"Rumpelstilzchen"

Berliner Funken
(Jahrgangsband 1926/27)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1927

Glossen 13 - 15
2. bis 16. Dezember 1926


13

Hausputz in der Adventszeit - O meine Bücher - "Betreffend interessante Geselligkeit" - Berliner Fremdenpensionen - Ein Abend im Klub - Pawlowa-Première - Die Tragödie der alten Tänzerinnen - Was schenkt man zu Weihnachten - Modische Erziehung der Väter.

Die Adventszeit ist die einzige im Jahre, in der nahezu alle Berliner in Berlin sind. Selbst der Wohlhabende geht da noch nicht ins Engadin oder nach Egypten; und auch der Durchschnittsmensch nimmt da nicht etwa Urlaub für Mittelgebirge oder Seestrand. Wenn es nicht geradezu unmittelbar vor Weihnachten ist, empfängt man in dieser Zeit gern Gäste. Mit geschärftem Auge prüft man dazu das eigene Heim. Man kriegt Lust zu Ausbesserungen, zu Neuerungen. Die Frau Generaldirektor findet auf einmal, daß der Seidenbezug der Möbel im Boudoir in schreiendem Gegensatz zu ihrem neuen Teekleide stünde und daher ersetzt werden müßte; auch sei der große Lampenschirm unvorteilhaft für ihren Teint. Unsereins aber mustert seufzend die abgeplatzt hängenden Tapeten oder den verräucherten Deckenanstrich. Schon 1921 war die Renovierung dringend nötig und vom Hauswirt schriftlich zugesagt. Wenn es noch der alte von damals wäre, man würde nicht drängen, denn man weiß doch, wie diese Menschenklasse schmählich ausgeraubt worden ist. Aber uns geht es wie so vielen Berlinern: seit der Inflationszeit gehört das Haus ausländischen Kapitalisten. Die haben einen Deutschen - das ist unser Schicksal - als Tributvogt über die Mieter gesetzt. Wir schuften ja schon alle für die Fremden. Und solch ein Häuserverwalter wird von den ausländischen Besitzern entlassen, wenn er unsereinem gegenüber zu entgegenkommend ist. Also hat es monatelang gedauert, bis ich es endlich nach behördlichem Eingreifen erreicht hatte, daß die für "Schönheitsreparaturen" aufgesummten 4 Prozent nun verwendet würden; und dabei muß auch ich selber noch tief in den Geldbeutel greifen, wenn ich wirklich ordentliche Tapeten in den großen Räumen haben will, und sind die Tapeten da, dann erweist es sich, daß Möbel neu poliert werden müssen, und ist das geschehen, dann fallen alte Vorhänge unangenehm auf. Das sind heute in der Großstadt die Adbentssorgen von Tausenden. Es wird in Berlin um die Novemberwende viel mehr renoviert als um die normale Zeit im Frühling. Man muß schon eine exemplarisch gute Hausfrau haben, die nicht wild wird, wenn da die Anstreicher die Wohnung umeinanderstülpen. Nein, dieser Schmutz und Staub! Und so dicht vor der großen Kuchenbäckerei! Ich kann zum Trost nur sagen, mit der Erneuerung der Räume sei es wie mit dem Kinderkriegen, man habe also zuerst seine Angst und Not, aber nachher doch auch seine Freude an dem frischgewaschenen neuen Baby. Vierzehn Tage lang kommt fast täglich die Putzfrau und wird doch sozusagen nie fertig mit dem Schutt. Und ich barme um meine lieben Bücher in dem etwa 7½ Meter langen und 3½ Meter hohen Riesengestell. Schon die gebundenen werden erfahrungsgemäß so roh ausgeklopft, daß mancher Lederrücken es nicht übersteht. Und nun gar die gehefteten! Das sei doch nur altes Papier, sagt die Putzfrau, faßt so ein Buch mit zwei Fingern an, schlenkert es ordentlich, daß es bogenweise aus den Fugen geht, und wird von uns gerade noch geklappt, wie sie mit einem Arm voll in die Küche geht: "Wat raushängt, kommt in de Heizung!"

Man verliert den Kopf. Man sinnt auf Flucht. Egentlich, sagte ich mir, könnte ich ausrücken, denn in solcher Zeit ist der Mann zu Hause doch nur ein verachtetes Individuum, das im Wege steht. Gut, dann will ich auch was erleben. Irgendwo in Ruhe arbeiten und doch auch ein neues Milieu studieren können. Alsbald steht in einer vielgelesenen Zeitung meine Anzeige, daß ich für eine Woche in einer gesellig-interessanten Pension ein Unterkommen suche. Am Montag sitzt die ganze Familie beisammen, um gemeinsam das Vergnügen zu genießen, die erwarteten Hunderte von Angeboten durchzusehen. Es ist nichts da! Am Dienstag endlich der erste Chiffrebrief, der einzige. Und darin steht: "Betreffend interessante Geselligkeit, ich bin 34 Jahre alt, schwarzhaarig, korpulent, bitte postlagernd N 23 unter Geselligkeit."

Konnte man wirklich etwas derartiges in der unschuldigen Anzeige wittern ? In Gedanken schwebte mir etwa das große Pensionat in drei Stockwerken vor, in dessen mittlerem einst die bucharische Gesandtschaft untergebracht war. Oder jenes andere inzwischen auch eingegangene Fremdenheim, in dem ich 1911 den gelehrten und vornehmen Marokkaner Ban Asses kennen lernte, der sich mir dann sogar zu einer Freiballonfahrt anvertraute; einer der würdevollsten Mitfahrer, die ich je im Korbe gehabt habe. Oder jenes bescheidene Pastorenquartier, das einst einige seither in Freundschaft mir verbundene junge schwedische Gelehrte barg, die so herzlich und brustfroh zu lachen verstanden. Oder, wenn man nun schon etwas leichtsinnig sein will, eine der Variété-Karawansereien der Friedrichstadt, die von dem vergnügten Künstlervölkchen der elften Muse bevölkert werden. Im Berliner Westen zwischen Steinplatz und Prager Platz gibt es bestimmt Dutzende von Pensionaten, die mir die gewünschten acht Tage Ausspannung in der gemeinten Art hätten dienen können, aber davon wissen die Besucher aus dem Reiche wohl mehr als wir Berliner. Ich wäre auch nicht gern auf eine allzu bescheidene Bleibe hereingefallen, in der man das Brot durch die Butter und den Käsebelag hindurch sehen kann und dreimal wöchentlich zum Abendbrot Kartoffelpuffer kriegt. Nach dem Mißerfolg der Anzeige wage ich aber auch nicht mehr, etwa Bekannten meine Absicht mündlich kundzutun, denn die machen auch vielleicht Kugelaugen und denken gleich an etwas korpulentes.

Natürlich kann man gesellig-interessanten Trubel auch in Berliner Klubs finden, nur eben leider nicht auch ein eigenes stilles Zimmer, in das man sich zurückziehen kann, sobald man genug hat oder an die Arbeit will. Da ist einer in der Prinzregentenstraße, in den man mich eingeladen hat, nicht ausschließlich für Jeuratten, sondern auch für Leute mit schlichterem Unterhaltungsbedürfnis, ein Klub mit einer ganzen Flucht schöner Säle, mit gutem Lesezimmer, Tanzsaal, Café, Restaurant und einem Gewirr interessanter Typen. Neben mir in einer Loge des Tanzsaals sitzt gerade Xenia Desni, die Berückende. Davor an einem Tischchen, den Portweinflip vor sich, ein amerikanischer Professor. Drei egyptische Studenten mit melancholischen Gesichtern sehen der Jazzband zu. Der Sohn des Konsuls von Liberia, ein putziges kleines Negerlein, flattert mit den Beinen, wird sozusagen als äffische Zutat nachsichtig geduldet, da er nun mal zu den diplomatischen Exterritorialen gehört. Unser berühmter Maler Professor Orlik steht in einer Plaudergruppe mit einem ehemaligen Fliegeroffizier. Das brünette Mädel aber, das ihnen Zigaretten verkauft, ist eigentlich eine Frau und hat zwei Kinder von 7 und 3½ Jahren; der Mann war Rittmeister in der Wrangelarmee und putzt jetzt in Sofia Stiefel.

Ein ähnlich bizarres gesellschaftliches Mosaik sieht man sonst nur noch in Berliner Premièren, doch ist die Materie dort stärker als der Geist. Es ist nicht jedermanns Sache, für einen Platz im ersten Parkett oder ersten Rang 22 Mark wie jetzt bei der Pawlowa-Première im Theater des Westens auszugeben, also ist der Protzentyp vorwiegend. Es sind das die Leute, die nicht hinkommen, um zu sehen, sondern um gesehen zu werden. Vielfach verlangt es auch der Kredit. Man zeigt sich Geschäftsfreunden mit dem neuen Hermelincape der Frau. Das soll nur heißen: "Wir sind eine sichere Sache." Es sind ganz eigenartige und kostbare Modelle unter den Kleidern. Mitunter ist einiges phantastisch auffallend; so trägt eine junge Französin im Parkett als Theaterhut eine enganliegende goldene Badekappe. Sicherlich ist nur ein kleiner Teil der Erschienenen, vor allem die dienstlich verpflichteten Presseleute, um der Anna Pawlowa willen gekommen. Allmählich ragen die Größen des "Kaiserlich" russischen Hofballets doch schon zu sehr ins vorige Jahrhundert hinein. Auch die Massary-Première neulich war wieder einmal ein bedeutendes gesellschaftliches Berliner Ereignis, aber ich habe nicht mehr den Mut aufgebracht, darüber zu schreiben. Soll man wirklich den annähernd sechzigjährigen Stars und sich selber und dem Publikum vorlügen, daß sie herrlich und unvergleichlich seien wie in ihrer rauschhaft schönen Jugend ? In der Skala, dem kolossalen Variété des Westens, ist den November hindurch die ebenfalls "Kaiserlich" russische Hoftänzerin Vera Trefilowa mit ihrer Truppe aufgetreten. Wenn sie gesungen hätte, hätte man noch wenigstens die Augen schließen können. Sie tanzt aber doch. Das muß man sehen. Und dann wird man furchtbar traurig. Da müht sich eine alte Frau mit immer noch verblüffender Technik - das Handwerkliche bleibt am längsten - und erfrorenem Lächeln für uns ab. Die tänzerische Seele ist längst entflohen. Ein Wind schüttelt die dürre entlaubte Pappel. Am hageren Halse der Trefilowa, übrigens auch der Pawlowa, starren die Sehnen und Adern wie die Baumäste; oder wie das Geschlinge der eingekapselten elektrischen Drahtleitungen im Innern eines Kriegsschiffes. Als Puppenfee ist die Pawlowa heute ein mechanisches Wunderwerk.. Als sterbender Schwan flattert und sinkt und zuckt sie noch immer realistisch. Das Publikum rast minutenlang in Anerkennung der technischen Meisterschaft; aber nie mehr wird dieses Publikum, wie noch vor 20 Jahren in Berlin, vor Ergriffenheit Tränen in die Augen bekommen. Es wird auch kaum fünf oder sechs Mal hintereinander die Pawlowa und ihre Truppe sich ansehen wie damals, obwohl unter deren Nachwuchs - er ist international, neben Russen und Russinnen sind jetzt auch Franzosen, Italiener, Engländer, Skandinavier darunter - sich manch beachtenswertes Talent befindet, so besonders Lily Faucheux, übrigens auch nicht mehr der Jüngsten eine. Fünf oder sechs Mal hintereinander bin ich seiner Zeit auch zu Eleonora Duse gelaufen, obwohl sie damals schon einen grauen Schopf hatte, und hätte ihr die Hände küssen mögen. Es ist die einzige Frau der Bühne, die sich nie geschminkt, nie eine Perücke aufgesetzt hat. Sie kam, wie sie war. Wer ihre leidvollen Augen sah, wer sie ein paar Worte sagen hörte, wer das Spiel ihrer Hände verfolgte, der war hin. Die größte Tragödin eines Jahrhunderts konnte sich das leisten. Man glaubte selbst ihren grauen Haaren die Kameliendame oder Sudermanns Magda. Aber eine alte Soubrette, eine alte Tänzerin wird zur Fratze. Keine Ritterlichkeit hilft darüber hinweg. Das Kaiserlich russische Hofballett wußte wohl, warum es unweigerlich alle Tänzerinnen im 30. Lebensjahr pensionierte. Im Ballsaal mag Anna Pawlowa in ihrer Geschmeidigkeit wohl noch manche junge Dame der Gesellschaft überstrahlen, im erbarmungslosen Scheinwerferlicht der Bühne aber wirkt sie doch als Ruine. Wir wollen ehrlich sein. Wir wollen ruhig zugestehen, daß wir einfach traurig sind.

Aber für acht Tage haben wir Gesprächsstoff. Bis wieder etwas Neues da ist, "wovon man spricht". In diesen acht Tagen werden Triumphe gefeiert. Man war doch da! "Ach, meine Liebe, Sie haben die Pawlowa nicht gesehen ?" Und man bemüht sich, die Superlative der Zeitungskritiker zu überstehen. Bloß weil man da war. Im Grunde atmet man erlöst auf, wenn einer - endlich einer - einmal die Wahrheit sagt. Aber die Hauptsache ist und bleibt das Mitgemachthaben. Selbst wenn es nur inkognito im dritten Rang war. Jetzt muß man noch mitmachen. Acht Tage später hat schon jedermann die plausible Entschuldigung, es ginge nicht mehr, denn die Besorgungen für Weihnachten ließen einem gar keine Zeit.

Bei uns zu Hause haben wir die Wunschzettel von Groß und Klein schon eingesammelt, wissen aber auch ohnedies eigentlich seit Monaten Bescheid, haben auch schon allerhand "besorgt", vor allem das Unumgängliche: Bücher, Bücher, Bücher! Ich werde so häufig von Lesern aus dem Reiche gebeten, einmal eine Liste von Empfehlenswertem zu veröffentlichen, traue mich aber nicht recht; man kann doch nicht alles überschauen und macht sich nachher Vorwürfe wegen der Lücken. Nur einen Gedanken möchte ich heute zu erwägen geben. In den Jahren nach 1918 hat es in ungezählten deutschen Häusern geheißen: nur nichts mehr vom Kriege! Inzwischen aber wächst ein neues Geschlecht heran, dem wir Rechenschaft schuldig sind. Es muß sich ein Bild von der Furchtbarkeit, aber auch von der Herrlichkeit des Krieges machen können; vor allem von der deutschen Leistung. Von der Nachkriegszeit mit ihren Enttäuschungen und Kongressen und ihren Scheingrößen von Wilson bis Briand gibt es sowieso nur ein einziges geschichtlich und feuilletonistisch gleich wertvolles und amüsantes Buch, Rolf Brandts "So sieht die Weltgschichte aus", aber vom Kriege selbst sollten wir unseren nun erwachsenen Kindern und uns selber das herrlichste Zeugnis aus der Feder von Mitkämpfern gönnen, die Bändereihe "Im Felde unbesiegt", die im Lehmannschen Verlage erschienen ist. Jedes einzelne Buch - man braucht ja nicht gleich alle sieben zu kaufen - ist spannender als ein Abenteuerroman und doch lauterste Geschichte; und erfüllt uns mit einer tiefen, innigen Hochachtung vor dem ungeheuren Kämpfen und Leiden unseres von Übermacht umstellten Volkes. Da vergißt man auch den ganzen Klatsch und Tratsch der seitherigen Memoirenliteratur. Dann aber, um nicht ewig nur Bücher zu nennen, auch noch etwas ganz anderes: es sollte endlich jedes gut deutsche Haus ein sichtbares Denkmal unserer Großtaten bergen.Das ist sogar noch billiger als ein Buch. Es ist das Bild des "Mannes im Stahlhelm" von Erich Matschaß, in jeder Buchhandlung und auch in jeder Frontkämpferortsgruppe zu haben. In diesem Gesicht sind die harten Runen unseres ganzen Erlebens eingegraben. Aus diesen Augen schaut das Wissen um Leben und Sterben und auch der Willenstrotz des unbesiegten deutschen Mannes. Kinder können diesen sprechenden Wandschmuck den Eltern schenken, der Mann kann das Bild der Frau stiften, die Frau dem Manne; es kann auch mehrfach, in verschiedenen Zimmern, hängen, ohne daß wir seiner überdrüssig würden. Ein Altar für die Gefallenen. Ein Fanal für die Lebenden. Ein Denkmal für das geeinte Volk.

Mir braucht das Bild keiner mehr zu schenken. Solche Sachen schenke ich mir selber. Meine Familie - besonders die Herren Jungens - hat vielmehr alle Hände voll zu tun, um jedesmal zu Weihnachten an meinem Äußeren zu modellieren und mich allmählich etwas großstädtisch moderner zu machen. Auch das ist Schicksal für jede Generation. Einst haben wir als junge Leute unseren Vätern liegende Kragen und Röllchen abgewöhnt. Jetzt hänselt man uns wegen der hohen Stehkragen, bis wir die noch guten zwei Dutzend endgiltig wegstellen.. Schritt um Schritt bin ich vom "gemauerten Schlips" über die auch noch verächtlich angesehene "eiserne Fliege" hinweg zum seidenen Selbstbinder erzogen worden. Und wenn ich bei drei Grad Kälte mit den Herren Jungens ausgehe, darf ich es nur in modernen Halbschuhen mit geradezu lasterhaften Socken tun.
2. Dezember 1926 (Donnerstag)


14

Wo Bleichröder verkehrt - Das Lokal der Verkehrten - Berlins Erholung seit 1919 - Die Chaconne im Reichstag - Jeßner verballhornt Shakespeare - Staatspolitische Vereinigung - Politik und Geschäft - Alles auf Kredit.

"Gestern war Hans Bleichröder wieder hier und hat feste was ausgegeben."   "Ich denke, er lebt mit seiner geschiedenen Orska wieder zusammen ?"   "Na ja, aber deshalb kann er sich doch amüsieren."

Noch ein Bruchstück eines Gesprächs am Nebentisch:

"Da, eben kommt der Kriminal Wild, da muß sich Paule drücken!"   "Was hat denn Paule ausgefressen ?"   "Nichts, aber du weißt doch, er hat keinen Erlaubnisschein, Weiberkleider zu tragen."

Mir ist von allem der Schädel ganz benommen.

Im "feinen" Westen strömt nach Schluß der Vorstellung eines Variétés das Publikum in ein Lokal mit der lockenden Inschrift auf einem der vielen Reklameschilder: "Hier ist's richtig!" Ich ströme mit. Mal sehen. Aber ich sehe, daß fast nichts richtig ist, fast alles verkehrt. An der Bar im Vordergrunde des Tanzsaales steht Paule, ein junger Mann, in grünem Damenabendkleid, Perlen in den Ohrläppchen, Spangenschuhe mit Louis XIV.-Absätzen; und natürlich mit moderner damenhafter Frisur: Bubikopf, Herrenschnitt, geklebte 6 vor den Ohren. Paule trinkt unheimlich viel Cognac und Cocktails. Er ist also wirklich ganz moderne Dame; nur daß das Zahlen ein fremder "Kavalier" besorgt, das ist ein Rest aus der guten alten Zeit. Auf dem Tanzparkett winden sich inzwischen zwei Jünglinge in Männertracht umeinander, in normalem Smoking-Anzug; aber die beiden Jünglinge haben künstlich geblondetes und gewelltes Haar, sind gepudert und geschminkt, sehen wie getünchte Leichen aus; die Übelkeit steigt einem auf, man hat das Gefühl: jetzt müßte einer die Fenster aufreißen und diese parfümierten Gespenster hinaus in den Müllkasten werfen. Mehr noch: die ganze tanzende Gesellschaft. Da exekutieren ein Mädchen und ein Mann einen Tango, aber das Mädchen ist ein Mann und der Mann ist ein Mädchen. Man kennt sich schon nicht mehr aus. Ich sehe zur Kontrolle nach den Füßen der Paare, nach den Händen, nach dem Oberarmbizeps, wenn ein Oberarm - im Damenballkleid - entblößt ist, um daran festzustellen, ob gerade ein männliches oder ein weibliches Wesen an mir vorübergleitet, aber man wird irregeführt. Da gibt es Männer mit sachlanken Rehgelenken, Frauen mit derben Pedalen und Fäusten. Es wird einem ganz wirr. Und als ich bei einer - oder bei einem - völlig im Unklaren bin und, ganz auseinander, den Kellner befrage, antwortet der ganz gleichmütig: "Das is 'n Zwitter!"

Und dieses zwiegeschlechtige und falschgeschlechtige hat seine Zeitschriften, die in jedem Kiosk feilgehalten werden. Und ist in der Mehrzahl der Fälle doch weiter nichts als schändlicher Gelderwerb, Spekulation auf kranke oder überreizte Sinne meist sehr widerwärtiger alter Patrone, die hier an den kleinen Tischchen um das Tanzparkett herum ihren Sekt trinken. Kürzlich hat mir ein Ausländer, der nach sechsjähriger Pause wieder einmal Berlin besucht hat, begeistert erklärt, diese Umwandlung von dem Dreck und Verbrechen um 1919/20 zu der heutigen Sauberkeit und Ordnung sei eines der deutschen Wunder. Das ist richtig; die große Masse der Berliner ist ein arbeitsames Volk, das alles abzustreifen bemüht ist, was die Revolution an üblen äußeren Erscheinungen zurückließ. Nur wenn wir die frühere Zeit, die des Kaiserreiches, zum Vergleich heranziehen, dann erkennen wir allerdings, wieviel Sumpfgestank heute noch überall in der Öffentlichkeit uns den Atem verpestet.

Das muß dem braven Republikaner ausgeredet werden.

Und nicht nur ihm. Das ganze Volk soll diesen modernen Verwesungsgeruch auf allen Gebieten - lateinisch nennt man ihn den "foetor judaicus" - nicht nur nicht spüren, sondern im Gegenteil durch eine Umstellung des Riechorgans dazu erzogen werden, alle Pestilenz nur in dem "verruchten" alten System zu wittern. Dazu haben wir staatlich angestellte Beamte in Wissenschaft und Kunst und Literatur.

Ich liebe die Chaconne von Bach. Auf Joachims, Veczeys, Hubermanns, Kreislers Geige habe ich sie im Konzertsaal gehört, Rebner hat sie mir einmal für mich allein vorgespielt; schöner als je, ergreifender als je erklang sie schließlich am vorigen Sonntag beim Presseempfangstag in der Wandelhalle des Reichstags, wo eine in Berlin bisher unbekannte Künstlerin, eine gottbegnadete, den Bogen führte, Melanie Michaelis; auch in anderen deutschen Städten, zunächst in Stuttgart, wird man ihre stupende Technik und das Mitschwingen ihrer Seele demnächst zu spüren bekommen. Wenn aber ein richtiger Neudeutscher die Chaconne in die Hände bekäme, so würde er sicher sagen: spielen wir sie einmal als Shimmy! Natürlich kann man das. Man kann ja auch Cognac in 1893er Steinberger Kabinett gießen. Oder Bismarck zu einem kleinen Republikaner umlügen, wie es Herr Emil Ludwig-Cohn fertigbringt. Oder die eidgenössischen Bauern in Schillers Wilhelm Tell so veralbern, daß aus dem Drama ein antiagrarisches Agitationsstück wird. Man kann noch viel mehr, wenn man Jeßner heißt, zur herrschenden Rasse und stärksten revolutionären Partei gehört und Intendant unseres Staatstheaters ist. Dieses Staatstheater - schon neulich bei der Räuberaufführung ward es offenbar - ist nur noch Dichterverhunzungsanstalt. Die toten Großen können sich nicht dagegen wehren, daß man sie zu kleinen Faunen modelt, die der Monarchie die Zunge ausstrecken müssen. Jetzt ist sogar Shakespeare dieses Schicksal widerfahren. Die zünftigen Literaturhistoriker, die sich im Staatstheater den neu einstudierten Hanlet ansehen, sind baff: also dieser Shakespeare, wahrhaftig, ist ja ein richtiger Geistesvetter von Emil Ludwig-Cohn und hat den Hamlet nur geschrieben, um den monarchischen Gedanken mit Hohn und Wilhelm II. mit Unrat zu überschütten. Dieser Shakespeare predigt uns: wir sollen froh sein, daß wir in der wohlriechenden Ära Bauer-Barmat leben und nicht mehr unter der kaiserlichen Pestilenz.

Zu den stärksten Eindrücken, die ich aus dem neuen Buche des Kaisers "Aus meinem Leben" empfangen habe, gehört die Schilderung seiner eisernen und freudlosen Erziehung durch Hinzpeter. Wie der kleine Prinz, mit seinem durch ungeschickte Geburtshilfe des zugezogenen Arztes verkürzten und halbgelähmten linken Arm, in spartanischer Härte in jeden Sport hineingestoßen wird, gezwungen wird, es allen anderen gleichzutun, das ist das aufreizendste Kapitel in dem sonst so unterhaltsamen Buche. "Der Erfolg hat Hinzpeters Methode recht gegeben; aber bitter hart war der Unterricht, und mein Bruder Heinrich hat oft aufgeheult vor Schmerz, wenn er das Martyrium meiner Jugend mit ansehen mußte." Großartig, sagt sich nun Jeßner, da haben wir die Nuance! Und er gibt dem König in Shakespeares Hamlet, diesem Lumpen und Verbrecher einer wilden Urzeit, der den eigenen Bruder ermordet, dessen Weib - seine Geliebte - geehelicht, den Thron erschlichen hat und dem Brudersohn nach dem Leben trachtet, - einen halbgelähmten linken Arm. Er setzt ihn, in der Bühnenszene, in ein barockes Hoftheater, so wie es mit allem figürlichen Schmuck etwa ein Reinhold Begas entworfen haben könnte, gibt ihm ein modernes Zeißglas in die Hand und ihm und seinen Hofleuten, mit viel äh-äh und Geschnarr, karrikierte moderne Uniformen, streicht und verändert einem an sich schon unmöglichen Hamlet wichtige Stellen in Zwiesprache und Monolog und läßt die Ophelia als Kabarettluderchen darstellen.

Das müssen wir alles bezahlen. Das Staatstheater steht im preußischen Etat, der Etat beruht auf unseren Steuergeldern. Es ist eine Frechheit und ein Skandal. Dabei wird bis weit nach links hin Herrn Jeßner bescheinigt, daß diese Hamlet-Aufführung eine einzige Taktlosigkeit wider Shakespeare ist. Man hat die Inszenierung beklatscht. Im übrigen ist die Stimmung im Publikum trostlos grau gewesen. Wenn nicht die unglücklichen Abonnenten die bezahlten Plätze absitzen müßten, brächte es solch Jeßnerexperiment auf keine drei Wiederholungen.

Unsereins muß sich natürlich in der Kritik solcher Dinge vorsehen, denn die alte Freiheit gibt es nicht mehr, das Staatstheater ist eine republikanische Einrichtung, und ein findiger Staatsanwalt könnte von mir behaupten: den Sack schlägt er, den Esel meint er. Andere, demokratisch eingestellte Leute sind klüger als ich, die stellen sich einfach "auf den Boden der Tatsachen" und nutzen die Tatsachen, auch den neudeutschen Sumpf, nach Kräften aus. Die können auch offener sprechen. Die können sogar, ohne daß sie auf Grund des Gesetzes zum Schutze der Republik belangt werden, erklären, daß unsere Politiker käuflich seien und gekauft werden müßten. Ganz wie in Amerika, dem republikanischen Vorbild. Siehe Tammany Hall mit Tweed und Kelly und Croker und den anderen Nutznießern der Korruption. Nur darf man es bei uns nicht Columbian Order oder Tammany Hall nennen, sondern man sagt: Staatspolitische Vereinigung. Vor kurzem wurde im Hotel Continental deren Gründung vorgenommen. Als Oberhaupt nach außen ist Luther ausersehen, denn diesem Luther traut niemand etwas Schlechtes zu. Macher aber sind Hamm, Bücher, Duisberg, Grünfeld, Witthoeft, Silverberg (der Große-Koalitions-Silverberg) und andere "starke Männer" von erprobt demokratisch-liberaler Gesinnung. Und nun, meine verehrten Zeitgenossen, wollen wir hören, was Geheimrat Duisberg bei der Gründung gesagt hat:

"Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß es in jedem demokratischen Staat anfangs immer so gegangen ist. In Amerika hat man die Lösung gefunden, wie wir sie heute annehmen wollen. Dort wird die ganze Politik von einem Gremium von Wirtschaftlern gemacht; vor jeder größeren Frage kommen sie zusammen, sprechen sich aus und setzen dann die Richtlinien fest, nach denen sie arbeiten. Da muß ich nun einen Punkt berühren, der von großer Bedeutung ist: das ist die Geldfrage. Wo wir einwirken können und müssen, das ist die Parteipolituik. Und was ist zur Durchsetzung unserer Gedanken nötig ? Geld! Das war auch die Frage in Amerika, und da hat man die nötigen Summen aufgebracht. Mit der Vernunft auf die Parteien einzuwirken, habe ich aufgegeben. Alle Schwierigkeiten lassen sich nur überwinden durch eine planmäßige Beeinflussung."

Klarer könnte auch ein amerikanischer Boß nicht sprechen, deutlicher kann man seine Verachtung der Parlamentarier nicht kundtun. Und weil dies ein so lichtvolles Zeichen der Zeit ist, rette ich es aus der Verschwiegenheit der Gründerversammlung in meine zeitgeschichtlichen Betrachtungen. Es ist noch gar nicht so lange her, daß unser ganzes Volk sich entsetzte, als ein deutsches Gericht dem Abgeordneten Erzberger "Vermischung von Politik und Geschäft" vorwarf, aber inzwischen scheint man solche Vermischung ja als natürlich zu empfinden, als zum Wesen eines demokratischen Staates gehörig, wie Duisberg bekennt. Ob aber das "Gremium" der Eingeweihten wirklich, um nach außen hin gedeckt zu sein, eine Fülle von Namen unverdächtiger führender Männer als Unterschrift erhält, erscheint mir doch zweifelhaft. Am 15. Dezember soll die zweite, erweiterte Versammlung stattfinden, diesmal im Russischen Hof, wie ja überhaupt bei solchen Geschäften der häufige Aufenthaltswechsel ganz praktisch ist. Sehen wir also zu, was die Parteien zu ihrer Einschätzung sagen. Sehen wir zu, an welcher Partei die erste "Einwirkung" bemerkbar wird.

Jetzt in der Weihnachtszeit macht dergleichen freilich kein großes Aufsehen. Man ist mit anderen Dingen beschäftigt. Auch der politischeste Politiker muß mit seiner Frau vor Schaufenstern stehen, in Läden gehen, Geschenke einkaufen. Man braucht allerhand. Vor allem so eine kleine weiße Personenwaage, um täglich morgens im Badezimmer sein Gewicht festzustellen; das ist heute wichtiger als Kaffeemühle oder gar Puddingform. Man muß auch die eigene Fassade in Ordnung bringen, braucht Anzüge, Schlipse, Strümpfe. Was das Herz begehrt, sogar die greulichen sogenannten Rauchtischchen, die nur ein Nichtraucher erfunden haben kann, und die Zigarren selbst und die Bücher und die Teppiche und das Parfum und den Fön und die Spielsachen und das Klavier: alles kann man auf Pump haben. Die wirkliche Kaufkraft ist nach wie vor ganz schwach, 1926 wohl noch schwächer als 1925, aber der Kredit auf einmal üppig. Ungezählte bisher sorgsam rechnende Leute sind wie umgewandelt. Sie machen sich nicht klar, daß Zins und Risikoprämie in den einzelnen Abzahlungsgeschäften oder Kreditorganisationen sie mit 12½ bis 16 Prozent belasten. Sie zahlen also einen ungeheuren Tribut für ganz Leichtfertige mit. Und sie selber kaufen auch nicht immer sozusagen Anlagewerte, eine Schreibmaschine, einen Anzug, ein Kinderbett, sondern manches aus dem Gebiet der bis dahin nur "kühnen" Wünsche. Oder nehmen laufenden Unterhalt auf Kredit und verjuchen dafür laufende Einnahmen. Mit seinem Kreditschein in der Tasche, der ihn für sechs Monate zum Sklaven macht, kauft ein junger Bekannter von mir dieser Tage sich ein neues Grammophon und ein Dutzend anderer überflüssiger Dinge, faßt mich dann unter den Arm und sagt: "Was soll das schlechte Leben, frühstücken wir mal bei Dressel!" Halb Berlin ist um Weihnachten 1926 so berauscht. Den Katzenjammer um Ostern 1927 kann man sich vorstellen.
9. Dezember 1926 (Donnerstag)


15

Großreinemachen - O diese Nippessachen! - Alte Schmöker - Auf dem Weihnachtsmarkt - Gegen den Christbaum - Theodor Lessings Adventsvortrag - Modekönigin.

Die Michaelis hat ein Buch über das gefährliche Alter der Frau geschrieben. Es gibt aber auch gefährliche Monat der Frau in jedem Jahr. Überschrift: Großreinemachen! Alles rennet, rettet, flüchtet. Dienstmädchen und Putzfrau klappern in Holzpantinen durch Wasserfluten, gegessen wird im Kinderzimmer, Mäntel liegen unter Stuhlpyramiden, das Klavier gallopiert eine steeple chase durch mehrere Stuben, Schränke neigen sich wie bei einem Erdbeben, und alle Eingeweide der großen Wohnhöhle werden bloß. Ganz furchtbar ist solch Reinemachen in der Großstadtbehausung. Da schickt der Mieter von unten herauf, er sei herzkrank und könne das Möbelgerücke nicht vertragen; da läßt der Mieter von nebenan, weil der Staubsauger so brummt, sagen, gewerbliche Maschinen in Privaträumen seien polizeilich verboten. Und doch lobe ich mir das Großreinemachen, denn es ist immer eine partielle Erlösung von Unnützem. In jedem normalen deutschen Hause befindet sich doch eine Porzellankatze mit geleimtem Schwanz und abgestoßenen Ohren oder sonst eine blödsinnige "Nippessache", die nur dasteht, weil Tante Frieda sie mal geschenkt hat. Gott sei Dank, bei irgendeinem Großreinemachen geht die Katze vollends in Scherben. Diesmal hat Lucie, "unsere Neue", die große tönerne Vase zerschlagen, das sinnlose Ungetüm, um das sich eine unmögliche Nixengestalt im Jugendstil von 1900 rankte. Ich habe noch nie ein Dienstmädchen so holdselig angelächelt wie nach dieser Katastrophe; das Mädchen hielt mich für verrückt.

Aber der Mann und Hausherr darf nicht denken, seine Aufgabe beim Großreinemachen sei erfüllt, wenn er knurrt, es sei so ungemütlich im Hause, oder wenn er droht, er werde jeden erwürgen, der auf dem Schreibtisch etwas anfasse. Das sogenannte Studierstübchen, wenn es noch so ist, wie Goethe es schildert, mit angeraucht' Papier und Urväter Hausrat bis ans Gewölb' hinauf, ist der ewige Kummer der ordentlichen Frau. Da muß also auch der Mann seinem Herzen mal einen Schub geben und seinem Bücherschragen. Ich habe jetzt zweieinhalb Zentner Bücher ausgesondert und als Altpapier weggeschafft, zum erstenmal seit Jahrzehnten, Bücher, die ihre Aufgabe für meine innere Entwicklung erfüllt haben und nicht mehr nötig sind. Da ziehen die religiösen Kämpfe der Jugendzeit - "es ist ein köstlich Ding, daß das Herz fest werde" - noch einmal an mir vorüber: von der Frage nach Real- oder Verbalinspiration der Bibel, um die der Knabe rang, bis zum Babel-Bibel-Streit der späten Mannesjahre. Erledigt. Da quillt ein Haufe von Büchern und Broschüren volkswirtchaftlichen Inhalts herfür, "Die Getreidepolitik der Päpste", "Die nationalökonomischen Anschauungen der Reformationszeit", "Staffeltarife", "Antrag Kanitz", "Terminhandel" und dergleichen. Erledigt. Da finde ich alte Wassersportkalender, in die der Gymnasiast seine ersten Wanderfahrten auf der Oder und übers Haff eingetragen hat, da finde ich einen ganzen Stoß von Felddienstordnungen, Schießvorschriften, Exerzierreglements, Beiheften zum Militärwochenblatt, Streitschriften von General Rohne über das Geschütz der Zukunft und allerlei Kriegsphantasien aus den neunziger Jahren, da finde ich ein jetzt schon reichlich unmodernes dickes Buch von Professor Biedert über Kinderernährung, das ich einst als werdender junger Vater durchstudiert habe. Erledigt. Man muß mal durchforsten. Seit der Kaiser es im Berliner Tiergarten getan, seit es da wieder Licht und Luft und Durchblicke gibt, ist der schöne Park der Reichshauptstadt noch einmal so schön; und ähnlich geht es mir jetzt nach dem Großreinemachen mit meiner Bücherei. Es steht nichts mehr in Schichten hintereinander, jedes Buch fällt mir mit dem Rückenschild direkt ins Auge, alles ist greifbar und benutzbarer geworden.

Also da wäre man nach dem letzten Reinemachen des Jahres für Weihnachten gerüstet. Es wird einsamer, wenn einzelne der "großen" Kinder nicht mehr die Familie um den Christbaum wie sonst vollzählig machen, sondern in Oberbayern oder Ostpreußen Weihnachten feiern. Als fremder Nachwuchs ist nur der Pflegling da, der im Vorjahr in Neapel aufgelesene und jetzt völlig elternlose kleine Auslandsdeutsche. Der freut sich noch an dem wiedererstandenen Weihnachtsmarkt draußen auf den Plätzen. Es gibt wieder allerhand für 10 Pfennige wie in der guten alten Zeit. Es gibt wieder Wunderkerzen und Holzpüppchen und Waldteufel, es ist fast ein Stückchen Kleinstadtzauber in Berlin eingezogen. Man sieht auch wieder die Zilleszenen im Publikum, wie Schwesterchen dem Brüderchen mit dem Taschentuch die Nase umfaßt, Brüderchen aber nicht losschnaubt und daher angepfiffen wird: "Stell' dir nich so dämlich an, hast doch zwee Löcher in de Neese!" Unermüdlich und lungenkräftig preist ein Verkäufer seine "gänzlich steuerfreien" Hunde an, die einen kleinen Sprung oder Rumpler machen, wenn man auf den Gummiball drückt. Aber gereimt muß die Reklame sein, sonst zieht sie nicht, also reimt der Ausrufer auf berlinisch los:

"Jeda Hund hier funxioniert,
Alle werden vorjeführt,
Hopsa, hopsa, Katharina,
Der Hund is wieda bei de Hühna!"

Derselbe Mann verkauft aufgeblasene Puppen aus leichtestem Kinderballongummi, schlanke Dämchen in Badetrikot, und ruft dazu: "Fräulein Ederle, die den Kanal durchschwomm' hat, drei Mark kost' se, das is se doch wert, nich ?" Er muß sich tummeln, der Mann, denn nebenan ist die größte Attraktion, das echt oberbayrische Holzhäuschen mit einem Laden für "Tiroler Alpenkräutergebäck", ein Häuschen mit zwei Schlafzimmern und Küche außer dem Laden, das die Familie von Messe zu Messe auseinandergelegt mitnimmt. Es ist natürlich ganz aus Holz, ist blauweiß gestrichen und hat an der Giebelwand sogar einen putzigen kleinen Balkon mit Schnitzwerk und lebenden Topfblumen. Aus dem Häuschen dringt Grammophonmusik, "Stille Nacht, Heilige Nacht" und so; auch das macht - kauflustig. Davor steht der Inhaber in Gebirgstracht mit dem Gamsbart auf dem Hütl, seine Frau hat alle Hände voll mit dem Verkaufen zu tun, und die Kinder des Ehepaares helfen dabei, die mit ihren Müttern andrängenden Berliner Kinder zu befriedigen.

Leider ist nur Weihnachten nicht erst eine Errungenschaft von 1918, sondern ein Überbleibsel vom alten System und muß von zielbewußten Genossen den Kindern daher verekelt werden. Vor mir liegt die neueste Nummer der Vorwärtsbeilage "Der Kinderfreund", worin die Anleitung für das richtige sozialistische Zeremoniell zu Weihnachten gegeben wird. Man findet da neben lehrhaft Gutem auch eine Fabel vom kapitalistischen Wolf und den proletarischen Schafen, die er auffrißt, weil das Sittengesetz nur für sie gelte, nicht für ihn. Und man findet da eine Philippika gegen den strahlenden deutschen Tannenbaum, weil er erstens "Sinnbild des christlichen Weihnachtsmärchens" sei und zweitens in seiner bis zum Stern ganz oben spitz zulaufenden Form Sinnbild - des früheren monarchischen Staates. Jetzt gebe es keine Spitzen mehr. Jetzt seien wir alle gleich, also hinaus mit dem Baum wegen seiner antirepublikanischen Tendenz! Der rechte Sozialdemokrat soll statt dessen einen runden Tannenkranz "ohne Anfang und Ende" in der Stube aufhängen und lustig rot bebändern.

Wenn die Masse so bearbeitet wird, haben die landfremden Verführer es leicht. Die ganze Atmosphäre in Berlin ist so von Dunst geschwängert, daß ein bißchen mehr oder weniger Gift kaum mehr auffällt. Man atmet schwer, aber man atmet; und man merkt es nur selten, wie einem die seelische Lunge verpestet wird. Manches ist wirklich nur in Berlin möglich, so jetzt der Adventsvortrag des in Hannover von Studentenschaft, Professorenschaft, Bürgerschaft an die Luft gesetzten Herrn Theodor Lessing. Dieser Jugendbildner und Professor der Philosophie ist nicht das, was unsereins sich unter einem Philosophen vorstellt, sondern nur das, was seine Leute einen "geistvollen Plauderer" nennen. Er ist nicht Geist von unserem Geist. Da hat Lessing beispielsweise für seine Studenten eine Studie "Zur Psychologie des unvermittelten Kusses" verfaßt, worin er eine lange Versuchsreihe beschreibt; etwa schildert, wie ein junges Mädchen in Begleitung seiner Eltern in ein Gartenlokal kommt, wie er es mit stechendem Blick fixiert, wie das junge Ding unter dieser Belästigung unruhig wird, wie es dann aufsteht und gleichzeitig er, der noch immer diesen Versuch hypnotischer Beeinflussung fortsetzt, kurz, es ist ekelhaft. Und nun haben wir dieses behaarte und bejahrte Männchen selber gesehen! Ein kleines Plakat an allen Anschlagsäulen Berlins hat gelockt. Die Gesellschaft für Sexualreform lädt zu einem Vortrag des Professors Theodor Lessing ein: "Katze und Hund in der Menschenseele oder die zwei Grundtriebe des Lebens". Schon diese Zusammenstellung riecht nach Mache. Die psychologischen Grenzgebiete zwischen Tier und Mensch lassen sich anders umschreiben. Aber nun erst recht strömt sein Publikum hin, um Lessing auf dem ihm eigenen Grenzgebiet balanzieren zu sehen: zwischen berühmt und berüchtigt. Im Bürgersaal des Rathauses seine Leute; alle Gesellschafts- und Altersklassen; viele Tauentzienpflänzchen. Sein Publikum; Fleisch von seinem Fleische und Geist von seinem Geist. Er selbst, dieser haarige Erich Mühsam-Typ, scheint zuerst, während der Einführungsrede des Vorsitzenden, etwas unsicher die Hörerschar zu mustern, schaut aus bleichem Gesicht zwischen breiten hohen Schultern lauernd in die Runde, ob nicht am Ende arisch-studentisches Jungvolk da sei. Dann atmet er auf. Nein, hier ist reine Luft, reine Tauentzienluft. Ganz ungehemmt, wenn auch leise, etwas bedeckt, etwas mokant, etwas in - unmännlichen Lagen, kann Lessing sprechen, ungehemmt und voll Haß gegen alles, was uns aus Jahrhunderten festgefügt überkommen ist. Er "will vorspielen eine Etude auf dem Gedankenklavier", nicht ein Capriccio, sondern "ein philosophisches System", ein "Schlüsselchen zum Geheimnis des Weltalls" zeigen. Eros! Mensch und Tier! Unter den Tieren: Hund und Hühner! Der Hühnerhof sei ein Abbild der menschlichen Gesellschaft; die Hähne erinnerten an unsere Offiziere, Korpsstudenten, Assessoren, die Hennen an die deutschen Bürgerfrauen mit ihrem engen Horizont. Lessing hat zwei Tiere großgezogen, einen Hund Bob und eine Katze Natt, und er hat alle triebhaften Tätigkeiten dieser Tiere, auch "in punkto Liebe", aufgezeichnet. Dabei ist ihm, sagt er, der Gedanke gekommen, wie staatsklug Jesus sich gegenüber Maria und Martha aus der Schlinge gezogen habe, indem er die tätige Martha anerkannt, aber von der anbetenden Maria gesagt habe, sie habe das beste Teil erwählt. Und weiter sagt Lessing: hätten die beiden Frauen ihn vor die Wahl gestellt, eine von ihnen zu heiraten, so würde er sich auch da mit einer passenden Antwort aus der Schlinge gezogen haben.

Genug. Das ist die geistreichelnde Manier, alles herunterzuziehen. Mit ähnlicher Witzelei hat Lessing ja auch den Feldmarschall v.Híndenburg psychologisch seziert. Heute sind diese Lessinge Führer. Aufgedrängte Führer. Gleich nach der Revolution fing es damit an, daß man einen Herrn Krakauer zum Direktor des staatlichen Erziehungshauses in Lichterfelde machte, über den Stamm preußischer Kadetten setzte. Heute geht es gegen die Studenten. Das gleiche Werk setzt die Sozialdemokratie an den Proletarierkindern fort. Irgendwo ist ein Draht, den wir nicht sehen; an diesem einen Draht wird alles gezogen.

Wie ich mir das so überdenke, da schrillt das Telephon. "Wollen Sie mir nicht einmal ausnahmsweise vorher erzählen, was Ihre Leser erst Ende der Woche erfahren ? Sagen Sie mal, sind Sie nicht auf dem Ball der neuen Modekönigin gewesen ?" Nein, meine Gnädigste, ich habe nur mit einem halben Auge hingeblinzelt, dageblieben bin ich nicht, ich wußte auch so schon Bescheid und konnte mir das entsetzliche Gedränge dieser Wahlversammlung in nüchtern schmucklosem Raume ersparen. Die Wahl der "Königin" ist Parteisache, Firmensache, Geldsache geworden. Für die Gewählte ist es natürlich das große Los. Die des vorigen Jahres hat, wie ich höre, einen reichen Amerikaner geheiratet. Die diesjährige ist erst kanpp siebzehn Jahre alt. Viele werden sagen, es gebe anmutigere Mannequins in Berlin und in Deutschland. Ich enthalte mich jedes Urteils, auch über den Trick im Wahlkampf, dieses Mädchen möglichst wenig bekleidet auf das Podium zu stellen. Ich konstatiere lediglich, daß es ein Machtkampf zwischen unseren Konfektionsfirmen war, deren jede mit dem nötigen Eintrittskartengelde ihre Gefolgschaft aufgeboten hatte. Im Endkampf blieben nur die Firman Gerson und Friedländer; Gerson siegte, nicht das unbeträchtliche kleine deutsche Fräulein aus seinem Modeatelier.

Vielleicht schreibt nächstens einer ein Buch über den weißen Sklavenmarkt.
16. Dezember 1926 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts