"Rumpelstilzchen"

"Berliner Allerlei"
(Jahrgangsband 1920/21)

Verlag der Täglichen Rundschau / Berlin, 1922

Glossen 16 - 18
13. bis 27. Januar 1921


16

Das Monokel der Novembersozialisten - Severings Erlaß - Ein Bummel durch Verbrecherlokale - Was spielen die Großstadtkinder? - Paulsen als "kleiner Löwenstein" für Berlin - Berthold Otto - Bildung macht reaktionär - Die Not unserer Studenten

Das erste, was die Novembersozialisten als Zeichen ihrer Legitimierung aufbrachten, war das Monokel. Man lief nicht mehr mit rotwollenem Halstuch und im feldgrauen Mantel herum, sondern im Schieberpelzchen mit Taillengürtel - und klemmte sich das Einglas ins Auge. "Tja, jetzt sind wir die Feudalen!" In dem Erzberger-Prozeß sah man unter den Zeugen einen Dr. Bein - er ist nicht Bein von unserem Bein, nicht Fleisch von unserem Fleisch - aus dem Auswärtigen Amt am Zeugentisch, dessen blaurasiertes Gesicht unter dem Monokelzwang Wellenfalten warf. In allen Ämtern Berlins sitzen diese Neufeudalen. Sie wollen, freilich vergeblich, durch das Einglas glauben machen, daß sie schon vor dem November 1918 Regierungsrat geworden seien. Das ist ungefähr dasselbe, wie wenn ein Jüngling vom "Republikanischen Führerbund", dessen Leutnantspatent erst aus der Ära Ebert stammt, sich einen blauen Überrock kauft und damit im Kasino auftaucht. Wer heute eine Massenversammlung von Eingläsern in Berlin sehen will, der braucht bloß im sogenannten Luxus-Autobus, der vom Zeughaus bis Halensee fährt, Platz zu nehmen; in diesem Vehikel, das die sattsam bekannte Tauentzien-Gegend und den Kurfürstendamm durchrollt, hat manchmal jeder dritte junge Mann anscheinend den Veitstanz, nämlich Monokelzuckungen im Gesicht. Ich rate jedem ehemaligen Offizier, der jetzt in Zivil die altgewohnte Augenzier noch trägt, sie wegzuwerfen, damit er nicht für einen Hochstapler gehalten wird; denn auch für die Gentleman-Verbrecher ist das Monokel heute Amtstracht. Einst hatte es einen gewissen erzieherischen Wert. Der blutjunge Leutnant wurde äußerlich zu männlichem Ernste gezwungen, er konnte nicht mehr so frei herauslachen und plappern, denn sonst fiel das Ding womöglich herunter. Und für die alten Herren war es ein Stück Jugend, ein bischen Schwerenöterei, wenn sie das Auge in tausend Fältchen kniffen und durch das spiegelnde Einglas nach einer Jungmädchenblüte schielten. Sogar der alte Papa Wrangel, der Feldmarschall, hat es getragen, der Urberliner; und niemand nahm es ihm übel. Aber der Minister des Innern in Preußen, der rote Herr Severing, hat jetzt seinen Untergebenen, den Polizeioffizieren, das Einglas verboten und sogar gedroht, daß er jeden, der es doch trage, auf seine Dienstfähigkeit hin ärztlich untersuchen lassen werde. Er denkt wunder was damit zu tun, am Ende gar den "Feudalismus" endgültig zu erlegen, hat aber vorerst nur stürmische Heiterkeit erregt. Solche Ukase über äußerliche Dinge war man doch sonst nur in absoluten Monarchien gewöhnt. Der letzte Ausläufer war der Erlaß des Kaisers über die Barttracht der Seeoffiziere, und damals ist gerade die sozialdemokratische Presse von Hohn und Spott geradezu übergelaufen.

Einfältige Gemüter finden, daß der Polizeiminister am Ende wichtigere Aufgaben hätte, beispielsweise die, der Reichshauptstadt wieder zu ihrem alten Rufe zu verhelfen, das sauberste und sicherste Gemeinwesen Europas zu sein. Wir haben jetzt in Berlin richtige Slums wie in London, fürchterliche Viertel des Elends und Verbrechens, und unsere heutige Einbrecherstatistik schlägt jegliche Kriminalphantasie. Dieser Tage habe ich in Begleitung zweier Kommissare einen Kaschemmenbummel gemacht, der zu meinem Erstaunen durchaus nicht in abgelegene Gegenden führte. Mitten in der Friedrichstraße, im lebhaftesten Großstadtverkehr, im Strahlen der Bogenlampen und im Geschiebe der Talmieleganz, treten wir plötzlich in ein Portal, dann etliche Stufen hinunter in ein Kellerlokal, und schon sind wir in der Hefe. Nicht einer in der Gesellschaft, der kein Verbrecher wäre. Der eine oder andere begrüßt vertraulich die bekannten Beamten. Die erste kleine Unruhe legt sich, denn alles erkennt sofort, daß es keine Razzia gibt, sondern eine harmlose Visite. Allmählich gelangen wir, von einem Lokal zum anderen, aus der Mitte Berlins in den Westen; auch in den vornehmsten Straßen gibt es Stätten, in denen man neben nobel gekleideten Hallunken richtige Landstreicherfiguren findet, die man nie in Berlin vermutet hätte, die allenfalls einmal vor abgelegenen Bauernhöfen auftauchen, Leute in Lumpen und mit schreiend offenem Schuhwerk, verwüstet, verwildert, fuselduftend und voll von Ungeziefer. Ein verludertes Weib steht da, reißt mir unversehens die Zigarre vom Munde: "Gib her den Kotzbalken!", und fängt vergnügt an zu rauchen. Ein blasser übernächtiger junger Mensch schiebt sich heran. "Na, kleine Braut?", sagt der eine der beiden Kommissare und schlägt dem verschämt Lächelnden, der wegen Erpressung gegenüber Anormalen schon Jahre gesessen hat, auf die Schulter. Ein anderer, im Smoking, feist, glattrasiert, Typ bessere Schmiere, wird als "unsere liebe Mieze" von allen Seiten begrüßt. Manchmal gibt es in einer einzigen Straße fünf, sechs solcher Bouillonkeller, von deren Existenz man als solider Bürger nichts geahnt hat, und erst jetzt, mit geschärftem Auge, erkennt man, daß auch die Straße nicht frei ist: hie und da gleitet lautlos und unauffällig ein Schatten einher, der zu dieser Sippe gehört. Sie ist in den letzten beiden Jahren riesenhaft gewachsen. Und wenn man eben erst den Stiernacken und die Hammerfäuste eines Mannes gesehen hat, der als "Maxe mit de Plattbeene" zu den berüchtigtsten Einbrechern gehört, ist man schier erstaunt, wenn man dann im eigenen Heim wieder eintrifft und es unversehrt vorfindet.

Das Erschütterndste ist die Anwesenheit von Kindern in den Verbrecherhöhlen. Manchmal gehören sie zur Familie des Wirts, hocken spät abends da und lernen noch mitten unter Totschlägern, Zuhältern, Taschendieben ihre Aufgaben für die Schule. Mitunter sind es aber auch schon "Selbständige", die mit den Verbrechern arbeiten, Kinder im Konfirmationsalter und noch jüngere. Nicht immer sind die stets zitierten sozialen Verhältnisse daran schuld. Auch "guter Leute Kind" findet den Weg in den Bouillonkeller, auch in wohlhabenden Kreisen gibt es genug Entgleiste; wenn nur die Not Verbrecher zeugte, so brauchten wir noch nicht die Hälfte unserer jetzigen Polizei. Vielfach fehlt es gerade in der Großstadt an Aufsicht und Erziehung, weil man sich hier nicht so fürchtet, ins Gerede zu kommen, wie in einem kleinen Ort. Auf dem Asphalt erblüht nur selten die Scham. Dinge, die sonst der Jugend verborgen blieben, werden hier offen erörtert, und längst ist man jenseits von Gut und Böse. Schon an den Spielen sieht man die Folge. Gewiß, der harmlose Ringelreihen mit seinen Abzählversen, das Murmelrollen und Kreiseltreiben, das Ballwerfen ist noch da, nur das fröhliche Soldatenspiel hat fast überall aufgehört, - und statt dessen erlebt man es, daß in Hinterhöfen und auf Baustellen oder um eine Anschlagsäule mitten in irgendeiner Prachtstraße herum die Kinder "Spartakus" oder, noch schlimmer, "Ludewig" spielen.

Nach einem Helfer für unsere Kinderwelt im Asphaltreich sehnt sich alles, aber auch da wird leider nicht nach dem besten Mann, sondern nach dem Parteimann gesucht. Zuerst sollte Oberschulrat von Berlin - also Kultusminister in einem Stadtstaat von 4 Millionen Menschen - der sozialdemokratische Schriftsteller Löwenstein werden. Das erwies sich als gesetzlich unmöglich, weil er nicht Fachmann ist. Dafür ist nun von der roten Berliner Regierung als "kleiner" Löwenstein der Hamburger Volksschullehrer, Dissident und Sozialdemokrat Paulsen gewählt worden, sogar unter Ablehnung des Antrages, daß man zuerst eine Abordnung nach Hamburg schicken solle, um an Ort und Stelle die pädagogischen Erfolge Paulsens zu prüfen. Daß er religionslos und für Religionslosigkeit ist, weiß man. Im übrigen ist er gegen die Lern- und Erziehungsschule und gegen jede Zucht, also wie Walther von der Vogelweide sagen würde, dafür, daß die Kinder "in der Wilde" aufwachsen. Das Kind soll der Herr in der Schule sein. Was es lernen will, das soll es lernen; der Lehrer sei nur der Berater und Freund und vermeide jeglichen Zwang. Das ist also ungefähr das uralte Programm Jean Jaques Rousseaus, das schon so oft bankerott gemacht hat, wenn auch geistig ganz Große es auszuführen versuchten. In Berlin hat man ja schon längst solch einen Rousseau gehabt, den bekannten Berthold Otto, der seit Jahren die Paulsenschen Ideen in die Wirklichkeit umgesetzt hat. Ein Ideologe empfahl mir den Mann, als ich vor langen Jahren meine beiden Ältesten einschulen mußte. Ich fuhr hinaus zu der Weihestätte in Lichterfelde. "Seht mal, liebe Kinder, wenn ihr in meine Schule kommt, braucht ihr keinen Ranzen und auch keine Bücher, es wird euch alles hier beigebracht!" sagte Otto und strich meinen Kindern übers Haar. Die aber ließen die Köpfe hängen. Nicht einmal Ranzen? Und gearde darauf hatten sie sich so gefreut! Dann sahen wir uns den Unterricht an und erlebten unser blaues Wunder. Um einen langen Tisch herum lümmelten sich sechzehn Kinder, hockten krumm da mit aufgestütztem Kinn, hörten auf den Lehrer hin oder schwatzten, standen auf, wenn es ihnen paßte, und benahmen sich so, daß man den Eindruck hatte, es mit völlig Unerzogenen oder mit Schwachsinnigen zu tun zu haben. Ein großer Junge soll ein französisches Wort an die Tafel schreiben. "Will nicht!" sagt er und rekelt sich weiter. "Na, dann ein anderer!" sagt Otto. Nach dem Französischen noch eine allgemeine Diskussionsstunde, von der ich so viel erwartete, nachdem ich Ottos Art, den Kindern Politik und Tagesgeschichte beizubringen, in seiner Wochenschrift vorher ehrlich bewundert hatte. Aber auch da enttäuscht die Praxis. Es herrscht allgemeiner Stumpfsinn trotz Ottos meisterlicher, verständlicher Sprache. Seine Tochter muß durch Fragen die Debatte beleben. Nach Schulschluß schleichen die Kinder weg, lustlos und gedrückt, ganz anders, wie man es sonst an Schulportalen sieht, wenn quirlend die lustige Schar herausströmt. Sie haben sich gerekelt und empfinden nun nicht die Freiheit draußen, sie haben keine Ordnung, keine Straffheit, keine Sauberkeit, kein blitzschnelles Antworten, kein Streben und keinen Eifer gelernt. Bis in die letzten Jahre hinein habe ich mich immer noch nach den Ergebnissen der Ottoschen Methode erkundigt, weil ich eine kleine Schwäche für den Mann habe. Und immer wieder dieselbe Antwort: wenn es "ernst wird", wenn die Schüler diesem disziplinlosen Kindergarten entwachsen, dann müssen die Eltern Hals über Kopf Privatlehrer nehmen, um - unter Verlust von manchmal mehreren Jahren - die Lücken ausfüllen zu lassen und ihre Kinder für irgendeinen Beruf fähig zu machen. Auch Paulsen, der neue "kleine Löwenstein", legt den Hauptwert auf seine sogenannte Gemeinschaftsstunde, in der mit den Kindern bloß geplaudert wird. Sagt ein Kind, daß die ganze Rechtschreibung "oller Mumpitz" sein, nun gut, dann braucht es nicht zu schreiben. "Jeojraphie is Blech! Rechnen is Quatsch!" Gewiß, liebes Kind, du bist souverän. Sagt Paulsen. Sagt die in Berlin regierende Sozialdemokratie. Nur unsere vernünftigen Arbeiterfrauen ringen die Hände. Und die Vertreter von Weißrußland, Abessynien, Haiti machen erstaunte Augen über diese Pädagogik von Wolkenkuckucksheim.

Wird Paulsen wirklich als Papst über die gesamte Berliner Lehrerschaft gesetzt, so wird diese vermutlich entsetzt nach rechts ausrücken. Es rumort in ihr schon arg. Auch in akademischen Kreisen, nicht nur unter den Volksschullehrern, hat man die Experimente satt. Aber niemand hört auf ihre Warnungen. Überhaupt diese Gebildeten! Früher hieß es: Bildung macht frei. Die heutige Sozialdemokratie aber sagt: Bildung macht reaktionär. Mit einem unendlichen Heroismus erkämpft sich die Mehrheit unserer Studenten heute das Wissen. Einst konnte man in den akademischen Bierhallen hinter der Universität in Berlin für 30 Pfennig eine Portion Hackbraten mit fetter Tunke, Brot nach Belieben in Massen dazu, erstehen, heute aber kostet die Portion dicke Suppe in der Volksküche, ohne Brot natürlich, 2 1/2 Mark, und das Mittagessen in einem beliebigen Bierhaus, das einst für 90 Pfennig serviert wurde, ist heute unter 15 Mark nicht zu haben. Für die Tragödie unserer Hochschüler, die "Hungern und Lernen" heißt, wenn man von der geringen Zahl der Begüterten absieht, hat die Masse kein Verständnis. Man haßt die jungen Leute. Konterrevolutionär seien sie allesamt. Man bespitzelt sie. Und als jüngst der ehemalige Reichskanzler Michaelis für die Ärmsten unter den armen Studenten ein Landheim bei Berlin gepachtet hatte, erfolgte prompt die Anzeige, daß - ein Putsch gegen die Republik dort vorbereitet werde. Die Herrschaften sollten sich beruhigen. Gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens. Und arme Studenten sind nicht einmal Götter.
13. Januar 1921 (Donnerstag)


17

Wie man uns beneidet - Ludwig Fulda als Lobredner Berlins - Und doch Kloake - "Casanovas Sohn" im Kleinen Theater - In der Neuen Welt in der Hasenheide - Prämiierung des tiefsten Rückenausschnittes - Ehrlich Ringende im Großstadttrubel - Die Gentlewoman-Einkäuferin - Schwiegermütter, Junggesellen, Wohnungsnot

Wir Berliner, die wir übrigens meist gar keine Berliner sind, sondern beruflich aus allen Gegenden des Reiches hierher verschlagen, werden von mancher in ihrem Nest unverstandenen Posemucklerin beneidet, weil wir mitten im sogenannten großen Leben stehen, mitten in täglichen Sensationen. "Die fremden hohen Diplomaten und russisches Ballett und die freie Sezession und Reichstag und die schrecklich unanständigen Theaterstücke und so, - mein Gott, wie interessant!"Und alles aus erster Hand. Und von allem Geistigen sozusagen das Recht der ersten Nacht. Und bei der Geburt aller großen Dinge in Politik, Kunst, Skandal dabei. Gewiß, gewiß; wir Berliner, die wir gar keine Berliner sind, lächeln zerstreut und abwesend, wenn wir dergleichen hören. Da schlägt die rundliche Dame aus Posemuckel noch den Band des Cottaschen "Greif" von 1913 oder 1914 auf und zeigt uns eine blau angestrichene Stelle. Ein Mann, der aus Frankfurt stammt, Ludwig Fulda, schreibt da in Stuttgart, daß der Geist Berlins mit wachsender Vorherrschaft die Kultur im übrigen Deutschland bis nach Wien hin bestimme. Geist? Kultur? Wahrhaftig, da steht es geschrieben; und wieder lächeln wir zerstreut und abwesend, denn gerade erst hat im Reichstag ein Erlanger Professor, auch mit Recht, gesagt, daß Berlin die große Schmutzschwemme von Deutschland sei. Wer Erich Schlaikjers gesammelte Aufsätze aus dunkler Zeit ("Im Kampf mit der Schande", Buchverlag der Tägl.Rundschau, Berlin 1920) liest, bis er das Gruseln bekommt oder bis heiliger Zorn ihm die Stirnadern schwellen läßt, der wird es ja verstehen, woher die Unmoral und - Kulturlosigkeit Berlins stammt.

Berlin ist nur die Durchgangsstelle, wo fremder Geist geeicht wird. Heute spricht ganz Berlin von der gestrigen Premiere im Kleinen Theater und taxiert sie auf mindestens 150 gefüllte Häuser: "Casanovas Sohn." Es ist die schmierige Geschichte von einer in Scheidung lebenden pikanten Frau, die von zwei Männern, Vater und Sohn, umgiert wird und sich dem alten Wüstling schenken will, der statt seiner aber den Jungen unerkannt einsteigen läßt. Der Verfasser dieses neuesten "Berliner" Zugstückes ist aber Herr Rudolf Lothar, geborener Spitzer, aus Budapest. Auch das Publikum der Premiere sah ganz nach Budapest aus. In den nächsten Vorstellungen aber werden die wenigsten Berliner im Kleinen Theater zu sehen sein, weit eher hergereiste Posemuckeler, die das teure Billet auf die Reisespesen schlagen. Berlin ist eben eine Art Absteigequartier für das ganze Reich. Und "Absteigequartiere" pflegen keine moralischen Anstalten im Sinne Schillers zu sein.

So paradox es klingen mag: Berlin wird durch das Reich (und durch seine Umgebung bis Lemberg und Budapest) verdorben. Wir Berliner, auch die wirklichen, mit Spreewasser getauften, gehen in Stücke, die für bummelnde Strohwitwer aus dem Reiche geschrieben sind. Das färbt denn auch auf Urberliner Vergnügungen ab. Nicht etwa nur für die Kurfürstendammschieber und ihre Freundinnen, sondern auch für das eigentliche Volk. Das läßt - "Nach uns die Sintflut!" - heute mehr denn je den Taler springen oder vielmehr die Scheine flattern. Zwischen dem Halleschen Tore und Neukölln (Rixdorf) liegt die Hasenheide, einst der Sammelpunkt von Vater Jahns Turnern, heute eine mit hohen Mietskasernen umsäumte Straße des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft, und mitten darin ein Riesentanzlokal, die "Neue Welt". Da gehen keine Millionäre und keine Damen in Blaufuchspelzen hin, sondern Gasarbeiter und Dienstmädchen, Ritzenschieber der Straßenbahn und Plätterinnen, Jünglinge aus dem Heringsgeschäft und Mädels aus dem Grünkramkeller, dazwischen auch mal Unterbeamte, Konfektioneusen, Bureauangestellte, Halbwelt. Ein buntes Gemisch. Da quirlt wirkliches Volk durcheinander. Fünf Kapellen spielen zum Tanze auf, dreißig "echte bayrische Madeln" kredenzen neben einer Unzahl von Kellnern das Bier. Aber jenes Berlin, das vom Reiche verdorben wird, färbt auch hier ab: die Hauptattraktion ist eine - sagen wir einmal: gewagte - Prämienverteilung. Bei dem gestrigen Bierfest, bei dem, wie die verkauften Eintrittskarten bewiesen, nahezu 7000 Personen in der Neuen Welt sich drängten, wurden mit Preisen von je einigen hundert Mark - die "Damen mit dem tiefsten Rückenausschnitt" prämiiert. Der Wirt, den ich sprach, schmunzelte. "Das zieht, was?" sagte er. Die durch die Aufführung der Wildeschen "Salome" und vor allem mancher Filme aufgepeitschte Phantasie verlegt den Endpunkt des Ausschnittes nun natürlich beinahe bis an den Südpol, und das Volk einschließlich der Berliner Arbeiterschaft aller Schichten drängt sich neugierig und lachend schon lange vor 6 Uhr in Massen durch den Eingang. Die Rückenausschnitte werden gemustert, bewundert, getätschelt, obgleich sie wider erwarten alle schon am Äquator enden - "denn sonst hat das Kostüm doch keinen Halt", erklären achselzuckend die Damenschneider, die Preisrichter sind, dem nach mehr verlangenden Publikum. Wenn man das Volk kennenlernen will, muß man es bei seiner Arbeit aufsuchen, sagt Gustav Freytag in dem Motto zu seinem "Soll und Haben". Man kann es auch bei seinem Vergnügen aufsuchen und da lernen, daß es in der Tat keine zweierlei Moral für "Besitzende" und "Proletarier" gibt, sondern daß derselbe Zeitstrudel uns alle um und um dreht. In Berlin ist alles massenhafter, pompöser, vielleicht auch ein bißchen raffinierter. Aber genau so gut oder so schlecht wie in Berlin sind die Leute in Straßburg oder Kyritz an der Knatter. Nur daß man in Kyritz sich noch etwas mehr vor der üblen Nachrede der Nachbarn fürchtet; in Berlin ist man, wenn man für eine Mark mit der Straßenbahn aus dem Westen in den Osten oder aus dem Norden in den Süden fährt, wirklich in einer - neuen Welt, in der einen keiner kennt und in der man sich nach Belieben austoben kann. Das ist ja die Zugkraft der Großstadt. Man kann untertauchen.

Dieses Verschwinden aus Aufsicht und Töpfegucken und Klatsch nutzt auch mancher ehrlich Ringende aus, um sich hier Verdienstmöglichkeiten zu schaffen, die daheim unmöglich wären. Da erscheinen plötzlich zwei liebe deutsche anständige Kleinstadtmädel bei mir, die sich auf alte Beziehungen von den Eltern her berufen. Sie treiben Musik und leben tagsüber von einem Eimer dicker Suppe, die sie sich aus der Volksküche holen. Das Geld dafür und für Kleidung und Studieren aber erwerben sie sich allabendlich von 8 bis 11 Uhr auf dem Podium eines üblen Kaffeehauses, in dem die Hefe verkehrt. Unberührt von den brandenden Schmutzwellen geben sie da oben gute Musik. Zu zweit ist man gefeit. Und sie jauchzen und danken Berlin. Früher nie gekanntes Verdienen wird auch in Gesellschaftsschichten geübt, in denen man es nie vermutet hätte. In einem Salon im Westen Berlins kredenzt die Dame des Hauses mir den Fünfuhrtee, man knabbert an dem kleinen Gebäck, man plaudert von alter und neuer Gesellschaft, man lebt von Erinnerungen. Eine der Damen, Frau eines verabschiedeten Stabsoffiziers, erzählt uns Geschichtchen und ist schier unerschöpflich, eine wahre "Truth" in deutscher Ausgabe. Ich schlage in allem Ernste vor, sie solle ihr Plaudertalent durch Mitarbeit für Zeitungen ertragreich machen. "Ach nein, das erlaubt mein Herr und Gebieter nicht!" Nun bietet sie mir eine Zigarette an, ich bewundere das köstliche Etui und frage, woher sie es hat. Ja, das ist ihr von einer holländischen Familie, Bekannten aus der guten Zeit, für eine Gefälligkeit geschenkt worden: Holländer, Dänen, Schweizer und andere Freunde kommen in Massen nach Berlin, um dank ihrer guten Valuta ganze Aussteuern "irrsinnig billig" hier einzukaufen; da aber die Geschäftsleute ihnen, wenn sie persönlich und als Ausländer erkennbar in den Laden kommen, 100 Prozent und mehr Valutaaufschlag berechnen, lassen sie sich durch befreundete Deutsche die Sachen zu deutschem Preise besorgen und - zeigen sich dafür erkenntlich. Manche arme gebildete Familie lebt von dieser Vermittlung. Manche Gentlewoman-Einkäuferin erhält so alle die Ihrigen. Honny soit qui mal y pense.

Reichtümer werden dabei freilich nicht erworben. Auch ohne Eingriff des Wohnungsamtes, auch ohne Zuweisung von Zwangsmietern schränkt sich schon jeder ein, so gut er kann. Für die Schwiegermütter ist das goldene Zeitalter angebrochen. Früher ließ man sie mit ihrem Urväterhausrat allein, und das junge Paar baute sich sein eigenes Nest. Heute kriecht man bei Muttern unter und ehrt sie strikt nach dem vierten Gebot und führt friedlich gemeinsame Wirtschaft. So wirkt die Wohnungsnot erzieherisch. Mitunter sogar hochmoralisch. Mit allen Mitteln wird jetzt gegen die Junggesellen eingeschritten, die eine eigene Mehrzimmerwohnung haben, in der sie mit einer jungen Wirtschafterin hausen. Sie sollen nun Wohnraum abgeben, ihr Idyll sich zerstören lassen; und es hilft ihnen nichts, wenn sie noch so beweglich den Berliner alten Vers heruntersingen: "Eener alleene, det is nich scheene; aber eener und eene, und denn alleene, det is scheene ..."
21. Januar 1921 (Freitag)


18

Die Orska kann aufatmen - Lucie Höflichs Entwicklung - Katharina die Große und Jekaterina Iwanowna - Das rote Lachen - Bei Lutter und Wegner - Gemalte Erinnerungen an E. Th. A. Hoffmann - Verschwundene Stammtische - Die Vereine der Kriegskameraden - Amos, Kap. 5, Vers 21 und 22

Allabendlich flitzt sonst das lange gelbe Auto der Maria Orska wenige Minuten vor acht Uhr die Königgrätzer Straße entlang. Im Theater in der Königgrätzer Straße mimt sie ja allabendlich irgendeine Lulu von Wedekind oder Wilde oder Strindberg. Nun aber kann sie gelegentlich mehrtägige Pausen einlegen und statt vor allem Volk nur daheim vor ihrem Gatten spielen, dem Baron Bleichröder, den sie im vorigen Spätherbst geheiratet hat. Im Theater in der Königgrätzer Straße wird seit gestern ein neues Kassenstück gegeben, die "Jekaterina Iwanowna" von Leonid Andrejew, und das ist nichts für Maria Orska. Das Stück wird von Lucie Höflich getragen, der blonden Königin aller jungen Herzen.

Es mag siebzehn oder achtzehn Jahre her sein, als Lucie Höflich vor staunenden Augen ein Märchenwunder erstehen ließ, die "Schwester Beatrix" gab. Man glaubte ihr die Jungfrau Maria, die holdselige Mutter Gottes. Sie bedurfte keines Glorienscheins aus Flitter oder Blech oder aus Scheinwerferstrahlen, denn ihr eigenes Krönlein aus geflochtenem goldenen Haar war mehr und gleißte um die Wette mit den meerestiefen blauen Augen. Selbst die ältesten Theaterhabitués waren erschüttert. Zu der Innigkeit der ganzen Erscheinung trat eine Innigkeit der Hingabe, die beinahe nicht mehr Theater war; in Goethes "Faust" wurde Lucie Höflich das deutscheste Gretchen, das jemals ihr "Mein Ruh' ist hin, mein Herz ist schwer" den bangen Lauschern zugesungen hatte. Unser irregeführter Geschmack, der sich an fremdländische, hysterische, näselnde Bübchen wie Moissi und andere Treibhausgewächse gewöhnt hatte, gesundete in der Atemluft der Höflich. Sie wurde reifer im Leben, reifer in der Kunst, stämmiger in ihrem Äußeren, stand in Gerhart Hauptmanns "Fuhrmann Henschel" am Waschtrog, spielte derb-naturalistisch die Pfarrrersköchin, dann schalkhaft und drollig, zum Anbeißen, die Rössel-Wirtin. Es ist kein Wunder, daß auch der Film sie gewann. Unter all den Flimmersternen, die, mit wenigen Ausnahmen, durch ihr Gezappel die Unruhe noch vermehren, ist sie die hoheitsvollste Erscheinung, auch wo sie unbändig werden kann in Haß und Liebe und Leidenschaft. So geht sie heute als Katharina die Große über die Leinwand in tausend und mehr Lichspielhäusern, sie, die lichteste unter allen Darstellerinnen Berlins.

Im Theater in der Königgrätzer Straße spielt sie jetzt Andrejews Jekaterina Iwanowna, die reine und keusche Frau, deren große Seele durch die philiströse Eifersucht des verständnislosen Gatten, durch seine fehlgehenden Revolverschüsse, mit denen das Stück nicht etwa schließt, sondern beginnt, erstickt wird. Nun erst taumelt die Frau, als Nachtwandlerin, die jäh angerufen ist, in fremde Arme. Ihr innerer Adel ist zerstört, zertreten, tot, ihr Mann hat Köstliches zerrissen und weggeworfen, haltlos schwankt Jekaterina Iwanowna von einem Buhler zum anderen, während ihr weibischer Gatte, der typisch dekadente Spießbürger, sie trotz allem umwirbt und klagt: "Katja, warum müssen wir einander denn so wehtun?" Ein Abgrund starrt aus Jekaterina Iwanownas, aus Lucie Höflichs Augen; kalt weht es in den Zuschauerraum. Wie die gesamte neuere russische Literatur, ist auch das Andrejewsche Drama im Grunde weiter nichts, als diese einzige große bittere Frage, auf die keine Antwort gegeben wird. Der Nihilismus gibt sie: Unser Dasein ist sinnlos; alles Bestehende ist wert, daß es zugrunde geht, auch wenn das Wehtun vertausendfacht wird. Das Talentierte, aber durchaus Nichtschöpferische im Wesen Leonid Andrejews, der mehr Novellist als Dramatiker ist, tritt uns am schärfsten wohl in seinem Roman "Das rote Lachen" entgegen, den er unmittelbar nach dem russisch-japanischen Krieg schrieb. Die Heimkehrer, die er schildert, sind allesamt wahnsinnig. Sie begreifen nichts, sie erleben Ungeheures, haben aber nicht die Kraft, es zu verarbeiten. Das rote Lachen gellt schauerlich über das weite Rußland.

Auch in Deutschland haben wir es ja gelegentlich kennengelernt, nur daß es selten epidemisch wurde. In kleinem Kreise zuckt es auf, wenn der Alkohol eingeheizt hat. Jekaterina Iwanowna stellt sich halb bekleidet als Modell vor ihre betrunkenen Liebhaber hin. Nicht erlebt, aber geträumt wurden noch phantastischere Bilder in dem alten Berliner Weinkeller von Lutter und Wegener in der Charlottenstraße, dem einzigen "historischen" Keller aus dem 18. Jahrhundert, den die Reichshauptstadt überhaupt besitzt; geträumt damals, als E. Th. A. Hoffmann, der ehemalige Bamberger Musikdirektor und spätere Berliner Kammergerichtsrat, hier beim Weine saß und eine ehrenwerte und gesunde Zecherrunde seinen krausen Einfällen folgte. Nachher saß er nachts zu Hause und schrieb mit zitternden Fingern die Geschichte nieder. Alles war unwirklich geworden, schemenhaft, geisternd; das einzige Wirkliche seine Frau, die bei ihm sitzen und beruhigend auf ihn wirken mußte, damit seine irrlichternden Gespenster ihn nicht in den Abgrund jagten. In dem primitiven, niedrigen, verräucherten Keller von Lutter und Wegener, dessen dicke Mauern Weindunst ausatmen, haben seither ganze Generationen bedeutender Männer gesessen. Die Erinnerung an E. Th. A. Hoffmann aber ist nun in einem neumöblierten Raume aufgefrischt worden, an dessen hellgelben Wänden leicht hingewischt, teils bunt, teils nur in flüchtigen Sepiastrichen, die Gestalten aus seinen sonderbaren Geschichten einherhuschen. Man ist also wieder einmal "stilvoll" gewesen, wie früher beim Umbau des alten Hofbräuhauses in München und sonstigen ähnlichen Barbareien. Der Literaturbackfisch mag mal in Begleitung von Onkel und Tante das saubere Hoffmann-Gewölbe aufsuchen. Der Stammgast aber geht nach wie vor in die alten, schlecht gekalkten Räume.

Bei Lutter und Wegener wird wohl auch mehr über Gerson und Ebert und Mikosch und Breitensträter gesprochen, als gerade über Hoffmann. Die literarischen Stammtische gibt es kaum mehr. Die Stammtische überhaupt bis auf die ganz philiströsen sind im Verschwinden. Die Zeiten, wo ich bestimmt wußte, daß ich zu bestimmter Zeit Adolph v. Menzel im Café Josty ("Scht! Scht" sagten die Kellner, wenn er eingenickt war) oder Strindberg im "Schwarzen Ferkel" oder Ernst v. Wildenbruch (über das Schachbrett gebeugt) im "Kaiserhof" vorfände, sind dahin. Kein Trojan präsidiert mehr der Kladderadatsch-Runde. In der Künstlerklause sitzen immer mehr Banausen im Schieberpelz. Der Fraktionsstammtisch der Rechten im "Siechen" existiert nicht mehr. Auch der "Regierende Stammtisch" an der Potsdamer Brücke, wo bei einem Glase Weihenstephan Exzellenzen in Zivil und Uniform beieinandersaßen, war einmal. Es gab ein gewisses Mindestmaß an Gemütlichkeit, auf das man in der kaiserlich deutschen Zeit, wo doch im ganzen viel mehr als heute gearbeitet wurde, nicht verzichtet. So konnte man den Landwirtschaftsminister v. Podbielski, der eine fabelhafte Arbeitskraft war, am Donnerstag mittag im Amte nicht treffen. Einmal suchte ich ihn versehentlich um diese Zeit auf. Aber sein Türsteher war sittlich entrüstet: "Na, heute ist doch niemand hier! Heute ist doch Donnerstag! Heute ist doch offizieller Frühschoppen bei Huth!" Diese Zeiten kommen wohl nicht wieder. Man hat, da Bildung und Besitz nicht mehr identisch sind, kein Geld für den Stammtisch. Nur neue Reiche halten da Heerschau ab, und dann meist in protziger Umgebung; Erzberger pflegte als Minister täglich bei Dressel unter den Linden zu frühstücken, und das kostet einem gewöhnlichen Erdenbürger doch die Einnahmen einer ganzen Woche. Was jetzt, aber in großen Zwischenräumen, sich noch zusammenfindet, das sind die Kriegsstammtische, wenn man sie so nennen darf. In Berlin und Vororten lebt ja immer eine erkleckliche Anzahl verabschiedeter Offiziere, und auf der Durchreise oder zu Geschäften in Berlin sind häufig genug ehemalige Offiziere aus dem Reiche.Dann treffen die Herren der alten Kriegstruppenteile sich zu einem Erinnerungsabend, und da wird dann "ein Garn gesponnen". Der eine oder andere der Kriegsteilnehmer bekommt noch heute eine "Charaktererhöhung", die er bei normalem Verlauf der Dinge übrigens sowiewo bekommen hätte. Nicht jeder aber nimmt das Geschenk der republikanischen Behörde an. So wurde die Urkunde über die Verleihung des Charakters als Major von einem der damit Beehrten mit folgendem kurzen Anschreiben nach Berlin zurückgesandt: "An das Personalamt des Reichswehr-Ministeriums, Berlin W., Behrenstraße. Amos, Kap. 5, Vers 21 und 22. Freiherr Hiller v. Gaertringen, Königlich Württembergischer Rittmeister a.D." Man schlug wißbegierig in der Bibel nach und las daselbst folgendes: "Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie, und mag nicht riechen in eure Versammlungen. Und ob ihr mir gleich Brandopfer und Speiseopfer opfert, so habe ich keinen Gefallen daran; so mag ich auch eure feisten Brandopfer nicht ansehen."
27.Januar 1921 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts