"Rumpelstilzchen"

"Berliner Allerlei"
(Jahrgangsband 1920/21)

Verlag der Täglichen Rundschau / Berlin, 1922

Glossen 13 - 15
23. Dezember 1920 bis 7. Januar 1921


13

Nach dem goldenen Sonntag - Puppen auf Abzahlung - Proletarier-Weihnachten - "Ich will wieder Religion haben!" - Fitzlefitz der Himmelsschneider - Maria Orska als Salome - Der Reichsverband der Vorbestraften

"Die gnadenbringende Weihnachtszeit - 'türlich, 'türlich, wenn sie gute Umsätze bringt ..." Fast geistesabwesend sagt es, als ich ihm vor einigen Tagen gesegnete Weihnachten wünsche, der Inhaber eines alten großen Spezialgeschäftes. Seine Augen sehen übermüdet und fiebrig aus; er überschlägt und rechnet fortgesetzt, und wie es ihm geht, so geht es Hunderttausenden großstädtischer Kaufleute. Die Frage um Sein oder Nichtsein entscheidet sich für viele von ihnen innerhalb der drei Wochen vor dem Feste. In Berlin - und das trifft wohl auch für andere Orte zu - wird bitter geklagt, daß die Zahl der Käufer erschreckend zurückgegangen ist, denn namentlich in den Kreisen des gebildeten Mittelstandes hört man immer wieder: "Wir haben diesmal abgemacht, daß wir uns nichts schenken, nur ein Bäumchen wollen wir haben und einen Kuchen backen." Der Schmachtriemen wird immer enger geschnallt. Wer aber noch kauft, der kauft üppiger als früher. Die Feinkostgeschäfte hier werden ihre Spickgänse los, die Pelzhandlungen ihre Kreuzfüchse. Man praßt und prangt, wo man es noch hat. Das Erstaunlichste aber habe ich in einem großen Spielwarengeschäft des Nordens erfahren: Arbeiterfrauen kaufen ihren Kindern Puppen von 300 bis 500 Mark das Stück - auf Abzahlung! Sie haben vielleicht kein Laken mehr zu Hause. Die Frau rührt Nadel und Faden nicht an, aber am Weihnachtsmorgen muß Lieschens neue Puppe auf der Straße den Neid der Nachbarn erregen. Und die Straußfederboa der Mutter erst! Das ist das Ungesunde im Handel und Wandel dieses Dezember 1920, daß der deutsche Kaufmann vorher nicht die Richtung des Kaufbedürfnisses abschätzen konnte. Dinge, deren Absatz früher zum Feste gesichert war, bleiben Ladenhüter - im allgemeinen alles, was zur soliden Behaglichkeit des Daseins gehört, auch des geistigen Daseins. Bücher werden leider nicht mehr so wie früher gekauft, wo man den Wissenshunger stillen wollte und konnte. Der - andere Hunger erlaubt es heute nicht, gerade bei den Leuten, bei denen man noch Wissenshunger findet. Aber teuere Luxuswaren gehen gut.

Die alte Poesie des Weihnachtsmarktes auf der Straße, wo man "for'n Sechser" so allerlei Herrlichkeiten, für einen Groschen den schönsten Hampelmann oder selbsttätig stelzende Puppen kaufen konnte, ist dahin. Auch der Christbaumwald auf den Berliner Plätzen ist dünn geworden. Der seelische Zusammenbruch unseres Volkes findet hier und da in der bewußten Ablehnung des Christbaumes seinen Ausdruck. Es gibt Menschen, die ihn daheim verbieten und statt dessen aus rotem Papier und goldenen Fransen einen großen fünfzackigen Sowjetstern bauen. Schule und mildtätige Vereine halten die deutsche Sitte freilich noch aufrecht und lassen den Lichterbaum strahlen. Da wird noch mit frischen Stimmchen in alter Ergriffenheit "Stille Nacht, heilige Nacht" gesungen. Es gibt aber Kinder, die dürfen da nicht hin. Sie "haben keine Religion mit", der Vater wacht eifersüchtig darüber, daß sie nicht vom Christentum angesteckt werden; also dürfen sie auch von den Lehrern zu solchen Feiern nicht zugelassen werden. Das ist die trübste Kindertragödie unserer Zeit. Es ist manchmal zum Herzbrechen. Da kommt die kleine Frida von Portiers nebenan nach Hause. In der Schule hat sie vor der Tür gestanden, während die Kinder "Ihr Kinderlein, kommet, o kommet doch all!" sangen, und nun sitzt sie verstört da, schluchzt sich fast in den Schlaf und kritzelt abends auf ein Wunschzettelchen: "An Christkindchen! Ich möchte wieder Reljon haben. Frida."

Man kommt den Großstadtkindern mit Theatermärchen. Das ist die unglücklichste Erfindung unserer nüchternen Zeit, denn sie zerstört dem Kinde sein eigenes, viel reicheres Phantasieleben. Es sind ja keine Beleuchtungseffekte und gar keine Prunkkostüme nötig. Gebt dem kleinen Mädel nur ein Stück Holz, ein Läppchen, einen Bindfaden: dann hält es abwechselnd ein Prinzeßchen im Arm oder zieht eine goldene Karosse. Wenn man die Kleinen zum ersten Male in ein "Weihnachtsstück" ins Theater bringt, so erglühen sie ob all des Neuen und Farbenprächtigen natürlich, aber wenn es ein ihnen schon bekanntes Märchen ist, das sie aufgeführt sehen, so gestehen sie nachher, sie selber hätten es sich doch schöner vorgestellt. So viel Leuchten, wie in einem Kinderherzen steht, kann kein Theater nachmachen. Am besten kann die Mutter es entfachen, wenn keine Lampe brennt, wenn das "Schlummerstündchen" gefeiert und nur erzählt wird. Das Wort ist der stärkste Maler. Das Bild, die Geste, das Theater sind nur Stümper. Am schlimmsten sind schon gewisse moderne Theatermärchen, die auch für die Großen ein Zugstück sein sollen, wie "Fitzlefitz der Himmelsschneider", das gegenwärtig über eine Berliner Bühne geht, eine Albernheit trotz mancher schwankhaft lustigen Stellen. Den Kindern aber wird alles zertreten, was sie golden in sich aufgebaut haben. Der Halbgebildete, der Bildungsphilister tut sich was darauf zugute, wenn er Gott den Herrn, wenn er den "lieben Gott" als Biedermeier nach Th. Th. Heine in Schlafrock und Pantoffeln abgebildet sieht, aber dem Kinde nimmt man damit das himmlische Reich.

Kurz vor Weihnachten ist im Theater in der Königgrätzer Straße eine Neueinstudierung für das nach Märchensensation gierende Berlin herausgekommen, für das Berlin der fetten Geldverdiener und ihrer schlanken Freundinnen, eine Neueinstudierung, aus der das sich amüsierende Mädchen und gelegentlich auch die Mutter mit starrenden Augen und bebenden Nüstern Anschauungsunterricht einsaugt. Der perverse Londoner Feingeist Oskar Wilde ist mit seiner "Salome" zu neuem Leben erweckt, dieser Tragödie in einem Akt, die den Sinnen mehr als alle fünf Akte der gesamten Dramenliteratur bietet. Das Büchlein ist in der von Aubrey Beardsleys manierierten Bildern verunzierten Inselausgabe erschienen und versetzt uns in den schwülen Orient, in die schweren Düfte des Hohen Liedes, in den steinernen Schrei der Wüste, in den Wein- und Blutdunst des Zeitalters des Königs Herodes. Wilde, den schon die jüngsten Berliner Tippmäuschen heute richtig "Ueild" benennen, ist ein unerhörter Nachempfinder, wo es sich um sexuelle Reizungen einer abamüsierten Snobwelt handelt. So hat er denn auch das steil sich emportürmende, schauerlich purpurfarbene Drama von dem Mörder Herodes und seiner lasterhaften Gattin, das ebensogut in die Zeit der Merowinger oder die der Hamlettragödie hineinpassen könnte, zu einer Studie der Perversität umgefälscht, die bis an die Leichenschändung herangeht. Aus dem Herodes-Herodias-Drama, das nach der biblischen Geschichte mit einem furchtbaren Gottesgericht endet, ist die Geschichte der Sinnenvergiftung Salomes geworden. Auch die Oper "Salome" von Richard Strauß, der ja Wildes Text zugrunde liegt, ist das gleiche, nur durch Musik gemildert und gedehnt. Bei Wilde selbst wirkt alles unvermittelt, wie sadistische Peitschenhiebe. Man bewundert freilich die Musik der Worte, den nahezu hebräischen Parallelismus des manchmal psalmodierenden Dialogs. Hier muß die Maria Orska, deren unüberbietbare Bombenrolle diese Salome trotzdem bleiben wird, notwendig versagen. Das Parkett macht Stielaugen, wenn sie beim Toilettemachen vor dem Tanz der sieben Schleier in einer Ecke des Königshofes gleichmütig ihren Bauchnabel enthüllt und schließlich, nur mit Lendenschurz und Büstenbinde angetan, nahezu in paradiesischer Nacktheit vor dem Tetrarchen sich windet und sich bäumt und selbst ihre Finger wie zehn kleine Schlangen locken läßt, so daß König Herodes, die Lippen naß vor Gier und Geifer, nur noch schnauft und stöhnt. Mitten in dieser Schaustellung bewegt sich Maria Orska aber nicht als die Salome aus Jerusalem - sie hat nichts Orientalisches an sich -, sondern bleibt die große polnische Courtisane, eine Wedekindsche Lulu, die vor zahlungsfähigen Weltbummlern spielt. Sie bleibt das Weib aus Slawenblut, voll starker Leidenschaften, die bewußte Sirene; sie wird nicht zu der willenlosen Orientalin, die die Wüste gebar und die mit verhängten Augenlidern wie in heißem Südwinde steht und rhythmisch zittert. Natürlich ist auch Wildes Text daran schuld. Sven Gades Regie hat übrigens in dem Königshofe, durch dessen Säle und durch dessen riesige Eukalyptusbäume der südländische tiefblaue Sternenhimmel schimmert, und mit den wirklichen, nicht nur angeschminkten und trikotierten Negersklaven als Fächlern und Sänftenträgern alle Sehnsüchte Reinhardts noch übertroffen. Auch die Darstellung ist wie aus einem Guß. Ludwig Hartaus König Herodes ist echt in Blut und Blick, in Art und Wesen, ohne jede europäische Tünche oder Hemmung, der härene Täufer Johannes des Konrad Veit erschütternd in seiner starren Größe, der Römer Tigellinus, ein Urbild heutiger englischer Weltreich-Diplomaten, prachtvoll in seiner gepflegten Ruhe. Die Direktion Meinhard und Bernauer, die in ihren beiden anderen Berliner Theatern mit ihren Kassenstücken, der "Spanischen Nachtigall" der Fritzi Massary und der "Sache mit Lola" ihres Gatten Max Pallenberg die ganze Wintersaison abrahmt, hat mit der Salome nun auch in der Königgrätzer Straße das große Weihnachtsgeschäft begonnen. Mancher pilgert ja schon allein um der Orska willen hin, manch einer möchte freilich verstört wieder hinaus, aber jedermann ist "drin" in dem Stück. Sobald der Vorhang erst aufgegangen ist, vergißt der Besucher die Zeit, die Nachbarn, das Räuspern, die Pralinees.

Es wird natürlich der Tag kommen, wo auch solche Aufführungen wieder unmöglich sind, wo wieder zartes Empfinden die Nervensensationen und die Sinnesorgien auf der Bühne verbietet. Der Kulturhistoriker weiß, daß Flut und Ebbe einander ablösen. Was früher als schandbar galt, ist heute allgemein. Erst im Jahre 1848 ist das bis dahin als unanständig verpönte - Rauchen auf der Straße erlaubt worden. Umgekehrt ist man heute prüde in vielen Dingen, die früher natürlich waren. Zustände, wie sie früher in Deutschland noch zu Beginn der Neuzeit in den städtischen Badestuben üblich waren, würden heute weder von der Polizei, noch von der öffentlichen Meinung geduldet werden. Auch das Theater ist immer nur ein Spiegelbild der jeweils herrschenden Sitte; es verbessert nicht die Menschen, sondern ändert sich mit ihnen.

Daß wir augenblicklich auf einem Tiefpunkt der Kultur angekommen sind, ist allerdings nicht zu bestreiten. Ungeheure Verschwendung und ungeheure Diebstähle halten einander die Wage. Vor etlichen Jahren nahmen den Platz an den Anschlagsäulen, als die Theater- und Versammlungsanzeigen nachließen, die Familienseufzer ein: "Grete, kehre zurück! Vater ist wieder gut. Deine Mutter." - oder "Karl, Deine betrübten Eltern suchen Dich; Else wartet auch - alles kommt in Ordnung." Heute werden an diesen Stellen Tausende und Zehntausende von Mark Belohnung geboten für das Wiederbringen gestohlener Teppiche, Juwelen, Autos. Die Gilde der Einbrecher spottet jeglicher Staatsautorität. Dieser Staat läßt es sich sogar gefallen, daß der "Reichsbund der Vorbestraften" sich überall in öffentlichen Versammlungen organisiert. Niemand verbietet dieses Ärgernis. Ein wenig aufgehalten worden ist die Organisation aber dadurch, daß der Kassierer des Reichsbundes prompt mit den Bundesgeldern durchgegangen ist. Es fragt sich nur, ob man prinzipientreu auch weiterhin "unter sich" bleiben oder wenigsten als Kassierer einen Unbestraften nehmen will.

In Berlin, wo ja alles untertaucht, was sich draußen im Reiche unmöglich gemacht hat, ist jedes fünfte Kind unehelich, jeder neunte Erwachsene vorbestraft. Hier und in einigen deutschen Hafenstädten hat der Reichsbund bisher seine meisten Mitglieder gewonnen. Allerdings treten nur wenige "schwere Jungens" ihm bei, sondern meistens nur Leute, die wegen einer Lappalie zu Unrecht bestraft worden zu sein glauben. Die schweren Jungen bleiben lieber inkognito. Das gelingt ihnen jetzt häufiger als früher. Unter dem alten System wurden in Deutschland, das damals an der Spitze aller Polizeien der Welt marschierte, 98 Prozent aller Mörder entdeckt - in Amerika beispielsweise nur 37 Prozent; aber unter dem roten Regime ist es heute anders geworden, und in Berlin wird bereits die Anekdote kolportiert, der "Klub der unentdeckten Raubmörder" habe - den Polizeipräsidenten zu seinem Ehrenmitglied ernannt.
23. Dezember 1920 (Donnerstag)


14

Unter dem Mistelzweig - Helfferichs Heirat - Alkoholfreie Punschessenzen für Silvester - Sporttreibende und Sportzuschauer - "Boxen ist einzig" - Berliner Unterhaltungsrestaurants - Schnitzlers "Reigen"

"Warum küssen sich die Menschen?" fragt der Kater Hidigeigei, nämlich bei Scheffel, dem fröhlichen Sänger, und das ist schon lange her. Heute fiel der Kater von einem Erstaunen ins andere, denn das Küssen hat noch mehr überhand genommen, obwohl weise Professoren es als höchst unhygienisch nachgewiesen haben. Eigentlich ist es ja in allen Jahrhunderten eine beliebte Muskelübung. Im britischen Museum in London befindet sich ein über 4000 Jahre alter Brief in Keilschrift, in dem ein besorgter Vater seinem Sohn, einem Studenten der Astrologie, etwa folgendes schreibt: "Ich werde Dir auf keinen Fall mehr Geld schicken. Wenn Du mit Deinem Monatswechsel nicht auskommst, so liegt das wohl daran, daß Du eine bewußte Kellnerin zuviel küssest." Solche Papas gibt es auch heute noch; dann sollten sie aber nicht dem Küssen Vorschub leisten, und das tun sie heute mehr denn je. In Berlin und auch anderswo ist in diesem Jahre zu Weihnachten, auch in wohlhabenden Familien, nicht solch ein Blumenluxus getrieben worden wie sonst, aber der Mistelzweig wurde "glatt geräumt" und hing nun überall an Kronleuchtern oder unter Türbalken, und nach englischem Brauch - er ist wie alles Englische wieder Trumpf bei uns - darf und muß ein Paar, das unter dem Mistelzweig sich trifft, sich küssen. Ein Stechpalmenzweig tut's wohl auch, und der erste Kuß bricht das Eis, beim zweiten bedarf es keiner Zuschauer mehr, und bald kann eine neue "Verlobung unter dem Christbaum" registriert werden. Weihnachten war hierin diesmal recht ergiebig. Das würde auch der Kater Hidigeigei anerkennen müssen, wenn er die Anzeigenseiten in den Zeitungen läse. Trotz Möbel- und Wohnungsnot ist von einer Ehescheu weniger als früher zu merken. Im Gegenteil. Die "Dame mit der Drei-Zimmer-Einrichtung und dem Mietkontrakt" ist heute eine gute Partie, und es gibt schon Zimmervermieterinnen in Berlin, die, wenn ein neuer "möblierter Herr" sich nach einer Bleibe erkundigt, schlicht und hoheitsvoll erklären: "Jawohl, aber nur, wenn Sie unsere Tochter heiraten!"

Es ist ein Jahr her, daß ich mit zwei Damen der Gesellschaft im Zuschauerraum des parlamentarischen Untersuchungsausschusses saß, während Helfferich als Zeuge sprach, über 1917, über Erzberger. Gebannt hing alles an seinen Lippen; Weltgeschichte wehte durch den Saal. Meine Nachbarin zur Rechten stieß mich an. Ich war auf eine Frage über den Nuntius Pacelli oder das Haus Parma oder die Vermittlungsaktion des spanischen Gesandten in Kopenhagen gefaßt. Statt dessen trafen nur die Worte mein Ohr: "Ist Helfferich verheiratet?" - und als ich den Kopf schüttelte, der Seufzer: "Das ist doch jammerschade!" Nun, jetzt können die Damen aufatmen, er hat geheiratet, noch unter dem Christbaum am letzten Mittwoch, auf dem Siemensschen Familiengute Wendisch-Alsdorf im Kreise Halle. Der 1902 verstorben Georg v. Siemens war Direktor der Deutschen Bank, und Helfferich stand der Familie dienstlich und außerdienstlich nahe. Seine jetzige Frau, deren größten Liebreiz ich stets in der vornehm-ruhigen Schlichtheit ihrer Erscheinung und ihres Auftretens gesehen habe, ist die jüngste der fünf Töchter, ist 34 Jahre alt - während er 48 Jahre zählt - und war mit einem Legationsrat von Müffling vermählt, der als Reserveoffizier des 2. Garderegiments z.F. ins Feld zog, seit 5 Jahren verschollen und amtlich für tot erklärt ist. Man vermutet, daß er von den Franzosen nach Afrika verschleppt und dort gestorben oder ermordet ist. Näheres hat man trotz vieler Bemühungen nie erfahren. Ebenso schwer aber ist es, über die jetzige Frau Helfferich viel zu erfahren. Auf sie scheint das viel mißbrauchte Wort zuzutreffen, daß die beste Frau die sei, von der man am wenigsten spricht, denn selbst solche Damen der alten Berliner Gesellschaft, die immer noch als lebendige Chronik über alles Hoffähige herumstelzen, wissen nichts anderes von dieser Frau zu erzählen, als daß sie "fubbe doll nett"(1) sei, und da sie nebenbei klug und geistreich und von gediegener Bildung ist, kann man über das Paar sich freuen. Der alte Fritz sagte: "Meine Husaren sollen kein Weib nehmen!", aber der Husarennatur Helfferichs wird die Ehe nichts schaden. Sie wird ihm neue Kraft geben. Mag das Gewimmel der Feinde sich hüten!

Noch unter dem Christbaum wird in Berlin nun überall Silvester vorbereitet, diesmal vielfach mit sogenannten alkoholfreien Punschessenzen. Der Kampf gegen Alkohol und Nikotin findet ein wachsendes Heer unter seinen Fahen.

Im Übermaß ist alles schädlich und volksverwüstend. Aber aus dem Felde wiß ich, daß man nach einer Zigarrenverteilung ganz andere Marschleistungen aus der Infanterie herausholen kann. Gift in geringen Mengen kann die Vitalität heben. So sagen einem denn auch heute die Ärzte nur noch selten, man solle dies und jenes und noch etwas unbedingt lassen, sondern sie erklären, man solle bei seinem gewohnten Leben bleiben und nur Exzesse meiden. Also mäßig sein. Der alte Haeseler trank das runde Jahr hindurch nur Wasser. Aber einmal, an Kaisers Geburtstag, hob er regelmäßig den vollen Champagnerkelch und leerte ihn auf das Wohl des obersten Kriegsherrn. In seinem Keller in Harnecop hatte er nichts, Aber als die Abordnung der 11. Ulanen zu ihm kam, ihn als ihren Chef zu begrüßen, da ließ er aus Wriezen ein paar Flaschen Wein kommen, denn er war, wenn auch für seine Person enthaltsam, kein Eiferer. Doch beim Sport ist der Alkohol auch in kleinen Mengen allerdings ein Siegvernichter.

Im übrigen werden wir aus einer Nation von Sporttreibenden immer mehr eine Nation von Sportzuschauern. Aus dem Ring unserer Fußballer ist jüngst eine ganze Anzahl der besten Stürmer und Torwächter ausgebrochen, um gegen 18 000 Mark Jahresgehalt (gegenüber englischen Verhältnissen eine Lappalie) zu Berufsspielern vor zahlenden Zuschauern zu werden. Viele von diesen kehren freilich reuig wieder zurück und bitten den Berliner Verband um Wiederaufnahme in den Kreis der Amateure. Auch im Boxen, dem großen Modesport, ist die Verlockung groß, Professional zu werden. Genau so wie die Engländer sich immer über die "blutige Roheit" unserer Studentenmensuren aufgehalten haben, haben wir das Boxen für rüde gehalten. Jetzt aber hat es uns gewonnen. Drüben in England greift der junge Mann, ehe er morgens ins Bureau geht, zu seinem Handschuh von 12 Unzen, ruft über den Gartenzaun den Nachbar an und ficht mal erst ein paar Gänge mit ihm aus. In Eton-College, das für die Engländer mehr bedeutet als für uns Schulpforta oder die Latina in Halle, strahlt noch heute der Ruhm jenes Sechzehnjährigen, der einst - das mag so um 1850 herum gewesen sein - trotz seiner Schwächlichkeit einen Boxkampf von 2 1/4 Stunden durchfocht und daran starb. Von diesem Jungen wird mehr erzählt als von Wellington oder Nelson. In Berlin ist die Boxbegeisterung noch im Wachsen. Zu den Faustkämpfen drängen die Leute mehr als zum Kino; wir werden uns damit abfinden müssen, daß sie auch bei uns zum Hauptvolksvergnügen werden. Dieser bei uns junge Sport hat es freilich noch schwer, gesellschaftsfähig zu werden, und ich will ihm daher gern ein Patengeschenk mitgeben, das ich jüngst bei der Lektüre der Hohenzollernbriefe von 1813/15 fand. Prinz Wilhelm, der nachmalige alte Kaiser, ist in London, sieht alles Sehenswerte, auch einen Boxkampf, und schreibt darüber seiner Schwester: "Bochsen ist einzig!" Bisher ist noch niemand auf dieses Wort gestoßen. Ich gebe es gratis her und bin überzeugt, daß es mit der Unterschrift "Wilhelm I." über Jahr und Tag als Emblem bei allen Boxklubs hängt.

Man freut sich jeder körperlichen Ertüchtigung um so mehr, je widerlicher die Entartung auf Bühnen und Bühnchen sich breitmacht. In unseren sogenannten Unterhaltungsrestaurants ist der alte herzhafte Humor eines Otto Reutter und ähnlicher Meister längs entschwunden. Man singt Zoten für die Zahlungsfähigen im Publikum, um den letzten Rest von Scheu bei ihren "kleinen Mädchen" zu übertäuben. Das ist keine Kunst und kein Humor mehr, sondern Zutreiberei und Gelegenheitsmacherei. Auf der Bühne aber wird Schnitzlers "Reigen", der 1903 in München einmal in geschlossener Gesellschaft aufgeführt wurde, jetzt öffentlich dargestellt; vielleicht nicht ganz so, wie es sich der "pschütte" österreichische Militärarzt gedacht hat, aber doch noch eindeutig genug. Man ist ganz abgebrüht. Das Großstadtpublikum - "deutsch" ist es allerdings nur in Anführungsstrichen - hat von der Erschütterung noch nichts gemerkt, die das Weltgericht uns gebracht hat. Da waren unsere Vorfahren 1807 ganz anders. Für das heutige Geschlecht sind die Zeiten eines Fichte und Schleiermacher noch nicht gekommen. Es muß erst zerbrochen werden, um sich wieder erheben zu können.
30. Dezember 1920 (Donnerstag)


Anmerkung:
(1): Anspielung auf einen Ausspruch in J. Habberton's "Helenes Kinderchen".


15

Fastnachtstreiben beim Jahreswechsel - Potsdamer Tanzwoche - O Jotte, wie det aussieht! - In der Entente-Kantine - Le Kaiser - Neujahr einst und jetzt - Das Münchener Operngastspiel - Schrekers "Gezeichnete" - Prophezeiung für 1921 - Der pessimistische und der optimistische Frosch

Norddeutschland hat keinen Karneval, als Ersatz dafür aber Silvester. Alles, was der Mensch an lange zurückgehaltener Lebenslust besitzt, knallt da los wie ein Champagnerpfropfen; Narrheit wird die Weisheit dieses Tages, gekaufte Scherzartikel ermöglichen auch dem Humorlosen allerlei Ulk, und zwischen dem herkömmlichen Philharmonie-Ball zu Silvester in Berlin und einer Münchner Redoute der Vorkriegszeit ist kein wesentlicher Unterschied. Hier wie dort ist das Treiben natürlich keine Hochschule der feinen Lebensart. Alle Hemmungen des guten Tones werden bewußt ausgeschaltet; jungen Mädchen also, die nicht in die Waden oder sonstige Rundungen gezwickt sein wollen, sind diese Bälle nicht zu empfehlen. Noch einmal hat man sich in Berlin in den Tagen des Jahreswechsels nach Herzenslust ausgetanzt, im Weinpalast wie in der Kaschemme, denn kein Stand, ja sogar kein Alter ist in unserem 20. Jahrhundert taumelfrei, etwa schon seit der Zeit, wo die fußfreien Röcke aufkamen. Der Höhepunkt sei jetzt überschritten, meinen bedächtige Leute. Es gebe schon Tanzlehrer, die nicht überlaufen würden, sondern nach Schülern suchen müßten, und die Preise, die zwischen 80 Mark für den Kursus in Moabit und 100 Mark für die - Stunde in Wilmersdorf schwanken, seien im Nachlassen. Mag sein. Zu merken ist davon aber aber noch nicht viel. Mehr oder weniger jugendliche Großmütter jazzen, alte Volksschulrektoren trotten, die umfangreichsten Kommerzienrätinnen steppen. Die Zentrale für Heimatdienst, dieses riesige, von dem Minister Scheidemann begründete Propagandainstitut, veranstaltet einen Ball für seine Chefs und seine Tippdamen, und die erste Gesellschaft des alten nichtroten Preußens ließ sich von dem Plan einer "Potsdamer Tanzwoche", in der allein der Donnerstag als Ruhetag bezeichnet war, nur mit Rücksicht auf die schwere Erkrankung der Kaiserin abbringen. Wir sind allzumal Sünder, besonders um Neujahr. Meine Küchenfee wankte morgens um 6 Uhr mit geschwollenen Füßen heim, nachdem sie in dieser Nacht in staubigem Saale schätzungsweise 20 Kilometer in zu engen Schuhen mit Stöckelabsätzen durchhopst hatte. In den Trambahnen war am Neujahrsmorgen das Gedränge lebensgefährlich. Am selben Nachmittag aber geschah etwas Unerhörtes: die Vorstellung im Großen Schauspielhaus, dem "Theater der Dreitausend", wo nachmittags um 1/2 3 Uhr der "Danton" über die Szene gehen sollte, mußte abgesagt werden, weil kein Publikum da war. Ganz Berlin schlief.

Der Neujahrslärm Schlag 12 Uhr in der Nacht hatte diesmal alles bisher Erlebte übertroffen. Noch nie war das Geschäft in Feuerwerkskörpern - besonders Kanonenschlägen und Fröschen - so lebhaft gewesen, und nun krachte, knallte, knatterte es, daß man in vielen Häusern an blutigen Ernst glaubte, an Bürgerkrieg und Straßenschlacht, und daß manche Zimmervermieterin in Nachtjacke und Todesangst zu ihrem "möblierten Herrn" flüchtete. Wenn er überhaupt da war. Auch die ehrsame Wittib drüben in der Kreuzbergstraße tat es, denn "ihr" Herr war solide, der saß einsam am Klavier und spielte sich mit Beethovens Mondscheinsonate in moll ins neue Jahr hinein; als aber nun die Wirtin wundermild als Spuk im Türrahmen erschien, brach er plötzlich ab, hieb wie wild etwas anderes auf die Tasten und sang dazu die Berliner Verse:

O Jotte, wie det aussieht,
Wenn meine Frau sich auszieht:
Haare an de Wand,
Zähne in de Hand,
Beene wie die Kiepen, -
Et is zum Piepen!

- und schon war die mitternächtliche Erscheinung verschwunden, und krachend schlug die Tür ins Schloß. Selbstverständlich kümmerte sich Berlin in dieser Nacht nicht um die Polizeistunde - übrigens auch die Polizei nicht um Berlin. Das Feuerwerksgeknalle erinnerte alle Ostasiaten an chinesische Neujahrsstunden, das ganze Treiben überhaupt nicht an die aus Blutfülle geborene Lust, sondern eher an das sinnlose Niederlärmen aller bösen Geister, vor denen man im Grunde Angst hat. Die Ausgelassenheit von heute ist vielfach ein Ausdruck der Hoffnungslosigkeit. Es wird alles verjuxt, weil man glaubt, ein Emporkommen sei nicht möglich. Und mitten in dem lärmenden Berlin ging ein Verzweifelter hier und da still aus dem Leben; die Neujahrsnacht verzeichnet acht Selbstmorde alter und armer Leute.

Manch einer wurde auch von Jammer und Wut in diesem Trubel übermannt. Im Café "Eins A" am Potsdamer Platz führten französische Soldaten diesen gefährlichen Wendepunkt der Stimmung herbei, indem sie sich hochfahrend benahmen und scharfe Pistolenschüsse abfeuerten. Sie wurden jämmerlich verbläut. Sie hätten in ihrer Kantine in der Jägerstraße bleiben sollen, wo es guten französischen Landwein zu zwei Mark die Flasche gibt. Der gerissene Wirt, ein Sergeant, hat daneben ein Kasino aufgemacht, wo er denselben Wein an Deutsche nach Kantinenschluß für 40 Mark die Flasche verkauft und Mumm-Champagner für 300 statt für 50 Mark. Trotzdem war das Lokal stets überfüllt: Schiebergewühl und Mäuschenmarkt. Ein englischer Hauptmann ist Vorstand dieser Entente-Kantine und hat sie jetzt, nachdem die ungeheuren Nebengewinne des betriebsamen Wirtes an die große Glocke gekommen sind, geschlossen. Die himmelblauen und die khakigelben Ententebrüder sittenrichtern gern widereinander. Silvester haben sie auch nicht gemeinsam begangen, sondern sich über alle Lokale der Stadt verstreut, in der Hauptsache natürlich auf der Suche nach "angenehmer" deutscher Gesellschaft. Im Hotel Adlon, wo das trockene Gedeck 100 Mark kostete, tanzten englische Offiziere bis morgens 3 Uhr.

Es ist schade, daß die Überwachungskommission ihren Hauptsitz in Berlin hat; was sie hier sieht, erlebt und meldet, das kommt jedenfalls darauf hinaus, daß das heutige Deutschland weder den Geist von Potsdam, den vielgefürchteten, noch den Geist von Weimar, den vielzitierten, aufweise; es sei überhaupt von allen guten Geistern verlassen. Am Neujahrsmorgen bin ich durch das verschlafene Berlin zu der Reihe von Standbildern im Tiergarten gepilgert und habe vor dem Großen Kurfürsten meine Reverenz gemacht. Das ist so alter, lieber Hausbrauch. Exoriare aliquis ..., hat der Mann da einmal gesagt; aus seinen Gebeinen werde der Rächer entstehen. Ich denke gar nicht einmal an die Revanche gegenüber auswärtigen Feinden, wo heute doch sogar ein General Hoffmann endgültigen offenen Verzicht auf Elsaß-Lothringen predigt, also kein Fünkchen Rachebegehren im ganzen Volke mehr zu glimmen scheint; aber diesem gedankenlosen Berlin wäre die Zuchtrute zu wünschen. Ehedem blickte es am Neujahrsmorgen mit wachen Augen hell in die Welt. Da gab es am 1. Januar auch mancherlei zu sehen. In prächtigen altertümlichen Galakarossen, die just so aussahen, als seien sie aus dem Märchen vom gestiefelten Kater herausgeschnitten, Karossen, auf deren Kofferbrett mitunter leibhaftige Mohren mit Reiherstutz an gelbseidenem Turban standen, rollten die Botschafter und Gesandten aller fremden Mächte zur Gratulation ins Schloß. Die Damen der Diplomatie hatten irgendwo in der Gegend von Schloß und Zeughaus ihre bevorzugten Plätze. "Où est le Kaiser?" Niemand sprach vom "empereur" oder von "Guillaume II.", denn wer "der Kaiser" schlechthin war, das wußte man in allen Erdteilen. Auch Temps und Times nannten ihn so. Der Kaiser. Das wird er im Gedächtnis der Mitwelt auch bleiben, so große Mühe sich unsere demokratische Presse auch gibt, die Bezeichnung "Exkaiser" einzubürgern -, als ob ein Monarch, wie ein beliebiger Wahlpräsident, nur zeitweilig diesen Berufstitel führte, nicht der "angestammte" Träger der Krone aus fünf Jahrhunderten bliebe. Man mache doch einmal den Versuch, in Württemberg von dem "Exkönig" zu sprechen, und man wird erfahren, wie selbst in dem stark demokratisch angehauchten Süddeutschland über solche Geschmacklosigkeiten gedacht wird. Wir haben einen Kaiser im Exil, aber er ist der Kaiser. Und sogar durch Groß-Berlin - die Straßenhändler verkaufen wieder Prinzenkarten - geht ein leises Sehnen nach jenen Zeiten, wo am 1. Januar Wilhelm II. in einer Reihe mit sechs wehrhaften Söhnen mittags um 1 Uhr unter dem Schmettern des Präsentiermarsches zu Fuß vom Schloß zum Zeughaus herüberkam. Die Galakarossen waren inzwischen verschwunden. Nur eine Droschke zweiter Güte, die fast schon legendär geworden war, rumpelte unter den Linden heran, und ihr entstieg der alte Feldmarschall Graf Haeseler. Vorbei, vorbei. Grämlich und still liegt an diesem Neujahrsmorgen 1921 Berlin vor seinen Besuchern. Die zwei Polizisten vor dem Palais Eberts in der Wilhelmstraße machen das Bild auch nicht eindrucksvoller.

Am Tage darauf aber hat das geistige Berlin wenigstens eine schöne Genugtuung. Die Münchner Operngäste sind da und geben "Don Pasquale" zu einem Presseabend. Da kann Herr Jeßner, der nachnovemberliche Leiter der Berliner früher königlichen Theater, sich mit seiner Kunst verstecken, denn so etwas Heiter-Schönes und fast Erdentrückt-Leichtes bekommt er freilich nicht fertig. Auch die übrigen Berliner Bühnen nicht, die großenteils sinnlose Operetten spielen, Beinparaden mit Musikbegleitung. Allerdings muß man, wenn man gerecht sein will, zugeben, daß daran - das Reich mehr schuld ist als Berlin. Wer aus dem Reiche hierherkommt, meist in Geschäften, der will nicht Kunst genießen, sondern einfach das sehen, "wovon man spricht", und wenn es die Toiletten der Massary sind. Die auswärtigen Besucher, das sind die Füller und Zahler. Nach ihrem Geschmack und nicht nach dem des geistigen Berlin richtet sich das Programm, und so ist es denn meist das Programm der ohne Frau herkommenden Geschäftsreisenden. Die wollen ja nachher am Stammtisch oder im Kontor auch nicht von der großen Linie der Kunst, sondern von dem "dollen" Berlin erzählen. Da ist es immerhin schon eine Leistung, wenn unser Opernhaus als Neuheit "Die Gezeichneten" Schrekers herausgebracht hat, ein Werk, das wenigstens von gewaltigem, musikalischem Intellekte zeugt. Die Reihe der nicht mehr ausschließlich von ihrem innern Dämon, sondern von ihrem reifen, rechnenden Verstande geführten großen Tondichter hat mit Richard Strauß begonnen - und Schreker scheint ihn überholen zu wollen. Trotz mancher peinlich-schreckhaften Wirkung seiner Musik werden wir uns ja auch an ihn allmählich gewöhnen, an all das Unholde, Lärmvolle, Gramvolle dieser ausgesuchten Bosheiten wider unser Nervensystem. Und doch wird Wagner nach wie vor die vollsten Häuser machen. Vor dem Gezeichneten Schrekers, dem mißgestalteten, nach Liebe dürstenden Renaissancemillionär, dessen Fee kurz vor dem Wunder dann von einem brutalen Lebejüngling unter den Millionärsschmarotzern vergewaltigt wird, wird man sich wieder zum Nibelung und zu den Rheintöchtern flüchten.

Unsere ungesunde, fiebernde, nach Sensationen lechzende Zeit hat ihren Lauf vielleicht bald vollendet. Einmal müssen wir doch auf dem Tiefpunkt angekommen sein. Einmal wird doch endlich das saubere, fleißige, alte Berlin wieder erwachen, mit sauren Wochen und frohen Festen, mit harter Arbeit und reiner Erhebung. Eine alte Zigeunerin treibt sich jetzt hier herum, die ernsthaft prophezeit: im Sommer 1921 beginne die Wende für Deutschland, und zwar in dem Augenblick, in dem Polen zusammenbreche. Diplomaten der Entente - abgesehen von den hysterischen Franzosen - predigen dasselbe. Ein guter Freund aber, der entschlossen die Uniform des Seeoffiziers ausgezogen und sich in die organisatorische Arbeit unserer Industrie gestürzt hat, schickt mir zur Aufmunterung folgende Fabel: Zwei Frösche hüpften auf einer Wiese, der eine optimistischer, der andere pessimistischer Lebensauffassung. Beide hüpften in einen halbgefüllten Milcheimer und bemühten sich lange vergebens, an den glatten Wänden des Eimers in die Höhe zu klettern. Als es Abend wurde, sprach der pessimistische Frosch: "Ich habe es jetzt satt, ich höre auf zu zappeln, ich nehme einen ordentlichen Schluck Milch und lasse mich auf den Boden des Eimers sinken und vesaufe dort!" Gesagt, getan. Der optimistische Frosch dagegen sprach: "Ich strampele weiter, man weiß nicht, was da kommen kann." Er strampelte und strampelte die ganze Nacht hindurch, und als der Morgen dämmerte, fühlte er Grund unter sich. Er strampelte weiter, und als die Sonne aufging, sah sie den grünen Frosch auf einem großen Berg goldener Butter sitzen.
7. Januar 1921 (Freitag)



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© Karlheinz Everts