbe Gemeinde schon gestern durch die Metzgersgattin erfahren, und wenn Lieschen von dem neuen Referendar auch nur einmal gegrüßt wird, bekommt ihr Verlobter - der Assessor - sofort zwei Dutzend hämischer anonymer Briefe. Gewiß, gewiß. Aber die Sehnsucht meldet sich trotzdem, denn man möchte endlich einmal irgendwo leben, wo man ein Ende sieht und nicht nur bis in die Unendlichkeit Häuserzeilen; wo man mit all den Seinen in einer Viertelstunde im Grünen sein kann und wo unsere Jungens nicht, wenn sie auf dem Schulweg heimschlendern, über hundert Schlüpfrigkeiten innerlich ausgleiten können. Ich sage das unserem Logierbesuch, einer Dame im gefährlichsten Alter, die umgekehrt selig ist, weil sie für acht Tage ihrem Nest entronnen ist. Sie versteht mich nicht. Wir müßten alle Tage unserem Schöpfer danken, meint sie, daß wir in dem herrlichen Berlin mit seinen Anregungen und seinem Trubel leben.
Der Trubel freilich ist groß, größer, als dem Berliner selbst lieb ist. Es ist so vieles in Berlin zentralisiert, vor allem die großen Berufsverbände und die große Wohltätigteit, und das bringt es mit sich, daß man von einem Fest zum andern taumelt. Die Gesindebälle der Schauspielerwelt, der Ostmarkenball, der Böse-Buben-Ball, der Kolonialball und die sonstigen Festivitäten dieser Art sind ja schon aus der Vorkriegszeit bekannt, aber inzwischen ist die Not der Kinder, die Sorge um die Grenzdeutschen, das Elend der Veteranen so gestiegen, daß ein Dutzend neuer Feste, immer mit Tombola und sonstiger Schröpfung, unumgänglich geworden ist. Nach dem Pariser Beispiel, wo meines Wissens zuerst der "Figaro" 'mit einem Fünfuhrtee für die gute Gesellschaft unter seinen Abonnenten den Anfang machte, fängt jetzt auch die Berliner Presse mit ihren Festen an. Der "Sport im Bild", der sich das Blatt der guten Gesellschaft nennt, hat soeben zwei Tage hintereinander im Hotel Esplanade die Seinen zu einer Modeschau von unerhörter Pracht und zu einer sogenannten Schlagerrevue versammelt. Die Plätze kosteten, da es sich um eine Opfergabe für die Abstimmenden in Oberschlesien handelte, die Kleinigkeit von 200 bis 1000 Mark. Auf den Tausend-Mark-Sitzen konnte man in bunter Reihe den Fürsten Lichnowsky und andere schlesische Magnaten mit ihren Familien sehen - und galizisch-berlinische Schieber mit ihren kleinen blonden Freundinnen. Mit den mittleren Sitzen begnügten sich Ententeoffiziere in Zivil und die Damen der hiesigen fremden Kolonien; ich war in eine Gruppe amerikanischer Damen der "upper ten thousand" verschlagen, die in ruhigem, fast geschäftlichem Ernst die Aussichten des kommenden englisch-amerikanischen Krieges besprachen und mir nachzuweisen sich bemühten, daß der Yankee nicht den Dollar liebe, sondern die Macht, die der Dollar gebe. Man sei drüben so tatenlustig, wie einst bei uns die Preußen. Vor Jahren habe ich Roosevelts "American ideals" gelesen, die Urbibel des nationalistischen Amerikanertums, die begeisternde Stellen enthält; aber damals war er noch Prediger in der Wüste, damals fanden Amerikanerinnen den Krieg noch mittelalterlich.
Auf diesem Fest im Esplanade-Hotel mit seinem Massenaufgebot namentlich von Filmberühmtheiten ging es zu guter Letzt recht lebhaft zu. Je größer irgendeine Not, desto toller die Bacchanten. Aber man sah zum ersten Male seit Jahren wieder weibliche Wesen mit königlichem Gang: schwebend, federnd, stolz. Der neueste Schuh, der mit ganz niedrigen Absätzen, wurde nämlich von einigen Modelöwinnen bereits getragen, der seine Eleganz nicht in hohen Stöckeln, sondern allenfalls in der vorne spitzen Form sucht. Die bisherige Mode hat schauerliche Verwüstungen angerichtet. Plattfüße, Knickfüße, Sprengfüße bei allen unseren Humplerinnen; nicht ein einziger idealer Frauenfuß, der einen Bildhauer reizen könnte. Dazu noch meist an der Seite, die mit dem großen Zeh endet, ein Überbein mit Hornhaut. Die Chinesin will ihre Fußwickel nie ablegen, nie ihre armselig verkrüppelten sogenannten Lilienstengel enthüllen. Nachgerade geht es unseren Europäerinnen aus den besten Familien ähnlich. Darum gehen sie auch nicht barfüßig, sondern mit Bastschuhen in die See.
Ein ganz stilles und doch erhebendes Fest hat der frühere Flügeladjutant des Kaisers, Graf Detlev v. Moltke, durch seine Vorträge in dieser Zeit Tausenden von Berlinern bereitet. Moltke erzählt nur, erzählt schlicht und einfach wie es in den Novembertagen 1918 im Großen Hauptquartier zuging, weshalb der Kaiser nach Holland übertrat, wie man heute im Hause Doorn drüben lebt. Alles lauscht atemlos. Wenn Moltke nach einer oder nach anderthalb Stunden schließen will, ruft alles: "Weitererzählen! Weitererzählen!" Kein Unabhängiger und kein Kommunist, denn auch solche verirren sich in diese Versammlungen, bringt den geringsten Zwischenruf übers Herz. Der Verband der nationalgesinnten Soldaten (Berlin, W. 9, Schellingstraße 10) erhebt als Unternehmer kein Eintrittsgeld. Die Kosten werden nur durch den Verkauf des gedruckten Vortrages gedeckt. Das Heftchen, das bereits in 65 000 Stück verbreitet ist, kostet 1 Mark. Es müßte in Millionen hinausgehen. Wer ein paar Mark übrig hat, der mag es verbreiten, bis in die letzten Winkel hinein. Dabei ist diese Niederschrift des ersten Vortrages nicht einmal so lebendig, wie der neuerdings immer länger ausgedehnte Vortrag selbst. Es kommen immer neue Erinnerungen. Es drängen sich bezeichnende kleine Einzelheiten auf. Die Versammlungsteilnehmer interessieren sich gerade dafür. Da ist hinten am Hause Doorn ein Hühnerstall. Pommersche Bauernfrauen wollen ihrem Kaiser zwanzig Hühner dafür stiften. Aber unsere republikanische Regierung verweigert die Ausfuhrerlaubnis! Da sind unsere Auslandsdeutschen besser daran. Ein Pflanzer in Costa Rica in Mittelamerika schickt einen Sack Kaffee und schreibt dazu, er würde seine Selbstachtung verlieren, verlöre er die Achtung und Ehrfurcht vor seinem Kaiser; und Deutschland käme ihm jetzt wie ein Käfig wilder Tiere vor, in dem alles kratzte, bisse, spuckte, während die Entente herumstehe und sich weidlich amüsiere. Es ist ein stilles, ruhiges Leben im Haus Doorn. Besuch kommt sehr selten, ab und an einer der Söhne oder die Tochter. Häufiger der Kronprinz, der alt und ernst geworden ist und stark ergraut. Sein Leben auf Wieringen muß von einer trostlosen Öde und Einsamkeit sein. Seine Frau, die als Gutsherrin in Öls in Schlesien waltet und von einer Morgenwache zur anderen harrt, wie weiland Penelope während der Abwesenheit ihres Odysseus, hat gerade eine Kinderkrankheit durchgemacht. Sie hatte - Masern bekommen. Vermutlich infolge Ansteckung beim Besuch von erkrankten Tagelöhnerkindern im Dorfe. Die Kronprinzessin hat früher so etwas nicht gern getan. Ihre ganze Jugend verlebte sie mit ihrer Mutter an der Riviera in sozusagen hauchzarter Umgebung, war eine nach großfürstlich-russischer Manier sehr gepflegte junge Dame, von der die Großherzogin Anastasia geflissentlich jedes Rauhe und Häßliche fernhielt. Wenn die Frau unseres Kronprinzen während des Krieges Lazarette besuchte, wo man blutige Verbände sah, mußte sie die Zähne zusammenbeißen, weil ihr schwach wurde und ihr die Tränen kamen. Seither ist aber so vieles auf sie eingestürmt, daß sie durabler geworben ist. Auch äußerlich. Sie ist nicht mehr die schlanke Sylphe von ehedem, sondern eine richtige deutsche Gutsfrau. Nur mit viel ungestillter Sehnsucht. Sie begreift es schwer, wenn auch tapfer, daß die Verhältnisse eine Rückkehr ihres Mannes an ihre Seite nach Öls noch nicht erlauben.
Es gibt nicht viele Frauen, die die Tragik dieses Daseins richtig nachfühlen können; am ehesten vielleicht noch die, die ihren Mann im Gefängnis wissen und doch von seiner Unschuld felsenfest überzeugt sind. In dem Trubel der Großstadt denkt die Gesellschaft wenig an ihre früheren Spitzen zurück. Der ganze Kometenschweif aber hat ja ängstlich die Spuren einstiger Verbindung getilgt. Die Schilder der Hoflieferanten sind vielfach überpinselt. Das "Hohenzollernkaufhaus" für Kunstgewerbe in der Budapester Straße, in dem namentlich die Prinzessin Eitel-Friedrich früher so viel erstand, heißt nun einfach "Friedmann und Weber", und die Leute, die dort die gegenwärtige China- und Japan-Ausstellung besuchen, sehen nur, wenn sie im Auto heranfahren, nach Hof aus, wenn sie aber ihre Handschuhe ausgezogen haben, nach Hinterhof.
24. Februar 1921 (Donnerstag)
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Die Wolkenkratzer kommen - Wohnungsnot und Schmiergelder - Die neue Luxussteuer - Berliner Kinder - Leere Wartezimmer bei den Ärzten - Die Ausstellung "Farbe und Mode" - Der Snob
Man kann immer aus der Not eine Tugend machen. Die ersten Autos der Welt, in Deutschland hergestellt, waren in ihrer äußeren Erscheinung einfach Equipagen, denen man vorn das Pferd weggeschnitten hatte; sie sahen nackt und scheußlich aus, wie auch noch heute manche der alten elektrisch betriebenen Kutschen. Aber allmählich änderten die Autos ihre Form, sie bekamen einen großen Bug vornean, mit dem sie richtig durch das Luftmeer stoßen. Nun ist die Form auf einmal schön. Man hat nicht mehr das Gefühl, daß die Wagen kopfüber gehen, sondern den ästhetischen Eindruck einer sicher dahinstürmenden Kraft. Ähnlich ist es mit den ungeheuren Eisenkonstruktionen unserer Bahnhöfe, Industriewerke, Ausstellungshallen gegangen. Sie waren entweder ein dürres Gerippe oder ein plumper Nützlichkeitsbau oder ein jämmerlicher Gipsschwindel. Heute aber haben unsere Künstler daraus wahre Trutzburgen der Schönheit gemacht. Walhall winkt; Wagner wirkt; und unwillkürlich denkt man an das Goethewort: "Nur aus vollendeter Kraft blicket die Anmut hervor." Nun können wir uns auch an die schwerste Aufgabe wagen, an der die Newyorker gescheitert sind, nämlich Tausend-Zimmer-Häuser zu bauen, die turmartig in die Lüfte ragen und doch nicht ein häßliches, aus zahllosen Fenstern glotzendes kubisches Ungetüm sind. Vermutlich wird Berlin die ersten Wolkenkratzer in Deutschland erhalten. Bei den ins Unerschwingliche gestiegenen Bodenpreisen, Materialkosten, Arbeitslöhnen und bei der fortschreitenden Citysierung der Berliner Innenstadt fehlt es hier an dem Nachwuchs von Bureauhäusern. Es gibt Gesellschaften, die unter der Hand ganz unsinnige Gelder dafür bezahlen, um Privatwohnungen für Geschäftszwecke benutzen zu können. Dem Mangel will man nun durch Zwanzigstöcker abhelfen. Wer Newyork kennt, der antwortet darauf vielleicht mit einem Aufschrei des Entsetzens. Aber die vorliegenden Entwürfe sind schlechthin schön. Wenn man von dem Kreuzberg aus, der auch nur ein ausgewachsener Maulwurfshügel ist, diese kuchentellerflache Reichshauptstadt übersieht, so wirkt die Charakterlosigkeit des Häusermeeres niederdrückend. Die goldene Kuppel des Reichstages und das Netzwerk der Synagoge gleißen und ziehen allenfalls die Blicke auf sich. Auch der goldene Riesenengel auf der Siegessäule macht sich bemerkbar. Die wenigen ästhetischen Werte - das Brandenburger Tor und die beiden Kirchen auf dem Gendarmenmarkt - gehen völlig verloren. Erheben sich hier nun wuchtig und doch gefällig mächtige Wolkenkratzer als Wahrzeichen des arbeitenden Berlin, so kann das Stadtbild nur gewinnen.
Hand in Hand mit dem Ausbau der Bureaustadt müssen weit entlegene Wohnviertel in den Vororten erschlossen werden, wie es vorbildlich in London geschehen ist. In Berlin selbst, auch im Westen, wird es enger und immer enger. Die Zwangseinquartierung in überflüssig große Wohnungen gehört nicht nur zu den sehr kleinen und keineswegs ausgiebigen Mittelchen, sondern trägt auch nur zur Verschlechterung unserer republikanischen Behördenmoral bei. Man erzählt sich, daß bestimmte Rechercheure bei gewissen Wohnungsämtern ihre feste Taxe haben, die in einmaliger Zahlung oder laufendem Tribut besteht. Dann bekommt man jede gewünschte Wohnung und ist in jeder sicher. Einen Ausweg aus diesen demoralisierenden Zuständen weist die Wohnungsluxussteuer, an die nach dem Vorgang Berlins jetzt auch andere deutsche Städte herantreten. Keine Zwangseinquartierung, aber eine Erdrosselungssteuer. Da man dem gebildeten Mittelstande ein besonderes Arbeitszimmer neben den Schlafräumen und der einen gemeinsamen Stube als steuerfrei zugesteht, also keinen alten Landgerichtsrat dazu zwingen will, abends in demselben Speisezimmer seine Akten zu studieren, in dem die Frau auf der surrenden Nähmaschine neue Flicken in die Hemden einsetzt, die Tochter das "Gebet der Jungfrau" auf dem Klavier hämmert und der Sohn mit den Fingern in den Ohren "Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich" brüllt, läßt sich gegen die Verordnung, die das erste Überschußzimmer mit 500 Mark jährlich besteuert, das zweite mit tausend und dann stürmisch weiter in die Tausende geht, nichts Rechtes einwenden.
Gegen die Sicherung des Studierstübchens für geistige Arbeiter wollen freilich unsere Knallroten aufbegehren. Das sei doch wahrhaftig nicht nötig, wo es ganze Familien von Handarbeitern gäbe, die überhaupt nur einen Wohnraum hätten. Man vergißt hinzuzufügen, daß dies eine seltene Ausnahme ist. Solche Elendsviertel, wie, die Londoner Slums sie aufweisen, gibt es in Berlin überhaupt nicht. Man hört hier mit Entsetzen, daß im deutschböhmischen Erzgebirge sechsjährige Kinder zur Schule getragen werden müssen, weil sie, rhachitisch und unterernährt, das Laufen noch nicht gelernt haben. Solch eine Not ist, trotz aller larmoyanten Aufsätze des Grafen Harry Keßler, in der Reichshauptstadt mit ihren zahllosen Arbeitsmöglichkeiten kaum zu finden. Am schlechtesten von allen Deutschen hat es der Berliner noch lange nicht; was da in unseren Straßen und Gassen herumquirlt, das ist zumeist quicklebendig und hat immer noch ein paar Mark für das Kino übrig. Die in ganz Berlin und Vororten jetzt vorliegenden Ergebnisse der ärztlichen Untersuchungen in den Schulen ergeben, daß das Kinderelend nicht in den Familien der Handarbeiter, sondern der Kopfarbeiter daheim ist; hier ist die absolute Unterernährung bei 42 Prozent mehr Kindern festgestellt. In verschiedenen Bezirken hat eine bitterböse Agitation dagegen eingesetzt, daß die Kinder "vornehmer" Leute nach Schweden, nach Finnland, nach Holland, in die Schweiz geschickt werden. Ja, diese sogenannten Vornehmen haben es eben besonders nötig, denn nicht die Vornehmheit hat heute das Geld. Die ärztlichen Messungen und Wägungen sind unwiderleglich.
Es gibt auch noch andere Anzeichen dafür. Darunter den Rückgang der freien ärztlichen Praxis in Berlin überhaupt. Auch ältere Ärzte und Ärztinnen sehen heute ihre Sprechzimmer verödet, weil die Leute, die nicht zu einer Krankenkasse gehören, sich den Arzt erst dann leisten, wenn es um Leben und Sterben geht. Wegen einer gewöhnlichen Grippe bemüht man ihn nicht, das geht zu sehr ins Geld. Erst wenn die Mittelohrentzündung da ist oder die Lunge bedenklich rasselt oder die Infektion mit Streptokokken fast hoffnungslos wird, plündert man für den Arzt die Haushaltskasse. Umgekehrt ist es bei den Mitgliedern der Krankenkassen. Alle anderen aber sparen zuerst am Arzt. Die Homöopathie gewinnt, wie jegliches Selbstkurieren, neue Anhänger. Und wenn das "Besprechen" durch die alte Frau im Hinterhause nur 5 Mark kostet, der Besuch beim Arzt aber 12 Mark, so versucht man es halt zuerst mit dem Besprechen. Es ist merkwürdig: für je aufgeklärter die Leute sich halten, desto abergläubischer sind sie; namentlich in der Reichshauptstadt ist mit Hokuspokus ein gutes Geschäft zu machen.
Je knapper für das Gros der Bevölkerung das Geld wird, je weniger man sich in der Praxis allerhand kulturelle Verfeinerungen leisten kann, desto mehr bildet man sich theoretisch zum Kenner aus. Hier und da lebt in kleinem Kreise der Fünfuhrtee wieder auf, und da man doch nicht bloß klatschen kann, allmählich auch schon alles durchgehechelt ist, so spricht man über alles Neue auf dem Gebiete der Künste und der Mode, wenn man selber auch nur in beider Vorhöfen steht. Man muß überall dabei gewesen sein. Vielleicht hat man von einem großen Fest nur so im Vorbeigehen die Auffahrt gesehen und nachher den Bericht in der Zeitung gelesen, aber man erzählt davon als Wissender, und niemand wagt mehr zu fragen. Man täuscht sich gegenseitig bewußt über das Nichtmitmachenkönnen hinweg. Auch so, auch ohne Gesellschaftstrubel, kann man sich doch einen verstohlenen Blick in die Welt des Luxus leisten. Da gibt es jetzt in der Akademie der Künste eine neue Ausstellung, die sich "Farbe und Mode" nennt. Der Eintritt kostet 10 Mark; von der Geheimrätin bis zum Lehrmädchen flutet alles hin. Das Ganze ist - abgesehen von der Empfehlung rein deutscher Industrien - eine zusammenhanglose Stilwidrigkeit, aber da und dort in den Nischen und Vitrinen gibt es doch irgend etwas Kapriziöses zu sehen, worüber sich dann klugreden läßt. Ein in den Streifen des Spektrums bemalter Vorraum führt zu allerhand Reklamewänden unserer Anilinfabriken, in vielen Nebenzimmern und Kojen sind Kostbarkeiten an Schleiern, Hüten, Schuhen ausgestellt, und in der Mitte ist eine zunächst völlig ernst genommene Abteilung für Irrenhauskunst aufgenommen, deren Neokubismus und Pyramidismus man mit heißem Bemühen durchaus studiert, bis ein Aushängetäfelchen einen darüber belehrt, daß hier nur eine "Travestie auf Mode und Zeit" vorgeführt wird. Sieht man sich diese Ausstellung an, so könnte man fast glauben, wir seien weit über das stille und klare Biedermeier wieder in die Zeit der "Preziösen" versetzt. Der solide Inhalt ist nichts mehr, Form und Farbe alles. Wären wir wirklich so überreif, so könnten die Snobs sich freuen. Sternheim hat einmal ein Schauspiel unter diesem Titel geschrieben, aber nicht die Snobs, sondern die Schieber gemeint. Der echte Snob ist Nur-Ästhet; ihm ist der Tag verdorben, wenn er versehentlich einen Schlips trägt, der nicht auf die Farbe der Unterhosen abgestimmt ist, und er verzieht die Lippe über das jämmerliche deutsche Kaiserreich von ehedem, wenn er auf dem Königsplatz das Bismarckdenkmal sieht: mit ungebügelten Beinkleidern! Der Snob hat immer tadellose Bügelfalten. Auch im Gehirn.
3.März 1921 (Donnerstag)
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Der frühe Feierabend - "Heeß sind se noch!" - Überall Spieler - Überall Schlepper - Im unterirdischen Sektlokal - Die finnländische Nationalhymne - Li und Lo - Nachträgliches zu Lohans Tod - Werden die Berliner höflich?
Die erste Woche wäre überstanden. Die erste Woche mit Feierabend schon um 11 Uhr in den Berliner "Lokalen" jeglicher Art, ausgenommen den geschlossenen Klubs und den unterirdischen Trinkstätten. Eine Völkerwanderung staut sich um diese Zeit auf den Straßen. Der Dauerberliner stapft dann, wenn er nicht gerade Bekannte aus dem Reich zu amüsieren hat, trübselig nach Hause. Der Zeitberliner aber, der in Erfurt oder Chemnitz oder Halle oder Jokohama daheim ist, sagt: "Einfach lächerlich!" Er erhebt den Anspruch, daß Berlin ihm auch nach 11 Uhr abends offensteht. Ist er erst wieder bei seinen Lieben angelangt, dann grollt er natürlich auch, weil diese Berliner immer eine Extrawurst haben wollten. In Weimar muß man abends ohne Straßenbeleuchtung im Stockdunkeln einhertappen. In Hinterniedertupfenhausen gibt es nicht einmal eine Bar. Ja, diese Berliner! Also man schiebt sich unschlüssig in der Menge weiter, wenn in Berlin in den Lokalen Feierabend eingetreten ist, und passiert zunächst an fast jeder Straßenecke einen fliegenden Wursthändler. Die herkömmliche Formel "Heeß sind se noch! Heeß sind se noch!" ertönt überall aus dem Munde der weißbeschürzten Verkäufer, die neben ihrem blinkenden Nickelkessel stehen. Nun schließen auch die Spielbuden des kleinen Mannes ihre Pforten, die immer wieder von der Polizei geduldet werden, und die Corona der Leute, die eng gedrängt um die surrenden Metallpferdchen gestanden haben, ergießt sich auf die Straße. Der eine oder andere hat an diesem mechanischen Totalisator ein paar Mark "auf Sieg" oder "auf Platz" gewonnen, aber die Mehrzahl der Teilnehmer ist natürlich gerupft. Alles spielt. Die ganz Kleinen tagsüber auf der Straße um Murmeln, die Halbwüchsigen in den Fuchsjagd-Automaten um Groschen, die Großen in Vereinigungen aller Art, die sich als geschlossene Gesellschaft eintragen. Daran ist weder die Revolution noch der Krieg noch die Großstadt schuld. Ungefähr so war es ja bei den Deutschen schon zu Tacitus' Zeiten.
Aber damals kannte man noch nicht die Schlepper oder Spanner, die heute alle paar Häuser weit im Schatten der Portale oder an irgendeiner Autohaltestelle abseits der Scheinwerfer auf der Lauer stehen und sich so gegen 12 Uhr an jeden Wanderer heranpürschen. Der einzelne wird kritisch gemustert, der einzelne ist verdächtig, denn er könnte ein "Kriminal" in Zivil sein. Aber ist es ein Pärchen, ist eine Sie dabei, oder ist es gar eine ganze animierte Gesellschaft, dann ist der Stoßvogel alsbald da. Unfehlbar hat dieser Spanner sofort die Schwäche erkannt. Hier empfiehlt er einen soeben neu aufgetanen Spielklub, da eine "ganz scharfe Sache", dort nur das übliche nächtliche Nepplokal. Der Zeitberliner, der tagsüber vielleicht seine Geschäfte erledigt hat, abends im Theater gewesen ist und nun noch gern eine Flasche Wein bei angeregter Unterhaltung trinken möchte, folgt willig den Spuren des vorangleitenden Schleppers, falls man sich nicht überhaupt in ein Auto setzt. Neue Straßenecken tauchen auf und verschwinden. "Verdammter Bengel, wie weit geht es denn noch?" "Gleich, meine Herren, gleich!" Schon steht er in einem Hauseingang, klopft ein paar Morsetöne, ruft ein Stichwort durch das Schlüsselloch, und wir werden eingelassen. Eine Blendlaterne wirft ein matthelles Fleckchen voraus. "Vorsicht, Stufen!" Man tappt in einen Keller hinunter und denkt an allerhand Schauergeschichten. Aber schon schlägt einem warmer Weindunst und das Schwirren vergnügter Tafelrunden entgegen. Ein Geiger haucht einen leisen schnellen Rhythmus hin, ein Gitarrespieler zirpt dazu die Begleitung. "Nein, wie gemütlich!", ruft erstaunt ein Kaumerstberliner unserer Gesellschaft. Die niedrige Decke ist mit blühweißer Leinwand (o Gott, stammelt man innerlich erschrocken, wie viele Hemden gäbe das!) überspannt, unter der buntverhüllte Glühbirnen wie exotische Falter träumen, die Wände weisen eine schwere Tapete in satten Farben auf, an der einzelne etwas laszive Bilder hängen, und den Steinfußboden ahnt man nicht wegen des dicken Teppichbelags. Auf allen Tischen perlt der Schaumwein. Neben uns sitzen in vorgerückter Stimmung fünf Finnländer; vier von ihnen blond und breit und licht, wie man sich einen Frithjof wohl vorstellen kann, der fünfte brünett und mit den breiten Backenknochen der finnisch-ugrischen Rasse. Eben hat ihnen der Geiger gegen ein Extra-Douceur, leise und doch eindringlich stoßweise, den finnländischen Reitermarsch vorgespielt, diese funkelnden Klänge, die das deutsche Heer aus Gustav Adolfs Zeiten übernommen hat; mit diesem Marsch wollte ja auch unser Liliencron, der Reitersmann, der Dichtersmann, zu Grabe geleitet werden. Die Augen unserer Nachbarn glänzen. Sie sehen kaum auf das Mädchen hin, das, wie in solchen Lokalen üblich, in dem freien Raum zwischen den Tischen tanzt und gerade den letzten Schleier fallen läßt, ein Akt, der heutzutage kaum mehr brünstig wirkt, immerhin aber zur Belebung des Sektkonsums beitragen soll. "Können Sie spielen auch finnische Nationalhymne?" Der Geiger denkt nach, tut zögernd den ersten Bogenstrich und setzt dann voll ein. "Vart land är fattigt, skall so bli," singen die jungen Helsingforser mit. "Unser Land ist arm und wird es bleiben." Aber die Champagnerflaschen wackeln dazu mit den Köpfen.
Nur die Ausländer prassen in Berlin noch regelmäßig. Für die anderen ist es mehr und mehr ein gelegentlicher Exkurs. Und sehr viele, denen früher die Flasche Wein das Stimulans zum geistig Schöpferischen war, müssen überhaupt verzichten. Die Not geht um. Kürzlich las man die Anzeige vom Tode des bekannten Schriftstellers Dr. Lohan mit ein paar kurzen Begleitzeilen im Text der Berliner Zeitungen. Er war einmal Chefredakteur der "Hamburger Nachrichten". Etliche Jahre zuvor schrieb, wie Liman für die "Leipziger Neuesten Nachrichten", Lohan für die "Dresdner Nachrichten" seine funkelnden, glänzenden Berliner Leitartikel. Beide gehörten zu den bekanntesten Bismarck-Interpreten, beide waren die "ersten Federn" des Berlins der neunziger Jahre, und die Unterschrift "Li" oder "Lo" unter einem Aufsatz verbürgte einen wahren Genuß. Der weinfrohe Liman ist schon vor Jahren gestorben, hatte sich auch wohl schon ausgeschrieben; in letzter Zeit waren seine Stilübungen von einem etwas ermüdend psalmodierenden Parallelismus. Aber Lohan war bis in sein sechzigstes Lebensjahr, bis ins vorige Jahr hinein von einer glühenden vaterländischen Beredsamkeit in allem, was er schrieb. Er vermochte nur nicht, sich persönlich in Szene zu setzen, drängte sich nicht vor, war zurückhaltend und leicht verletzlich. Die Nahrungssorgen wurden übermächtig. Den Anblick der hungernden Frau und der hungernden Kinder - Lohan hatte erst spät geheiratet - konnte er nicht mehr ertragen, und als eine Bewerbung um einen Chefredakteurposten - wie immer, nicht dringlich - fehlschlug, schoß sich Dr. Lohan in der Badewanne eine Kugel durch das kluge, zerquälte Gehirn. Die Affäre des Dichters Georg Kaiser, der in solchen Lagen Diebstahl als das Recht des Genies für sich in Anspruch nahm, hatte Lohan noch gelesen. Aber er war zu altmodisch-anständig dazu. Er war nicht einmal zu gutbezahlten Reklameartikeln zu bewegen. Seine Harfe hatte nur den Dreiklang: Bismarck, Deutschheit, Monarchie! Und nicht um ein Vermögen hätte er sich, wie so mancher andere, der November-Demokratie verkauft.
Der Kampf ums Dasein ist überall hart. Aber er hat ein Gutes: er macht höflich gegen Kunden. Die Gesundung unserer Umgangsformen geht von den Kaufläden aus. Man wird in Berlin wieder zuvorkommend bedient, man bekommt die Sachen gut verpackt und mit "echtem" Bindfaden verschnürt, es wird einem wieder jedes größere Paket ins Haus geschickt, und sogar die Königin der Halledamen, die Metzgerfrau, erkundigt sich besorgt nach unseren Wünschen, wenn das Stückchen Bratwurst einmal nicht unseren Geschmack trifft. Nur die Fischweiber bleiben, ihrem historischen Ruf getreu, unverbesserlich. Da steht die eine und verkauft geräucherte Flundern. Ein Kunde seufzt: "So teuer ist die Flunder und so klein!" Er bekommt einen verachtungsvollen schrägen Blick und wie einen Peitschenhieb den kurzen Rat: "Stecken Se se in'n Blumentopp, vielleicht wachst se noch!"
10. März 1921 (Donnerstag)
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