"Rumpelstilzchen"

Berliner Funken
(Jahrgangsband 1926/27)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1927

Glossen 16 - 18
22. Dezember 1926 bis 6.Januar 1927


16

Der Geburtstags-Bubikopf - Von Agamemnon bis Stresemann - Der Smoking - Im Warenhaus - Goldener Sonntag - Der friedliche Radfahrer - Deutsche Beamte - Polizeipräsident Zörgiebel - Reichstagsschluß - Auf dem Christbaummarkt - Hermione-Suppe.

Eine junge Frau in Berlin, die dieser Tage 60 Jahre alt wird, hat ihren greisen Gemahl, der bereits 63 Jahre zählt, um seine Zustimmung gebeten, daß sie sich zu ihrem 60. Geburtstag einen Bubikopf schneiden läßt. Zufällig kenne ich sie. Sie trägt so kniefreie Kleidchen wie Erika v.Thellmann in ihrer Rolle als "Früchtchen", in der sie eine Dreizehnjährige vortäuschen soll; nur schmiegt sie sich zu unvorsichtig an den lieben Onkel Besuch, so daß der ihre unzweifelhafte Heiratsfähigkeit, ihre 22 Jahre, alsbald erfühlt. Auch die junge Frau in Berlin irrt sich wohl, wenn sie meint, durch Herrenschnitt ihres Hauptes aus den 60 eine 16 machen zu können. Aber man ist doch nicht unritterlich; man wird so tun, als sei sie dem Jungbrunnen entstiegen, und wenn der Mann - ach, er hat eine so vorzügliche frische Partagas und andere Habanaimporten - mich zum Feste einlädt, werde ich zufällig unter dem Mistelzweig und Stechpalmenzweig stehen bleiben und von dem sechzigjährigen Kinde den herkömmlichen Kuß empfangen und herzhaft erwidern. Das ist doch eine schöne englische Weihnachtssitte; jedenfalls für viele Menschen ein Wohlgefallen. Dem alten Herrn von 63 aber stecke ich heimlich - es kostet nur einen Taler - das Büchlein meine guten Freundes H. Handke "Der Bubikopf von Agamemnon bis Stresemann" zu, das just vor wenigen Tagen erschienen ist. Er lacht sich kaputt; und auch Lachen verjüngt. Dieser Doktor Handke stelzt so ehrpusselig und mit so verschmitzter Gelehrsamkeit in sein Thema, daß man manchmal wahrhaftig nicht weiß, ob er es nun wirklich ernst meint oder uns wieder verulken will, aber die innere Herzensgüte, die den Humoristen macht, merkt man doch aus jeder Zeile. Vor Jahren traf ich den hochgewachsenen Mann mit dem buschigen Kopf und dem verkniffen-vergnüglichen Schauspielergesicht auf einem kolonialen Fest. Er kam gerade aus Marokko und erschien in der weißen Dschellaba und mit nackten Füßen in harten Lederpantoffeln, ganz echt. Im Grunde ist er ein ernsthafter Politiker und ernsthafter Kupferstichsammler; aber in den Augenwinkeln hat er ein paar lustige Teufelchen.

Das ist jetzt überhaupt wieder die Zeit, wo man alte Bekannte besucht oder von ihnen besucht wird, auch wenn sie nicht Reichshauptstädter sind, denn in den Weihnachtstagen schwirrt so mancher wieder nach Berlin, wo er einst studiert hat oder in Garnison gestanden ist. Da treffe ich mit den absonderlichsten Käuzen zusammen. Lauter Modelle für mich; nur flehen sie meist mit erhobenen Händen, ich solle sie lieber nicht für meine Plaudereien konterfeien. Natürlich muß ich mich für diese Tage fein machen. Mein Smoking ist nach Ansicht meiner Herren Söhne vermutlich das ehemalige Dinnerjacket eines Kapitänleutnants von 1912, das ich wohl hätte "auf Zivil" umarbeiten lassen. Es sei nach heutigen Begriffen zu kurz und zu taillenlos, auch im Ausschnitt zu weit, und ich sähe darin aus wie ein Piccolo. Gut, ich gehe also zu einem "erstklassigen" Schneider und frage, ob das Ding sich nicht modernisieren ließe. Ich trüge es ja sehr selten, daher sei es so gut erhalten, viel häufiger benutze ich Frack oder Cut, die beiden stammten erst aus dem Vorjahr. Der Schneider aber sieht den Smoking an, sieht mich an, und dann sagt er herablassend: "Mein Herr, das Ding da behalten Sie am besten so wie es ist, als historische Erinnerung."

Um so besser. Da kann ich wieder einmal an mir sparen und das Ersparte anderen zuwenden. Sowieso muß der Hausvater vor Weihnachten arg herhalten. Zu sagen hat man nichts. Aber man wird als lebendiger Geldbeutel mitgeschleppt. Das bequemste ist da noch das Warenhaus. Ich persönlich hasse diese Häuser. Ich habe sie in Wort und Schrift und Beispiel bekämpft, als die Handwerker einst landauf, landab gemeinsm mit den Kleinkaufleuten erklärten, sie würden durch Jandorf und Tietz und Wertheim und Karstadt und Oberpollinger ruiniert. Aber die Handwerkerfrauen selbst liefen dahin, nachdem sie sich bei meinen Einkäufen bei ihnen ausgejammert hatten. Ich war also der Dumme. Noch heute bestehe ich darauf, daß meine Frau nur Stiefel nach Maß auf Bestellung beim Meister bekommt, obwohl das bei jedem Paar einen Aufschlag von rund 40 Prozent bedeutet, aber den Pullover für den Jüngsten und dies und das sonst noch haben wir diesmal doch im Warenhaus gekauft, weil da die Auswahl so groß und alles schön beieinander ist - und weil der lebendige Geldbeutel inzwischen, während die Frau wühlt und aussucht, einfach im Erfrischungsraum oder im Lesekabinett oder im Barbiersalon abgestellt werden kann, bis man ihn wieder braucht. Da gibt es bei Wertheim jetzt das Neueste, das einen mit dem Gewerbe der Bartschaber wieder versöhnen kann: jedes gebrauchte Werkzeug, jeder Kamm, jede Bürste kommt sofort in die Reinigungskammer, wird vollkommen sterilisiert, dann in verschlossenem Umschlag aus Pergamentpapier wieder hereingereicht, kurz, vor Bartflechte und anderen übertragenen Unannehmlichkeiten ist man hier sicher. Alles ist Organisation. Das imponiert. Und wenn manchmal an einem Tage mehr als eine Million Käufer in solch einem Hause abgefertigt wird, dann kriegt man in dem Gewimmel doch eine Ahnung von der Größe unserer Stadt. Wenn man die begreifen will, muß man sie einmal bei klarem Wetter von der Spitze des Funkturms aus gesehen haben und einmal an einem trockenen Goldenen Sonntag in der Leipziger Straße gewesen sein. Dieses Geschiebe von Hunderttausenden ist überwältigend. Am vorigen Sonntag haben Straßenbahn, Stadtbahn, Untergrundbahn und die übrigen öffentlichen Verkehrsmittel, die Autodroschken ungerechnet, 3,6 Millionen Menschen in Berlin befördert. Alles wird in den zwei Zentren des Geschäftslebens, Leipziger Straße, Tauentzienstraße, abgeladen, aber dieses ungeheure Zusammenströmen, technisch nicht einmal so gut gemeistert wie in Paris oder London oder Chicago, erzeugt doch keine gefährlichen Wirbel, bringt keine Zusammenstöße, läßt keine "Strecke" von soundsoviel Verletzten und Gequetschten nach, geht auch ohne Zank und jede Keilerei ab. Das ist eben das Angenehme an diesem zuweilen so unleidlichen Berliner, daß er im Grunde fügsam und , wenn er auf seinesgleichen trifft, nachsichtig ist. Da knallen am PotsdamerPlatz, auf den eben die Wannseebahn Myriaden von Menschen ausgespien hat, zwei Radfahrer zusammen. Der eine stürzt, steht auf, biegt sein Rad schnell wieder gerade, fährt weiter und ruft dem anderen, der abwehrbereit stehen geblieben ist, nur über die Schulter zu:

"Hau' dir alleene eens in de Fresse, ick hab' keene Zeit zu!"

Dieses an sich gutgeartete Volk, das jetzt nur durch Revolution und Wegfall der militärischen Erziehung etwas verwildert ist, in Ordnung zu halten, ist eigentlich kinderleicht. Auf der Berliner Polizeiausstellung im Herbst taten unsere roten Obrigkeiten etwas geschwollen, so, als hätten wir ihnen alleine die Ordnung zu verdanken. Das ist beileibe nicht der Fall. Dazu sind sie selber viel zu wenig diszipliniert; außerdem zu befangen in ihren verworrenen Ideen. Das ganze Geheimnis ist, daß wir nicht nur eine lenkbare Bevölkerung, sonden auch eine pflichttreue alte Beamtenschaft haben. Die macht niemals Revolution. Die macht nicht einmal Revolution gegen die Revolution. Es ist ihre Stärke und ihre Schwäche, daß sie sozusagen in blindem Gehorsam sich jeder Obrigkeit zur Verfügung stellt. Sie hat schon zweimal einen 9. November sozusagen seelenlos als Pflichtmaschine überstanden. Nicht erst 1918. Ähnlich war es schon 1806. Am 9. November 1806 hat die Berliner Beamtenschaft erstaunlich willig den französischen Machthabern den Diensteid geleistet. Als im Frühling 1919 bei uns alles drunter und drüber ging, war der Augenblick da, um die Revolution hinwegzufegen. In einer deutschnationalen Fraktionssitzung in Weimar erhob sich ein Berliner Abgeordneter und erklärte, jetzt müßten die Offiziere und die Beamten den Streik proklamieren, dann sei in wenigen Wochen der ganze Spuk zu Ende. Vielleicht hatte er Recht. Aber der Vorsitzende, Graf Posadowsky, strich sich da nicht mehr, wie sonst wohl, sinnend den Rauschebart, sondern griff sich ins Haupthaar und rief: "Eine solche wilde Politik mache ich als alter Beamter nicht mit!" Er drohte, die Führung der Partei niederlegen zu wollen. So rettete er, wie es zuvor die Offiziere und Beamten getan hatten, noch einmal die Ebertrepublik, die Leidenschaftlichen wurden zur Ruhe verwiesen und die Herrschaft der roten Nichtskönner fest untermauert. Seither sagen diese, sie hätten es geschafft. Ihnen verdanke man die Stabilisierung der Ordnung. Auch die Revolution hätten sie, nur sie, auf ein stilles Geleise gebracht.

Du liebe Güte. Da haben wir jetzt den Genossen Zörgiebel als Polizeipräsidenten in der Reichshauptstadt. Ob er auch vorbestraft ist wie sein Kollege Lübbring, den die Sozialdemokratie eigentlich als neuen Reichswehrminister an Geßlers Stelle ausersehen hatte, weiß ich nicht, aber das weiß ich, daß er vorher auch nie Beamter gewesen ist, sondern nur kleiner Agitator seiner Partei. Als solcher hat er wacker zur Revolution mit beigetragen und am 10. November 1918 im großen Saal der "Astoria" in Trier folgenden betörenden Unsinn verzapft:

"Was ich Euch Versammelten hier sage, ist reine, verbürgte Wahrheit, und so sage ich Euch: auf den englischen Schiffen ist die rote Fahne gehißt, deutsche und englische Matrosen feiern bereits Verbrüderung. Die Franzosen und Belgier meutern, und die rote Fahne steigt auch bei denen. Die erlittenen Niederlagen können wir sofort in einen großen Sieg umwandeln. Es handelt sich für uns Deutsche darum, zuerst die Revolution zu machen, so daß wir mit dieser schon fertig sind, wenn die Feindstaaten damit beginnen. Dann sind wir in der Lage, unseren Feinden den Frieden und dessen Bedingungen diktieren zu können."

Noch nie ist ein Volk so dumm gemacht worden wie damals das deutsche. Die Nutznießer des ungeheuren Betruges haben sich dadurch die besten Verwaltungsposten in Preußen in die Hände gespielt. Jetzt wollen sie auch das Reich einheimsen; daher der wüste Angriff Scheidemanns im Reichstage, der auch nach dem Urteil der ausländischen Presse offenem Landesverrat sehr ähnlich sieht; ein Angriff, der von den bürgerlichen Parteien hätte abgeschlagen werden können, wenn nicht Wirth und die Seinen noch immer mit den roten Proleten liebäugelten und selbst unter Aufopferung des Ministeriums das Zusammengehen mit der Rechten ablehnten. Herr Wirth will keinen "Besitzbürgerblock", sagt er. Gehört denn etwa er selber, gehören die Scheidemann und Konsorten etwa zu den Besitzlosen ? Es sind doch alles satte Bourgeois. Wirth bezieht seine dicke Kanzlerpension, obwohl er vorher nur Oberlehrer für Mathematik an einer Mädchenschule war, und hat mit Diäten mehr als 30 000 Mark jährlich zu verzehren; und ähnlich stehen sich doch alle diese "proletarischen" Politiker. Als sie nach Vertagung des Reichstages. noch am Tage des Kabinettsturzes, auseinanderflohen, konnten die Berliner Bahnhöfe in den Abendzügen nicht sofort genügend Wagen erster Klasse für die hochmögenden Freifahrtler stellen. Auf dem Anhalter Bahnhof und anderswo kam es deshalb zu "peinlichen Auseinandersetzungen", denn die Erleuchteten der Nation schlugen erheblich Krach; in die 2. Klasse gestopft zu werden, nein, das brauche man sich nicht gefallen zu lassen, schrien besonders erbost diejenigen, die wenige Augenblicke zuvor ihr Proletentum gegenüber den "Besitzbürgern" betont hatten. Den sogenannten Besitzenden geht es heute lange nicht so gut, als relativ manchem vom Staate Festangestellten, der für seinen Posten keinerlei Vorbildung mitgebracht hat; sie haben ihre liebe Not, um das Geld für die Januarwechsel zusammenzubekommen, und wenn ein Kunde mal bar bezahlt, dann möchten sie ihn am liebsten umarmen. Hunderterlei wird einem sowieso mit der stereotypen Redewendung "Mit der Rechnung hat es noch Zeit" in diesen Tagen angeboten. Schon wird sogar die - Abzahlungsgans geliefert. Nur der Christbaumhandel ist im Kleinverkauf noch das reine Bargeschäft. Mit erträglichen Einheitspreisen für die große Masse, mit neuerdings wucherischen Zuschlägen für die Besitzbürger. Das fängt immer damit an, daß neue Rubriken gemacht werden. Wie es früher nur Eier gab, die natürlich frisch sein mußten, denn sonst schickte man sie zurück, heute aber Kisteneier, Kalkeier, Backeier und so fort bis zu den "prima frischen Landtrinkeiern", so kannte der Berliner früher nur den "Boom" schlechthin und unterschied ihn nur nach der Größe, heute aber kostet die echte Gebirgstanne schon mehr, bloß weil sie so genannt wird, und die Edeltanne, die Silbertanne, die Blautanne sind noch hochnäsiger, es gibt auch Sorten, die sich angeblich nur für Herrenzimmer oder nur für Wohnzimmer oder nur für Klubsäle oder nur für Louis-XIV.-Boudoirs eignen, und die Preise klettern ins Ungemessene, - wie ich persönlich festgestellt habe, bis zu 150 Mark für eine 5 Meter hohe "echte Luxusblautanne aus Sonderpflege in der Baumschule".

vDas netteste ist meist der Dialog zwischen Käufern und Verkäufern. Für diese ist es ein blutsaures Saison- und Risikogeschäft, und sie dürfen nicht auf den Mund gefallen sein, wenn sie sich behaupten wollen. Da mäkelt einer an einem unterernährten Bäumchen und behauptet, es sei eigentlich nur ein Besenstiel mit ein paar grünen Borsten. "Wat denn, wat denn," sagt da der Verkäufer, "for zwee March fuffzich wollnse woll jleich 'ne Dattelpalme mit Meerleuchten ?"

Am besten wie immer vor Weíhnachten geht das Geschäft der Feinkosthändler. Die traditionelle geräucherte Spickgans brauche ich mir diesmal nicht zu kaufen, denn aus der gesegneten Gegend Vorpommerns, in der die Schwerins zu Hauf sitzen, hat eine dieses Namens mir eine delikate Spickgans schon gestiftet; überdies nimmt sie noch unsere Buben für den Ferienrest nach Weihnachten ins Haus. Aber wenn ich den übrigen Festbedarf einkaufe, kann ich mich jetzt nur mit Mühe zwischen dem Publikum hindurchwinden. Bei Lebensmitteleinkäufen muß ich nur immer eine störende Erinnerung überwinden. In Berlin lebte, ich glaube seit 1898, eine berühmte etwas exzentrische Malerin und Dichterin, Hermione v.Preuschen, die sich hier eine Villa, nein, was sage ich, einen Tempel erbaut hatte. Einen Tempel ihrer Schönheit. Die Teilnehmer an ihren Festgottesdiensten wurden gut bewirtet; besonders berühmt waren die "süddeutschen Kalbfleischsuppen" im Hause Preuschen. Eines Tages aber wurde die Köchin entlassen und verriet, woraus die Suppen bereitet würden: aus den beiden Steaks, die zur Erhaltung ihres Teints Hermione nachtsüber um ihre Wangen gebunden trug.
22. Dezember 1926 (Mittwoch)


17

Zwischen den Jahren - Weihnachtsbettler und Christbaumdiebe - Berliner Komiker - "Zirkusprinzessin" - Theater als Geschäft - Erich Schlaikjer - Berlins künstlerische Zwingherrschaft - Amulette.

Daß Karlchen schon am Heiligen Abend den Teller zum zweitenmal mit Süßigkeiten gefüllt bekam und am dritten Feiertage brüllend mit Bauchgrimmen zu Bett lag: solche und ähnliche Geschichten aus der Weihnachtspoesie der deutschen Familie pflegt man jetzt rundum zu erzählen, wenn man "zwischen den Jahren" einander besucht und über die Geschenke des Onkels und über Lieselottes staunenswerte Fortschritte im Klavierspiel sich genügend ausrenommiert hat. Man vergißt darob zuweilen, daß es auch Leute ohne Christfest gegeben hat, in Dawes-Berlin in diesem Jahre mehr denn je. Ich meine nicht den typischen armen Mann, den Bettler, die einzige Erscheinungsform, in der die Not den Wohlbehüteten des Vorderhauses in der Großstadt sichtbar wird. Betteln ist heute ein Beruf, ein Geschäftszweig, und oft rentabler als ein kleiner Laden. Ein Bettler mit zwei Angestellten, nämlich zwei Vizebettlern an einer Ecke je drei Häuserblocks weiter, hat sich neulich in Berlin eine behördliche Inventur gefallen lassen müssen; die Dre-Männer-Firma nahm im Durchschnitt täglich 42 Mark ein. Diese Leute haben natürlich ihren Stolz. Am ersten Tage nach Weihnachten klingelte wieder einer aus der Zunft an unserer Tür. Wir gäben grundsätzlich nichts an Bargeld, sagte ich, - nur Essen, wenn es gleich an Ort und Stelle verzehrt werde. Da wandte sich der Mann grußlos und stumm. Als ich die Tür schloß, hörte ich etwas klappern, öffnete wieder, und siehe da, auf die Zigarrenablage neben dem Namensschildchen hatte der Bettler 15 Pfennige in Kupfer hingelegt. Für mich. Um mir seine Verachtung zu bezeigen. Also diese Art Armut meine ich nicht. Aber allein auf dem Tempelhofer Felde sind diesmal rund 14 000 Christbäume unverkauft geblieben, obwohl schon an die 6000 in der Ncht geklaut oder trotz Bewachung geraubt worden waren, und in jeder dritten Berliner Familie fehlte das Bäumchen ganz. So etwas sieht man natürlich nicht. Man muß es errechnen. Aber es stimmt leider Gottes. Unsereins, wenigstens unser Jungvolk, weiß ja gar nicht, wie dankbar wir sein müssen, wenn wir noch ganz das alte liebe Weihnachtsfest haben. Nur unsere brave Waschfrau weiß es. Sie stiehlt sich am Heiligen Abend immer für eine halbe Stunde von den Ihrigen, Sohn und Schwiegertochter, in der Kellerwohnung drüben weg, um bei uns die paar herzlichen Worte anzuhören, die man als Hausvater in der dunklen Stube, bevor die Tür zu der strahlenden Herrlichkeit aufgeht, an die Seinen richtet. Und die Alte schneuzt sich und sagt: "Det is imma so scheen, da braucht man jarnich bei'n Paster!" Aber die sogenannte Gefühlskiste ist nicht mehr modern. Wenn sich trotzdem das Gemüt regt, so übertäubt es der moderne Berliner, indem er "in was zum Lachen" hingeht. Zwischen den Jahren geht man absichtlich nur in Schwänke, Possen, Operetten. Man sieht den Wochenspielplan aller Theater durch und bleibt mit dem Finger stehen, wenn man auf den Namen eines anerkannten Komikers stößt.

Er muß entweder ein Bäuchlein und Stummelbeine haben oder überschlank und schlenkrig sein - oder er muß was können. Der seit 1893 unsterbliche Lieblingskomiker der Berliner, Guido Thielscher, hat ein Bäuchlein und Stummelbeine.

Er hat keine Mimik, kein Ausdrucksvermögen in seinem prallgemästeten Gesicht, keine Modulation in seiner Stimme, eben nur die beweglichen Rollschinkenbeinchen unter dem Kugelrund vorn und hinten, aber das genügt, um ihm Lachsalven einzubringen. Man denke sich ihn bei Vorübungen für Hochtouristik, wie er auf einen Tisch klettert. Oder in Unterhosen. Oder gar wie in Charleys Tante, die seinen Ruhm begründete, in Frauenkleidern. Und jetzt in "Hurrah, ein Junge!" kommt er nicht nur - im zweiten Akt - in Damenkostüm, wobei er als vorgetäuschte Chansonette zu trällern hat: "Was ein Mann auch von mir will, ich halt' still!", sondern im Schlußakt auch als Bubi mit Matrosenmützchen auf der Glatze, mit kurzen Hosen über den Mastschenkeln und mit Kinderballon in der Hand; das Publikum wälzt sich in Lachkrämpfen. Um seine Popularität sich zu erhalten, braucht Guido Thielscher nichts zu lernen, nichts zu studieren, sondern nur dafür zu sorgen, daß er täglich einen kleinen Überschuß von Kalorien zu sich nimmt, um rund zu bleiben; und, natürlich, strampeln muß er können. Die Berliner sind genügsam. Sie haben auch Charakterkomiker großen Stils, die wirklich was können, vor allem Pallenberg und Adalbert, von der älteren Generation auch noch Waßmann, aber die Masse braucht eben gar kein komisches Spiel, sondern nur die komische Erscheinung; sie würde schon lachen, wenn irgendein Trottel mit angeklebter roter Pappnase aufträte. Das Angebot an sogenannten Komikern ist sehr groß, sie "konferieren" ja heutzutage in jeder Kaffeediele, und solange Galizien nicht durch ein Massensterben entvölkert wird, kann es uns an Nachschub von Witzemachern und Zotenreißern, denn das sind diese Conferenciers in der Mehrzahl, nicht fehlen. Sie werden neuerdings für Menschen von Bildung und Geschmack immer unerträglicher und im Grunde immer witzloser und eindeutiger; sie sind eigentlich nur für solche "Kavaliere" unter den Zuhörern da, die unter Alkohol hemmungslos geworden sind und in ihrer jungen Begleiterin jedes Schamgefühl zertreten zu sehen wünschen. Ein paar Deutsche gibt es freilich noch unter diesen Komikern, die wirklichen Humor haben, so den vergnüglichen Rheinländer Lambertz-Paulsen, der in Berlin stets die größten Säle füllt. Aber auch er macht schon Zugeständnisse an den Ungeschmack; und er hätte es wahrhaftig nicht nötig.

Man kann schon froh sein, wenn die lästerliche Tonindustrie der Jazzkomponisten und die Nacktfleisch- und Farbenorgie der Revueschmeißer ein wenig Atem schöpfen. Man kann schon dankbar sein, wenn derweil unsere Theater um eine Zeitstufe zurück wieder in der Operette Fuß fassen. Aus Wien ist jetzt Calmans "Zirkusprinzessin" zu uns ans Metropoltheater gekommen, ein Stück, bei dessen Musik und Libretto ganz offenbar Bettelstudent und Zigeunerbaron und Fledermaus und Walzertraum Pate gestanden haben, ein Stück von der wohltemperierten Sinnenlust und märchenhaften Unwahrscheinlichkeit der guten alten Zeit und von einer gewissen romantischen Wohlanständigkeit mit dem Endsieg der geprüften Liebe. Nicht bloß was fürs Auge und fürs Ohr, sondern auch was fürs Herz; und dabei doch auch zugkräftig für das Publikum des Berliner Westens, da die Ausstattung sich nicht lumpen läßt und da in den tragenden Rollen - abgesehen von der frischen blonden Maria Paudler - fast nur die blaurasierten Protegés des Kurfürstendamms auftreten. Die "Zirkusprinzessin" ist die letzte Hoffnung des Metropoltheaters, jenes ehemaligen, damals freilich noch recht bescheidenen Sündenbabels, in dessen Promenoir hinter dem ersten Rang gefällige Mädchen Anknüpfung suchten; letzte Hoffnung des Metropoltheaters, das vor Jahren das erste war, das die Revuen in Berlin einführte, nun aber mit seiner letzten Revue bei dem übersättigten Publikum einen derartigen Mißerfolg erlebt hat, daß das Millionenunternehmen sich soeben unter Geschäftsaufsicht hat stellen müssen. Da soll nun die Operette der große Herausreißer werden. Hofft man. Aber die Behrenstraße ist etwas weit für den Westen.

Wir dürfen nicht vergessen, daß das Theater heute ein Geschäft ist, nicht mehr die Liebhaberei eines kunstsinnigen fürstlichen Mäcens oder einer bildungsbeflissenen reichen Stadtgemeinde. Alles wird ja Geschäft, was früher doch noch ein Stück Gelehrsamkeit oder Volkshilfe unter Idealisten war; bis zu den Apotheken und dem Verlagsbuchhandel und hundert anderen Gewerben.

Edmond de Goncourt, der alte Theaterkenner, beklagte es einst in einer kleinen Gesellschaft von Freunden, daß die Bühne sich immer weiter von der Kunst entferne. Sie sei im wesentlichen zu einer Ausstellung von Frauenreizen und Modedingen geworden. Das war einer anwesenden Schauspielerin noch nicht scharf genug. Sie sagte, "le théatre au fond, mes amis, c'est l'absinthe du mauvais lieu", also auf deutsch etwa, wenn man in Schillerschen Ausdrücken sprechen will: das Theater ist heute im Grunde eine unmoralische Anstalt. Man kann dem Fräulein Recht geben oder nicht, jedenfalls ist das Theater ein Geschäft und auf Absatz bedacht, somit führt es die Ware, die Abnehmer findet. Moralisch oder unmoralisch ist also das Publikum, wobei man natürlich nicht verkennen darf, daß die Theaterleiter häufig von sich aus den Ausschlag geben und , wie jüngst das Metropol, mit dem Unmoralischen geschäftlich hereinfallen, weil sie den Geschmack des Publikums unterschätzen. Moralisch oder unmoralisch sind in zweiter Linie auch die kritischen Richter, soweit sie heute überhaupt noch entscheidend für das Schicksal eines Stückes sind. Die meisten Rezensenten sind nicht Fleisch von unserem Fleisch, Geist von unserem Geist, am allerwenigsten Seele von unserer Seele, sondern bestenfalls, so als Prototyp der bekannte Tageblatt-Kerr, eitle Impressionisten ohne deutsche Weltanschauung. Ich spreche hier natürlich nur vom Berliner Publikum, nur von Berliner Rezensenten; aber beide haben eben leider so große Bedeutung für das ganze Reich, da die meisten Uraufführungen in der Hauptstadt erfolgen und die Theatergemeinde draußen immer noch so viel auf das Berliner Paßvisum gibt. Unter den Berliner Kritikern kannte ich einen ganz unbestechlichen, einen Warner und Propheten, Erich Schlaikjer, dessen Buch "Im Kampf mit der Schande", bald nach dem Krieg erschienen, zu dem Unerschrockensten gehört, das zornige Deutsche je geschrieben haben. Er war Rezensent einer großen nationalen Zeitung. Eines Tages aber schrieb das Kaufhaus N. Israel an die Zeitung, wenn diesem Menschen die Theaterkritik nicht entzogen würde, ziehe es seine Anzeigenaufträge im Betrage von 60 000 Mark jährlich zurück. Das war eine Lebensfrage für das Blatt; und Erich Schlaikjer wurde alsbald "anderweitig" beschäftigt. Theater und Warenhäuser und Weinkeller und Modeateliers und wer weiß was noch für Unternehmungen sind heute miteinander schon verfilzt, dazu kommen die außenstehenden Geldgeber mit ihren Interessen und schließlich das Bedürfnis in der heutigen Zeit, im Wettbewerb einander zu überprotzen und zu überprunken: so muß man Riesensummen in das Geschäft stecken und auch mit der Möglichkeit von Riesenverlusten rechnen. Manche Theaterbesitzer und Theaterdirektoren sind mehr als nervös. Man könnte sie wie Wachs kneten, wenn man ihnen nur ermöglichte, dann "durchzukommen". Sie schwimmen heute, wo wir als Nation arm geworden sind und nicht mehr die Bildungsschicht, sondern der Amüsierpöbel die meisten Theaterbesucher stellt, nicht mehr im Gelde. Wenn je, dann wäre heute die Möglichkeit gegeben, vom Reiche aus die künstlerische Zwingherrschaft Berlins zu brechen. Einfach durch passiven Widerstand. Man braucht einfach den Entschluß, nicht mehr in jedes Stück zu gehen, "von dem man spricht", weil die Berliner Zeitungen voll davon waren, sondern nur in gute Stücke. Das kann man sich draußen im Reiche leisten. Da kostet ein Theaterplatz noch nicht so sündhaft viel wie in Berlin. Da ist man noch eine Macht. Da entscheiden nicht Neureichs und die Goldene Jugend allein. Läßt sich der konfektionierte Dreck nicht weiter "in die Provinz verhökern", dann wird er für Berlin allein schließlich nicht lohnen.

Zwischen den Jahren, unmittelbat vor Silvester, haben nicht viele Menschen Lust zu ernster Betrachtung. Man hat Schlange gestanden, um Strümpfe, Schlipse, Kombinations, Pullover, Operngläser, Filzpantoffeln umzutauschen. Jetzt drängt man sich, um die nötigen "Scherzartikel" heranzuholen und damit künstlich Stimmung zu erzeugen. Daneben werden reichlich - Amulette gekauft. Als Kind hat man überlegen gelächelt, wenn man von Fetischen irgendwelcher Eingeborener las, die erwachsenen modernen Frauen von heute aber schwören auf das Unerklärliche. Es hat ja immer Aberglauben gegeben. Die alte Fürstin Bismarck - der Kanzler lächelte milde dazu - verwendete als Medizin die getrockneten und pulverisierten Augen von Krähen, die bei Vollmond in einer Neujahrsnacht geschossen waren. Die modernen Damen brauchen das nicht, aber sie tragen ihre kleinen Götzen mit sich. Vor Jahren fing es mit dem "Billiken" an, der kleinen Autopuppe. Dann kam sie in den Muff. Oder an den Busen. Oder in den Geldbeutel. Mal ist es ein silbernes Schweinchen, mal ein Heckpfennig, mal ein Glückspilz, mal eine Benediktusmedaille. Ich habe eine kleine Sammlung von Amuletten, meist auf Holz gemalten Heiligenbildchen, die ich im Kriege toten Russen abgenommen habe. Wenn ich unter den Damen von heute mich danach umtäte, bekäme ich schnell viel wertvolleres zusammen.

Manche aufgeklärte Berlinerin trägt einen winzigen goldenen Skarabäus, ein womöglich mit Edelsteinen besetztes Käferchen bei sich. Natürlich unsichtbar. Fragst du sie, wo sie das Amulett berge, so hast du den Zauber gebrochen und bist überdies ein taktloser Mensch. So was findet man, aber man fragt nicht darnach.
29. Dezember 1926 (Mittwoch)


18

Silvesterball - Warum wir harmlos feiern - Tanzen macht nüchtern - Arbeitslose und Verzweifelte - Männerhaarmoden - Um die Schlankheit - Geschiedene Filmdiven - "Brennende Grenze" - Nicht klagen, sondern bessermachen.

Die drei Damen haben "noch nie" einen öffentlichen Silvesterball mitgemacht. Noch nie: als ob das wirklich so unumgänglich notwendig wäre! Sie brennen ein bißchen darauf, scheint mir, weil sie denken, ohne "Ohrchije" gehe so etwas nicht ab; und eine Orgie wollen die ehrsamsten Frauen doch mal gesehen haben, schon deshalb, um über die Männer sich entrüsten zu können. Ach, meine Lieben, alleine ist man niemals orgiastisch. Mindestens zwei Menschen gehören dazu; und dann ist einer von ihnen sicherlich weiblichen Geschlechts. Aber gut, wir können ja zum Silvesterball der vielen Tausende in den Sportpalast gehen, da in der Riesenhalle ist es so schön übersichtlich, es gibt keine Erker, Kojen, Nischen, Lauben, sondern die entfesselte Masse Mensch unter Scheinwerferlicht nur auf der einen kolossalen Fläche. Und nun sperren die drei Damen, denen ich den 1911er Pommard mit etwas Schaumwein anheize, wirklich die Augen ellenweit auf. Nein, das hätte man sich doch nicht so gedacht! Nämlich, daß die Berliner so ehrpusselig und so anständig und so harmlos sich vergnügen könnten . . .

Im Vestibül hatten meine Damen noch die Lippen aufeinandergepreßt. Das Publikum sei sehr gemischt, sagten sie; vielleicht lege man am besten überhaupt nicht ab. Wie wir aber nun auf der Estrade sitzen, ist es schon anders. An dem einen Tisch neben uns zwei Berliner Universitätsprofessoren mit ihren Gattinnen und zwei Studenten. An der anderen Seite ein Referendar aus Thüringen, ganz benommen und glücklich, mit einem jungen Berliner Ehepaar und Fräulein Schwägerin. Hinter uns eine lange Reihe von Tischen zusammengerückt und mit lauter fidelen Rheinländern besetzt, unter denen eine rosige ältere Dame mit grauem Haar tonangebend in Lustigkeit ist. Ein paar Stufen tiefer, vorn an der Brüstung, ein Berliner Ulkbruder mit ein paar Tippfräuleins, die durch gelegentliches Jauchzen betrunken zu werden versuchen, da dieser ersehnte Silvesterzustand durch die eine Flasche Mosel und zwei Flaschen Mineralwasser, auf vier Personen und drei Stunden verteilt, sich nicht erreichen läßt. Außerdem tanzt man zu viel, als daß man dem Alkohol fröhnen könnte; und wo ein Herr drei Damen nicht genügend betanzen kann, da tanzen eben auch zwei Damen miteinander. Wir brauchen gar keine gesetzliche "Trockenlegung" nach amerikanischem Muster. Das knappe Geld und, jawohl, das Tanzen sind bestimmend für die zunehmende Berliner Nüchternheit sogar an Silvesterabenden. Die Tanzmanie in allen Ständen und allen Lebensaltern; und das ist übrigens in allen Groß- und Mittelstädten Europas und Amerikas genau so. Man kann auch ruhig sagen: lieber tanzen, als saufen! Oder als "Orgien" veranstalten. Hier im Sportpalast wird es um die mitternächtige Stunde ein wenig ausgelassen, aber immer noch harmlos ausgelassen. Ein kleines schwarzhaariges Mädel, Malfräulein oder Musikstudentin vielleicht, springt auf den Tisch und tanzt dort Charleston; ein Kellner protestiert, wird aber von der Gesellschaft verscheucht. Etliche Paare geben sich einen herzhaften Neujahrskuß. Etliche Schwiegermütter umarmen die Schwiegersöhne. Alles ist ein Herz und eine Seele, aber nichts braucht das grelle Licht zu scheuen.

Als Hereingeschneiter trifft man wenig Bekannte. Man muß schon bestimmte Tische im Parterre oder auf der Estrade oder im Rang vorher ausgemacht haben, wenn man unter dem Farbengewoge der Tausende einander nicht vergeblich suchen will. Zum Schlußmokka sind wir noch im "Vaterland" am Potsdamer Platz gewesen. Auch da genau dieselbe Harmlosigkeit, nur das Publikum etwas anders: die gleiche gute Kleidung, aber aus den Ärmeln baumeln hier schon mehr rissige Fäuste. Dieser Berliner Karneval ist im Tanze der Versöhner aller Stände, und man betäubt sich nicht mehr wie in der Inflationszeit, sondern man ist wieder fröhlich in Hoffnung.

Trotz aller Not. Trotz aller erschreckenden Nachrichten. Wir haben in Berlin 279 000 Erwerbslose. In der letzten Woche des abgelaufenen Jahres waren über 200 Selbstmorde zu verzeichnen; darunter rund 150 wegen Nahrungsmangels. Jüngere Leute helfen sich noch "irgendwie" durch. Aber die Tragödie derer, die über 60 Jahre alt sind, findet keine Lösung; niemand stellt sie mehr an. Einem, der über 70 ist und noch schaffenskräftig, habe ich helfen können; er ist für ein Jahr wieder gesichert. Täte jeder von uns sein Möglichstes für die Alten, wäre noch viel Unglück aufzuhalten. Aber nicht alles Unglück. Die wilden Anklagen der Roten wider die "Gesellschaft" nützen gar nichts. Es ist doch die Politik der Roten und der Rötlichen, die uns so weit gebracht hat, und wenn sie sich nicht ändert, wenn auch bei Neuwahlen das regierende Parlament keine andere Zusammensetzung bekommt, ist dem deutschen Volke der Aufstieg versperrt. Die Daweslasten werden von Jahr zu Jahr vergrößert. Die Frau des Reparationsagenten aber, die Frau Parker Gilbert, spielt gesellschaftlich die erste Rolle bei uns und gilt als die Charlestonkönigin von Berlin. Ihr Mann, ihr junger Mann, tanzt nicht, ist darin eine Ausnahmeerscheinung; er sieht nur behaglich zu, wie seine Frau sich für unser Geld amüsiert. Er treibt anderen Sport und bleibt dabei schlank.

Schlankheit ist noch immer Modezwang. Auch die Stilkleider mit den gebauschten Hüften sollen doch nur die Schlankheit hüftenaufwärts noch unterstreichen. Solange eine Mode herrscht, ist jede Rebellion ausgeschlossen, höchstens leiser Spott möglich. Auch der Schnittkopf, der jetzt schon bei den Berliner Dienstmädchen die Profile verheert, gehört dazu. Die Männer sind nicht etwa frei und unabhängig von der launischen Göttin äußerer Verwandlung. Es hat eine Zeit gegeben, wo die Danziger Gymnasiasten streikten, weil der hohe Magistrat es ihnen nicht erlaubte, Allongeperücken nach Art des Großen Kurfürsten zu tragen; und erst vor 125 Jahren ist in Preußen der Männerzopf der Fridericuszeit abgeschafft worden. Augenblicklich läßt bei der Berliner Herrenwelt das lange, über den Hinterkopf gestrichene und nachts durch eine Netzkappe behütete Haar in seiner Beliebtheit nach. Man sieht wieder mehr und mehr den kurzen Schnitt mit Scheitel. Nur die Beleibtheit der Vorkriegszeit soll nicht wieder aufkommen, man tanzt sie weg, man punktrollert sie weg, man sportet sie weg, und - man ist mäßig im Trinken; ich kenne Berliner, die wenn es sein muß, eine Flasche Schnaps nicht ausschlagen, aber beim ersten Glas heimlich eine Kissinger Pille, die sie immer in der Westentasche bei sich tragen, mit verschlucken. Man soll nur nicht den Irrwahn hegen, dem besonders viele Damen ausgesetzt sind, daß Schlankwerden verschönt. Zwischen Schlanksein und Schlankwerden ist nämlich ein Unterschied. Da hilft auch kein System Coué, dem manche Frau huldigt, indem sie morgens nach dem Mensendieken, bei der Gesichtsmassage vor dem Spiegel, zehn Minuten lang laut memoriert: "Ich werde alle Tage schöner! Ich werde alle Tage schöner!" Wenn sie noch wenigstens sagen wollte: interessanter. Das Interessanterwerden bot früher einen kleinen Ausgleich für das Altern, während man heute alle Hände und alle Beine voll zu tun hat, um die Jahre durch Körperübungen zu scheuchen. Hat eine Frau wirklich nur den einen Beruf, schön zu sein ? Mady Christians hat mir einmal empört gesagt, sie verstehe Thea v.Harbou nicht, daß die sich so gar keine Mühe gebe, schlank zu bleiben. Erstens aber: weiß man's denn ? Und zweitens: fühlt die in ihrer Fraulichkeit und im geistigen Schaffen sich nicht am Ende sehr wohl ? Außer dem Ammenberuf, den dem weiblichen Geschlecht niemand streitig machen kann, ist es zu dem Beruf der Telephonistin besonders vom lieben Gott ausersehen. Denn die Frauen "sprechen nicht in den Bart", nuscheln nicht, sondern machen schon aus Eitelkeit den Mund immer hübsch auf, um die Zähne zu zeigen. Nur das mit dem Schlankwerden - mit dem Schlankbleiben ist es freilich etwas anderes - will mir nicht ganz einleuchten. Mit dem Tapezierer, der neulich nach der Renovierung unserer Vorderzimmer die Fenstervorhänge wieder angebracht hat, er ist ein kleiner Weltweiser trotz seines Berlinerns, habe ich tiefgründig, während er raffte und klopfte, dieses Thema des Tages besprochen. Und er erklärte ruhig und fest:

"Ick ha' zu meine Olle schon imma jesaacht, wenn eene Kuh ooch noch so mager wird, denn wird se dessentwejen doch keen Reh!"

Jedenfalls wird, was jeder Jäger weiß, ein ausgewachsenes Schmaltier nicht wieder zu einer Kitz; und je stärker beim weiblichen Geschlecht die Verjüngungsmanie ist, desto mehr nehmen auch die Ehescheidungen zu. Von ihrem letzten Mann, Emil Jannings, ist Lucie Höflich geschieden worden, ehe er nach Amerika abdampfte. Jetzt um Neujahr wurden auch Käte Dorsch und ihr gleichbeliebter Gatte Harry Liedke gerichtlich von einander getrennt. Die entzückende Frau Käte war zuletzt furchtbar eifersüchtig; wenn jemand, eine andere Theater- oder Filmdiva, den guten Liedke einmal freundlich ansah, gab es Skandal. Der Olga Tschechowa ist Frau Dorsch-Liedke einmal fast buchstäblich in die Haare geraten. Dabei - in diesem Falle, in manchen anderen leider nicht - ohne Grund. Die Tschechowa lebt, soweit ein Filmstar das überhaupt kann, ganz zurückgezogen in ihrem schönen Heim mit der Mutter und der kleinen Tochter.

Jetzt kann man diese übermütig-tolle slavische Circe - wenisgtens als Darstellerin ist sie es - in einem neuen Film bewundern. Zur Uraufführung war ich eingeladen. Ich gehe nach wie vor sehr selten in ein Flimmerschauspiel, ich muß schon eigens dazu gebeten werden, aber diesmal ist das Gefühl ganz mit mir durchgegangen. "Brennende Grenze". Das Stück aus der noch gar nicht so lange zurückliegenden Zeit, wo Oberschlesien von polnischen Freischärlern überflutet wurde. Ich habe vor Monaten etlichen Szenen beigewohnt, als sie draußen in Tempelhof gedreht wurden. Wenn man ein Werk so hat entstehen sehen, ist man voreingenommen, und deshalb habe ich mich kritisch erst recht gewappnet, um objektiv urteilen zu können. Aber ich bin überwältigt. Manches, was mir in den einzelnen Szenen noch nicht so aufgefallen war, so vor allem die meisterliche Leistung Oscar Homolkas als Matrose in der polnischen Bande, hat jetzt auf der Leinewand sehr starken Eindruck auf mich gemacht. Ebenso die phantastische Ouvertüre des Dramas und manche photographische Feinheit und Kühnheit. Aber das eigentlich Große an der Schöpfung Waschnecks ist die doppelt erschütternde, weil gänzlich unaufdringliche vaterländische Tendenz in der "Brennenden Grenze", dieser absolut reine Appell an unser deutsches Selbstbewußtsein ohne jeden parteimäßigen Mißton. Vom Völkischen bis zum Kommunisten kann jeder Deutsche, wenn er kein stumpfes Tier ist, hier Erhebung finden; und zwar ganz unvermerkt, denn laut Untertitel und Inhalt ist dieser Film wirklich "nur" das überaus spannende, romanhafte Drama einer Frau und ihrer Standhaftigkeit, der jungen schlesischen Gutsherrin, von der schwedischen Gräfin Jenny Hasselquist in schlichter Hoheit dargestellt. Und Schlettow als Freischaarführer - ein fabelhaft eleganter polnischer Windhund - und Alberti als polnischer Regierungskommissar - ein aus unglücklicher Liebe zu dem Feinde zeitweilig übergetretener vornehmer Charakter - spielen lebendig hinreißend. Die erste große Erschütterung erleben wir mit ganz einfachen Mitteln. Überschrift: Heimaterde. In dem von der polnischen Bande auf den Kopf gestellten Landschloß, dessen verwitwete junge Besitzerin die Werbung des Hauslehrers einst mit einem Peitschenhieb beantwortet hat, taucht dieser Hauslehrer jetzt als Regierungskommissar auf. Alles Begrabene erwacht wieder. Er stapft, allein im Kampf mit sich, über den Acker. Man sieht ihn über die Unendlichkeit der Furchen schreiten. Verlorenes deutsches Land. Deutsches Land. Heimatland. In stummem Spiel die Wandlung: die Heimat hat ihren Sohn wiedergewonnen! Und dann, zu frenetischem Beifall fortreißend, die Schlußszene. Der junge noch fast knabenhafte Sohn der Gutsherrin hat den Freischarführer, der trunken die Frau greifen will, erschlagen und ist flüchtig. Die Frau selbst, die in Reue und Liebe zu dem Heimgefundenen erwacht ist, wird von diesem in atemlosem Ritt an die nahe neue Grenze gerettet. Die Verfolger galoppieren ihnen auf den Fersen. Da - da - da wächst am Grenzpfahl wie aus der Erde urplötzlich eine berittene Patrouille im deutschen Stahlhelm empor. Steht da wie aus Erz. Tut nichts, sagt nichts, steht nur. Man sieht die unbewegten stählernen Gesichter. Deutschland! Gerettet!

Die Berliner Filmkritik weiß mit der Sache nichts anzufangen. Herr A. Rosenthal, genannt Aros, wundert sich über die "russischen" Uniformen. Was solle das bedeuten ? Andere, die Ullsteiner, wissen besser Bescheid und grollen: das sei ja gegen alle Völkerversöhnung! Der Film ist ihnen unheimlich, denn - er ist gut. Jedes "hurrapatriotische" Stück wäre ihnen lieber, weil leichter abzulehnen. Aber das ist es ja eben: Leistung, Leistung! Einzig und allein die Leistung bringt den Sieg.

Es ist sinnlos, über den Potemkin-Film zu jammern, um Verbote von Schundfilmen zu barmen. Macht's besser! Als im Jahre 1899 der Burenkrieg die Gemüter erregte, hißte bei jedem Burensiege ein Deutscher in London, mitten in London, auf seinem Hause die schwarzweißrote Flagge. Beiläufig bemerkt: seine Schwester ist heute meine Frau. Kein Engländer hat ihm damals ein Haar gekrümmt. Man lächelte nur. Er solle nur abwarten. Die Endleistung entscheide. Das ist die einzige eines selbstbewußten Gentlemans würdige Auffassung. Nicht mit Klagen, nicht mit Verbieten, nicht mit Schimpfen kommen wir vorwärts, sondern nur mit Bessermachen. Und weil auf jedem Gebiete der gute deutsche Kopf immer noch triumphiert, bis zu der neuesten umwälzenden Erfindung der Verflüssigung der Kohle, darum erhoffen wir von einem selbstbewußten Deutschtum unser Wiederauferstehen. Die "Brennende Grenze" ist, wenn auch auf spielerischem Gebiet, ein Stück solcher stolzen Arbeit. Wenn man in einem herrlichen Aufruhr der Gefühle die Handlung an sich hat vorüberbrausen lassen, dann ist man um die einzige lehrenswerte Lehre reicher:

"Wehr' dich, Hundsfott!"
6. Januar 1927 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts