"Rumpelstilzchen"

Berliner Funken
(Jahrgangsband 1926/27)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1927

Glossen 19 - 21
13. bis 27. Januar 1927


19

Der falsche Prinz - Im Barmat-Prozeß - Thea v. Harbous "Metropolis" - Hugenberg - "Die Sporckschen Jäger" - Zwischen Kostümball und Inventurausverkauf.

Man schmunzelt nicht nur in ganz Thüringen; abgesehen von denen natürlich, die für den Spott nicht zu sorgen haben, weil sie auf den falschen Prinzen Wilhelm hereingefallen sind. Man schmunzelt erst recht in Berlin, denn hier, in Berlin-Köpenick, ist doch das deutsche Urbild solcher Gaunerei gewesen, der Schusterhauptmann Voigt. Auf den ist seiner Zeit der demokratische Bürgermeister Langerhans hereingefallen, hat ihm die Köpenicker Stadtkasse ausliefern und sich selbst verhaften lassen, alles aus Ehrfurcht vor dem heiligen Kommiß, obwohl der Schuster Voigt als Hauptmann ohne Sporen, mit falscher Kokarde und nicht im Dienstanzug erschien. Der Voigt ließ sich nachher für Geld im Passagepanoptikum sehen; er sah wahrhaftig nicht wie ein Hauptmann aus, ein Hauptmann noch dazu vom Ersten Garderegiment zu Fuß. Nun sind diesmal alle Honoratioren von Heidelberg bis Weimar auf den jungen Gauner aus Kurland aufgesessen, der es nur mit "gewinnender Liebenswürdigkeit" gemacht hat. Etwas anderes haben auch wirkliche Hohenzollern heute ja nicht zu vergeben, es ist also nicht mehr so, daß die Presse der Linken schreiben könnte, die Stellen- und Ordensjäger hätten sich wieder einmal herankristallisiert. Sogar ein Theaterintendant in Gotha - solche Herren pflegen heute Republikaner zu sein - hat den "Prinzen" zu einer Festvorstellung in die Rangloge eingeladen.

Die Nichtsalsrepublikaner tun so, als hätten die Royalisten sich gräßlich blamiert. Wirklich ? Das Lachen klingt hohl. Denn was zeigt uns der Fall ? Daß auch in dem neuen Deutschland, in dem ganz andere Gewalten die Gnadenspender sind, ein Nichtsalsprinz überall offene Herzen und Hände und Geldbeutel findet. Mich dünkt, eine größere Blamage konnte die achtjährige Republikanisierung des deutschen Volkes nicht gut verzeichnen.

Man kann noch von Glück sagen, daß dieser junge Beutelschneider - sein Urvorgänger hieß übrigens Casanova - nicht auch noch Ehrgeiz besessen hat. Wie, wenn er mit ein paar Leuten in Uniform angekommen wäre ? Ganze Regierungen hätte er verhaften können! Wir wissen ja noch alle, wie Bauer und Ebert und Genossen einst vor Ehrhardt ausgerissen sind. Das ist es ja eben: allen den Leuten fehlt die große Leidenschaft des überzeugten Republikanertums, wie wir es aus der Geschichte Roms etwa kennen. Es sind kleine Geschäftemacher, die sich manchmal noch so unsicher fühlen, als seien sie Erbschleicher der verstoßenen Monarchie und sonst nichts. Leider ist nur bei dem Geschäft das deutsche Volk um Millionen und Milliarden geschädigt; und, was das schlimmste ist, um seine Moral gebracht. Ich komme gerade aus dem Barmat-Prozeß in Moabit. Da redet und redet wie ein Wasserfall der Hauptangeklagte und mimt wahrhaftig den großen Wohltäter Deutschlands, obwohl er sein Verderber war. Er weiß: die heute Mächtigen in Preußen stehen hinter ihm. Denn mit ihm müssen sie siegen oder fallen. Und es ist erschütternd, wenn der Oberfinanzrat Hellwig sein Bekenntnis ablegt, die Staatsbank habe die seither verlorenen Millionen dem "staatenlosen" russisch-jüdisch-holländischen Finanzgenie nur deshalb bedenkenlos zur Verfügung gestellt, weil - ein einzig dastehender Ausnahmefall - der bisherige deutsche Reichskanzler, Bauer, und der sächsische Gesandte in Berlin, Gradnauer, ihm ein glänzendes Einführungsschreiben mitgegeben hätten. Nach Deutschland hatten Otto Wels und Müller-Franken, die Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei und der sozialdemokratischen Fraktion, im Frühling 1919 diesen Mann gebracht und ihn alsbald Ebert präsentiert, mit dessen Photographie "mit eigenhändiger Widmung" Judko Barmat demnächst renommierte. Seine Familie, fälschlich als Mitglieder der Diplomatie angegeben, erhielt unter Severings, des roten Innenministers, Patronat die Einreiseerlaubnis, Scheidemann und Frau ließen sich von ihm im Seebad Zandvoort wochenlang füttern, der rote Polizeipräsident Richter sich beschenken, der Sohn Eberts sich anstellen, und der im Landtag allmächtige rote Heilmann lancierte seinen "Freund" Barmat weiter, wo er nur konnte. Daß so etwas die Moral der nachgeordneten Beamten korrumpieren muß, ist klar. Wer wagt es, einem Barmat etwas abzuschlagen, wenn die Allmacht hinter ihm steht ? Nur der deutsche Richterstand, der vielverlästerte, steht noch aufrecht. Vor ihm nützt Herrn Barmat alle Zungengeläufigkeit nichts. Vielleicht wird er - sogar bestraft. Auf der Anklagebank der Geschichte aber sitzen ganz andere Leute, eben diejenigen, die ihm die Leiter bei seinem Raubzug gegen deutsches Volksvermögen und deutsche Beamtenehre gehalten haben.

Was ist das für die "Staatenlosen" ? Nichts, gar nichts. Die Barmatdamen sitzen stolz und geschwollen im Verhandlungsraum selbst. Natürlich in kostbarem Persianer. Nun sieht man erst recht, daß sie unterlebensgroß sind, wenigstens in vertikaler Richtung. Ebenso sorglos schaut Herschel Barmat daher, der Bruder des Großen. Was könne ihm viel geschehen ? Nichts, gar nichts. Diese Leute kennen nur zwei Nationen: Millionäre und Bettler. Die zweite verließen sie schon als ganz junge Menschen und sie werden nie mehr wieder in sie versinken.

Wenigstens solange es eine Sozialdemokratie bei uns gibt.

Die hat, um das Volk dummzumachen, ihre Presse. Und ihre Volksversammlungen. Und ihre Flugschriften. Und ihre - Filme. Ja, auch die; soweit sie nämlich, auch von "Bürgerlichen" verfaßt, nicht dem nationalen Gedanken dienen, sondern, vielfach unbewußt, in sozialer Sentimentalität plätschern. Mit Gefühlen verwirrt man aber nur. Ich gestehe gern zu, daß Thea v.Harbous und Fritz Langs "Metropolis" mich erschüttert hat; wir haben ja soeben die "Welturaufführung" dieses Riesenfilms erlebt. Wer die Sammelbände meiner Berliner Briefe besitzt, der mag - ich glaube, es ist drei Jahre her - da nachschlagen, was ich von der Harbou selbst und ihrer Lebensgeschichte erzählt habe. Eine fabelhafte Frau. Eine lodernde Flamme, wärmend und leuchtend; ein tiefes Herz voll unergründlicher Phantastik; und ihr Schauen ist schon fast nicht von dieser Welt. Das Reale von heute wird für sie zum Märchen, und das Märchen von übermorgen sieht sie realistisch. Derweil bändigt für sie ihr Mann mit unerhörten Mitteln das schier Unerreichbare, denn er ist Maler und Herrscher, Sinnierer und Eroberer. Beider "Metropolis" ist ein Werk, wie es noch nicht da war. Kein Dante könnte das Inferno der Maschinenfrohn so schildern. Damen fallen in Ohnmacht, wenn sie den Moloch mit dem geöffneten Feuerrachen sehen, in dem Maschinen die arbeitende Menschheit zermahlen, die in langem Zuge der Todgeweihten hineingezogen wird. Es gibt ein bekanntes Bild: "Das Gefühl der Abhängigkeit". Da steht der gefesselte Mensch vor dem Riesenmaul des lauernden Untiers. Das Bild ist grauenvoll, aber doch tot. Hier aber lebt alles, hier stampfen die Kolben, kreisen die Schwungräder, zucken die Blitze, hier ist der Mensch an die Tretmühle gekettet, die ihn zermalmt, wenn er auch nur einmal im Schuften innehält. Das ist von einer grandiosen Eindringlichkeit. Das ist unendlich viel aufreizender als der ganze "Potemkin"-Film. Dazu noch der Gegensatz: die Goldene Jugend des Unternehmertums hoch oben in der Sonnenstadt mit lockenden Blumenmädchen. Nun läßt Thea v.Harbou die Arbeiter sich empören, um den Dämon Maschine zu zerschlagen. Die Welt birst auseinander, aber auch die unterirdische Wohnwelt der Arbeiter wird ersäuft. Über den Trümmern - die Kinder der Arbeiter hat die holdselige "Maria" gerettet - legt die Güte die Hände von Arbeiter und Unternehmer in einander. Lasset das Herz sprechen, nicht nur das Hirn, predigt Thea v.Harbou. Das ist - Kitsch, wird man ihr antworten. Das ist für ein längst begrabenes Publikum geschrieben, das noch "Onkel Toms Hütte" las. Und die ganze Idee erinnert an das ebenso altmodische "Über unsere Kraft" Björnsons, wo die Leute aus der Unterwelt, aus der sonnenlosen Schlucht, die Welt des Herrentums in die Luft sprengen und nachher die sanfte Predigt eines jungen neuen Menschenpaares über Versöhnung sich anhören. Darüber lacht heute jeder Klassenbewußte. Maschinen sprengen ? Welche Dummheit! Nein, nicht die Maschinen totschlagen, sondern die Unternehmer! Und sie dann beerben, mitsamt Maschinen und Blumenmädchen. Also "Metropolis" ist der grandioseste, aber auch aufreizendste Film, den je unsere Zeit gebar. Eine Dichterin von ungeheuer suggestiver Kraft hat den Maschinenmenschen entdeckt und will den Herzensmenschen uns schaffen. Aber wie eine Schlafwandlerin geht sie durch das wirkliche Leben.

Solche gigantischen Herrenmenschen voll äußerster Nichtachtung des Sklavenmenschen gibt es nur in der Phantasie. Es gibt kleine filzige Krämer. Es gibt kleine grausame Zwischenmeister. Die wirklich Großen aber haben Seele und Intellekt genug, um zu wissen, daß die Symphonie der Gesamtarbeit nur dann etwas wert ist, wenn sie gemeinsames Glück fördert. Nicht umsonst haben gerade die Könige der Industrie stets das größte soziale Verständnis gehabt. Leute wie Krupp in Deutschland, Leute wie Ford in Amerika. Mag sein, daß Thea v.Harbou noch keinem von ihnen begegnet ist; außerdem reizt sie als Dichterin der verstärkte Kontrats, deshalb schildert sie das Raubtier von Renaissancemaß. Ich habe gar manchen aus dieser Welt persönlich kennen gelernt. Kurz vor dem Kriege, im Januar 1914, auch den Mann, der heute zu einer legendären Figur zu werden scheint, zum Prototyp dieses Herrenmenschen, den damaligen Generaldirektor Krupps, den Geheimrat Hugenberg. Thea v.Harbou würde sich wundern: Güte ist der tiefinnerste Grundzug seines Wesens, vornehme Güte. Das ist aber nicht Gefühl bei ihm, sondern Wille. Es ist eine stahlharte Güte, die standhält, die von schärfstem kritischen Verstande geleitet, von lohender Liebe zu Deutschland bestimmt wird. Die rote und rötliche Presse macht ihn zum schwarzen Manne. Was er wirklich ist, das kann die Menge jetzt aus seinen "Streiflichtern" erkennen, dem soeben bei Scherl in Berlin erschienenen Bande seiner gedruckten und ungedruckten Aufsätze. Da ist Herz und Hirn vereint. Da kann man sich ein Bild davon machen, wie ein großer Wirtschaftsführer sein Leben lang sich um unser Volk zersorgt hat; und wieviel Elend wir vermieden hätten, wenn wir einem solchen Kopfe gefolgt wären statt den großen Mäulern. Ein aufrüttelndes Buch. Ein gewaltiges Dokument. Und doch auch ein wunderlich liebes, merkwürdiges Buch, schon in seiner Anordnung, indem es das Jüngste aus der Gedankenwerkstatt, alles von 1926, darunter umwälzende staats-, wirtschafts- und sozialpolitische Vorschläge, gleich zu Beginn bringt und dann immer tiefer in die Vergangenheit steigt, bis zu dem einzig rein persönlichen, dem innigen Gedicht von 1883 auf den toten Vater. Es ist fast hausbacken. Freilich: auch Friedrich dem Großen genügte es nicht, Feldherr zu sein, sondern er mußte Verse machen. Was aber zwischen 1926 und 1883 steht, das ist ein wundervolles Arsenal voll blitzender Gedankenwaffen für unsere Zeit, die nur noch das hohle Rasseln kennt. Ich habe zehn Exemplare von Hugenbergs "Streiflichtern" daheim. Eines kommt zwischen Helfferich und Bismarck auf das Regal. Da gehört es hin. Die anderen verschenke ich. Und viele tausende, wünschte ich, würden von ganzen Männern gekauft. Wir gehen nicht unter, sagt Hugenberg, an Männern hat es uns nie gefehlt, nur - an der Phalanx von Männern.

Wir sind noch zu sehr mit dem kleinen Alltag beschäftigt. Das ist so die Welt zwischen Kostümball und Inventurausverkauf jetzt im Januar. Natürlich gehöre ich auch zu denen, die der Alltag umherquirlt, auch wenn ich gelegentlich meine große Erhebung habe. Eine junge Dame hat mich da sehr nett vor mir entschuldigt. Sie flog aus den Armen ihres Tänzers in die meinen und meinte schelmisch: "Junger Wein macht schnell trunken, aber alter Wein ist feuriger!" Das ist ungefähr so auch das Gefühl des Oberförstertöchterchens in dem neuen Film "Die Sporckschen Jäger", als es den Flirt mit einem faden Leutnant des Bataillons Sporck ausgestanden und sich zu einem prächtigen reiferen Menschen, dem Hauptmann, gefunden hat. Kein Wunder: es ist Otto Gebühr. Auch das ein Mensch, der durch Klugheit und Güte gewinnt. Die Aufführung wird überlaufen. Unter den Militärfilmen der letzten Jahre, die unser angeblich pazifistisch-republikanisches Volk so liebt, sind "Die Sporckschen Jäger" der uranständigste und echteste und poetischste.

Und nun zu den Ausverkäufen, die diesmal, zum ersten Mal seit dem Kriege, ein großes Geschäft, wenigstens in Berlin, geworden sind. Alle Welt ist zufrieden. Sogar mein alter Zeitungsverkäufer an der Ecke. "Jroßartig, für eene March fuffzich det Paar Stiebel!" Was, für anderthalb Mark ? Also Holzpantinen ? "Ach wat, Holzpantinen! Alles richtig, vorne Leder, hinten Leder, oben Leder, unten Leder! Sehnse doch!" Und er hebt sein Bein hoch. Wahrhaftig: Stiefel, die sonst gut und gern 12 Mark kosten, prima Ware.

"Bloß eene kleene Sache is nich janz richtig; der rechte und der linke Stiebel haam vaschiedene Jröße."
13. Januar 1927 (Donnerstag)


20

Der arme Napoleon - Unser Rundfunk - Die neueste Volkshochschule - Black bottom - Polizeistrafen für Ansprechen auf der Straße - Mady Christians und die Männer - Erotik oder Jagdleidenschaft ? - Der Pessimist und der Optimist.

"Der arme Napoleon!"

Etwas verblüfft folge ich den Blicken der Dame, die in unserer Halle eben diesen Seufzer ausgestoßen hat. Richtig, da hängt er an der Wand. Die bekannte Totenmaske. Das Ding hängt da schon seit über zwanzig Jahren, weil es ein Geschenk ist, das ästimiert zu werden verlangte, wird aber demnächst endlich wegkommen. Wenn irgend jemand es für einen Polterabend haben will, soll er es haben; zum "zertöppern" natürlich. Man ärgert sich schon lange genug, daß die Leute immer sagen: "Was haben Sie da für einen interessanten Schillerkopf!" Aber wieso armer Napoleon ? Ja, sagt die Dame, wenn er auf St. Helena nu doch wenigstens Rundfunk gehabt hätte . . .

Krk - krk - tsch - wiuh -

Im Nebenzimmer knackt und zischt und heult es. Die Familie hat es endlich erreicht, daß zum billig gekauften Vierröhrenapparat ein billig gewordener guter Lautsprecher angeschafft worden ist. Die Familie müht sich gerade damit ab, englische Musik und tschechische Deklamation und holländische Anekdoten aus Daventry und Prag und Hilversum abwechselnd zu erhaschen. Es ist fabelhaft bildend. Krk - krk - tsch - wiuh -, immer wieder. Ich persönlich habe dieses Suchen in der Weite längst aufgegeben, weil man erstens aus dem Savoy-Hotel in London doch nur dieselbe Jazzmusik hört wie aus dem Berliner Voxhaus und weil zweitens hier in unmittelbarer Nähe der starken Sendestelle der Hauptstadt die Stimmen von auswärts doch nur schwer sich bemerkbar machen. Berlin haut alles nieder. Und wenn Berlin ausnahmsweise mal schweigt, dann fährt gerade eine Straßenbahn vorüber, und wieder ist es aus. Ja, der arme Napoleon. Jetzt hat ganz klar und rein wieder Berlin das Wort und wir hören:

"Schweine, a, kein Auftrieb, b, 74 bis 76 Mark."

Aber wir hören wirklich gut. Um ganz gerecht zu sein: wir hatten neulich sogar einen Beethovenabend von mehr als Durchschnitt. Es ist natürlich nie ganz lebende Musik, aber wenn man sich vorstellt, man sitze irgendwo in einem Nebensaal und von der Straße komme gelegentlich leise verworrener Lärm, läßt sich die Illusion erhalten. Es ist doch schon etwas ganz anderes als vor zwei Jahren mit dem kleinen Detektor. Dieser Rest aus der Mineraliensammlung von Karlchen Mießnick war ja schon ein kleines Wunder für sich. Man saß mit Kopfhörern herum und wartete, während einer aus dem Kreise dem Apparat den Puls abtastete. Feierliche Stille. Plötzlich, ha, da hatte es "kääk" gemacht, und jesermann rief aufgeregt: "Laß stehen, Hände weg, man hört was!" Jetzt ist es viel, viel bequemer, jetzt hört man immer was, wenn auch nicht immer erfreuliches, so beispielsweise dieser Tage die Szene "Im Warenhaus", eine ganz grobe und nicht einmal komische Sache für die allerunterste Bildungsschicht. Natürlich, auch so was muß sein. Aber unsereins möchte dann eben etwas anderes, etwas Nicht-Berlinisches, und das klappt fast nie, wenn man mitten im innersten Berlin wohnt. Da wundert sich der Doktor aus dem äußersten Südwesten des Reiches, daß ich den Rundfunk so verulken kann, während er selber und seine Familie und seine Sprechstundenbesucher ihn herrlich finden. Täte ich auch, täte ich auch. Nämlich, wenn ich mich nicht hier in dem überladenen Kraftzentrum des Reiches befände, sondern dort in der lieben Kleinstadt und dort in der köstlichen Stille auf der Gartenveranda und dort gegenüber dem strahlend lichten Mädel am Teetisch . . .

Wer nur Berlin haben will und geduldig jedes Programm schluckt, der ist freilich zufrieden. Da ist der Rundfunk für so manchen einsamen Menschen Unterhalter und Bildner und Tröster. Die Musik heitert auf, die Nachrichten ersparen Bescheidenen die Zeitung, die Vorträge erweitern den Gesichtskreis. Es ist die reine Volkshochschule. Da kenne ich drei alte Damen, einst zur besten und sehr wohlhabenden Gesellschaft gehörig, jetzt verarmt; zwei von ihnen haben nun einen kleinen Bonbonladen, in dem sie von früh 8 bis abends nach 7 werken müssen, die dritte alte Dame aber hütet das Haus, putzt, wäscht, kocht, - und würde sich zwölf Stunden lang grenzenlos verlassen vorkommen, wenn nicht der liebe Rundfunk als Gruß aus der Welt da draußen da wäre; auch aus der verlorenen Welt der Theater und Konzerte.

Und dann nicht zu vergessen die Tanzmusik, die heute im Radio nicht nur Paaren, sondern auch Einzelnen die Möglichkeit gibt, sich die sonst fehlenbde Bewegung zu machen. Wie ist es denn heute ? Der Hausvater kommt heim, findet die Verbindungstüren aller Zimmer offen, und an jeder Tür, beide Klinken als Stütze von den Händen fest umfaßt, steht ein liebes Mitglied der Familie und übt für sich, während aus dem Lautsprecher der Ilona-Blues oder ein langsamer Trott ertönt, den black bottom, den heutigen Modetanz. Merkwürdig, wie die ehedem so prüden Engländer sich verändert haben. Früher sagten sie nur Fuß, weil Bein schon als unanständig galt. Von Hosen zu sprechen war unmöglich. Eine Bauch gab es überhaupt nicht. Hatte ein kleines Mädchen Leibweh, so mußte es sagen: "I have got a pain under the pinafore". Also: ich habe Schmerzen unter der Schürze. Und heute ? Heute sagen sie - black bottom! Man stelle sich vor, daß bei uns jemand vor einer jungen Dame sich verbeugte und sie fragte, ob sie "schwarzen Hintern" tanzen könnte. Natürlich kann sie es, wenn sie eine richtige Berlinerin ist, denn sie hat es dann an den Türklinken im Hause geübt. Aber sie nennt es lieber englisch black bottom. Und beim Ausschlagen, dem Beinschwenken rückwärts-seitwärts, erreicht sie auch nicht die Höhe, die diesem Tanz den Namen gegeben hat.

Deshalb ist die Berlinerin aber noch um kein Haar leichtfertiger als ihre Schwester draußen. Der Ruf der Berlinerin ist freilich schlechter, aber daran sind nur die Auswärtigen schuld. Wenn sie in das "dolle" Berlin kommen, denken sie, jedes Mädchen hier warte nur darauf, von dem Pascha aus der Provinz das Taschentuch zugeworfen zu bekommen. Wie lächerlich sich diese Herren meist machen, wenn sie eine beliebige Dame auf der Straße anmeckern, merken sie selber gar nicht. Werden sie kurz abgewiesen oder eilt die Dame wortlos und beschleunigt weiter, so meinen sie, sie verstelle sich oder sie werde zufällig von Bekannten beobachtet und wolle nur eine stillere Gegend aufsuchen; und so setzen sich denn auch diese Herren auf ihren knarrenden Doppeltgesohlten in Trab und werden weiter zudringlich. Den Unterschied zwishen Welt und Halbwelt festzustellen wird einem heute allerdings schwer gemacht; und hieran sind nun freilich unsere Damen schuld. Sie sollten sich nicht so sehr wundern, wenn der Zugereiste meint, alle jene weiblichen Wesen, die den Lippenstift benutzen, markierten dadurch ihre Käuflichkeit. Jedenfalls ist das "Ansprechen" auf der Straße allgemach zu einer derartigen Unsitte geworden, daß es in Berlin - polizeilich geahndet werden soll, mit Geldbuße oder gar Haft. Kaum eine Dame in ganz Berlin macht in ihrem ganzen Wesen so absolut den Eindruck, zur besten Gesellschaft zu gehören, wie Mady Christians, die Gattin des Kapitäns zu See a.D. v.Müller, aber auch sie muß das gelegentliche Zufußgehen und Alleingehen selbst am hellen Tage mit Angequatschtwerden bezahlen. Sie sagt freilich, sie habe ein gutes Mittel dagegen. Wenn sie merke, daß ihr jemand hart auf den Fersen sei, schlenkere sie so recht nachlässig die Handtasche in der Linken, um im nächsten Augenblicke, wenn der Mann sie überhole und anrede, die Tasche wie erschreckt in den rechten Arm zu nehmen und krampfhaft festzuhalten. Das aber vertrage kein Mann, als Taschendieb angesehen zu werden, wenn er ganz andere Abenteuer erwarte. Dann sei der Drang bei ihm plötzlich weg.

Na, na! Da hat Mady Christians noch zu gute Erfahrungen gemacht.

Die Zudringlichkeit auf der Straße - und vor allem die Hartnäckigkeit nach dem ersten Abblitzen - ist für die männlichen Besucher Berlins typisch. Vielleicht auch für die Berliner, wenn sie in andere deutsche Städte kommen, ich weiß nicht. Unter allen Umständen wäre so etwas in England oder Spanien oder Italien unmöglich.

Natürlich wird das Nachstellen selbst niemals von irgend einer Behörde irgend eines Landes aus der Welt geschafft werden können. Dazu ist der Mensch doch geschaffen, daß er seine bessere Hälfte sucht und findet; nur soll das nicht in plebejischer Form auf der Straße geschehen. Wie aber, wenn der Mann selbst nach seiner "Kompletierung" durch die berühmte Hälfte es immer noch nicht läßt, nachzusteigen ? Ja, so sind sie, diese Männer, sagt zuweilen giftig selbst unsere gute Tante Malchen. Tante Malchen kann es sich eben nicht vorstellen, daß mancher ohne jede massive Nebenabsicht eben einfach als Schönheitssucher, seinem ästhetischen Genießen zu genügen, die Welt durchwandelt. Und bei manchem andern, das könnte Tante Malchen in Ostpreußen sich doch sagen lassen, ist es nichts weiter als - Jagdleidenschaft, also etwas aus Urzeiten uns eingeborenes und überkommenes. Die Verfolgung selbst, das Überlisten, das Anspannen aller Kräfte des Körpers und des Geistes, das Hellsichtige, das Windriechen, das ist es. Man will das Wild strecken. Aber bei der Mahlzeit nachher sind die Jäger selbst oft die schlechtesten Esser. Und nun sollte Tante Malchen es nur einmal versuchen und einem von ihnen sagen: "Sie haben doch schon einmal einen Rehbock geschossen, nun kennen Sie doch die Sache, warum wollen Sie denn immer wieder ?" Ach, liebes Tantchen, das wirst Du nie verstehen. Schon bei manchem halberwachsenen Jüngling nicht, der gerade über das Stadium hinaus ist, nur eine einzige Tanzstundenliebe zu haben. Auch wenn der ersten das Herz darob wehtut, mag er das Weiterspüren eben nicht lassen.

So ist es wohl schon immer gewesen. Und die Welt steht noch. Sie wird auch nicht etwa immer schlechter, regelmäßig schlechter, sondern hat ihre bösen und ihre guten Perioden. Die schlimmste in unserer Zeit war die der Jahre während und anch der Revolution. Jetzt fangen wir wieder einmal an, langsam anständiger zu werden; da trügt mich meine Beobachtung nicht, da bin ich gläubiger Optimist. Was das sei, ein Optimist, wollen Sie wissen ? Nun, beispielsweise ein Mann, der in die Kreuzworträtselrubriken von vornherein mit Tinte schreibt. Oder Sie können das auch mit der berühmten Hosenprobe feststellen. Ein Pessimist hat erstens Hosenträger und zweitens einen Leibriemen und hat doch immer Angst, er könne einmal die Hosen verlieren. Ein Optimist braucht weder Hosenträger noch Leibriemen und hat niemals Angst; und wenn er die Hosen doch mal verliert, so sagt er: "Nu wenn schon!"
20. Januar 1927 (Donnerstag)


21

Der wunderschöne Bauer - Berlin ohne Soldaten - Vor Hindenburgs Palais - Neue Methodik - Moses im Papierkorb - "Tonikado" - Zwischen Komikerball und Baltischem Frauenklub - Der anständige Karneval - Gauklerfest der Reimannschule - Mein Incognito.

"Ach, Mutti, sieh doch, der wunderschöne Bauer!" ruft das kleine Kind und zeigt mit dem Fingerchen auf - einen Oberleutnant der Reichswehr, der seine Urlaubstage in Berlin verbringt und gerade über die Budapester Straße geht.

Ein deutsches Kind, das keinen Soldaten mehr kennt . . .

Die Geschichte hat sich genau so zugetragen. Der Oberleutnant von Soundso, dem sie widerfahren ist, hat sie mir selber berichtet; und seine junge Frau war Zeuge. "Der wunderschöne Bauer". Ja, ein paar Minuten weiter, in den Schaufenstern des Warenhauses, liegen Volkstrachten aus, Puppenjungen mit blanken Metallknöpfen an der Jacke und ähnliches. Eine ziemlich uniforme Pracht. Und da hat die Mutti dem Kinde wohl gesagt: "Das sind Bauern!" Aber es wird einem doch recht sonderbar ums Herz, wenn man sich Kinder aus gutem deutschen Hause vorstellt, die keinen Holzsäbel mehr schwingen, keine Trompete blasen, keine Zinnsoldaten besitzen. Das ist heute etwas - für die Großen. Die Industrie selbst hat die Anfertigung dieser Spielwaren durchaus nicht aufgegeben, der Absatz ist nach wie vor stark, aber die Geschichte ist wie das Briefmarkensammeln zu einer Beschäftigung für ernsthafte Leute geworden. Es gibt ganze Zinnsoldatenvereine: natürlich der Sammler, nicht der Soldaten. Immer neue historische Typen müssen die Fabriken entwerfen, formen, gießen oder stanzen und bemalen lassen, so daß dieser Professor oder jener Geheimrat in der Lage ist, beispielsweise die ganze Schlacht von Cannae oder Narwa oder Solferino naturgetreu mit Tausenden winziger Soldaten aufzubauen. Die Kinder sind erwachsen, das Haus wird leer, ein Zimmer ist frei - und der eine füllt es eben mit Kakteen, der andere mit Zinnsoldaten.

Die Berliner Kinder selbst treffen kaum mehr lebendige Soldaten, es sei denn, daß sie in der Königin-Augusta-Straße vor dem Reichswehrministerium oder in der Wilhelmstraße vor dem Palais des Reichspräsidenten die Posten zu sehen bekommen. Also ganze vier Soldaten in Großberlin. Dazu gelegentlich den oder jenen Urlauber. Kinder aus dem Reiche kommen, wenn die Eltern sie hierher mitnehmen, schon eher dazu, denn die Eltern wollen doch vor dem Hause gestanden haben, in dem Hindenburg wohnt. Das kostet aber Mühe, da die Posten zu entdecken. Sie sind da, aber sie heben sich von dem grauen Gemäuer kaum ab, sind selber zu steinernem Ornament, zu Karyatiden geworden; es ist Ehrenpunkt, hier seine zwei Stunden in vollkommener Unbeweglichkeit zu verharren, Sinnbild der Disziplin, Sinnbild der gebändigten Kraft, die ihres Tages wartet. Einst war die Reichshauptstadt die größte Garnison des Reiches. Ich selber hörte allmorgendlich die Musik des 2. Garderegiments zu Fuß, der Gardefüsiliere, der 2. Gardeulanen, des 1. Gardefeldartillerieregiments, wenn diese Truppen durch die ganze Stadt zum Tempelhofer Felde zogen, und es gab keinen Stadtteil, in dem nicht das Tschingtara erscholl, von den Regimentern Alexander, Franz, Elisabeth, Augusta, von den Gardekürassieren und Gardepionieren, von den Luftschiffern und dem Gardetrain, von den Kraftfahrern, Eisenbahnern, 1. und 2. Gardedragonern. Heute ist die größte deutsche Garnison - das Städtchen Ludwigsburg in Württemberg. Hat auch nicht allzuviel, alle Waffen zusammen annähernd 2500 Mann; aber Berlin hat nur ein einziges Wachtregiment mit wechselnden Kompagnien. Und doch ist die alte Freude am kriegerischen Handwerk geblieben. Söhne von kleinen Beamten, die ehedem ehrenfeste Unteroffiziere waren, dritte Söhne von Bauern, deren Vorväter seit Fehrbellin in demselben märkischen Regiment gestanden haben, kapitulieren ernst und pflichtbewußt auf 12 Jahre. Auch der Andrang zu der Laufbahn des Offizieranwärters ist groß, obwohl heute nicht mehr der alte Nimbus den Leutnant umstrahlt. Von unseren beiden Oberprimanern, die vor der Reifeprüfung stehen und nach den schriftlichen Arbeiten, die auf Mitte Februar angesetzt sind, Mitte März "ins Mündliche steigen", tritt der Ältere am 1. April bei der Feldartillerie ein, soll der Jüngere ein Jahr später - die Zwischenzeit wird zur Vervollkommnung der Sprachkenntnisse in England und anderswo ausgenutzt - in die Marine aufgenommen werden. Aber das gilt heute schon als das große Los. In diesem Jahre wurden 65 Anwärter eingestellt, aber über 4000 hatten sich gemeldet! Lieb' Vaterland, magst ruhig sein. Die Waffenfreude der Deutschen vererbt sich, auch wenn der bunte Rock von den Straßen der Reichshauptstadt verschwindet und die Zinnsoldaten in die Gelehrtenstube sich flüchten.

Der Wunsch unserer Roten und Rötlichen, nur Antimilitaristen zum Militär zu bringen, wird scheitern. Die Nie-wieder-Krieg-Brüller haben doch selbst gar keine Lust dazu, ließen sich durch Noskes Beschwörungen nicht in die "Soldateska" verleiten und reagieren auch auf Loebes Sirenengesänge nicht. Diese Herrschfaten tun ja schon alles, was sie können, um dem Volke von Kindesbeinen an den Dienst zu verekeln. In die Verfassung haben sie den Satz hereingebracht, daß die Jugend "im Sinne der Völkerversöhnung" erzogen werden soll, und wo die Roten und Rötlichen Einfluß auf die Schule haben, nicht zum wenigsten in Großberlin, wird alles ausgemerzt, was an vaterländische Selbstbehauptung erinnert.

Aber fabelhaft experimentiert wird in der Schule.

In Monarchien wird das bewährte Herkömmliche geschätzt, nur selten eine Reform vorgenommen, dann aber meist grundlegend. Der preußische Königsstaat, der nie unduldsam war, fühlte sich laut Fichte als Erzieher zur Menschheit, drillte also niemals - wie man heute sagen würde - Faschisten, sondern erzog Weltbürger. In den ersten Zeilen seiner Gedanken und Erinnerungen bekennt sogar Bismarck, daß er das Gymnasium "als normales Produkt des staatlichen Unterrichts" verlassen habe, nämlich mit der Überzeugung, daß die Republik die theoretisch beste Staatsform sei. Ich würde heute keinem Lehrer empfehlen, das gleiche von der Monarchie zu behaupten, denn der heutige Staat ist seiner selbst unsicher und daher unduldsam. Also in der früheren Zeit wurden wir etliche Jahrhunderte lang als junge Lateiner und Weltbürger erzogen und schlugen trotzdem unsere Siegerschlachten im Felde und in der Wissenschaft und Technik, bis dann 1891 durch die gründliche vom Kaiser angeregte Schulreform das Deutsche in den Mittelpunkt des Unterrichts gestellt wurde. Seit 1918 nun wird weniger reformiert, als experimentiert. Besonders in der Methodik ist man groß, schießt darin aber auch oft kopfüber über das Ziel hinaus, in Berlin ganz augenfällig, ähnlich aber auch wohl in anderen Großstädten.

Unsereins wird zunächst neidisch. Wie bescheiden war doch unser Lehrmaterial! Heute gibt es überall Anschauung. Schon frühmorgens sieht man am Zoo in hellen Scharen die Jugend aus Dutzenden von Volksschulen unter Führung von Lehrern zu den Tieren wandern oder unter das Sternendach im Planetarium. Alles wird verlebendigt oder verbildlicht. Unser kleiner im Auslandsdeutschtum aufgelesener Pflegling, der Sextaner, hat stolz in zwölf lebenden Bildern den Doktor Martin Luther dargestellt. Oder haben Sie schon von Moses im Papierkorb gehört ? Nach der neuesten Methode darf man nicht zu viel der Phantasie der Kinder überlassen, sondern muß ihnen alles verdeutlichen. Also bitte, nach der Größe aufstellen! Der größte spielt die aegyptische Prinzessin, der kleinste den neugeborenen Moses! Hinein mit dir in den Papierkorb! Und die Gasse zwischen den Schulbänke ist der Nil. Na schön. Die behördliche Verfügung ist ausgeführt. Aber der Erfolg ist die Zerstörung eines Heiligtums; alles wird spielerisch profaniert. Und mit einem zeitaufwand, der nirgends mehr das Pensum zum Abschluß kommen läßt. Die kleinen Mädchen haben es am schlimmsten; vergleiche dazu: Anna Mundorf, der neue Nadelarbeitsunterricht in der Volksschule. Die kleinen Mädchen möchten so gern stricken, einen Topflappen etwa, das macht Spaß, aber vorher wird ihnen stundenlang an vielen Bildern dargelegt, wie - Eisenerz gewonnen wird, aus dem die Stricknadeln entstehen. Die kleinen Mädchen möchten so gern nähen, aber nur Geduld, sie müssen doch zuerst einen Vortrag darüber hören, in welchem Verhältnis die Oberweite zur Hosenweite steht. Die kleinen Mädchen möchten so gern sich an einem Strumpf versuchen, aber nach dem Prinzip der Arbeitsschule, wonach jede Erkenntnis erarbeitet sein muß, bringt man ihnen zunächst gründlich das offenbar Niegeahnte bei, daß ein Bein an der Wade dicker ist als am Knöchel. Zu diesem Behufe wird das Bein mit Gazestoff umsteckt, die überstehende Kante abgeschnitten, die Gaze wieder abgenommen und das so gewonnene Modell herumgezeigt. Siehstewoll. Methodik. Uns kann keener. Oder wissen Sie schon, wie in Berliner Volksschulen "richtig" das Singen gelehrt wird ? Nach Noten ? Bewahre! Es wird nach der Methode Tonika-do gearbeitet, nach der jeder Ton durch eine bestimmte Hand- und Armbewegung des Lehrers versinnbildlicht wird; das ist nicht so übersichtlich wie die Notenköpfe innerhalb der fünf Linien, das ist viel schwieriger namentlich in der Zappelei für den Lehrer, aber erlernen läßt es sich natüelich auch. Also der Lehrer wedelt und zuckt mit der Rechten die erste, mit der Linken die zweite Stimme, taktiert ruckweise mit Bauch und Kniekehlen, die Kinder "lesen" wie im Taubstummenuntericht alles Nötige von dem lebendigen Hampelmann ab und - singen wirklich. Ich habe mir sogar sagen lassen, daß sich das gut bewährt. Man könnte es ja auch mit optischen Signalen machen. Oder mit elektrischen Schlägen aus einer Influenzmaschine. Jedenfalls ist die Experimentierfreudigkeit des neuen Staates ganz außerordentlich.

Trotzdem wird der neue Staat keine neuen Menschen schaffen. Nicht einmal den gläsernen Stahlmenschen des Metropolisfilms, obwohl er alles tut, was er kann, um die Jugend, die wir früher in Ehrfurcht vor Idealen erzogen, zu einem Erzeugnisse aus der materialistischen Retorte zu machen. Ach, die Menchen bleiben immer dieselben, nur daß es diszipliniertere und weniger disziplinierte Geschlechter gibt; und daß man heute auf moralische Hemmungen behördlich keinen großen Wert mehr legt.

Aber auch ohne diese Hemmungen findet das heranwachsende Geschlecht, wenigstens das mit Kinderstube, allmählich trotz allen Libertinertums der "entschiedenen Schulreformer" wieder zur Wohlerzogenheit sich zurück. Wir haben doch eben Karneval. Der dauert in Berlin in der Regel von Silvester bis Palmsonntag, wir stehen also in seiner überschwänglichen ersten Periode. Und ganz enttäuscht stellt ein Berliner Mittagsblatt fest, daß dieser Karneval - so ganz und gar nicht unanständig sei. Es gibt auch da Extreme. An dem "Ball der Komiker" war das einzig komische, daß die einladenden Komiker selbst nicht da waren. Im übrigen war es ganz berlinisch-orientalisch, indem die Damen, deren Ahnen einst der Landessitte entsprechend bis an die Nasenspitze vermummt am Euphrat oder Nil oder Jordan wandeln mußten, jetzt an der Spree sich durch Fortwerfen fast aller Hüllen dafür zu entschädigen suchten, eine sehr wenig reizende, eine sehr wenig ästhetische Angelegenheit. Umgekehrt war der Ball des "Baltischen Frauenklubs" in der alten Ressource in seiner Aufmachung ein bewußter Widerspruch gegen die Emanzipation des Fleisches, war eine fast altväterisch liebe Sache in Hellrosa und Weiß und Himmelblau, mit Ballkindern und Ballmüttern, mit Blumenwalzer und Kotillon. Die einzige Gefahr, in die ein junges Mädchen hier gerät, ist die, sich vom Fleck weg zu verloben, wenn den jungen Mann die Rührung ob all der Zartheit und Süße übermannt.

Zwischen diesen beiden Polen ein ganzer Erdball voll täglicher Kostümfeste; und sonnabends sind es immer fünf oder sechs, wenn man nur die "großen" nimmt, oder achtzig bis hundert, wenn man alle in Berlin zählt. Für den Kostümball fertig ist heute eine Frau, wenn sie von ihren Seidenbeinen zwei Handbreit mehr sehen läßt als sonst. Im übrigen ist es gänzlich gleichgültig, wie sie sich anzieht, denn fast alle Leute kommen doch paarweise und haben nur für einander Augen. Außerdem sind es arg viel Leute. Auf dem "kleinen" Bimini-Maskenfest der Berliner Künstler in der Bellevuestraße waren es schon über 1500, auf dem Gauklerfest der Malerschule Reimann im Zoo aber nahzu 4000, und da muß man schon als "Teufelin" mit fast nichts am Leibe und schauerlich schwarz geschminkten Lippen erscheinen, um Aufsehen zu erregen und - vorzeitig wieder zu verschwinden. Denn Aufsehen ist noch nicht Amusement. Es ist Arbeit; und dazu geht man doch eigentlich nicht zum Karneval. Es ist eine Prüfung in Temperament und Schlagfertigkeit, er macht Alte für ein paar Stunden jung, Griesgrämige lustig, Scheue ausgelassen, er löst die Gebundenheit junger Guckindiewelt und bindet Hagestolze wieder an weichendes Leben. Ein Champagnerbad im grauen Alltag. Natürlich übt hie und da in einer Ecke ein Pärchen die Technik des Küssens. Natürlich wird hie und da, wo früher "gefußelt" wurde, heute "gebeinelt", und eine solche Liebeserklärung mit der Hummerscheere hat den Vorzug der Deutlichkeit. Aber als gewissenhafter Chroniqueur kann ich nur sagen: das wüste Treiben der Revoluzzerzeit ist vorbei, ja sogar die Alpenbälle der Vorkriegszeit bei Kroll waren Sodom und Gomorrha im Vergleich zu der jetzigen Harmlosigkeit.

Gegen Morgen sitze ich, ich weiß nicht, wie, zwischen einer lustigen, aber provinziell hochgeschlossenen Ehrbarkeit in Violett und Silber und einer königlichen Rokokodame aus Berlin, die Gainsborough, lebte er noch, gerne malen würde. Beide sind hochgradig verheiratet, genau so wie ich. Da ich nicht zum Plaudern, sondern zum Beobachten auf Berliner Feste gehe, bin ich ein sehr stiller Gesellschafter. Leider hat ein Bekannter, der mich hier entdeckt, einer der Damen zugeflüstert, wer ich bin. Da stemmt die die Arme in die Hüften und sagt: "So eine Frechheit ist mir doch selbst auf einem Maskenball nicht vorgekommen! Das müßte man an das wirkliche Rumpelstilzchen schreiben, wer sich hier dafür ausgibt!"

Nun warte ich beschämt auf diesen Brief.
27. Januar 1927 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts