"Rumpelstilzchen"

"Berliner Allerlei"
(Jahrgangsband 1920/21)

Verlag der Täglichen Rundschau / Berlin, 1922

Glossen 19 - 21
3. bis 17. Februar 1921


19

Kaisers Geburtstag im Nationalen Klub - Auf dem Presseball - Statt berühmter Männer kostbare Toiletten - Je-ka-fi - Die Saharet ist wieder da - "Das Liebesleben der Dubarry" - Die Maskenballsucht - Womit Ententeoffiziere zahlen

Die Aufrechten und Getreuen in Berlin haben Kaisers Geburtstag begangen, meist damit, daß es zu Mittag diesmal das Sonntagsessen gab und Vater nachher den Kindern von der schönen früheren Zeit erzählte. Hier und da hat man auch in größeren Kreisen sich zusammengetan. Im Nationalen Klub in der Sommerstraße, dessen schwarzweißrote Fahne - provozierend, wie ein ängstlicher Demokrat drüben am Fenster im Reichstag erklärte - zu den Parlamentariern hinübergrüßte, gab es ein Festessen nach alter Art, nur schlicht und einfach für 10 Mark das Gedeck. Dazu eine leider anderthalbstündige Rede und noch andere Reden hinterher. Da haben die Engländer mehr Stil an Königs Geburtstag. Der Jüngste in der Tafelrunde erhebt sich mit seinem Glase und sagt: "The King!", darauf der Älteste mit seinem Glase und antwortet: "God save the King!"; das ist alles, und es macht Eindruck. Im übrigen sah man unter den mehr als zweihundert Festteilnehmern im Nationalen Klub diesmal die meisten Großen der Krone aus der alten Zeit, die hier unter Gesinnungsfreunden ihre Erinnerungen und - ihre Hoffnungen austauschen konnten. Ein bißchen zu sehr die Großen; ohne Halsorden kam man sich fast halbnackt vor.

Am Sonntag darauf das Gegenstück: die große Parade des neuen Deutschlands auf dem Presseball. Bis auf wenige in republikanische Dienste übernommene Reichsbeamte und Verwaltungsoffiziere nichts mehr aus der alten Zeit, abgesehen von der zeitlosen Presse, aber auch die nur in wenigen Exemplaren. Sonst viel neuer Reichtum und neue gesellschaftsfähige Parteien bis zu dem "Kommunisten" Herrn Cassirer und anderen Umstürzlern, die hier die Toilette ihrer Frau zur Schau stellten. Dazu viel Theater, viel Film. Von wem die Kostüme geliefert sind, das ist die Hauptsache, und das steht mit Firma und Straße und Hausnummer tags darauf in den Berliner Morgenblättern, zum Teil sogar mit Strichzeichnungen, die also schon vorher angefertigt waren. Die Trägerinnen der kostbaren Roben sitzen in den Logen, die Männer als Besitzer im Hintergrunde. Davor drängt und schiebt sich das tausendköpfige Publikum wie vor den Käfigen im Zoologischen Garten. Das ist der Presseball. Daneben wird natürlich auch ein bißchen getanzt, obwohl weniger Platz da ist als an Frosttagen in den städtischen Wärmehallen. Man läßt auch die Pfropfen knallen; dann greift man in die Tombola und ist gegen Mitternacht um einen ganzen Ballen Papiergeld erleichtert. Früher ging man zum Presseball, um Männer zu sehen, berühmte Männer, und hin und wieder gab es ein neckisches Bild: etwa den baumlangen Bethmann-Hollweg, dem Stettenheim als der kleinste Berliner Pressevertreter vorgestellt wird. Heute geht man zum Presseball, um Toiletten zu sehen, kostbare Toiletten; diesmal sind sie überraschend dezent, ohne gewagte Rückenausschnitte, aber sie funkeln von Silber- und Goldbrokat und von allerlei Pailletierung, wie es sich für unser republikanisches Schieberzeitalter geziemt. Am nächsten Tage erhebt die rote Presse ein Pharisäergeschrei. Wie könne man an diesem Tage, an dem die neue Pariser Erpressernote eingetroffen sei, solche Feste feiern! Ja, wie kann man nur, möchten wir auch die zahlreichen roten Größen fragen, die im Strudel mitmachen.

Die Entrüstung der Zeitungen hilft nichts. Auch behördliche Verbote wirken nicht. So zwischen Januar und März ist nun einmal winterlicher Hochbetrieb im Berliner Leben. Theater und Varietés sind überfüllt. Den größten Zulauf hat das neue Riesen-Varieté, die Skala im ehemaligen Eispalast, wo unter dem Schlachtruf "Je-ka-fi" - jeder kann filmen - die Kassenrapporte ins Ungeheure schwellen. Tag für Tag ist das Publikum hingeströmt und hat die teuren Eintrittspreise bezahlt, um sich auf die Bühne zu drängen und vor den Kurbelkasten zu kommen. Je-hä-si-fü-sta, jeder hält sich für'n Star, und jeder hofft auf den ersten Preis. Diese Talentlotterie hat besonders unsere Arbeiterschaft beider Geschlechter angezogen. Der Hauptgewinn ist an einen Handlanger ausbezahlt worden. Aber einen Star hat man nicht entdeckt. Jetzt werden die kleinen Stücke, die das Publikum gefilmt hat, allabendlich über die Leinwand abgerollt, und alles wälzt sich vor Lachen, wenn es sieht, wie Fritze Müller bedeutsam das Gesicht verzerrt und Lotte Schulze hilflos mit Armen und Beinen schlenkert.

Auch das Filmen will gelernt sein. Der Glaube an die unentdeckt schlummernden Talente unter Nichtfachleuten, den wir in den Regierungen aller deutschen Länder schon so teuer haben bezahlen müssen, hat einen neuen Stoß bekommen. Bekehrt und reuig sucht man wieder, auch im Varieté, die Fachartisten auf. Ins Apollotheater ist eine alte Bekannte eingekehrt, die Saharet, die sogenannte australische Tänzerin. Der kleine schwarze Satan mit den Kautschaukgliedern, mit dem Wuppdich und der roten Rose oben auf der Frisur, dieser lachende Wirbelwind des Podiums lebt also immer noch. Es ist schon lange her, daß die Saharet die erste Begeisterung bei den ernstesten Männern Deutschlands auslöste, damals, als der Afrikareisende Eugen Wolf in einer angesehenen Zeitschrift einen Panegyrikus auf sie schrieb und der Maler v. Lenbach sie für vierzehn Tage - unter Zahlung ihres märchenhaften Wintergarten-Gehalts - zu sich einlud, um sie mit seinem Pinsel zu verewigen. Man darf eigentlich gar nicht sagen, wann dieses "Damals" war. Nun, damals war die kleine Tochter der Saharet drei Jahre alt, und heute ist diese Tochter wohl schon längst ehrsame Mutter und Hausfrau. Enfin, damals war die Saharet selbst noch, obwohl sie mit 16 Jahren geheiratet hatte, ein Kind. Auf der Bühne eine Augenweide in ihrer flirrenden aparten Gewandung; über ihre apfelgrünen Dessous, über ihre siebzehn Volants, die nach wenigen Tagen als verstaubt immer wieder weggeworfen werden mußten, um neuen blütenfrischen zu weichen, hat Eugen Wolf einen ganzen ästhetischen Leitfaden zusammengeschrieben. Im Leben aber eine kleine, blasse Marjell, schlicht und bescheiden und zutraulich. Sie holte mich einmal, nachdem sie morgens schon ein paar Stunden gearbeitet, im Hotel ihre Beinschwünge und das Spagat geübt hatte, zu einer Radpartie ins Wäldchen dicht bei einer deutschen Großstadt ab, zusammen mit einem bekannten Künstler, und erschien dazu in einer einfachen Hemdbluse aus Kattun ohne Schlips. "Ja, der eine is kaputt, der andere wird gewascht!" bemerkte entschuldigend die Besitzerin einer ganzen Waggonladung von Tanztoiletten. Damals tanzte sie allein und verdiente ein Heidengeld. Wenn sie erst einmal 400 000 Mark habe, so in fünf oder sechs Jahren, dann höre sie auf, kaufe sich ein Gut und tanze nur noch zu Hause auf dem abgeräumten Speisetisch, sagte sie mir. Aber die Unkosten des Berufes, des Reisens mit Mann und Sekretär und Zofe und Schneiderin, sind groß und die 400 000 Goldmark anscheinend noch nicht beisammen. Als die Saharet älter wurde, tanzte sie zu zweit, um einen "spanischen" blaurasierten Partner herum, dessen Gorillagesicht ihre eigene Schönheit heben sollte. Einige Jahre später trat sie schon inmitten einer Gruppe von Tanzmädchen auf, so wie ja auch ältere Masseusen "junge Assistenz" sich zulegen. Heute erscheint sie nach langer amerikanischer Verschollenheit während des Krieges mit einem ganzen Varieté von 150 Mitwirkenden, die unter dem Titel "Das Liebesleben der Gräfin Dubarry" Szenen vom französischen Rokokohofe aufführen, wieder in Berlin. Ihre Gelenkigkeit aber hat sie behalten. Sie wirbelt über die Bühne, daß einem Hören und Sehen vergeht. Ganz Berlin staut sich vor dem Apollotheater in der Friedrichstraße und begrüßt seine alte Liebe.

Zum Besuch aller Vergnügungsstätten hat "man" ja heute Zeit und Geld genug. Die Maskenleihgeschäfte machen, wie sie übereinstimmend erklären, diesmal glänzende Geschäfte, namentlich mit einfacherem Publikum, das die Gebühr von 100 bis 150 Mark für einen Abend gern bezahlt. Es scheint ein Widerspruch dazu zu sein, wenn gleichzeitig die Besitzer unserer größten Säle sagen, der Karneval 1921 werde eine aufgelegte Pleite, da man kaum mehr ein volles Haus habe, bestenfalls ein Drittel der sonstigen Gäste. Das stimmt. In den Riesensälen wird von den Unternehmern der Vergnügungen meist ein zu hohes Eintrittsgeld, 80 Mark und mehr, erhoben, und zu wenig dafür geboten. Aber die kleineren Etablissements sind gespickt voll. Maskenfeste, sogar in ganz engem Zirkel, nehmen überhand. Es gibt Dienstmädchen in der geschätzten Metropole des Reiches, die zweimal wöchentlich im Maskenkostüm die Nacht durchtanzen. Sie sind trotzdem am nächsten Tage sicher auf ihren Beinen; bloß die Teller und Gläser in ihren Händen nicht. In einr Pfarrersfamilie im Norden - auch die Pfarrer müssen heute ein Auge zudrücken - stellt die Donna sich vor jedesmaligem Ausgehen im Kostüm ihrer Herrschaft vor, die dann alles bewundern muß, damit ihr nicht sonst die Kündigung überreicht wird. Am vorigen Mittwoch kam das Mädchen in Reitstiefeln mit Trikotbeinen an. "Ick jeh als Schockei!" Dabei hat die Gute gut anderthalb Zentner Lebendgewicht.

Die in jeder Beziehung "leichteren" Damen Berlins haben jetzt, wie sie sagen, ihre große Chance; denn es wimmelt nur so von gebefreudigen Ausländern, namentlich Offizieren der Überwachungskommission der Entente. Die durchschnittlich etwa 12 000 Mark, die die deutsche Regierung (monatlich!) an jeden Herrn der hohen Kommission zahlt, langen aber doch nicht hin und nicht her bei den teuren Preisen für Sekt und Gänseleber. Man versucht, die kleinen Einnahmen hin und wieder aufzubessern. Die hohe Kommission hatte vorgeschlagen, sie wolle ihren Herren für ihre so notwendigen vielen Reisen die Fahrkarten kaufen und mit den Reisespesen liquidieren. Oh, meinte das Auswärtige Amt (Verbeugung), das macht doch viel zu viel Mühe. Wir geben Blankoformulare aus (Verbeugung), da brauchen die Herren nur die Zielstation auszufüllen (Verbeugung) und bekommen am Schalter gegen den Schein die gewünschte Fahrkarte ausgehändigt (Verbeugung). Voilà; man füllt einen Blankoschein nach Karlsruhe aus, läßt sich dafür eine Karte holen und schenkt sie à la petite Marie. Die geht nach Abgang des Zuges zum Fahrdienstleiter und erklärt, sie hätte leider die Reise nach Karlsruhe nicht machen können, das Auto wäre so langsam gefahren. Anstandslos wird die Nichtbenutzung der Fahrkarte bescheinigt und la petite Marie erhält 500 Mark in bar.
3. Februar 1921 (Donnerstag)


20

Ludwig XV. Hirschgarten - Im "Palais der Friedrichstadt" - Die alten Amorsäle - Richard Strauß dirigiert seine "Josephslegende" - Tilla Durieux - Cassirers und Harry Graf Keßler - Wenn Ernst Moritz Arndt auferstünde! - Denunziantentum - Bei Frau v. Kühlmann-Friedländer-Fuld - Die stolzen Ententeoffiziere - Im Urteil der Schüttler

Also man sitzt im Apollotheater und sieht sich an, was die Spekulation auf den schlechten Geschmack eines angeblich republikanischen Publikums uns bietet. Ludwig XV. in feinem "Hirschgarten" mit sehr viel Weiblichem. Gut Angezogenem, wie der Saharet, und schlecht Ausgezogenem, das lebende Bilder mimt. Endlich kriegt Ludwig XV. die schwarzen Pocken, die Dubarry-Saharet wird zum Schaffot geschleppt; Paris brennt, der Vorhang schließt sich. Da erscheint davor der schwarze Lockenkopf der immer noch Berückenden und bittet um Gehör. Stille ringsum. "Ich uar mit mein Hörz immer in Deutsländ, ich ueinte immer mit Deutsländ uährend das sreckliche Krieg!" Die Sentimentalen applaudieren begeistert die Geschäftstüchtige. Noch einmal öffnet sich im Vorhang ein kleiner Schlitz in reichlich Manneshöhe, und ein Händchen winkt. Ein Händchen? Nein, ein Füßchen. Für die Saharet ist das ein Kinderspiel. Sie ist die wildeste und doch dezenteste Cancan-Tänzerin, die es je gegeben hat; Selbst unter dem zweiten Kaiserreich in Paris gab es nicht ihresgleichen.

Für die Unersättlichen, die so früh am Tage nicht nach Hause wollen, winken abends nach Schluß der Vorstellung noch andere Genüsse. Im Torgang werden den Hinausströmenden die Reklamezettel in die Hand gedrückt. Das ist heute in Berlin überall so, im Süden wie im Norden, im Westen wie im Osten. Auf ins Palais der Friedrichstadt! Nun stehen wir, in der Besselstraße, davor. Du liebe Güte - das sind soch die Amorsäle! Richtig. So hießen sie bis vor kurzem. Und waren schon seit Generationen so bekannt wie früher Emberg oder das Alte Ballhaus. Da ging der Leutnant, der nach Berlin zur Zentralturnanstalt kommandiert war, "der Boxer", nach harter Tagesarbeit hin und übte weiter seine Muskeln und Sehnen, tanzte bis zum Umfallen seinen Jugendüberschwang aus. Es waren nicht gerade Damen der guten Gesellschaft da. Bewahre. Friedrichstraßengirls. Irgendein dicker Wollonkel aus der Provinz saß da und zahlte ihnen den Schampus, der eine horrende Summe kostete, wohl 7 1/2 Mark die Flasche. Der Leutnant - in Dutzenden von Exemplaren - aber tanzte. Trank nicht, weil er nicht das Geld dazu hatte und weil man dann noch mehr schwitzte, sondern tanzte, tanzte, tanzte unentwegt. Wie oft hat der gute Paasche, der später als Kapitänleutnant a.D. etwas übergedreht wurde und bei den Kommunisten endete, um schließlich unter einer Polizeikugel zu fallen, hier sein Tanzbein geschwungen. Und noch manche andere. Ganze Ranglisten-Jahrgänge tauchen vor mir auf; neben dem Boxer auch mancher "Schießschul-Karl", der dann morgens aus den Amorsälen zum Anhalter Bahnhof hinüberflitzte, im Zuge bis Jüterbog im Handumdrehen eine eiserne Ration voll schlief und dann mit hellen Augen auf dem Übungsplatz die heransausenden Kavalleriescheiben zusammenschoß. Nur die Kriegsakademiker ließen sich in den Amorsälen wenig blicken. Studieren und Tanzen verträgt sich nicht. In der guten alten Zeit galten diese Säle als das Zentrum des Sündenbabels. Fragte ein Fremder in der unteren Friedrichstraße einen Jungen, wo es zu den Amorsälen hinginge, dann war oft ein pfiffig-freches Lächeln die Antwort: "Det derf ick jarnich wissen, da bin ick noch ville zu kleen zu!" Und nun sind die alten Amorsäle ein "Palais der Friedrichstadt" geworden, die gewöhnliche Halbwelt drückt sich mißmutig darin herum, denn die Herren kommen schon meist in Begleitung, mitunter der eigenen Frauen, trinken für sich die Flasche sauren Mosel zu 80 bis 120 Mark und - sehen dem Tanzen zu, dem Berufstanzen ausgezogener Mädchen von Narbias sogenanntem Schönheitsballet, deren Umhüllung im wesentlichen nur aus der etwas abmildernd violetten Beleuchtung besteht. Es ist möglich, daß irgend jemand, der aus Hinterniedertupfenhausen hierher verschlagen wird, sich darüber aufregt. Die große Mehrheit der Zuschauer findet die Sache nachgerade stumpfsinnig. Jede Übertreibung stirbt an sich selbst. Vielleicht kommt schon sehr bald die Zeit, wo man in Berlin, aber auch in Paris und London, wo es nicht viel anders zugeht, für einen Menschen von vorgestern, für kulturlos gehalten wird, wenn man zu dem plebejischen Vergnügen der Nackttänze überhaupt noch hingeht.

Wer ein einziges Mal sich in unserer Staatsoper, die unter der Leitung ihres Intendanten v. Schillings ein erfreuliches Streben zeigt, etwa die Tänze in der "Josephslegende" ansieht, der fühlt sich von der übrigen Berliner Tanzerei wie entsühnt. Die Premiere und die zweite Aufführung sind vorüber. Das eine wie das andere Mal saß Richard Strauß selber am Pult und führte in seiner unaufdringlich leisen und zwingenden Art den Taktstock. Es ist nicht ein innerer Dämon wie bei Richard Wagner, der diese Musik gebiert. Man wird bei Strauß nie den Eindruck los, daß ein ungeheurer Verstand mit uns spielt; ihm steht das Handwerkliche seiner Kunst so sehr zur Verfügung, daß er nichts, was es zwischen Himmel und Erde gibt, nicht sofort in Tönen malen könnte. Tausend Heinzelmännchen, seines Winks gewärtig, sind für ihn die Noten, die Instrumente. Aber im Nu sind wir auch in seiner Hand. Goethe hat einmal, nachdem er sich lange Zeit hindurch gegen die Musik fest verschlossen hatte, wieder gute Musik gehört und vor ihr gesagt: "Sie faltet mich auseinander und öffnet mir die geballte Faust." So ist es. Auch bei Strauß. Ob man will oder nicht, man wird auseinandergefaltet; mit erst recht offenen Sinnen folgt man dann auch den Vorgängen auf der Bühne und erkennt dankbar und staunend, wie begnadet wir Deutschen doch sind, daß auch unsere ärmsten Zeiten so musikreich waren; daß der jeweils größte Meister der Töne immer ein Deutscher war, und daß wir heute, bei dem Mangel an Führertalenten auf manchem Gebiete, doch in der Musik einen Richard Strauß den unsern nennen können. Die "Josephslegende" erlebte ihre Uraufführung kurz vor dem Kriege in Paris und machte den Komponisten zum Ritter der französischen Ehrenlegion. Damals lag ganz Westeuropa dem deutschen Genie zu Füßen. Allerdings ist auch kaum etwas für die dortigen Snobs geeigneter als diese getanzte Legende voll wortloser Leidenschaft und ungeheurer orientalischer Pracht. Keine Oper; ein Ballett. Aber es hat es in sich. Potiphar, ein Mann von königlichem Reichtum in Ägypten, will seine Frau, die die Vulkane in sich unter Eis erstarren läßt, zu Leben und Liebe erwecken. Händler kommen und breiten Kostbarkeiten aus, Tänzerinnen erscheinen und farbensatte Schönheit leuchtet auf; wie ein Steinbild sitzt die finstere Potiphar neben dem finsteren Gatten. Tilla Durieux. Das Tigergesicht aus dem schwülen Dschungel. Man fühlt, wie es in ihr kocht, wie sie den ganzen Trödel verachtet, wie sie im nächsten Moment, aus ihrer bronzenen Ruhe jäh aufspringend, den Gatten erwürgen könnte. Da naht der junge Sklave Josef, der Hirtenknabe, des Gottes voll, und tanzt seinem Gotte zu Ehren, wie später König David vor der Bundeslade, einen ganz unsinnlichen Tanz hymnischer Begeisterung, das Antlitz und die Arme zum Himmel erhoben. Nun zuckt es in dem Tigerweibchen. Langsam krallen sich die Finger. Die Augen trinken den reinen Jünglingsleib voll verzehrender Gier; es glimmt in ihnen von wildem Durst. In der Nacht darauf tanzt Frau Potiphar vor dem Schlaflager Josefs um seine Liebe, wie nur eine Tilla Durieux um Liebe tanzen kann. Sie ist nichts weniger als elfenfüßig. Tut nichts. Sie tanzt mit den heißen Augen, mit den fiebernden Brüsten, mit der ganzen zitternden Körperhaut, Sie tanzt sich, noch erschauernd, in Josefs hauchzarten Mantelumwurf hinein, nachdem sie den Jüngling selbst schon den Häschern und Henkern überantwortet hat. Die Männer mit den glühenden Zangen aber brechen nieder, die Ketten fallen von Josef ab, unter himmlischen Chören steigt er zur Erscheinung des rettenden Erzengels empor. Die Potiphar erwürgt sich mit ihrer Perlenschnur.

Kein Wort. Nur Bild und Musik. Aber wie ein Träumender geht man, großer Erlebnisse voll, von hinnen. Man war ganz im Bann. Nichts Unreines ist trotz der "gewagten" Szenen emporgestiegen. Dazu hat das Tongewoge uns zu fest an der Hand gehalten. Alles malt es, lebt es. Es atmet mit der schlafenden Reinheit Josefs. Es jubelt über seine Rettung mit allen Engeln.

Und das ist das Große an der Kunst, daß Sie uns auch alles Menschlich-Allzumenschliche vergessen läßt. Diese Tilla Durieux, die Frau des "Kommunisten" Cassirer, hat in Zürich während des Krieges öffentlich französische Chansons gesungen. Ihrem Mann war dort wohler als an der Front, an die man ihn vergeblich einzuberufen versuchte. Im Leben machen es Cassirers-Potiphar nicht ganz wie in den lichten Sphären der Kunst. Einst hatte Tilla Durieux mit dem Berliner Polizeipräsidenten Traugott v. Jagow ein fesselndes Gespräch über Theaterdinge, die zu seinem Bereich gehörten - offen, bei einer Probe im Theater. Er wünschte Fortsetzung des Gesprächs bei anderer Gelegenheit. Da ging sie zu ihrem Gatten, und der überlieferte Jagow-Josef zwar nicht dem Henker oder forderte ihn, zeitgemäßer, vor die Waffe, aber machte aus der harmlosen Affäre ein weniger harmloses Artikelchen für seine Kunstzeitschrift. Es ist eben alles Politik, alles Geschäft. Intimus des Hauses Cassirer aber ist Graf Harry Keßler, der mit Hofmannsthal zusammen das Ballett der "Josephslegende" entworfen bat. Sein preußischer Adel stammt von 1879, seine Grafenkrone von 1881 aus dem Fürstentum Reuß-Schleiz, geboren ist er als Sohn einer Engländerin in Paris. Während des Krieges war er, wie Cassirers, in der Schweiz, wo er wahllos deutsche Tingeltangelgesellschaften importierte, da er als Leiter - der deutschen Kunstpropaganda angestellt war. In seinem Wappen trägt er nicht umsonst den Pegasus. Nach der Revolution saß er natürlich da, wo er hingehörte, nämlich weit links, wenn er auch bei den Kommunisten, wie Cassirer, meines Wissens noch nicht aufgetaucht ist. Für die Snobs schreibt er Ballette, für das Volk Broschüren über das Kinderelend in Berlin.

Gott sei Dank, daß man im Opernhaus selbst so hingenommen ist, daß dergleichen Erinnerungen nicht über die Bewußtseinsschwelle dringen. Draußen im Leben gibt es Ernüchterndes genug. Wenn auch noch nicht französische Chansons in jedem Tingeltangel gesungen werden, wenn auch der Versuch, ein Montmartre-Cabaret mit Pariser Dirnenliedern bei uns einzuführen, bei den Berlinern keine Liebe gefunden hat, so spielt doch jeder Leierkasten den Sambre-et-Meuse-Marsch mit seinem reißenden Rhythmus, so nimmt doch die gesellschaftliche Achtung statt Ächtung alles Feindlichen und Fremden immer noch zu. Da liest man immer, daß es unserem Volke an einem Führer fehle. Aber würde, wenn er erschiene, nicht das Volk dem Führer fehlen? Man denke sich, daß ein Mann, wie der glutvoll-fromme Ernst Moritz Arndt, heute wieder aufstünde und in die Nation seine Verse schleuderte:

"Es ziehen die Dämonen,
Schwanger mit Blut und Schmach;
Doch die auf Sternen wohnen,
Senden die Rache nach!" -

was wäre dann die Folge? Damals, zwischen 1807 und 1813, lechzte alles, hoch und gering, danach, das Joch des Fremden abzuschütteln, heute würde ein Arndt sofort von Deutschen der Entente denunziert werden. In Breslau hat ein Gymnasiast, Sohn des Zentrumsabgeordneten Landgerichtsrats a.D. Zimmer, an das französische Konsulat einen französischen Brief geschrieben, in dem er einen seiner Lehrer bezichtigt, daß er der Jugend verbotene militärische Ideen einimpfe. Die feindlichen Überwachungskommissionen aber können sich vor Briefen kaum retten, in denen deutsche Arbeiter, hoch- und blaßrote, immer wieder deutsche Fabriken der Anfertigung verbotener Ausrüstungsstücke anschuldigen. Gleichzeitig werden die Mitglieder dieser Fronvogt-Ausschüsse von allen Seiten umworben: Damen der ersten Gesellschaften tanzen mit ihren Offizieren, Mädchen aus dem Volke "gehen" mit ihren Soldaten.

In Berlin leben etliche jüngere Diplomaten der vornovemberlichen Zeit, auch solche, die ihre Schrittmacher waren, und warten auf ihren Stern. Manche in so guten Verhältnissen, daß sie trotz Teuerung und Notopfer ein großes Haus machen können. Kühlmann, dessen Bukarester nächtliche Eskapaden längst vergessen sind, hat die vielen Millionen schwere Tochter des verstorbenen Friedländer-Fuld geheiratet, des Kohlenhändler-Magnaten, in dessen Palais am Pariser Platz zu Berlin so viel Raum war, daß - im Wintergarten im Hause selbst ein Tennis-Court angelegt werden konnte. Die junge Friedländer wollte zuerst einen etwas östlichen Fürsten heiraten und lernte eifrig Russisch. Dann heiratete sie einen ebenso westlichen Beinahe-Lord, der in einem Kontor in Hamburg arbeitete, ein eigenes Palais in der Berliner Bendlerstraße nebst Mitgift erhielt, aber die Frau als Beilage ablehnte. Es kam zur Scheidung. Nun hat Kühlmann die Geschiedene, das Geld, die Palais und veranstaltet Feste und lädt ehemalige Kollegen dazu ein. Auch der Freiherr v. Lersner geht neulich hin und erschrickt: in allen Sälen ist es voll von Ententeoffizieren. Er stellt Herrn v. Kühlmann, der entschuldigt sich und sagt, das Einladen besorge seine Frau, die Friedländer, und nötigt Lersner zum Bleiben. Schickt am nächsten Tage auch noch einen "aufklärenden" Brief hinterdrein. Es vergeht einige Zeit, es kommt eine neue Einladung, Lersner geht hin und findet wieder die fremde Gesellschaft vor, macht diesmal allerdings kurz Kehrt und verschwindet.

Wer da meint, daß man auf gesellschaftlichem Boden in Völkerversöhnung machen könne, dem sei ein kleines Nachspiel erzählt. Eine Dame, die mit bei Kühlmanns war, begegnet danach auf der Straße ihrem Tischherrn, einem Ententeoffizier, der sie fast streift, aber nicht grüßt. Er wird von dem deutschen Begleiter der Dame auf deren Bitte gestellt und erklärt nun wörtlich: "Im Salon mache ich mir schließlich nichts daraus, mit einer deutschen Dame zu verkehren, aber auf der Straße grüße ich keine Angehörigen des feindlichen Landes!" So tief in Schanden waren wir noch nie. Aber alles beugt sich vor den Fremden, bis zu den "Schüttlern" herab, die in deutscher Uniform auf den Bürgersteigen kauern und Mitleid heischen. Sie sagen vergnügt, die nobelsten Leute seien die der Entente. Unsere Entente-Büttel kosten uns fünfzehn Milliarden jährlich, die wir schwer abarbeiten müssen. Die Schüttler aber schmunzeln. Ihre Tageskasse beträgt mitunter über 300 Mark. Es gibt sehr viele Schüttler in Deutschland; auch solche, die sich nicht schütteln.
10. Februar 1921 (Donnerstag)


21

Mystizismus in den Großstädten - Mucks neue Schar - Die "Passion" im Großen Schauspielhause - Dadaistische neue Lyrik - Mister Meschugge - Berliner Abzählverse - Die Osthafendiebstähle - Die einfache Stütze und der Müllkutscher

Die Hirne sind nach der großen Erfolglosigkeit von 1918 dumpf und leer, aber in den Herzen brodelt es nach einer Entsühnung von 1921; je unklarer der Kopf, dest drängender das Gefühl. In einer solchen Zeit, in der der Genesungswille sich langsam zum Licht emportastet, gib es noch viel Krankhaftes und Fiebriges. Niemals waren die Okkultisten, Geisterbeschwörer, Kartenlegerinnen, Kaffeesatzpropheten, Gesundbeter und sonderbaren Heiligen jeglicher Art so überlaufen wie heute. Wirklich Gesundes ringt sich freilich auch durch. Die im größten Teile Deutschlands vorgenommenen kirchlichen Wahlen haben uns auf religiösem Gebiete nicht revolutioniert, haben keinen roten Hunneneinbruch gebracht, sondern im Gegenteil eine Zusammenballung und Verstärkung der gläubig positiven Gemeindevertretungen. Heinrich Heine hat in seinem infernalischen Haß einmal gesagt, das Christentum sei eine Ideenwanze, die schon vor zweitausend Jahren zertreten worden sei, aber immer noch stinke. Er und seine Nachbeter zerfallen und stinken, könnte man weit eher sagen; und der Glaube lebt und ist ewig. Auch der Sowjetstern der Trotzki-Braunstein und Hoffmann-Levi siegt nicht über das Kreuz. Nur weiß noch nicht jedermann den Weg, der zur Höhe führt; man irrt in Dschungel und Gestrüpp. Vielfach erinnert dieses Irren an die Zeiten der Wiedertäufer und Bilderstürmer, gibt sich als Reformation der Herzen aus und endet in der tollsten Verstrickung der Sinne oder in Hochstapeleien kleiner Geschäftspropheten. Die "Neue Schar", die von Thüringen ausging, wie einst der Wandervogel von Mecklenburg-Strelitz, ist mit ihrem Phantasmus, uns durch Volksreigen und Singsang zu heilen, bis in die Asphaltwüste, bis in die Vororte Berlins gedrungen. Jetzt endlich hat man dem Propheten Muck auf der Leuchtenburg das Handwerk gelegt. Eine seiner Jüngerinnen ist mit einem "kleinen Malheurchen" niedergekommen, eine zweite erwartet es. Die Entsühnung von 1921 nach der furchtbaren Irrtumssünde von 1918 kommt nicht durch Reigentänze zu uns, aber auch nicht durch Tischrücken und religiöse Hysterie.

Wir können mit dem Weibervolk vom Herbst 1918 nichts anfangen, das auf den Straßen sich zusammenrottete und schrie: "Was geht uns Elsaß-Lothringen an? Wozu brauchen wir eine Ostmark? Unsere Männer wollen wir haben! Butter wollen wir haben!" Viele von diesen sind inzwischen still und nachdenklich geworden. Mitten in dem korybantischen Taumel der Weltstadt tauchen immer mehr stille und fragende Gesichter auf, und ein Suchen und Raunen und Rufen nach einem, der Antwort geben könnte, geht durch die Menge. Am Ende schlägt die Konjunktur um, sagen sich die Fixesten unter den Theaterleitern. Versuchen wir es mal mit Mystik! Herr Holländer bringt also in der Riesenscheune des Großen Schauspielhauses die "Passion" von Schmidtbonn nach einem mittelalterlichen Kirchenspiel zur Aufführung, natürlich mit allen sogenannten Schikanen, mit Beleuchtungseffekten, mit Engelchören aus der Höhe der Kuppel, mit wundervoll gestellten Bildern. Die Kostüme sind freilich weder die uns aus der biblischen Geschichte gewohnte klassischen, noch auch orientalisch, sondern deutsch-mittelalterlich, etwa wie der große Düsseldorfer Maler v. Gebhardt für seine religiösen Motive sie braucht. Auch Schmidtbonns Verse, so schön das Werk im übrigen sein mag, sind manchmal Literatur. Vor allem aber fehlt in Berlin die Hauptsache: die Einfalt und Innigkeit des Publikums. Man ist ästhetisch ergriffen, wenn die Szene - dann aber nicht in der Arena der Dreitausend, sondern im engen Rahmen der "Guckkastenbühne" im Hintergrunde - besonders malerisch wirkt, aber das ist auch alles. Man ist eben nicht in Oberammergau. Auch dort ist der "Christus" Lang ein Mensch gewesen, dem Amerikanerinnen Heiratsanträge machten, aber das Land ringsum atmete doch Andacht, während man hier dazu nicht kommt. Der Heiland von gestern ist der Danton von heute; und übermorgen wird "Die Nacht der Frauen" im Großen Schauspielhause ihren Prunk entfalten, sagt sich der Premierenbesucher der "Passion".

Die eigentliche geistige Elite des Volkes geht in Berlin überhaupt kaum mehr ins Theater. Man hat wenig Zeit und noch weniger Geld in diesen Kreisen. Die heutigen Theaterbesucher aber suchen den Nervenkitzel jeder Art und rechnen dazu auch solch "ausgefallene" religiöse Stücke. In der Malerei, in der Dichtung werden ja auch Sachen gekauft, die kein Mensch zu seiner innerlichen Erhebung benutzen kann. Man will sich graulen oder man will lachen, auf jeden Fall aber modern und "up to date" sein und nichts versäumt haben. Die Klexereien der Gruppe Sturm werden wahrhaftig gekauft und ebenso die Verse der Dadaisten. Neuerdings werden diese wenigstens wieder etwas verständlicher, kommen wenigstens wieder auf die Stufe des Absynthpoeten und Revolutionshanswurstes Erich Mühsam zurück.

"Am Nabelstrang erwürgt die Zukunft.
Vom Himmel fällt der Mond
Und platzt, gespießt von einem Kirchturm.
Straße frei. Wer weiterlebt, wird erschossen.
Hipp, hipp, hurra! Wir werden blödsinnig."

So dichtet es bei Fried Hardy Worm, dem Herausgeber der neuesten Berliner Dada-Lyrik, aus der Kehle des Herrn Oskar Kanehl. Das ist doch nicht mehr ein ganz unverständliches Glucksen und Lallen oder gar nur ein Bilderrätsel von Gedankenstrichen und Ausrufungszeichen, sondern eine verständliche menschliche Stimme, wenn auch vielleicht eine heisere Jodkalistimme. Wir hören doch das männliche Eingeständnis dieser Kulturbringer, daß sie "blödsinnig werden", wenn sie es - nicht schon sind. Aber im Grunde ist auch das nur Faxe. Man stellt sich blödsinnig, wenn man nichts Besseres kann und wenn es - bezahlt wird. In Berliner Kaffeehäusern der Friedrichstadt tritt seit Jahren ein Kapellmeister auf, der außerberuflich ein ganz vernünftiger Mensch und sogar sehr guter Musiker ist, auf dem Podium aber mit dem Kopf zwischen den Beinen geigt, seine fußlange Haarmähne sich vornüber ins Gesicht wirft und sonstige Allotria treibt, bis man ihm seinen Künstlernamen glaubt. Er nennt sich Mister Meschugge. Und so etwas war immer Trumpf in Berlin. Man nennt es auch Manoli. Diese Zigarettenfirma hatte früher, als unsere Elektrizität noch nicht rationiert war, am Potsdamer Platz und in der nördlichen Friedrichstraße und anderswo die ganze Nacht hindurch hoch über den Häusern eine Lichtreklame in Gestalt eines kreisenden Feuerrades. Die Frage: "Du bist wohl manoli?" bedeutet also seitdem, daß man für verdreht gehalten wird. Der Berliner selbst ist nie manoli oder meschugge, aber er sieht es gern, wenn andere es für sein Geld sind. Er kennt vor lauter Geschäftigkeit ja nicht einmal den harmlosen Frohsinn oder die harmlose Ausgelassenheit, wie sie in der Karnevalszeit noch im Süden und Westen Deutschlands zu finden ist. Er kommt im Smoking und mit Perlenknöpfen in der Hemdbrust irgendwohin, wo die Sache viel Geld kostet, macht eine Leichenbittermiene und wartet darauf, was es für das Geld gibt. Er amüsiert sich nicht. Er läßt sich amüsieren. Man hat das Gefühl, daß er bei den ersten Takten der Apassionata an den Preis eines Waggons Kernseife denkt und bei den Klängen der Donauwellen an billiges Gelände hinter Berlin-Mariendorf. Er, der "richtige" Berliner, der mit der Stadt groß wird. Und diese seine Art färbt auch auf die merkwürdig geschäftsklugen Berliner Kinder ab, bis in ihre Spiele hinein.

"Ich und du, Schiebers Ruh,
Der eine, der schiebt Schmalz,
Der andre, der schiebt Speck,
Zwirn und Garn und Hosenknöpp',
Du - bist - weg !"

zählen sie jetzt ab, wenn sie die Rollen verteilen, wobei die unbeliebteste die des "Greifers", des "Grünen", des "Polente" ist, wie man den Schutzmann nennt.

Im Leben der Großen ist es ja ähnlich. Im Berliner Osthafen wird von den Hafenarbeitern regelmäßig und gewaltig gestohlen, man entdeckt es, der Hafendirektor besorgt sich scharfe Polizei, da begehrt die öffentliche Meinung der Hafenarbeiter auf, und die Stadt - entläßt den Hafendirektor. Man muß auf die "Not" der Arbeiter (bei 1680 Mark Monatslohn) doch Rücksicht nehmen. Mag sein, daß die Not gewisse Leute stehlen lehrt; andere lehrt sie arbeiten. Auch in den Kreisen, in denen man früher nur "standesgemäße" Arbeit nahm, denkt man jetzt ganz anders. Wenn man Tellerspüler oder Kohlenschipper werden will, geht man heute nicht mehr nach Amerika, sondern nach Berlin. Eine Familie in meinem Bekanntenkreise suchte und fand zum 1. Januar eine "einfache Stütze" aus gutem Hause. Diese junge adlige Dame tat unermüdlich, auch bei grober Arbeit, ihre Pflicht. In den ersten Tagen des Februar fiel es der Herrschaft nicht gerade angenehm auf, daß die Stütze vor der Haustür eine Weile mit einem der beiden Müllkutscher anscheinend sehr herzlich plauderte. Acht Tage später schien er sogar in der Küche gewesen zu sein. Nun wurde die Stütze von der Dame des Hauses zur Rede gestellt, antwortete aber fröhlich und unbefangen: "Jawohl, gnädige Frau, der Müllkutscher. Jetzt kann ich ihn bald heiraten. Wir sind schon lange verlobt. Er war Leutnant in dem Regiment meines Vaters."
17. Februar 1921 (Donnerstag)



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Karlheinz Everts