Ich war verreist gewesen(1), viel länger, als es ursprünglich meine Absicht gewesen. Für vier Wochen hatte ich meine Koffer gepackt, und als ich sie eines Tages wieder auspackte, war ich inzwischen beinahe ein ausgewachsenes Neunmonatskind geworden. Nun aber war ich wieder im Ländchen und im Städtchen und darüber freuten sich alle. Alle, die Geld von mir haben wollten, und das wollten leider Gottes viele.
Aber ein Mensch freute sich meiner Rückkehr auch ohne daß er etwas von mir haben wollte, das war eine außerhalb wohnende junge Nichte, die ich lange nicht gesehen, die mir während meiner Reise aber beständig geschrieben hatte: „Geliebter Onkel, jeder Mensch kommt doch einmal wieder nach Hause, warum Du nicht? Noch dazu, wo ich Deine Rückkehr mit solcher Ungeduld erwarte, denn bevor ich nun bald heirate, will und muß ich Dich unbedingt noch einmal besuchen, um ein paar recht nette, gemütliche Tage bei Dir und mit Dir zu verleben, denn Du bist doch immer mein Lieblingsonkel gewesen und wer weiß, ob und wann ich Dich nach meiner Verheiratung werde besuchen können. Vorläufig läßt mein Hans mich dann jedenfalls nicht fort, und wenn wir uns auch ganz fest vorgenommen haben, keine Kinder zu bekommen, so nützen die guten Vorsätze allein wie überall so auch da vielleicht nicht allzuviel, und wer kann wissen, ob nicht trotzdem — na, jedenfalls will und muß ich Dich endlich einmal wiedersehen, und ich hoffe um so mehr, daß Du mich mit offenen Armen aufnehmen wirst, da ich Dir schon heute mit den allerheiligsten Eiden schwöre, daß ich Dich auch nicht um das kleinste Zehnpfennigstück, falls Du noch ein solches besitzen solltest, geschweige denn um einen größeren Betrag anbetteln oder anborgen werde.”
Das klang meinen Ohren sehr sympathisch, und so schrieb ich denn der Nichte eines Tages: „Ich erwarte Dich, und da ich von früher her weiß, wie gern Du sie ißt, habe ich Dir zu Deinem Empfang schon heute sechs Apfelsinen gekauft. Laß sie nicht sauer werden, das wäre schade, denn sie kosten beinahe so viel wie früher eine Reise nach dem schönen Land, in dem sie wachsen.”
Und die Nichte, die, ich weiß nicht mehr wem zu Ehren, auf den verrückten Namen Sorska getauft worden war, ließ sie nicht sauer werden, sondern kam schon achtundvierzig Stunden später an, und der Wahrheit die Ehre, hübsch war das Mädel in den zwei Jahren, die ich es nicht gesehen, geworden, so hübsch, daß auch ich es gleich geheiratet hätte, wenn ich nicht ihr Onkel und noch dazu ein so alter Onkel gewesen wäre. Und ein Paar Beine hatte das Mädel, ein paar Beine! Onkel, sei still!
Und mit diesen ihren schönen Beinen, die unter dem kurzen Rock hervorsahen, saß sie mir beständig auf dem Schoß, und so alt war ich denn Gott sei Dank doch noch nicht, daß mich das hätte ganz kalt lassen sollen. Das heißt, sollen hätte es das natürlich schon gesollt, aber es tat es leider nicht, und deshalb machte ich die hübsche Sorska wiederholt darauf aufmerksam, daß es in meinem Zimmer doch noch andere Sitzgelegenheiten gäbe, als ausgerechnet meinen Schoß, aber die Sorska-Nichte gab mir darauf beständig zur Antwort, da säße sie am liebsten, das wäre sie von ihrem Hans so gewöhnt, denn der erlaube ihr gar nicht, daß sie jemals wo anders säße.
Kunststück, das hätte ich ihr an Stelle ihres Hans auch nicht erlaubt, aber ich war doch nicht der Hans!
Und wenn sie auf meinem Schoß saß, erzählte sie mir immer wieder, wie grenzenlos glücklich sie wäre, endlich einmal wieder bei mir sein zu dürfen, wie furchtbar lieb sie mich habe und wie leid es ihr täte, nur fünf kurze Tage bleiben zu können, und daß wir uns beeilen müßten, wenn wir uns alles erzählen wollten, was wir uns nach so langer Trennung alles zu erzählen hätten. Aber anstatt zu erzählen, schmiegte sie sich zärtlich an mich, streichelte mir die Backen, kraulte mit ihren hübschen Händen in meinem Bart herum, küßte mich und ließ sich wieder küssen und meinte dann immer ganz verwundert, daß ich beinahe so schön zu küssen verstände wie ihr Hans.
Und ich durfte der Sorska leider nicht beweisen, daß ich noch ganz, ganz anders küssen konnte.
Sorska war so lieb und nett mit mir, wie sie es nur sein konnte, und ich war ebenso nett und lieb zu ihr, das schon deshalb, weil sie mich wirklich nicht um das kleinste veraltete und wertlose Zehnpfennigstück, geschweige denn um einen Papierschein anbettelte oder anborgte. Sie sprach überhaupt nicht von Geld und auch von den vielen hübschen Sachen, die in meiner Wohnung sind, wollte sie nichts geschenkt haben. Allerdings bot ich ihr auch nichts an, aber sie äußerste auch nicht den leisesten Wunsch, dies oder jenes, das ihr besonders gut gefiel, schon bei meinen Lebzeiten oder später für ihren eigenen neuen Haushalt zu besitzen.
Das freute mich, aber trotzdem fragte ich mich jeden Abend, wenn wir uns gute Nacht geküßt hatten: Welchen Wunsch hat die Nichte auf dem Herzen, denn daß sie nur gekommen ist, um auf deinem Schoß zu sitzen und um dir deine Vollbarthaare auszuziehen, das glaubt sie ganz sicher selbst nicht und das glaubst du, der du die süßen kleinen Mädchen in- und auswendig kennst, ganz bestimmt erst recht nicht.
Na, eines Tages würde ich es schon erfahren, was die Sorska-Nichte eigentlich bei mir und von mir wollte.
Und eines Tages erfuhr ich es auch, denn als sie da, wie schon so oft, einmal wieder durch mein Zimmer gegangen war und dort alles angesehen und bewundert hatte, fragte sie mich ganz plötzlich und unvermittelt: „Sag' mal, Onkel, eine abgelegte Marmorwachtischplatte, die du nicht mehr gebrauchst, hast du wohl nicht?”
„Was soll ich haben?” fragte ich ganz verständnislos. „Eine Waschmarmortischplatte, ich meine Tischmarmorwaschplatte, nein einen Plattenmarmorwaschtisch, oder nein,” verbesserte ich mich abermals, „eine Marmorwaschtischplatte, noch dazu eine abgelegte? Die habe ich wirklich nicht, aber wie kommst du nur auf die und woher sollte ich die auch wohl haben?”
„Gott, du hast doch sonst so vieles, lieber Onkel,” meinte Sorska, sich zärtlich an mich schmiegend, „und wenn du mal ordentlich nachdenken oder nochmals überall nachsehen wolltest —”
Mir gingen plötzlich mehrere Stallaternen auf. Nun verstand ich, warum Sorska so oft in jede Ecke, in jeden Schrank und selbst hinter jeden Schrank geguckt hatte. So meinte ich denn: „Aber Sorska, wenn du diese Marmorwaschtischplatte noch nicht bei mir gefunden hast, finde ich sie ganz bestimmt nicht, und wenn ich mir selbst als Finderlohn ein paar Milliarden, oder noch besser, ein paar Tausend der denkbar schönsten Zigarren aussetzen wollte. Nun aber erzähle mal, wie kommst du denn darauf, einen derartigen Wunsch zu haben und mich nach einer solchen Platte zu fragen?”
Und als Sorska ein paar Minuten später in meinem Wohnzimmer auf ihrem Lieblingsplatz saß, da erzählte sie mir alles, alles, nur die Hauptsache verschwieg sie, denn das tun junge Mädchen ja immer, und Frauen erst recht, wenn sie Generalbeichte ablegen. Ja, die Hauptsache, daß sie nur zu mir auf Besuch gekommen sei und nur deshalb meine Rückkehr so ungeduldig ersehnt habe, um mich um eine Marmorwaschtischplatte anschnorren zu können, verschwieg sie, aber sonst erzählte sie mir wirklich alles: wie furchtbar lieb sie ihren Hans habe und daß sie nun doch gern bald heiraten wollten, und daß sie ihre Aussteuer auch eigentlich schon ganz beisammen hätten, eigentlich schon ganz, aber leider doch noch nicht ganz, denn eins fehle ihnen noch, für den einen ihrer beiden Waschtische eine Marmorplatte. Eine hätten sie, aber sie brauchten doch zwei, denn natürlich wolle ihr Hans, der so furchtbar nett und lieb und gut sei, daß sie den Tisch mit der Marmorplatte benutze, aber sie hatte ihren Hans viel zu lieb, um nicht zu wollen, daß er den Tisch benutze, und sie würde sich später, wenn sie erst verheiratet sei, gar nicht in Ruhe an ihrem Marmorwaschtisch waschen können, wenn sie es mit ansehen müßte, daß er sich an seinem Tisch ohne eine solche Platte wüsche. Das könne sie ganz einfach nicht, da bräche ihr das Herz und lieber wüsche sie sich überhaupt nicht, aber das ginge doch nicht. Und genau ebenso wie sie dächte ihr Hans. Der würde sich an seinem Marmorwaschtisch auch nicht waschen können, wenn er es mit ansehen müßte, wie sie sich an dem anderen Tisch ohne Marmorplatte wüsche, und die Folge würde sein, daß auch er sich nicht wüsche, und dann wüschen sie sich alle beide nicht, und wenn es schon nicht ginge, daß einer von ihnen beiden sich nicht wüsche, dann ginge es doch natürlich erst recht nicht, daß sie beide sich nicht wüschen, das müßte ich doch einsehen.
Und laut aufschluchzend warf sie sich plötzlich an meine Brust, schlang ihre Arme um meinen Hals, und während sie sich immer dichter und fester an mich schmiegte, wurden natürlich nur durch einen Zufall ihre wahrhaft sündhaft schönen Beine unter dem kurzen Rock immer mehr und mehr sichtbar.
Racker! dachte ich im stillen. Richtiger gesagt, ich wollte es denken, aber ich kam nicht dazu, denn plötzlich gellte ein furchtbarer Aufschrei durch meine Marken und Beine und mit einer Stimme, aus der nicht nur die Verzweiflung eines einzelnen Menschen, sondern die Not eines ganzen geknechteten Volkes sprach, rief, nein schrie Sorska mir zu: „Onkel, hast du eine Ahnung, was heutzutage eine Marmorwaschtischplatte kostet?”
Nein, ich hatte keine, nicht die leiseste, aber ich würde sie sicher sehr bald haben, denn ganz bestimmt hatte Sorska die Preisliste aller möglichen Marmorwaschtischplatten in ihrem Kopf und würde mir diese Preisliste gleich, wenn auch nur bildlich gesprochen, an meinen Kopf werfen.
Das tat sie denn auch und schon nach einer halben Minute hatte ich nicht nur eine Ahnung, sondern ganz genaue Kenntnis davon, was eine Marmorplatte in der Größe, wie sie sie brauchte, in billigster, mittlerer und bester Ausführung kostete. Und natürlich kam für sie nur das Allerbeste und damit zugleich auch das Allerteuerste in Frage, denn sie hatte ihren Hans doch so über alles lieb, und er sie auch, er sie erst recht, nein, das war nicht wahr, sondern sie ihn erst recht, oder sie beide sich erst recht, und dann kam nochmals die Frage: „Onkel, du weißt doch, wie furchtbar lieb ich auch dich habe, und da hast du in deiner Wohnung wirklich keine abgelegte Marmorwaschtischplatte, die du uns für billiges Geld verkaufen oder sonst leihen oder die du uns, wenn du auch das nicht willst, schenken könntest, und die genau, aber auch ganz genau 1,20 Meter lang und 60 Zentimeter breit sein müßte, damit sie auch auf den Waschtisch paßt?”
Nein, eine solche hatte ich, soviel ich auch darüber nachdachte, nicht in meiner Wohnung, aber ich zerbrach mir den Kopf, wie ich Sorska helfen könnte, ohne eine so teure Platte kaufen zu müssen, denn daran, das zu tun, dachte ich nicht. So leicht gab ich mein auf der langen Reise mühselig verdientes und erspartes Geld denn doch nicht wieder aus, auch nicht, wenn Sorska sich noch öfter auf meinen Schoß gesetzt hätte.
Aber da, als sie es sich gerade wieder auf dem bequem gemacht hatte, durchfuhr mich ein rettender Gedanke und ich rief ihr zu: „Weißt du wohl, Kindchen, daß ihr für euer späteres Eheglück nicht eine Marmorplatte zu wenig, sondern eine zu viel habt?” Und als Sorska mich verständnislos ansah, erklärte ich ihr weiter: „Verkauft die eine, die ihr habt, oder werft sie zum Fenster hinaus, damit sie in tausend Scherben geht, dann seid ihr wieder glücklich, denn dann habt ihr beide keine Platte, weder auf Kopf, noch auf dem Waschtisch. Dann braucht ihr euch nicht mehr darüber zu streiten, wer sich darauf waschen soll, ohne es zu können, weil der andere sich nicht auf Marmor wäscht. Dann ist die Streitfrage mit einem Schlage aus der Welt geschafft, und anstatt daß sich fortan nur einer von euch wäscht, und auch das nur unvollkommen, könnt ihr euch fortan beide waschen, wenn es euch Spaß macht, sogar gegenseitig, auf alle Fälle aber gründlich. Was meinst du dazu, Sorska? Ich hoffe, daß du mir beistimmst, denn die eben von mir gefundene Lösung ist nach meiner Ansicht einfach glänzend. Gleich morgen mache ich einen Laden auf und etabliere mich als Entdecker von Kolumbuseiern. Und nun sage mal, Sorska, was meinst du?”
Und Sorska meinte, daß sie zunächst von meinem Schoß aufsprang und sich auch nicht wieder auf den hinsetzte. Zweitens meinte sie, daß sie schon eine halbe Stunde später einen viel längeren Rock trug, und schließlich meinte sie, daß sie spätestens am Nachmittag des nächsten Tages werde abreisen müssen, da ihr Herz ihr sage, daß ihr Hans es vor Sehnsucht nach ihr nicht länger aushielte.
Am nächsten Tage reiste Sorska auch wirklich ab, ohne daß wir einander, was aber nicht an mir lag, Abschied geküßt hätten, und fuhr zu ihrem Hans zurück.
Was der wohl sagen wird, wenn Sorska ohne Marmorplatte in ihrer Handtasche wieder ankommt? mußte ich ein paarmal denken, und die Antwort auf diese Gedankenfrage ließ nicht allzulange auf sich warten, denn eines sogenannten schönen Morgens erhielt ich von ihm einen Brief, der da kurz und inhaltsreich lautete: „Die Ihrerseits meiner Braut gegenüber an den Tag gelegte geradezu unglaubliche Knauserei läßt mich Sie bitten, die bisherigen, allerdings ja sehr weitläufigen verwandtschaftlichen Beziehungen, die bisher zwischen Ihnen beiden bestanden, von heute ab als nicht mehr bestehend zu betrachten. Im übrigen habe ich persönlich gar keine Worte dafür, daß Sie meine Braut, Ihre bisherige weitläufige Nichte, beständig gezwungen haben, sich gegen ihren Willen auf Ihren Schoß zu setzen und dazu auch noch ihren kurzen Rock anzuziehen, den sie ganz zufällig mit auf Reisen genommen hatte. Sie alter, schon weißbärtig blühender Lebegreis können froh sein, wenn ich Sie mit Rücksicht auf unsere bisherigen verwandtschaftlichen Beziehungen nicht dem Statsanwalt anzeige.”
Als ich diesen Brief zum erstenmal las, lief mir die Galle über, bei dem zweitenmal kochte sie, bei dem drittenmal zischte sie.
Dann setzte ich mich meinerseits hin, ihm einen Brief zu schreiben, aber nur, um ihn, als er fertig war, gleich wieder durchzureißen.
Und dann tat ich etwas anderes: Ich setzte mir meinen Hut auf, steckte mir meine dickste Brieftasche ein, ging mit der zur Stadt und kaufte dort die schönste und die teuerste Marmorwaschtischplatte, die ich nur bekommen konnte, wobei ich aber genau darauf achtete, daß sie auch wirklich 1,20 Meter lang und 60 Zentimeter breit sei, damit sie ja auf den Waschtisch passe.
Dann nahm ich das Ding, da es so schwer wog, daß ich es unter einem Arm nicht tragen konnte, unter beide Arme, schleppte es zu einem Meister Steinmetz und gab ihm den Auftrag, auf die Platte in goldener, weithin leuchtender Schrift die Worte zu meißeln:
„Ein weiblicher Säugling spricht selten die Wahrheit, ein erwachsenes junges Mädchen spricht sie nie, eine Frau spricht sie erst nach dem Tode.
Ein verliebter und leichtgläubiger Knabe ist ein Dummkopf, ein verliebter und leichtgläubiger erwachsener Mann ein Schafskopf, ein verliebter und leichtgläubiger Ehemann ein gehörntes Rindsvieh.
Gedenke, so oft Du Dich wäschst, bei dem Lesen dieser Worte des freundlichen, einst Lieblingsonkel genannten Spenders.”
Die Marmorplatte bekommen Sorska und ihr Hans von mir als Hochzeitsgeschenk, und dann können und sollen die beiden sich während ihrer ganzen späteren Ehe darüber streiten, wer von ihnen diese zweite Marmorplatte, die ihnen noch zu ihrem vollständgen Glück fehlte, bis an sein Lebensende auf seinem Waschtisch liegen haben will und soll.
Fußnote:
(1) Gemeint ist augenscheinlich die Zeit von September 1922 bis April 1923, in der Schlicht eine Reihe von Kabarett-Engagements hatte.