"Rumpelstilzchen"

"Mecker' nich!"
(Jahrgangsband 1925/26)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1926

Glossen 37 - 39
27. Mai bis 11. Juni 1926


37

Handtaschen zu verkaufen - Mein kleiner Freund Franz - Pfennigrechnung - Die rote Schleudermaschine - Stadtrat Wilhelm Schüning - Pelzmodentee - Kommunisten in Sanssouci

Ehrlich währt am längsten. Also schneller kommt man mit Unehrlichkeit vorwärts. Diese zwei Sätze sind moderner Glaubensartikel.

Man wundert sich daher gar nicht mehr darüber, daß zwar die Kriminalität im ganzen abnimmt, seit unser neuer Staat sich sozusagen gesetzt hat, daß aber die Betrugsfälle und kleinen Diebereien immer noch zunehmen. Man wundert sich auch gar nicht, wenn aus dem reiche Hergereiste in Berlin von irgendeinem jungen Mann angesprochen werden, der ersichtlich scheu etwas unter dem Mantel oder der Jacke hervorholt und zum Kaufe anbietet. Meist eine zu Geschenken sehr geeignete lederne Damentasche. Aha, natürlich geklaut. Deshalb sieht sich der Kerl wohl auch so um; gewiß sichert er sich gegen Schutzleute. "Billig, ganz billig!" flüstert er. Dann den Preis, sonst kein Wort. Sieh' mal einer an, jetzt schaust auch du dich schon vorsichtig um! In neun von zehn Fällen kommt nach meinen Beobachtungen - und ich habe dergleichen häufig erlebt - der Kauf zustande; schnell, geräuschlos, unauffällig. Ob man dann daheim im Jauer oder Salzwedel seiner Frau an ihrem Geburtstag erzählt, unter welchen Umständen man die neue Tasche erworben habe, das kommt auf die Frau an. Manch eine freut sich mehr in dem Gedanken, das Geschenk stamme aus einem teuren "ersten" Laden. Manch eine aber ist lieber stolz auf die Verschmitztheit des Herrn Gemahls.

Merkwürdig, daß ich selber noch nie so angesprochen worden bin. Offenbar sehe ich aus, als wenn ich von den vielen netten Dingen, die unseren heutigen Damen unentbehrlich sind, etwas verstünde. Meist treiben sich diese heimlichtuenden Verkäufer in der Nähe von Bahnhöfen herum, also da kann man das Geheimnis vielleicht lüften: schon patrouilliere ich einmal ein Stündchen am Potsdamer. Das Glück ist mir hold, ich entdecke einen ganz jungen und einen ganz alten Taschenverkäufer, und der junge, wahrhaftig, das ist mein kleiner Freund Franz, das tüchtige Geschäftsgenie aus der ehemaligen Unbegabtenschule.

Er weiß schon: fünf Mark sind ihm sicher. So viel sind mir Begegnungen mit ihm stets wert. Diesmal spricht er sogar hochdeutsch. Vor uns geht eine hutlose Dame, die mit ihrem kurzgeschnittenen Haar einen ganz jugendlichen Eindruck macht. Aber Franz sagt verächtlich: "Hinten Lyzeum, vorne Museum!" Wir gehen an der Dame vorüber, ich sehe ihr Gesicht: au Backe, der Franz hat wieder einmal recht. Nun sind wir auf der stillen Südseite des Leipziger Platzes, und in wenigen Worten hat mein kleiner Freund mir die Geheimnisse des neuen lukrativen Erwerbs enthüllt: "Mein Kommissionslager hab' ich ganz in der Nähe bei ein Freund. Im Laden kost' so eine Tasche 8 Mark. Der Unternehmer gibt sie mir für 7½ Mark. Jeder dove Provinzonkel kauft sie mir vor 10 Mark ab. Manchmal verkloppe ich fümwe an ein Nachmittag." Man müsse nur schenial sein, sagt Franz, dann liege das Geld immer noch auf der Straße. Im übrigen ist alles, Gewerbeschein und so, in Ordnung. Wer einen Betrugsfall zu konstruieren versuche, in dem er die Vorspiegelung falscher Tatsachen anführte, nämlich die Vorspiegelung "geklauter" Ware, würde damit nicht durchdringen. Diese Händler spiegeln nichts vor. Nur die Käufer spiegeln sich etwas vor.

Der kleine Franz hat schon fast 1000 Mark auf der Sparkasse und ist ganz anders gekleidet, als vor vier Jahren, wo er sich seinen grauen Hosenboden eigenhändig mit rosa Wolle gestopft hatte. Er sieht so elegant aus wie ein Banklehrling in der Inflationszeit. Der Durchschnitt der Spareinlagen beträgt heut 34 Mark - gegenüber 352 im Jahre 1914 -, somit marschiert Franz weit vor dem Durchschnitt. Wenn er 5000 Mark habe, sagt er, mache er sich selbständig, oder vielmehr, er etabliere sich. Und dann komme eines Tages der große Schlag. Dann dürfe ich in seinem Auto mitfahren.

Von dem Emporkommen durch Preisabbau hält er nichts. Das sei nur blasse Theorie der Geheimräte in der Regierung. Hier weiß ich nun zufällig mehr als er, und so kann ich ihm denn verraten, daß die hohe Regierung jetzt auch zur Praxis übergehen will. Der Satz "Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert" soll uns wieder beigebracht werden. Das Abrunden nach oben wird demnächst als Wucher bestraft. Ein Heer von Spitzeln (das ist in Republiken der einzige Beruf, dessen Anforderungen an Personal unerschöpflich sind) wird darauf achten. Wenn du in einem Weinlokal eine Zeche von 21,70 Mark machst und die 10 Prozent Bedienungsgeld dir vom Kellner mit 2,20 statt 2,17 Mark dazu addiert werden, bist du bewuchert, und der Kellner hat sich straffällig gemacht. Er muß fortan die ganze Hosentasche voll Kupferlinge haben. Im Gemüsekeller und in der Markthalle hat sich die Pfennigrechnung schon seit Jahr und Tag von selber durchgesetzt, aber meist als sogenannte Apothekerrechnung. Nur daß der Apotheker sich an seine Taxe halten und nötigenfalls nach unten abrunden muß, während hier jedesmal etliche Pfennige zu dem Normalpreis hinzukommen: immer nach oben, immer nach oben. Berlin ist heute eine der teuersten Städte der Welt, wird in Europa nur noch von London übertroffen, ist von Rom gerade erst erreicht.

Wer rechtzeitig sein Schäfchen ins trockene gebracht hat, dem kann dies freilich gleichgültig sein. Der "große Schlag", von dem mein kleiner Freund Franz erst träumt, ist vielen während der Revolution und dank der Revolution gelungen. Wie da unser Volksvermögen in die große sozialistische Schleudermaschine gekommen ist, wie beispielsweise die Kaiserliche Werft Rüstringen-Wilhelmshaven mit ihrem Riesengelände, ihren Gebäuden, ihren Maschinen für, sage und schreibe, 2 Goldmark verschoben worden ist, und ähnliches habe ich in meiner kleinen Schrift "Durch Volksentscheid zur neuen Revolution" geschildert. Auf den 16 enggedruckten Seiten aber habe ich natürlich nicht jeden "großen Schlag" erwähnen können, sondern nur einzelne Beispiele und die ganze Schlußsumme, um die wir beraubt worden sind, rund 48 Milliarden Goldmark. In Berlin ist gerade eben wieder das Ausrufungszeichen hinter eine solche Revolutionskarriere gesetzt worden. Ein Gelegenheitsarbeiter aus dem Hamburger Hafen, der dort manchen Sack an Bord und von Bord getragen hat, Wilhelm Schüning, kam im November 1918 nach Berlin und brachte es hier als hervorragender Genosse zum besoldeten Stadtrat, dem man natürlich - er ist ja "Fachmann" - das Hafendezernat gab. Was tat nun Schüning mit dem ungeheuren Gelände dieses größten Binnenhafens im Reiche ? Kraft seiner Vollmachten verpachtete er es auf 50 Jahre, auf ein halbes Jahrhundert, an die internationale Speditionsfirma Schenker & Co. für den Preis von - 300 Mark jährlich. Die Firma hat infolgedessen eine Riesenaufschwung genommen. Und heute kann der Stadtrat Wilhelm Schüning auf die schöne Beamtenwohnung am Hohenzollernkorso, die die Stadt ihm gestellt hat, verzichten und sich nach einer einzig seiner würdigen Villa umschauen: er hat seinen Abschied als Stadtrat genommen und ist fürstlich bezahlter "Direktor" bei Schenker & Co. geworden! Es gibt noch viele solcher roten ehemaligen Gelegenheitsarbeiter, die sich durch den Umsturz gesund gemacht haben. Der Prozeß ist noch gar nicht zu Ende. Alle Tage erleben wir Ähnliches, und solange der deutsche Steuerzahler noch feste zahlt und der deutsche Wähler noch rot wählt, werden wir immer wieder Ähnliches erleben. Früher pflegten wir zu sagen, so etwas komme nur in dem korrupten Amerika vor. Gott sei Dank, daß wir keine Republik seien. Andere wiederum sagten, es sei höchste Zeit, daß wir Republik würden, denn nur sie ermögliche die freie Entfaltung aller Talente. Diese Leute hatten in gewissem Sinne gar nicht so unrecht.

Nur mühselig, sehr mühselig ist es inzwischen für den ehrlichen Gewerbetreibenden geworden, weil die Kaufkraft der ausgeraubten Steuerzahler so zurückgegangen ist. Besonders unser Luxus- und Qualitätsgeschäfte können doch nicht allein von den durch die Revolution Reichgewordenen bei der sonstigen allgemeinen Verarmung leben. Sie müssen, wie ich es schon oft an dieser Stelle festgestellt habe, mehr als je locken und verführen, um Käufer zu bekommen. Das Reklamekonto schwillt. Trotz der vergrößerten Handlungskosten haben diese Geschäfte heute vielfach, um auch nur bescheiden weiterexistieren zu können, ihre Preise auf den Stand von 1914 oder sogar noch darunter gesenkt, an der Spitze unsere Pelzfirmen. In einem wundervollen Rahmen, nämlich in dem den meisten Berlinern völlig unbekannten großen alten Garten der "Ressource" in der Oranienburger Straße, hatte der Propagandaausschuß der deutschen Pelzindustrie gestern nachmittag einen Modentee veranstaltet, der zu dem Entzückendsten gehört, das wir auf diesem Gebiete erlebt haben. Unter den Vorführdamen durfte die "Königin" Sonja natürlich nicht fehlen, deren Schmelz aber die große Karriere nicht gut zu bekommen scheint. Seit ihrer Krönung im vorigen Winter hat sie so viele Gastspielreisen machen müssen, daß diese Hetze von Abend zu Abend - sozusagen aus einem Kostüm in das andere Sektglas - nicht ohne Spuren geblieben ist. Schon gibt es in ihrem Gefolge jugendliche Erscheinungen, die die Königin an Liebreiz übertreffen. Wie wird dieser Reiz aber auch gehoben! Die köstlichen leichten Sommerpelze, von denen der "blonde" Maulwurf unter den erschwingbaren mir am besten gefallen hat, adeln jede Frauengestalt, verbergen und enthüllen, und vor allem: schmiegen sich so weich an, daß - die Männerwelt sie um ihre Rolle beneidet. Fast möchte ich sagen, daß sie heute ein ähnliches Spiel mit uns spielen, wie früher die rauschenden, raschelnden, knisternden Dessous, vielleicht gerade deshalb, weil sie im Gegensatz dazu so katzenartig leise, so träumerisch verschwiegen sind. In den Reklamebildern, die die illustrierten Blätter von der Veranstaltung bringen werden, kann der ganze Charme gar nicht so zum Ausdruck kommen. Da fehlt die Farbe, da fehlt die Bewegung. Diese Gruppen von lächelnden und plaudernden jungen Mädchen auf grünem Rasen in ihren malerischen Hüllen versetzen einen in Gedanken an einen kühlen Sommerabend in Baden-Baden oder Westerland oder in eine Tanzpause in einem vornehmen Schloßpark. Aber sowie die Photographen von insgesamt 8 Illustrationszentralen ihre Apparate zücken, dann will jede der jungen Damen in ganzer Front hinein, dann ist sofort die ausgerichtete Reihe da, dann wird eine so ausdruckslose Aufnahme mit lauter Vollmondgesichtern daraus, wie sie noch vielfach in deutschen Häusern mit der Unterschrift zu finden sind: "Zur Erinnerung an meine Dienstzeit." Die Schönen im Pelz kommen und gehen, verschwinden im Hause und kehren neu adjustiert wieder, königlicher Hermelin und als Ersatz weißes China-Kanin blenden, Zobel und Zickel wechseln, Breitschwanz enthüllt seine Pracht, Gazelle und Fuchs geben sich ein Treffen, und wahre Farben- und Konfektionswunder zeigt allerlei Geschorenes und Gefärbtes, worin unsere deutsche Kürschnerei ja einzig dasteht. Vor dem Kriege trug kaum eine verwöhnte Engländerin oder Amerikanerin einen Pelz, der nicht die Marke "Leipziger Farbe" aufwies; auch die Berliner Pelzfärberei, Farben von Citroen, hat heute übrigens Weltruf. Mein Schwarm, ich will es nur ruhig gestehen, ist unter all den Pelzen Chinchilla, von dem ein prächtiger Umwurf uns hier gezeigt wird. In der großen Mottenkiste, zu unterst unter "unnütz aufbewahrtem" Kram, fanden wir im vorigen Jahr einen alten Chinchillakrage, gelb geworden und unansehnlich, der noch aus der Mädchenzeit meiner Frau stammt, ein Geschenk einer befreundeten Familie in London. Nach der Reinigung zeigte er sich in seiner ganzen Schönheit. Jetzt prangt er stolz an einem tabakfarbenen Complet; und ich habe allerhand Hochachtung vor ihm, seit ich bei dem Pelzmodentee gehört habe, daß ein einziges Fellchen Chinchilla heute bis zu 1500 Mark kostet. Das Tier wird seit einiger Zeit in Peru und Bolivien wüst abgeschossen und wird daher so selten. Früher war Felix Faure, der es später zum Präsidenten der französischen Republik brachte, der europäische Hauptimporteur von Chinchilla und lieferte alljährlich allein nach Leipzig, der Zentrale des Rauchwarenhandels der Welt, viele Hunderttausende dieser kostbaren Felle. Jetzt gehört es zu den Dingen, von denen man zu sagen pflegt: viel gefragt, wenig gekauft. Aber Pelz überhaupt gehört für die Dame von Welt heute auch im Sommer zu den unentbehrlichsten Dingen. Je höher hinauf sie nur dünnsten Flor an ihren Seidenbeinen zeigt, desto mehr bedarf sie der Ausbreitung wohliger Wärme von den Schultern her. Und erst wenn bewundernde Männerblicke noch stärker wärmen, kann sie den Pelz dann auch heruntergleiten lassen.

Wenn wir eine etwas weniger blöde Politik hätten, wenn nicht die rote preußische Regierung immer wieder eine unmittelbar bevorstehende "Revolution von rechts" erfände und glleichzeitig äußerste Milde gegenüber den wahren Umstürzlern von links zeigte, würden noch viel mehr reiche Ausländer uns aufsuchen und bei uns einkaufen, denn in eiserner Arbeit und Selbstzucht hat das Gewerbe jeglicher Art bei uns wieder Höchstleistungen hervorgebracht. Es ist - sehr weit mit uns gekommen, daß jetzt sogar schon der Verband der Berliner Hotelbesitzer in einem offenen Briefe die Regierung beschuldigt, daß sie das reiselustige und kauflustige Ausland vergräme. Über Pfingsten war Berlin nicht nur von Berlinern, sondern auch von Fremden leer, wenn man von den zu ihrer Parade hergereisten Kommunisten absieht, die, das ist wirklich kein Witz, unter anderem nach der Melodie des italienischen Faschistenliedes durch die Stadt marschierten. Nach der Demonstration fuhren 30 Lastautos voll dieser Knallroten mit wehenden Sowjetfahnen nach Potsdam, die Insassen stiegen die Terrassen zu Sanssouci hinauf, besahen sich das Heim des Alten Fritz und benahmen sich dort sehr manierlich. Es war, als hätten si geheime Angst davor, daß er am Ende mit seinem Krückstock auftauchte; vor diesem Krückstock haben sie doch noch mehr Respekt, als vor 14 000 Gummiknütteln der Berliner Polizei.
27. Mai 1926 (Donnerstag)


38

Theaterelend - Max Adalbert - "Schneider Wibbel" - Wie Paul Henckels wurde - Theaterwetter oder Sportwetter ? - Hanni Köhler auf dem Motorrad und daheim - Emanzipation und Männerrecht

Erzählte man in den letzten Jahren gelegentlich etwas von Berliner Theaterereignissen, so mußte man eigentlich immer mit dem innerlichen Stoßseufzer beginnen: Gott sei's getrommelt und gepfiffen! Das pendelte so zwishen Nacktrevue und Vatermord. Sehnte man sich in den traurigen Zeitläuften nach etwas Lustigkeit, so wurde einem schließlich der fröhliche Schweinberg des Herrn Zuckmayer vorgesetzt; das Ding ist saftig, aber der Saft voll galizischer Bakterien. In diesem Sommer endlich gerät man nicht mehr in Verlegenheit, was man den unterhaltungshungrigen Scharen empfehlen soll, die die Reichshauotstadt aufsuchen. Vielleicht ist dies das erste Anzeichen von Genesung, nicht der Moral, denn die verändert sich nicht so schnell, aber des Geschmacks. Und aufatmend stammelt man: Gott sei Dank!

Zwei Sommerdirektionen bescheren uns harmlos herzlichen Genuß, im Deutschen und im Lessingtheater. Drüben, im Deutschen Theater, spielt Max Adalbert "Das Ekel", einen cholerischen Berliner Spießer, der zu Hause der große Mann ist, unter seinen Kegelbrüdern schon etwas kleiner wird, vor Gericht aber mit seinem bißchen Hirn ganz zerflattert; je mehr er es versucht, in seiner hochtrabenden Suada oben zu bleiben, obwohl er schon längst Bügel und Zügel der Logik verloren hat, desto mehr schüttet das Publikum sich aus vor Lachen. Das Ekel ist eigentlich gar kein Ekel. Am wenigsten kann es Max Adalbert sein, der so sympathische Berliner Komiker, der nicht durch Bäuchlein oder Schlenkerglieder auf das Zwerchfell wirkt, sondern gerade durch den Gegensatz seines lachhaften Redeflusses zu der im Grunde idealen Erscheinung. Er sieht aus wie weiland Otto Sommerstorff, hat eine Adlernase und große strahlende Schwärmeraugen; ein Schillerkopf, ein Fridericuskopf. Aber die schnoddrige Schnauze ist unbezahlbar, diese stets gespielte Kraft bei lächerlicher Schwäche, und darin ist Adalbert Meister, auch wenn er - wie gewöhnlich - "schwimmt", den Text der Rolle gar nicht intus hat, sondern eben darauflos schwadroniert. Wer hinter das im Grunde gutmütige Wesen des polternden und immer etwas komödienhaften Berliners kommen will, der mag sich "Das Ekel" von Impekoven und Reimann ansehen, er kehrt dann sicher wie massiert heim, so hat er sich "wälzen" müssen, - aber er hat kein Stück gesehen, sondern nur eine Rolle. Anders im Lessingtheater, wo nicht nur - wenn auch in der Hauptsache - um einer tragenden Rolle willen "Schneider Wibbel", der unsterbliche rheinische Schwank, volle Häuser macht, sondern das ganze Ensemble von goldenem Humor durchtränkt und jeder Akt in seiner gut gebauten Situationskomik bühnenwirksam ist.

Zu Pfingsten habe ich einen ganz kurzen Nachmittagsbesuch bei dem kleinen Doktor - ach Gott, wie die Zeit vergeht, dieser quicklebendige fidele Mann ist inzwischen schon Großvater geworden - in Bonn am Rhein gemacht, noch fühle ich auf der Zunge die 1907er köstliche Niersteiner Auslese, aber das letzte Glas mußte ich unzeremoniös schnell herunterschlürfen, denn um 6 Uhr 38 ging der erbarmungslose Zug. Nun aber lebt nachträglich der Geschmack wieder auf, der feine erregende Duft ist wieder da, denn im "Schneider Wibbel" perlt die rheinische Behaglichkeit so, daß alle rheinischen Genüsse einem wieder in Erinnerung kommen. Ich will gar nicht einmal das Hohelied vom Wein und vom Salm anstimmen; ich wäre schon froh, wenn ich in Berlin, wo das schlechteste Brot ganz Deutschlands gebacken wird, gelegentlich ein Schnittchen des Schwarzbrotes hätte, wie es der Frühstücksgast im Kölner Domhotel bekommt.

Die Geschichte des Schneiders Wibbel, der in der napoleonischen Besetzungszeit sich einmal den Mund verbrannte und wegen seiner dreisten Bemerkungen wider den Empereur für vier Wochen ins Kaschottche mußte, ist ja schon aus Müller-Schlössers Roman bekannt; Wibbels Frau, die dieser etwas respektlos eine Schlabberschnüß nennt, bewegt den Altgesellen dazu, die Strafe für den Meister mit dessen Papieren abzusitzen, während Wibbel daheim im Kabäus'che versteckt wird; der Geselle stirbt im Franzosenarrest, die Komödie wird bis zu Ende durchgeführt, und Schneider Wibbel sieht seiner eigenen Beerdigung zu. Das ist das Gerüst der Handlung. Wie es aber im Einzelnen ausgefüllt, die Handlung szenisch und personell belebt wird, wie der Hauptdarsteller Paul Henckels - jetzt durch hundert neue Einfälle das ganze Stück bereichert hat, das müßten die Theaterdirektoren aus dem ganzen Reiche sich einmal in dieser Musteraufführung im Lessingtheater ansehen. Dann hätten sie für den Sommer ausgesorgt. Müller-Schlösser und Henckels sind Düsseldorfer Schulkameraden. Der eine schrieb schon als Junge Gedichte, Szenen, Novellen. Der andere verschlang in den Zwischenpausen die Theaternachrichten des Generalanzeigers. Henckels selbst ist in Hürth bei Köln, am schönen Vorgebirge, geboren, und entstammt der alten Solinger Stahlwarenfirma, nur daß sein Vater schon aus der Art schlug und Maler wurde, das ererbte Geld auch so künstlerisch sorglos anlegte, daß es verloren ging. Derweil legte unser kleiner Henckels als Marc Anton seinen Bruder, der die Leiche Cäsars spielen mußte, so "hin", daß die Dielen krachten. "Wat wills du mit deine Jesicht beim Theater ?" fragte ihn wohl die Mutter, die selber Schauspielerin gewesen war, denn der Junge war hager und faltig und lustig-verschmitzt, nicht der glatte Adonistyp des Liebhabers und Helden. Aber es ging doch. Es ging 15 Jahre lang glänzend am Düsseldorfer Schauspielhaus. Es ging bis zum Emporkommen in den Direktorenstand. Außerdem ist Henckels "der" Schneider Wibbel ganz Deutschlands, ist der unerreicht fröhliche Darsteller dieser Bombenrolle, die Freund Müller-Schlösser, nach dem Roman, ihm auf den Leib geschrieben hat. Auch der Dichter, übrigens noch heute ein Dreikäsehoch, hat Theaterblut vom Elternhause her. Nur hat sein Vater - eben wegen mangelnder Körpergröße - es nicht über den Chorsänger hinaus gebracht. In dem ganzen Stück aber, das Misanthropen und Hypochonder heilen kann (denn, ob sie wollen oder nicht, lachen und sich wie Kinder freuen müssen sie alle), findet sich nicht eine einzige Schlüpfrigkeit, nur hier und da eine gesunde rheinische Derbheit. Ich habe, obwohl ich schon eine der Erstaufführungen 1913 und dann eine Aufführung 1922 mir angesehen habe, jetzt noch einmal mir den Genuß gegönnt, auch meine ganze Familie - und das ist sozusagen eine kriegsstarke Kompagnie - hingeschickt und werde auch noch Bekannten ein paar Eintrittskarten zum Geschenk machen; jetzt bei den Sommerpreisen ist das ja ein verhältnismäßig billiges Vergnügen. Wie lange aber "Schneider Wibbel" sich noch auf dem Spielplan erhält, das kommt eben - auf den Sommer an. Die Theaterdirektoren beten ebenso inbrünstig um Regen wie allsonntäglich die Bauern auf Mallorca.

Bisher hat sich das Wetter noch so leidlich gehalten, wenn auch nach dem warmen April der Mai enttäuschte. Richtig verregnet sind Landpartien noch kaum. Auch brauchte meines Wissens noch kein Pferderennen wegen grundlosen Geläufs abgesagt zu werden. Unsere Leichtathleten üben im Stadion vom Morgen bis zum Abend, und auf der Nordschleife der Autorennstraße gibt es allerlei sportliche Kurzweil. Sie ist freilich "nur" zweidimensional. In allen drei Dimensionen kann man sich nur im Luftraum tummeln, das habe ich früher und dann im Kriege weidlich getan, und manches Abtrudeln und mancher "Korkenzieher" im feindlichen Feuer ist mir noch so lebhaft im Gedächtnis, daß es mich jetzt kalt überläuft, während ich damals warm und sorglos war. Das Motorrad kenne ich aus persönlichem Gebrauch gar nicht. Ich bin noch nicht einmal als "Benzinbraut" mitgesaust, die Hände in den Rückengürtel des Fahrers verkrallt. Aber allmählich machen mir die Dinger Spaß. Sie sind fast wendiger als ein Polopony. So habe ich mir denn am vorigen Sonnabend das Clubfest in der Avus-Nordschleife angesehen, das aus einem Geschicklichkeitsfahren der Wagen und aus Fuchsjagden der Motorräder bestand.

"Da ist sie! Das ist sie!"

Meine Primaner strecken meilenlang ihre Zeigefinger aus. Wer, was ist da ? "Na die Hanni, die Hanni Köhler!" Richtig. Ein netter kleiner Grasteufel flitzt da auch über den grünen Rasen. Ein braungebranntes 19jähriges Ding mit festen Fäusten an der Lenkstange. Hanni Köhler. Neben Cilli Feindt, der noch erheblich jüngeren Schulreiterin, das bekannteste Sportgirl aus unserem Stadtviertel. Hanni Köhler, die tapferste Motorradlerin Deutschlands. Schon mit 17 Jahren machte sie große Rennen mit. Rund um Deutschland ist sie gebraust, Berlin-Zürich hat sie abgerast, bei Nacht und Nebel, durch Schnee und Hagel ist sie dahergedonnert.

"Wer knattert so spät durch Nacht und Wind ?
Es ist die Hanni, das Motorkind!"

Nun knattert sie auch hier im Rudel hinter dem "Fuchs" drein, dem - in Ermangelung eines Fuchsschwanzes - die lange Bandschleife von der linken Schulter geraubt werden soll. Köppen saust voran. Es geht in windender Fahrt über holprigen Rasen, unter ungeheurem Getöse folgt die Meute. Da, einer ist dem Fuchs hart an der Seite! Schon streckt er den Arm aus! Da reißt Köppen die Handkuppelung hoch, schaltet im selben Moment die Übersetzung um, tritt die Bremse und - flitzt rechts heraus, während der Verfolger vorbeischießt. Nun "auf der linken Hand" herum. Nun in Schlangenlinien. Immer wieder entwischt der Fuchs, schlägt fast Haken wie ein Hase, macht kurz kehrt, springt wieder an. Einmal rutscht ihm bei zu scharfem Bremsen das Hinterrad weg und er fällt ins Gras. Da haben sie ihn! Und eine neue knatternde Fuchsjagd beginnt. Es ist ein atemraubendes Spiel für den Zuschauer, nur gibt es in Berlin zu viele Zuschauer, so daß man, um allen etwas zu zeigen, den Platz zu groß wählen muß. Infolgedessen haben die großen schnellen Räder die Möglichkeit, einfach davonzujagen. Auf kleineren Sportplätzen, so beispielsweise in Swinemünde, kommt es mehr auf Wendigkeit an, da gibt es Knäuel fast wie beim Fußballspiel.

Hanni Köhler fährt gut, das muß der Neid ihr lassen. Sie hat den sechsten Sinn im Leibe, den Gleichgewichtssinn; sie hängt nie ein Bein in der Kurve ab, sondern sitzt auch in beängstigender Schräglage wie eine Reiterin. Ich gehe von der Tribüne hinunter, zum Promenadenplatz am Zaun, zu den billigen, aber echten Berlinern. Die haben sich die Hanni natürlich längst schon gezeigt. Eigentlich ist es eine zierliche, zarte Erscheinung, die Leute wissen gar nicht, was für einen festen Händedruck sie hat, und sie tut ihnen etwas leid. "Wenn det Mächen so zehn Stunden Straßenrennen mitmacht, denn muß ihr Sitzfleesch doch det reene Tatarbiffschtick sind!" sagt der eine. "Ach wat, det Sitzfleesch is wie Stahl, da kannste 'n Floh druff knacken!" meint der andere. Ich habe mich in das Gespräch nicht gemischt. Nur das weiß ich von Fräulein Köhler selbst, daß ihr - sie hat einmal sogar 17 Stunden im Sattel ihres Motorrades auf einem Überlandrennen gesessen - die Handgelenke schließlich wehtun; es ist keine Kleinigkeit, die vibrierende Lenkstange so lange fest gepackt zu halten. Möchtet ihr mal auch zu der Hanni ? Ach, ihr findet das straffe Kerlchen kaum je zu Hause. Sitzt sie nicht irgendwo in der blauen Welt auf ihrem Töfftöffchen, dann läuft ("sprintet") oder schwimmt sie irgendwo oder spielt Tennis. Sie ist das absoluteste und resoluteste Sportgirl, das mir je über den Weg gekommen ist. Weiß der Kuckuck, wo sie noch für sonstige Liebhabereien die Zeit hernimmt. Sie ist zum Beispiel ausgezeichnete Buchbinderin. Die "selbstgefertigte" große Halbledermappe, in der alle ihre Startbilder - einmal sogar: der Kronprinz und Hanni Köhler - eingeklebt sind, könnte besser nicht von Hulbe hergestellt sein. Aus einem Grunde ist Fräulein Köhler mir menschlich ebenso sympathisch wie der soeben 104 Jahre alt gewordene älteste Berliner aus dem gleichen Grunde. Sie pafft. Sie ist nicht enragierte Nichtraucherin. Nur vor Alkohol hütet sie sich offenbar. Ihr Vater, ein kolossaler stattlicher Berliner, Fabrikdirektor seines Zeichens, sagt vergnügt: "Wenn die Hanni ihre Bekannten zu einem Tanzabend einlädt, brauche ich bloß einen Eimer Limonade hinzustellen!"

Aber natürlich muß der Vater mindestens Fabrikdirektor sein, wenn die Tochter sich ein ausschließliches Sportdasein gönnen soll. Dieses Dasein ist auch zeitlich begrenzt. Man heiratet doch auch mal. Oder nicht ? Ich weiß nicht, was die Statistik der Sportgirls dazu sagt. Nur das weiß ich, daß ihnen so leicht kein Mann imponiert. Sie bedürfen keines Bruders oder Vaters oder Verlobten, der ihnen das Kursbuch enträtselt oder ihnen in den Wagen hilft oder Päckchen trägt oder über Technik orakelt. Sicherlich ist ihnen der Stickrahmen fremd. Aber da wissen ja auch die Männer nicht Bescheid. Fast scheint es mir, daß für die Sportgirls ein neuer Männertyp gezüchtet werden muß, der neben der hervorragenden Muskulatur auch noch eine fabelhafte geistige Überlegenheit besitzt. Und selbstverständlich Geld. Das sowieso, sagt der Berliner. Aber dann entsteht sofort die weitere Frage, was denn nun besagter Mann für Ansprüche stellt, und ob diese im wesentlichen gedeckt sind, wenn die junge Frau ihm einen Glasschrank voll von silbernen Ehrenpreisen mitbringt. Man kommt aus den Problemen wirklich nicht heraus. Nur einst steht fest: die Emanzipation des weiblichen Geschlechts ist Tatsache. Vielleicht kommen wir sogar einmal ins Hintertreffen, da wir durch die lästige Verpflichtung zum Geldverdienen zu stark gehandicapt sind. In Wien hat sich bereits ein Verein der Männerrechtler gegründet.
3. Juni 1926 (Donnerstag)


39

Hauptstadt und Provinz - Was Berlin verloren hat - Rundfrage bei den Hoteliers - Figaro am Kurfürstendamm - Schnurrbart oder nicht - "Mit Kurzhaargruß!" - Bubikopf und blonder Halbschuh - Die Sommerkönigin vom Lunapark

"Oh, bitte die ? Die ist ja gar keine Pariserin! Die ist - aus Versailles." Naserümpfend sagt es die "echte" Pariserin. Dabei ist Versailles von der Pariser Umwallung nicht viel weiter entfernt, als in Berlin der Reichskanzlerplatz vom Brandenburger Tor; und bei uns bestreitet doch niemand den Charlottenburgern das Berlinertum. Aber für den Urpariser ist eben das innere Paris "einzig" auf der Welt, und alles andere Provinz. Nur Paris hat Geschmack, sagt er, nur Paris ist "arbiter elegantiarum", nur Paris ist tonangebend, ist Fremdenstadt, ist Weltstadt. Die Berliner Hoteliers seufzen, wenn sie so etwas hören. Sie haben noch heute nicht die Besuchsziffer von 1913 erreicht, obwohl der Verkehr vielgestaltiger geworden ist, nicht nur den Schienenweg benutzt, sondern auch die Landstraße mit den Autos und den Luftraum mit den Flugzeugen. Wie kommt das ? Zunächst darf man natürlich nicht vergessen, daß unsere Provinz gar nicht so "Provinz" ist wie die französische, lange nicht so verspießert, sondern daß wir eben eine ganze Anzahl von hervorragenden Kulturzentren in Deutschland mit eigenem Stil haben. Ich persönlich spreche darum auch nie von Provinz, sondern sage immer: draußen im Reich. Oder wollte wirklich jemand etwa Hamburg, Dresden, München, um nur einige wenige anzuführen, Provinzstädte nennen ? Ich habe nun stets behauptet, Berlin werde deshalb verhältnismäßig so wenig besucht, weil es seit 1918 viel an Interesse verloren hat. Das ist "eine" Meinung. Eines Mannes Rede ist keine Rede, und dieser Mann besonders ist ja voreingenommen, sagen manche Leute; außerdem ist er kein Fachmann. Gut, lassen wir die Fachleute reden. Vor mir liegen die Antworten auf eine Rundfrage bei allen großen Berliner Hotelbesitzern. Fast alle einzeln kommen auf dasselbe heraus, was ihr Syndikus Hampe für alle gemeinsam erklärt:

"Ohne politisch zu werden, muß man feststellen, daß vor dem Kriege der Hof und die Armee im engsten Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr standen. Tausend Fäden verbanden die Provinz mit der Armee, und das Kontingent, das die Provinzfamilien zum allgemeinen Fremdenverkehr stellten, war sehr bedeutend. Diese Zeiten werden ja nun nicht wiederkommen, und man muß sich damit abfinden; zum Teil auch für das Ausland hat Berlin eben einen großen Teil seiner Anziehungskraft eingebüßt."

Man kann ja aber auch als republikanische Hauptstadt, ohne Kaiserpracht und Wachtparade, weltstädtisch sein. Wenn wir nur nicht gar zu viel anderes zu tun hätten! Wir müssen über die künftige Einheitsreichskunstflagge beraten, Invalidenmarken kleben, Haussuchungen bei den Führern der deutschen Wirtschaft veranstalten, Lustbarkeitssteuer in jedem Kaffeehaus mit einem Klavierspieler und einem Geiger bezahlen, bei Behörden Schlange stehen und - das Ausland schlägt vor Erstaunen die Hände zusammen - die Unverletzlichkeit des Privateigentums erst in einer Volksabstimmung feststellen. Aber trotz aller Abhaltungen gibt Berlin sich Mühe, anderen Weltstädten wennisgtens in der Pflege des äußeren Menschen nachzueifern. Bisher besaßen wir noch kein einziges solches Haarkünstlerinstitut, wie es etwa der Salon de Beauté in Genua am Ende der Via venti settembre ist, um von ähnlichen Unternehmungen in Ofenpest, Paris, Barcelona, Warschau, Brüssel gar nicht erst zu sprechen. Natürlich beginnt das Raffinement am Kurfürstendamm, wo im Hause Nr. 200 sich "Figaro" niedergelassen hat, der übrigens nicht der quecksilbrige Figaro der Bühne ist, sondern ein würdiger Weißkopf von dem Benehmen eines vornehmen Marquis, Herr Winterstein, der seines Zeichens auch nie Barbier gewesen ist, sondern Hoteldirektor in Partenkirchen.

Nachdem man von einem weißgekleideten Pagen und sonstigen unteren Palastbeamten an der Tür, die sich lautlos öffnet, durch stummes Verneigen begrüßt worden ist, wird man in die große Wartehalle zu ebener Erde geführt, wo man sich an einem der vielen Tischchen in hübsche Sessel niederlassen, die ausliegenden Zeitschriften lesen und etwas zum Knabbern und Trinken bestellen kann. Auch naht sich schon die junge Oberhofmeisterin, die Empfangsdame, und fragt dich devot, als seiest du Milliardär und du die Königin von Rumänien, nach deinem Begehr. Sie kann deutsch, englisch, französisch, polnisch fließend sprechen, schwedisch und italienisch sich leidlich verständigen. Sie ist eine Tochter des früheren zarischen Gesandten in Stockholm. Der Vater lebt jetzt als Flüchtling in Berlin, die Mutter ist von ihm geschieden und hat einen baltischen Baron ebenfalls in Berlin geheiratet, Geld haben sie alle nicht, die erwachsenen Kinder verdienen sich also, so gut es geht, ihr Brot - und diese unsere Palastdame, die nicht nur so viele Kultursprachen spricht, nicht nur voll Gleichmut sich von dem Kurfürstendammpöbel hochfahrend behandeln läßt, eignet sich für ihren Posten besonders deshalb, weil sie aus früherem eigenen Gebrauch sämtliche Parfums der mondänen Welt kennt und jeder zum Figaro kommenden Dame auf den ersten Blick hin das Passende empfehlen kann. Für die Damen gibt es unten luxuriöse Einzelkabinen. Für die Herren oben zwei Säle. Dazu noch ein Kinderzimmer - nicht mit Stühlchen, sondern mit exotischen Karusseltieren zum Draufsitzen - und ein Schönheitskabinett mit allerlei Apparaten. Insgesamt hat Figaro 60 Angestellte. Für das Gebotene ist der Preis - für Haarschneiden und Rasieren mit allerlei sonst nicht üblichen Finessen 2,80 Mark - nicht wucherisch; schon daß man sich als Kettenraucher den Arm nicht nach dem Aschenbecher ausrenken muß, wenn man im weißen Büßerhemd auf dem bequemen Klubsessel umgelegt wird, da ein Aschenbecher am Sessel selbst befestigt ist, ist sehr sympathisch. Daß jeder Platz elektrischen Anschluß (für die Haarschneidemaschine, für den Vibrationsapparat) und einen eigenen Fernsprecher hat, so daß Herr Meyer beim Rasiertwerden die Gespräche mit seinem Makler erledigt und seine Frau gleichzeitig ihre Schneiderin "fernmündlich" ärgern kann, versteht sich am Rande. Nun sind wir also wieder ein Stückchen mehr Weltstadt. Nun können wir die Ausländer hierherbringen und ihnen sagen, was der letzte Schliff ist. Allerdings: nur bei den Angestellten, die Handpflegemädchen nicht zuletzt, die einen so angenehm bekrabbeln. Weniger Schliff findet man bei dem Publikum. Figaro besteht erst einen halben Monat, hat aber natürlich schon viele Stammkundinnen, und die krähen ihre Wünsche gleich im Empfangsraum so laut, als seien sie allein da. "Bitte, Frollein, Herr Müller soll mich ondulieren!"   "Welcher Herr Müller, gnä' Frau, wir haben zwei."   "Der dicke."   "Sofort, gnä' Frau, ich werde sehen, ob Herr Müller schon frei ist."   Oder eine andere Dame: "Kann der blonde Herr Hans mir mal schnell den Nacken rasieren ?"   "Sind gnä' Frau für jetzt angemeldet ?"   "Nein, aber ich warte nötigenfalls, ich will keinen Fremden."   "Darf ich gnä' Frau für 3 Uhr notieren ?"

Der Kurfürstendamm ist nicht meine Gegend, ist nur mein Erkundungsgebiet. Sonst ginge ich häufiger zum Figaro, denn seine 60 Angestellten sind offenbar Psychologen, sehen sofort, ob ihr Gast unterhaltungsbedürftig ist oder schweigend bedient sein will; und ich mache schon kurz kehrt, wenn ein Bartschaber auch nur sagt: "Schönes Wetter heute." Neulich will mir einer beibringen, ich solle mir den kleinen blonden Schnurrbart abnehmen lassen, bartlos sei ja heute einzig tiptop. Ich werde nie wieder in diesen Laden gehen, wo ich zum Sprechen gezwungen worden bin, aber was ich da sprach, das war folgendes:

"Mein Lieber, einmal haben stramme preußische Gardegrenadiere sämtlich ihre Schnurrbärte geopfert, damit ein Kissen gestopft und das Kissen ihrem König geschenkt. Das ist historisch. Die genauen Daten weiß ich nicht auswendig, kann sie Ihnen aber besorgen. Hätte ich damals schon gelebt, so wäre ich sicherlich einer der Grenadiere gewesen. Damals hatten aber die Frauen lange Zöpfe um den Kopf oder andere Frisuren. Heute hat eine leibliche Tante von mir, weil sie irrigerweise glaubt, das mache jünger, kurzgeschnittenes Haar und trägt einen Smoking mit Weste, Kragen und Schlips. Ich behalte also den Schnurrbart als einziges öffentliches Unterscheidungsmerkmal, denn ich möchte nicht gern für meine Tante gehalten werden."

Womit ich nichts gegen die Bartlosen unter unseren Männern gesagt haben will. Ein Goethekopf würde durch einen Schnurrbart natürlich nur verschandelt. Und wenn man einem Dackel den Schnurrbart eines großen Pinschers anklebt, würde man ihn auch nicht verschönern. Neulich bekam ich übrigens einen Brief, von dem ich nach der Unterschrift erwartete, daß es sich um einen Verein zur Beförderung oder zur Bekämpfung der Bubikopfmode handelte, denn darunter stand "Mit Kurzhaargruß!" und dann Stempel und Name. Man kriegt ja allerhand Briefe mit modernen Grüßen: Frontheil, Gut Holz, Frei Heil, Rot Front, Gut Naß usw. Dieser Brief aber stammte - von einem Verein zur Züchtung kurzhaariger Vorstehhunde. Ich bin überhaupt gegen alle Vereine, die für oder gegen etwas sind, wenn sie von mir wünschen, daß ich Mitglied werde. Am allerwenigsten halte ich etwas von der vereinmäßigen Befürwortung oder Ablehnung gewisser Modedinge. Der Schnittkopf wird unter den Damen der Gesellschaft - wie auch der champagnerfarbene "blonde" Halbschuh - genau so lange noch Anhängerinnen haben, bis die letzte junge Fabrikarbeiterin ihn vulgär gemacht hat. Dann hört's von alleine auf. Und lange dauert es nicht mehr, dann ist er ganz vulgär. Wenigstens in den Großstädten der ganzen Welt; man denke, sogar in Spanien, dem klassischen Lande der kunstvollen Frisuren mit Rose, Schildpattkamm und Schleier. Sogar in Cartagena, dem spanischen Kiel, läuft jede dritte Korvettenkapitänsfrau und jede Admiralstochter so herum. In Deutschland haben fast nur noch die Kleinstädte den Vorzug überwiegenden Langhaars in der Frauenwelt. Es gibt entzückende Damen, so Frau Mady Christians-v.Müller, die auch verschnitten entzückend aussehen. Und immer weiblich aussehen. Aber eines schickt sich nicht für alle, sage ich ganz objektiv. Die Herrenwelt revidiert jedenfalls schon ihr erstes Urteil - die Herrenwelt, die auf Neues an der Frau immer noch mehr hereinfällt als die Frau selbst. Ich habe vor einiger Zeit erzählt, wie die Herrenwelt auf einem Modetee im Admiralspalast entschied. Da hätte ich mal eine zufällige Ausnahme entdeckt, schrieben mir einige allerliebste Bubiköpfe. Abwarten, meine Damen! Sie alle werden sich noch einmal eine Perücke bestellen.

Also heute kann ich mit einem weltstädtischen Urteil von Tausenden kommen. Der Lunapark, unser Riesenrummel, hat die "Sommerkönigin" gewählt, so wie im Winter auf dem Konfektionsball im Sportpalast die "Modekönigin" erkoren wurde. Diese selbst ist an dem Tage natürlich auch im Lunapark und sitzt schon am frühen Nachmittag bei Champagner auf der Weinterrasse, mit brennenden Augen hart vor der Tür, durch die die Hunderte ein- und ausgehen, die an dem Schönheitswettbewerb teilnehmen. Man will doch sehen, wer sich da "erfrecht", für die schönste Berlinerin dieses Sommers erklärt werden zu wollen. Wie kommt überhaupt der Lunapark dazu, so etwas auszuschreiben ? Warum nicht der Tennisklub Rot-Weiß oder der Verband der Bardamen oder der Jungfrauenverein der Clemenskirche oder der Lyzeumklub oder die Wohltätigkeitsgesellschaft der Diplomatenfrauen ? Da könnte ja jeder kommen! In diesem Gefühl gehen auch zahlreiche Damen der Gesellschaft hin, die beileibe nicht mitkonkurrieren wollen. Es geht ihnen nur wie der Königin im Märchen: "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land ?" Nun, ihr Spiegel gibt eine befriedigende Antwort. Trotzdem: man will doch sehen. Berlin macht, um weltstädtisch zu sein wie andere Weltstädte, solche Schönheitswettbewerbe. Nur nimmt es sie noch zu ernst. Anderswo weiß man, was sie sind: Rummel. Hier in den Lunapark bringt manche zerknitterte Mutter ihr Kind vor die Preisrichter, weil das doch der Ausgangspunkt für das große Glück sein könnte. Hunderte werden abgewiesen und kehren enttäuscht zu den Ihren zurück. Die Mütter schimpfen. Etwaige männliche Begleiter sind gleichmütiger. Da hat ein Bankier seine kleine Freundin auf deren Wunsch hergebracht. Sie kommt heraus und zischt wütend: "Man hat mich abgewiesen!" Dieser Barbar erwidert nur: "Nu wenn schon!" Maler und Bildhauer sitzen in der Sichtungskommission, aber auch beliebte Schauspieler und beliebte - Boxer. Äußerlich macht sich Hans Breitensträter da ja ganz gut. Nur bezweifle ich, ob das reiche Festmahl nachher seiner Laufbahn so gut bekommt. Es werden 25 "vorläufig" Schönste ausgewählt, unter denen das Publikum die Entscheidung treffen soll. Das Publikum pfeift, zischt und brüllt: "Schiebung! Schiebung!" Es sieht ja im Garten einzelne viel schönere Frauen, die gar nicht beteiligt sind. Die 25 können einem wirklich leid tun, wie sie da wie mit Blut übergossen auf hoher Rampe vor den lärmenden Tausenden stehen. "Schminke runter!" erschallt ein Ruf und pflanzt sich fort. Dabei hat kaum eine Rot aufgelegt. Und es sind wirklich vielleicht 10 recht niedliche Dinger darunter.

Nun füllt jedermann seinen Stimmzettel aus. Manche Protestler notieren "Nr. 26", um damit anzudeuten, daß unter den 25 die Sommerkönigin nicht gestellt sei. Die übrigen, die Tausende, fällen ihr Urteil. Es ist schon später Abend, als alle Zettel eingesammelt sind. Die meisten Stimmen hat Grete Reinwald bekommen, eine Filmschauspielerin. Den zweiten Preis Irma Höfer, die blutjunge Tochter eines Architekten. Beide Damen - haben langes Haar, die eine in reichem Nackenknoten, die andere in blonden Zöpfen um den Kopf. Erst die dritte, Lucie Janke, ist ein schwarzer Bubi.

Eine Gruppe von weiblichen Lunapark-Angestellten, die ihren Beruf - "Schokolade gefällig ?"   "Zigarren, Zigaretten ?" - im Umherwandeln ausüben, mit weißem Kräuselband um den verschnittenen Kopf, steht nachher beisammen und bespricht den Fall.

"Wat saachste nu ?"   "Ick saahe nuscht."   "Nu saach doch wat!"   "Die Männa sin varrickt!"
11. Juni 1926 (Freitag)



Glossen 34 - 36

Jahresinhalt

Glossen 40 - 42

© Karlheinz Everts