"Rumpelstilzchen"

"Mecker' nich!"
(Jahrgangsband 1925/26)

Brunnen-Verlag / Karl Winckler / Berlin, 1926

Glossen 34 - 36
6. bis 20. Mai 1926


34

Maifeiern - Der Flaggenstreit - Amerikaner in Berlin, Berliner in Amerika - Der Revolutionsfilm "Fürst Potemkin" - Eine überraschende Mannquin-Prämiierung - Arbeiten und nicht verzweifeln

Man bibbert. Man telephoniert den Wirt wegen der Zentralheizung an. Unmittelbar nach Maibeginn haben sich nämlich, etwas verfrüht, die Eisheiligen gemeldet, die wir nach dem sommerlichen April für erledigt hielten. Aber der 1. Mai selbst war noch schön. Nicht so schön wie etwa in Athen, wo an diesem Tage alljährlich die ganze Stadt ins Freie zieht, um den "Mai" sich zu holen: einen Blumenkranz mit einer Knoblauchsknolle darin, die das Jahr über im Hause bleibt, weil sie nach dem Volksglauben bösen Blick bannt und überhaupt jegliches Unheil. Der Berliner 1. Mai ist nicht solch ein Volksfest. Sondern ein Parteifest. Draußen in den Haveldörfern hinter Potsdam gehen noch morgens mit grünen Zweigen an der Mütze die Kinder von Haus zu Haus, singen ihren Maispruch und werden mit Eiern und Geld beschenkt, zuweilen auch nach altem neckischem Brauch mit einem tüchtigen Wasserguß bedacht. Drinnen bei uns aber kriegen sie rote Papiernelken angesteckt, eine Papptafel mit politisch-revolutionärer Inschrift in die Hand und müssen zur proletarischen Kundgebung auf den Platz vor dem Königlichen Schloß marschieren. Man lächelt wohl über diesen Kinderkreuzzug. Aber man hätte eher Anlaß, tieftraurig zu sein. Es ist organisierter Seelenmord. Der deutsche Mensch in den Kleinen wird erstickt; trotz aller freiheitlichen Phrasen werden nicht Freie, sondern Parteisklaven erzogen. Und die rote Seeräuberflagge weht hundertfach über ihnen.

Zum ersten Male in diesem Jahre haben aber auch die Vaterländischen gezeigt, daß auch sie Massen mobilmachen können. Der sogenannte Sportklub Olympia und zahlreiche andere nationale Verbände sammelten sich zu ihrer Maifeier am Abend in der Ausstellungshalle am Kaiserdamm, dem größten gedeckten Raume in der Reichshauptstadt. Ich hatte die Eintrittskarte Nr. 16 231, und noch nach mir kamen Hunderte. Herrscht im Lustgarten das Rot der Gesetzlosigkeit, so hier das Schwarzweißrot der deutschen Geschichte. Fahnenaufmarsch - ach, es sind nur Vereinsfahnen - mit Stechschritt und Tschingtara; ein ungeheures kriegerisches Getöse in der Riesenhalle, an deren Wölbungen sich das Trumm Trumm Trumm der Trommeln donnernd bricht. Alles ist nur noch Symbol und Ersatz. Wir haben ja kein Volksheer mehr und keine wirklichen Fahnen und keinen Kriegsherrn, aber die Herzen zittern in der Erinnerung.

Alte Wunden reißen auf. Sie werden sich nie schließen, solange die innere Entscheidung zwischen Rot und Schwarzweißrot dadurch verschoben wird, daß die Halb-und-Halben ihr Schwarzrotgold noch schwenken. Die Kompromißfahne der "derzeitigen" Republikaner. Schon wünschen die wirklichen Republikaner die rote Fahne, nur mit schwarzrotgoldenem Obereck. Unsere Handelsflotte aber hat nach wie vor das Schwarzweißrot, freilich ebenfalls mit diesem Obereck. Die Kriegsflotte - das, was uns von ihr belassen ist - desgleichen, nur mit eisernem Kreuz. Also Kompromisse überall. Das neueste in dieser Art ist die Verordnung, wonach die deutschen diplomatischen und konsularischen Vertreter im Auslande neben dem Banner der "Derzeitigen" auch die schwarzweißrote Handelsflagge führen sollen, weil die Welt draußen die alten Farben sehen will und es einfach nicht versteht, daß eine große Nation ihre ruhmreiche Flagge nur deshalb streicht, weil die Staatsform geändert ist. Die Franzosen haben in einem Jahrhundert dreimal zwischen Monarchie und Republik gewechselt, aber ihre Trikolore immer behalten. Die berufsmäßig am internationalsten eingestellten Leute sind doch die Hoteliers der Großstädte, aber die Berliner Hoteliers erregen den Zorn unserer Internationalisten von der Voß bis zum Vorwärts, weil sie bei internationalen Zusammenkünften in heller Verlegenheit das draußen unbekannte und unbeachtete Schwarzrotgold nicht hissen wollen. In diesen Tagen hatten wir den Amerikanerbesuch in Berlin. Unsere Gasthöfe zeigten den Berliner schwarzen Bären im rotgestreiften weißen Felde oder das preußische Schwarzweiß oder die eigene Hausflagge neben dem amerikanischen Sternenbanner, um weder bei den Gästen noch bei den Einheimischen Anstoß zu erregen; nur das Exzelsior hatte Schwarzrotgold herausgehängt, dafür aber zum Ausgleich Schwarzweißrot daneben. Da ist die Wunde wieder. Alles zeigt mit Fingern auf die wehenden Fahnentücher. Es ist keine Nichtachtung der Republik, sondern allenfalls eine Nichtachtung des Novembers, wenn nach wie vor große Massen, vermutlich die Mehrheit des Volkes, Schwarzrotgold ablehnen; und es spielt das Bewußtsein dabei mit, daß wir draußen uns keine Achtung wiedergewinnen, solange wir nicht Schwarzweißrot wieder zu Ehren bringen. Als die Interparlamentarische Union im vorigen Herbst in Amerika war und ihre deutschen Mitglieder vom "Langen Tisch" in Detroit zu einem Festmahl geladen waren, steckte in dem Brötchen jedes Gastes eine kleine schwarzweißrote Flagge, und die Speisekarte zeigte eine schwarzweißrote Umrahmung. Das war für die Amerikaner - sie selbst hatten kleine Sternenbanner - etwas Selbstverständliches. Der Reichtagspräsident Loebe machte ein etwas wehleidiges Gesicht und drehte seine Speisekarte um. Herr Josef Wirth aber kriegte einen roten Kopf, erhob sich und setzte in einer taktlosen Rede den Gastgebern auseinander, daß sie Schwarzrotgold hätten geben müssen. Von da ab hatten unsere Schwarzrotgoldenen in der Gesellschaft drüben endgültig ausgespielt.

Weder Republikanern noch Monarchisten bei uns kann man auf die Dauer weismachen, daß die derzeitige demokratische Republik - mit ihrem Vielparteiensystem und ihren parlamentarischen Lächerlichkeiten - unsere endgültige Staatsform bedeute. Es kommt doch noch einmal zur Entscheidung zwischen Rot und Schwarzweißrot. Jedenfalls rüsten die Roten bewußt daraufhin, nicht nur in Frontkämpferbund und Frei-Heils-Armee, sondern auch mit der Großkampfwaffe der öffentlichen Meinung. Dazu ist neuerdings der Film das wirksamste Mittel. Ganz Berlin hat heute nur ein Gesprächsthema, das ist "Fürst Potemkin", der große Revolutionsfilm der Bolschewiken, von dem Personal des Moskauer künstlerischen Theaters dargestellt, von einem Sowjet-Mann namens Eisenstein inszeniert; lange Wagenburgen stauen sich vor dem Apollo-Theater in der Friedrichstraße, neben dem jungen Kommunisten in der Russenbluse sitzt die Dame in Zobel aus dem feinen Westen, der Abgeordnete Scholem wackelt von der Loge aus begeistert mit seinen Ohren, und in die erregende Musik, die das Kolbenstampfen des Panzerkreuzers "Fürst Potemkin" und die Schüsse und die Schreie in Odessa nachmalt, mischt sich der exaltierte Beifall der dreimal täglich 1500 Zuschauer. Er wird zum tosenden Gebrüll, wenn an Bord des Revolutionsschiffes Offiziere abgemurkst werden; es ist Blutrausch, der über die Massen kommt, sagt sich der besorgte Bürger, und er fragt sich, warum der Staat das nicht verbiete, - denn sinnfälliger könne die Aufreizung zum Morde, siehe Strafgesetzbuch, uns gar nicht beigebracht werden. Das mag sein. So mag der Film auf den einen oder anderen jungen Revolutionär wohl wirken. Aber ich kann mir nicht helfen: auch ich (und viele wie ich, abgesehen von einigen Frauen, denen es schlecht wurde) bin hingerissen von dem - kriegerischen Tempo der atemraubenden Handlung und von der wundersamen Posie der Meeresbilder. Es ist mancher Sowjetschwindel dabei, manche Geschichtsverdrehung; die Odessaer haben nicht, wie es hier dargestellt wird, an jenem 24. Juni 1905 in revolutionärer Begeisterung den meuternden Matrosen Lebensmittel an Bord gebracht, sondern sie wurden unter der Drohung erpreßt, daß sonst die Stadt beschossen würde, auch ist im Hafen an der berühmten breiten Treppe dann nicht gutes Publikum, sondern plünderndes revolutionäres Gesindel von den Ordnungstruppen zusammengeschossen worden, auch ist der Kommandant nicht ermordet, denn er war damals gar nicht an Bord, sondern an Land, ferner hat nicht das Proletariat, das neimals führen kann, den ganzen Putsch organisiert, sondern der rote Leutnant Schmidt, schließlich ist das Ende des "Fürst Potemkin" sehr schnell und sehr unrühmlich gekommen, - übrigens ist es gar nicht dieser Panzerkreuzer oder auch nur ein Schwesterschiff seiner Klasse, das hier im Bilde gezeigt wird, denn ich selber bin einige Zeit darauf, anläßlich einer Reise in die Krim, an Bord dieses historischen Schiffes gewesen und kenne es daher sehr gut. Aber der heiße Atem des Spiels ist zündend, ist versengend, und der Brand entlodert in allen Sinnen. Ich glaube: der "militaristische" Brand. Das Manöver des "Klar zum Gefecht!" ist einem noch nie so kriegerisch vorgeführt, das Daherrauschen der schwimmenden Stahlburgen einer Flotte noch nie so majestätisch dargestellt worden; das Geraufe an Bord - das Erjagen, Erschlagen und Überbordwerfen der Offiziere, die sich übrigens tapfer wehren, nicht als feige Kanaillen geschildert werden - wirkt auf die Buben im Zuschauerraum nur so wie etwa eine Indianerschlacht im Zirkus Busch, und jeder nicht ganz vertrottelte junge Mensch merkt doch, wie exotisch die ganze Sache ist, denn "sowas ist doch bei uns nicht möglich gewesen", daß Kriegsschiffsmatrosen, noch dazu im Frieden, gezwungen wurden, verfaultes, stinkendes, von Würmern wimmelndes Fleisch (Großaufnahme: die Würmer zwanzig Zentimeter lang) zu essen, und daß die Widerstrebenden gar auf dem Fleck erschossen werden sollten. So etwas - ist nicht einmal am 24. Juni 1905 auf dem "Fürst Potemkin" in der geschichtlichen Wirklichkeit möglich gewesen. Aber die Bilder sind von unerhörter Pracht. Das Gleiten der Segelschiffe bei Mondschein in den Hafen ist ein süßer Zauber. Der Rest von einer packenden Realistik. Künstlerisch ist der Film eine Großtat. Man kann nur sagen: macht's nach! Seine propagandistische Wirkung auf unklare Gemüter unterschätze ich sicherlich nicht, nur meine ich, daß sie auf die sowieso schon Roten beschränkt ist, nie und nimmer einen Schwarzweißroten oder auch nur einen "Derzeitigen" in seinen politischen Bann ziehen wird.

Ich stehe mit dieser Ansicht unter meinen Gesinnungsgenossen allein, will meine Ansicht aber nicht aus Parteigründen verleugnen. Unendlich viel Gift wird unserem Geschlecht öffentlich beigebracht, ohne daß sich Entrüstung regt und Verbote beantragt werden, der Potemkin-Film ist nur ein Millionstel davon und nach meiner Überzeugung das ungefährlichste. Man schafft sich keine neuen Anhänger durch Anrufen der Polizei gegen künstlerisch hervorragende Leistungen, sondern macht dadurch nur Reklame für ihre politische Konterbande. Ohne diese würde der kommunistische Film für den Umsturz nichts Besonderes bedeuten.

Man geht hinaus, und die Welt ist noch so. Herr Scholem legt die Ohren wieder an und macht nicht Revolution, sondern hat ganz andere Sorgen, denn ihm droht ja dort das Hinausgeworfenwerden aus der kommunistischen Partei. Die anderen Besucher aber verteilen sich für den Rest des Abends an die üblichen Vergnügungsstätten. Es werden keine Volksreden auf offenen Plätzen gehalten, sondern man geht zur Jazzmusik. In der Admiralsdiele gibt es dazu große Modenschauen mit Gratisverteilung von Schokoladetäfelchen durch ein ebenso braunes "Mädchen von Java", und das Publikum bekommt Stimmzettel, damit nach seinen Wünschen die Prämiierung der nettesten Mannequins erfolge. Eine dieser 13 Vorführdamen, die uns vom Pyjama über Sportdreß und Pelz und Teekleid bis zum Nachthemd alles zeigen, steht offenbar im Bunde mit der Geschäftsleitung des Hauses. Es ist eine große, füllige, mit dichtgelocktem Bubenkopf. Wenn sie auftritt, spielt die Musik jedesmal einen lauten Tusch, der Kapellmeister erhebt sich und sagt: "Ah!", und Mutter und Schwester und Tante und Freund in der Loge klatschen wild Beifall. Aber das Publikum läßt sich nicht betören. Unter den Dreizehn ist eine einzige ganz mädchenhafte Erscheinung, schlicht gescheitelt mit Haarknoten im Nacken. Die Herren im Parkett werden gerührt, werden begeistert, von Mal zu Mal wird der Jubel beim Erscheinen der kleinen Staßja stärker, die bubenköpfigen Damen der Herren im Parkett machen entgeisterte Gesichter, werden schließlich grün und gelb vor Enttäuschung und Wut, aber es hilft nichts: mit riesiger Mehrheit wird diesem Mannequin der erste Preis, ein seidenes Nachmittagskleid, zuerkannt. Ich glaube, die Lehre ist deutlich. Man tanzt und man flirtet mit den Gebobbten, sie hören deshalb auch nicht so bald auf, aber man liebt und man heiratet, wenn sie einem in den Weg kommen, besinnungslos mädchenhafte Mädchen, nicht Garçonnes.

Es gibt überhaupt - sogar in der Großstadt - noch viel mehr "altmodische" Menschen selbst unter jungen Menschen, als die Modeläufer ahnen. Es gibt welche, die nicht einmal das Sichausleben und das Sichbetäuben in schlechten Zeiten für notwendig halten. Wir kennen einen zurzeit wieder arbeitslosen Mechaniker, der nicht auf Gott und die Welt schimpft, obwohl es ihm wahrhaftig elend genug geht. Er hat eine noch junge, aber von der Mitte des Körpers ab völlig gelähmte Frau, deren Beine so verkrampft sind, daß sie bewegungsunfähig ist und wie ein kleines Kind betreut werden muß. Kein hartes oder liebloses Wort kommt aus dem Munde des Mannes. Er ist unermüdlich auf der Suche nach kleinem Verdienst, das "Arbeiten und nicht verzweifeln!" ist sein Lebensinhalt, er hat gerade, da er ein geschickter Bastler ist, bei uns einige Tage lang die elektrischen Leitungen repariert, Stuhlbeine geleimt, Marmorplatten gekittet, neue Küchenhocker getischlert, und ist dabei, obwohl er sich persönlich nichts gönnt, nicht raucht und nicht trinkt, doch fröhlich und guter Dinge und sagt aus Überzeugung: "Et kann janich so dicke komm', wie wir et vadragen kenn'!"
6. Mai 1926 (Donnerstag)


35

Keine Toilette mehr nötig - Rundfunkprogramm - Alkohol und Reichstag - Der Prophet Häußer - Frau Schulz - Der Ball der Nachtwächter

Man fängt an sich zu vernachlässigen. Daran ist nur der Rundfunk schuld.

Es wird einem durch die Mode im Vergleich zu früher sowieso schon leicht gemacht, Klapphut und Handschuhe schleppt man nicht mehr in den Ballsaal, die karierte Oxfordhose und das dunkle Jackett plebejisieren die Gesellschaft. Aber man zieht sich doch wenigstens noch um, wenn man irgendwohin zu festlichem Genusse geht; es sei denn in das Theater, denn das besucht der männliche Berliner zum Unterschied von allen anderen Großstädtern meist im Arbeitsanzug. Nun hat der Rundfunk sozusagen dem Faß den Boden ausgeschlagen. Nun lösen sich alle Bande frommer Scheu einschließlich Schnürsenkel und Kragenknopf. Da sitzt am heutigen Himmelfahrtstag so mancher mit Kopfhörern da, hingeflegelt auf den sessel, und - raucht, während er der Predigt des Pfarrers Teichmann zuhört. Hindenburgs Hamburger Ansprache hat man auch nicht etwa stehend entgegengenommen, sich auch nicht zusammengerissen, als schließlich das dreimalige Hurra der Versammelten durch die Luft herüberkrächzte, sondern man lag in Hausschuhen auf dem Sofa. Kragenlos und stullenkauend ließen Ungezählte die Abendansprache des Erzbischofs von Canterbury über sich ergehen, die in den Streiktagen die englische Station Daventry der Welt übermittelte. Rs gibt sogar Leute, die seelenruhig Kreuzworträtsel lösen, während vor irgendeinem Sendeapparat Stresemann sich für sie abmüht; und Beethoven liefert heute die Begleitmusik zum Spargelschälen. Die Welt wird wirklich immer hemdsärmeliger.

Im übrigen will ich gegen den Rundfunk nichts gesagt haben. Er ist abends beruhigender und einschläfernder als Bromural. Auch daß er trotz aller verbesserten Apparate den Grammophonton nicht los wird, ist ein konstitutionelles Übel, an das man sich genau so gewöhnen kann, wenn es nicht anders geht, wie an Margarine und Gerstenkaffee. Immer klirrt es leise; immer knistert und knarrt und knackt es. Das alles wäre zu ertragen. Man ist bei jeglichem Ersatz auf Mängel gefaßt. Nur das wäre nicht nötig, daß das Berliner Rundfunkprogramm immer mehr verschlagert; ich sehe nicht ein, weshalb Tausende von Gymnasiasten und Schülerinnen, die sowieso schon "Was machst du mit dem Knie, lieber Hans, lieber Hans" trällern, auch noch "Nur eine Nacht sollst du mir gehören" durch den Rundfunk eingetrichtert bekommen müssen. Freilich gibt man sich andererseits auch mit aktuell Unterrichtendem sehr viel Mühe. Daß beispielsweise der Marinebaurat Engberding - wer mehr wissen will, mag sein treffliches neues Buch "Luftschiff und Luftschiffahrt" lesen - neulich durch den Rundfunk uns einen außerordentlich fesselnden Vortrag über Amundsens Unternehmen und die Pläne des Zeppelinbaues hielt, war sehr willkommen. Auch als Nachrichtenapparat hat das Ding seinen Wert. Als in London in diesen Tagen der Streik auch die Presse stillegte, war das Publikum doch nicht ohne jede Verbindung mit der Welt des öffentlichen Geschehens. Vom Guten Morgen bis zur Guten Nacht - das blöde "Auf Wiederhören" ist in England nicht Mode - stand man in innigem Verkehr mit seinem Ansager. Natürlich ist der Rundfunk in erster Reihe für diejenigen da, die nach Feierabend nicht eine Minute mit sich allein gelassen werden können, weil sie sich da in der langweiligsten Gesellschaft der Welt befänden. Wer keinen eigenen Gedanken hat, wer auch für ein gutes Buch nicht aufnahmefähig ist, der muß natürlich über die lastende Zeit hinweg amüsiert werden. Aber auch Vielbeschäftigte greifen gelegentlich nach dem Kopfhörer. Nur sehr selten und mit Auswahl.

Selbstverständlich ist die Originalmusik der aus dem Apparat immer vorzuziehen. Kein Gelächter im Sendespiel kommt dem wirklichen Schwank auf der Bühne gleich. Auch der Vorschlag, etwa die kostspieligen Reichstagssitzungen durch den billigen Rundfunk ablösen zu lassen, ist nicht überzeugend; die Welt würde dann doch um eine Fülle des Erheiternden betrogen, das jetzt unmittelbar dem Reichstagsbesucher selbst und mittelbar allen Lesern im Lande durch die Stimmungsbilder der Presse geboten wird. Ich will hier nicht etwa von dem "großen" Ereignis der Woche erzählen, der zerplatzten Mitte und dem darob durch die Planken gesausten Luther. Aber aus den Tagen vorher, den Tagen der Debatte um Trinkfreiheit und Gemeindebestimmungsrecht, habe ich noch den Geschmack der Cognacbohnen im Munde, die eine deutschnationale Volksvertreterin mir spendierte: sämtliche Damen der Fraktion futterten sie demonstrativ. Und einen richtigen großen Cognac kippte nachher im Restaurant einer der Redner, der gerade für das Gemeindebestimmungsrecht gesprochen hatte. Ich sage kein Wort gegen das Bestreben, die alkoholische Volksverwüstung zu bekämpfen. Ich bin mit dabei; ich selber bin nie unmäßig im Genusse. Aber der fanatische Puritanismus macht sich bei uns noch lächerlicher als in Amerika, denn bei uns glaubt man ihn kaum einem. Es ist gerade ein Jahr her, als - vor der Beratung des deutsch-spanischen Handelsvertrages - die rheinischen Landkreise alle Parlamentarier zu einer "Weinprobe" in das Berliner Rathaus luden. An die tausend Personen saßen dichtgedrängt und standen Kopf an Kopf; schon vor der eigentlichen Probe, die um Mitternacht begann, hatte jedermann zwei Flaschen intus, und nachher gab man sich mit Pfropfenziehen überhaupt nicht mehr ab, sondern schlug den Flaschen einfach die Hälse herunter. Es war eine der tollsten Kneipen, die Berlin je unter seinen Parlamentariern erlebt hat. Und es hat in dem Genre doch schon viel erlebt. Die Herren des Zentrums schnalzen noch heute mit der Zunge, wenn sie an das Fest denken, das der ehemalige Postminister Giesberts ihnen einst gab, nachdem er große Weinbestände noch aus kaiserlicher Zeit in dem Ministerium "gefunden" hatte. Aus dem Westen und Süden, aus Wein- und Bierland, kommen ja die meisten ihrer Herren. Wer bei dem alten Fehrenbach etwas erreichen wollte, mußte es ihm immer nach 7 Uhr abends sagen, da war der Exreichskanzler schon unruhig, drängte zum Kochelbräu und sagte schnell Ja; dann ging er hin, stellte die Röllchen sorglich auf das Fensterbrett, spielte Tarock und trank Erkleckliches. Heftig über den Durst trinken manchmal im Reichstag selbst gewisse Revolutionsgewinnler: der Sozialdemokrat Hörsing mußte einmal aus der Plenarsitzung von seinen Genossen hinausbegleitet werden. Obgleich die Roten - unter Fraktionszwang - geschlossen für das Gemeindebestimmungsrecht gestimmt haben, gibt es unter ihnen die meisten Hartsäufer. Freilich geschieht das meist außerhalb des hohen Hauses. Im Hohen Hause selbst sieht man nur vereinzelt beim Essen ein bescheidenes Glas Bier oder ein Viertel Wein; Joghurt und Kaffee dominieren. Aber wenn nachher Scheidemann und die übrigen losgelassen sind, dann kann man etwas erleben, und besonders der Champagnerkonsum wäre ohne diese unsere hochbezahlten Revolutionsgewinnler viel geringer. Sie haben sich auch drüben in dem angeblich trockenen und doch so feuchtfröhlichen Amerika gar nicht geniert, als sie ihre interparlamentarische Rundreise machten. Übrigens ist auch der Prinz von Wales in den Vereinigten Staaten von Bankett zu Bankett geschleppt worden. Es ist ja alles Heuchelei. Als er zuletzt, kurz vor der Abreise, von einem Reporter gefragt wurde, was er zur Prohibition sage, antwortete der junge Herr:

"Prohibition, Prohibition ? Richtig, davon habe ich gelesen! Wann wird sie eigentlich eingeführt ?"

Was soll man aber dazu sagen, wenn sogar "Propheten" in ehedem härenen Gewande, die Genußflucht und Kasteiung predigen, verschmitzt ihr Fläschchen leeren ? Vor Jahren habe ich einmal von Häußer erzählt, der damals noch in einer Kutte herumlief, langmähnig und barfuß, begleitet von etlichen mehr oder weniger späten Mädchen, die ihm alles opferten; zuerst das Geld und dann - das übrige. Der hat jetzt umgelernt, raucht dicke Zigarren, trinkt guten Bordeaux - öffentlich, in seinen Versammlungen -, hat seinen Vollbart gestutzt, trägt sich modisch, reist im Schlafwagen und wohnt in den besten Hotels, in Berlin im Adlon, in Stuttgart im Marquart. Mit seiner Seele sei er nicht dabei, sagt er. Er verachte das alles, sagt er. Man solle sich nicht zum Knecht solcher Genüsse machen, aber, um an die Menschen heranzukommen, nehme er eben wie Jesus Knechtsgestalt an! In ähnlichen Blasphemien bewegt sich all sein Reden. Am vorigen Montag habe ich mir diesen dreistesten aller von Vortragshonorar lebenden modernen Propheten wieder einmal angehört. Er stammt aus einem kleinen schwäbischen Bauernhause, ist später Handlungslehrling geworden, hat eine Zeitlang in Paris konditioniert, Französisch gelernt und hält sich seither für gebildet. Er kann aber noch nicht einmal Deutsch. "Ich habe mich im Reichstag aufstellen lassen", sagt er statt "zum" Reichstag; und sein Dialekt ist ein Gemisch von schwäbisch, berlinisch, oldenburgisch. Das ganze Geheimnis seines Erfolges aber besteht in der masochistischen Veranlagung seiner meist weiblichen Anhänger: die wollen, wenigstens mit Worten, gepeitscht sein. "Ihr seid alle Trottels! Ihr seid alle Schweine! Ihr seid alle Verbrecher!" Schon erschauern sie wollüstig. "Aber ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben! Ich bin die Tat! Ich, der Häußer, der Eine, der Reine, Ich, der Ich Mich selbst überwunden habe und ohne Sünde bin!" Verzückt schauen sie ihn an. Am meisten sein freiwilliger Manager, ein Graf Bothmer, ehemaliger Offizier, der die lange und langweilige Einleitungsrede zu halten pflegt, ein völlig konfuses Gestammel. Es gibt noch mehr solcher aus ihrer Bahn herausgerissenen Offiziere, die in der Verstandesregion einen leichten Klaps haben. Hier ist Bothmer, der etwas selbstgefällig von seinem Stande und von seinem früheren Verkehr "in Hofkreisen" in Oldenburg erzählt, die stärkste Reklame. Die Hälse der Jünger und Jüngerinnen verdrehen sich nach ihm. Der Herr Graf, oh, oh. Und in dieser Zohörerschaft kann dann Häußer seine Tiraden gegen Staat und Kirche und Deutschtum loslassen und in der billigen Zeitkritik sich ergehen, die bei allen solchen "Reformatoren" üblich ist, und zuletzt seinen ganz unter Suggestion stehenden Anhängern versichern: alles werde besser, wenn er erst an der Spitze stehe; nicht mit Zweidrittelmehrheit, sondern mit Dreidrittelmehrheit gewählt, von 60 Millionen Deutschen gewählt, werde er Diktator Deutschlands, Diktator Europas werden! Man hat jahrelang Irrenärzte bemüht, die den Geisteszustand Häußers prüfen sollten. Das ist unnütz. Er ist gar nicht irre. Er ist nur gerissen; und es gibt so viele Dumme in Deutschland, daß tausend Propheten der verschiedensten Arten davon leben können. Auch bloß Neugierige haben die 1, 2 oder 4 Mark Eintrittsgeld für jeglichen Hokuspokus auch in der Lichstadt Berlin immer noch übrig.

Wir tun uns auf unsere Bildung ja noch viel zu viel gut. Vor mir liegt ein Zettel, den eine Berlinerin aus gutem Mittelstande geschrieben hat, die sehr entrüstet wäre, wenn man sie als ungebildet bezeichnen wollte. Der Zettel, dem Rektor einer Mädchenvolksschule eingereicht, lautet: "Gesuch. Da der Vater der Lucie Schulz auf dem Felde der Ehre geblieben ist, und so mithin hilflos dasteht, bitte ich höflich die Schülerin Lucie zum Gebrauch von unentgeltlichen Schulbedarfsartikel. Meinem Wunsche entsprechend. Hochachtungsvoll Frau Schulz." Diese Frau Schulz kann gut und gern Häußer zu Füßen sitzen; von ihrer Sorte gibt es, nicht nur in der Reichshauptstadt, noch mehr als genug bei uns.

Wer dieses Volk in seiner Ratlosigkeit und Gutgläubigkeit kennt, der kann begreifen, daß es so bequeme Beute auch der politischen Propheten des Umsturzes wird. Soll man diese armen Geister schelten ? Sie fühlen sich in der Not der Zeit verraten und verkauft; und sie sind schließlich am glücklichsten, wenn irgendwer ihnen eine bessere Zukunft prophezeit. Weg und Mittel können sie nicht beurteilen. Das bleibt ewig so. Schon die Staatsmänner des alten Rom wußten daher, was die Massen brauchen, um für den Staat nicht gefährlich zu werden: Brot und Spiele. Das Brot ist heute knapp, aber für Unterhaltung sorgt schon jedermann in seinem Kreise, selbst der, dem um seines Berufes willen die langen Abende nicht gehören. In der vorigen Woche habe ich eine vergnügte Stunde auf dem Ball des Vereins der Berliner Nachtwächter verlebt. Das sind nicht mehr die eisgrauen Alten von ehedem mit klapperndem Schlüsselbund und klappernden Knochen, das sind meist - sonst wären die Einbrecher in Berlin bald Alleinherrscher - kräftige, verhältnismäßig junge Männer. Der Ball fand von 11 Uhr vormittags bis 4 Uhr nachmittags statt. Alles war überraschend gut angezogen, namentlich die jungen Damen. Ich war, in dem Bestreben, nicht unangenehm aufzufallen, in schlichtem dunklem Sakkoanzug hingegangen. Aber gerade das erregte Anstoß. Der Vereinsvorsitzende klopfte mir auf die Schulter und sagte: "Se hätten sich ooch können 'n Koddweh anziehen!"
13. Mai 1926 (Donnerstag)


36

Hotel Saxonia - Einige Überwacher gehen - Die Schonerbrigg aus Flensburg - "Haus am See" - Scheidemann überall - Haussuchungen - Der Umzug der Vaterländischen - Mein Doppelgänger

Das Hotel Saxonia in der Königgrätzer Straße, in dem ich in verklungenen Zeiten mit Rudolf Stratz und Baron Ungern-Sternberg und Dr. Karl Peters und anderen klugen oder bedeutenden Männern als junger Dachs andächtig meinen Nachmittagskaffee trank, wird soeben von Grund auf renoviert. Die letzten Jahre über war es Entente-Höhle und ist entsprechend verwohnt und verdreckt. Hier in der Gegend, zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor, balzten allabendlich oder schon am lichten Tage - womöglich in bunter Friedensuniform - französische Intendanturbeamte und Reserveoffiziere aus Industrie- oder Händlerkreisen. Seit Jahr und Tag sieht man so etwas nicht mehr. Mit dem Franken ist auch der Hochmut dieser girrenden Gäuche gefallen; jetzt lassen umgekehrt in Paris die dortigen berufsmäßigen Schönen ihre Augen nach deutscher Reichsmark hinter doppelreihigem Sakko schweifen. Ein kleiner Teil der sowieso nur noch in Zivil und unlustig (weil mit Franken bezahlt!) in Berlin sich herumdrückenden französischen Überwacher packt in den nächsten Tagen seine Koffer, sobald das Luftfahrtabkommen in Kraft tritt, das uns von jetzt ab der weniger intensiven Aufsicht des Völkerbundes unterstellt. Auch der gute Oberst Louvignac, der sich in der Inflationszeit bei uns "gesund gemacht" hat und sich für dieses Geld einen Herrensitz bei Paris gekauft hat, nimmt jetzt seinen Abschied und zieht mit seiner neuen Frau, die ihm die Berliner Jahre verschönt hat, einer hiesigen Russin, an die Seine. In der letzten Zeit, in der die Herrschaften bereits etwas bescheidener geworden waren, vermochte Louvignac Anschluß an die deutsche Gesellschaft zu gewinnen, indem er dort die französisch-deutsche handelspolitische Freundschaft empfahl. Nur hätten die Franzosen, sagte er, noch einiges berechtigte Mißtrauen. Da erhob sich bei solch einer Gelegenheit ein hünenhafter deutscher Rittmeister a.D., ein weißhaariger Siebziger, zu seiner ganzen Kürassiergröße und erwiderte: Ach was, Mißtrauen; nicht Mißtrauen, sondern "peur bleue", blasse Furcht, hätten die Franzosen. Und Louvignac sank für einen Moment zusammen.

Statt der offiziellen Ausländer kommen nun mehr und mehr inoffizielle hierher; und die nehmen kein Geld von uns mit, sondern lassen welches hier, nicht nur Amerikaner, sondern auch Europäer aller Art, - wobei ich die aus dem Osten natürlich ausnehme. Man sieht auch endlich wieder den Typ Weltenbummler, dessen Scheckbuch sorgloses Genießen gestattet. Meist suchen diese Leute das Versunkene bei uns auf, und nicht Berlin, sondern Potsdam ist für sie der große Magnet. Viel von ihnen entdecken dabei aber auch das dazwischenliegende Seengebiet, da nicht allzuviel seinesgleichen in Europa hat, nur daß seine Gaststätten noch kaum auf "Fremde von Distinktion" zugeschnitten sind. Die Wirte rechnen mit der Masse der eingeborenen Ausflügler, für die Holzbänke oder Gartenstühle genügen, wenn es nur ordentlich was zu trinken gibt. Etwas so "Mondänes" wie die Restaurants im Boulogner Gehölz von Paris oder auch nur im Cambre-Wäldchen von Brüssel hatten wir bisher nicht.

Bisher nicht. Jetzt aber ist am Wannsee ein leibhaftiges Märchenwunder erstanden. Ich meine nicht die Schonerbrigg "Dorthea"-Flensburg, 196 Tonnen, die von ihrem Heimatshafen hierhergeschleppt worden und an der Brücke zwischen Großem und Kleinem Wannsee als Wasserrestaurant vertäut ist. Es sitzt sich nett in dem Schiffsbauch, dessen Luken jetzt zu Oberlicht umgewandelt sind, das ganze Schiff mit Masten und Takelage bringt auch eine hübsche Sondernote in das Landschaftsbild, aber das ist doch im wesentlichen auch eine Sache für den Berliner eiligen Ausflügler, der hier eine Dampferpause verfrißt und vertrinkt. Nein, das neue "buen retiro" liegt etwas weiterhin am Ufer in einem 10 Morgen großen Park, heißt "Haus am See" und war ehedem die fürstlich Schöllersche Villa, um nicht Schloß zu sagen; vielleicht die schönste Besitzung am ganzen See. Sie hat ein Jahrzehnt leergestanden. In diesem Jahrzehnt ist ja so manches Vermögen zertrümmert. Jetzt haben der Kommerzienrat Krause, der ein alter Hotelfachmann ist, und ein Geldmann namens Kronberg den großen Wurf gewagt und daraus einen traumhaft schönen Aufenthaltsort geschaffen, mit einem Raum für über 200 wartende Automobile auf einem abgelegenen Platz im Park und vielhundertfacher Verpflegungsmöglichkeit für die in den Automobilen hergleitenden Herrschaften. Der Blick von der oberen Terrasse aus, längelang über den ganzen See, hinüber über die Landzunge von Schwanenwerder, bis weit in die obere Havel hinein, mag phantasiereiche Leute an den Fjord von Oslo-Kristiania erinnern, von oben von der Seemannsschule aus gesehen. Ganz sicher aber nimmt er den Wettbewerb mit dem Köstlichsten in Nordengland auf, mit den English Lakes, mit dem Seengebiet von Windermere. Das alles ist in den mächtigen Rahmen zweier riesenhaften Ahornbäume gefaßt, zwischen denen sich das entzückende Bild ausbreitet. Sieht man aber nach links in den Park hinein, in dem auf sattem Rasen Liegestühle und sonstiges bequeme Sitzgerät stehen, so weidet sich das Auge an Goldregen und zitternden keuschen Birken vor dunklem Blutbuchen-Hintergrund. Wer den Lärm froher Geselligkeit liebt, wer die Symphonie von Gläserklingen und Frauenlachen in starker Besetzung hören will, der nimmt auf der großen Terrasse oder in den Sälen unten Platz. Für Intimeres sind die Salons im Oberstock da, nicht etwa die schmierige Art der Berliner "Sehparehs" der neunziger Jahre für je ein Pärchen, sondern kokette und wundervoll abgetönte Räume für 4, 6, 8 Personen, mit Sofas, wie Richard Wagner sie liebte, mit schwellenden - nein, was sage ich - mit atmenden Seidenkissen. Wem es nicht genügt, daß dazu in die Fenster herein der lockende Ruf von Amsel, Drossel, Pirol dringt und sich mit dem Duft von Laubwald und Wasserfläche mischt, der mag - in jedem Salon steht ein Grammophon mit elektrischem Anschluß - sich ein Tänzchen vorspielen lassen. Es ist, als hätten wir nie einen Frieden verloren.

Jedenfalls tut Philipp Scheidemann so. Er ist überall zu finden, wo elegante Frauen sich wiegen, köstliche Weine perlen, Hundertmarkscheine gewechselt werden. Selbstverständlich hatte dieser Edelproletarier, der, andere Einkünfte ungerechnet, allein von Kassel dafür, daß er dort weggegangen ist, 16 500 Mark jährlich bekommt, das "Haus am See" als einer der Ersten erschnüffelt und war in einer Gesellschaft von sechs Sorglosen hier; und alsbald noch ein zweites Mal in kleinerem Kreise, dem sich auch der Genosse Polizeipräsident Grcesinsky angeschlossen hatte.

Natürlich hat der im übrigen jetzt alle Hände voll zu tun. Mit dem angeblichen "Rechtsputsch" von 33 hervorragenden Führern der deutschen Wirtschaft, verschiedener hoher Militärs und - etlicher Gymnasiasten. Schaudervoll, höchst schaudervoll. Im Oberstock des Gymnasiums in Berlin-Pankow wurden allabendlich "verdächtige Lichtzeichen" bemerkt. Große Haussuchung. Ergebnis: da befindet sich die Wetterbeobachtungsstelle des Physiklehrers, und allabendlich werden die Apparate nachgesehen. Beim Admiral von Schroeder hat man Hasenschrotpatronen und die Liste der 12 Gäste seines letzten Gesellschaftsabends beschlagnahmt. Um 2 Uhr nachts wurden die Häuser von Polizei umstellt, um ½7 die Verdächtigen aus den Betten geholt. Man ist schamlos genug gewesen, sogar bei Großindustriellen der Deutschen Volkspartei und des Zentrums - die gehören doch zur Regierung - hauszusuchen. Geheinrat Voegler und die anderen sind natürlich erbittert und dadurch nicht gerade für die Große Koalition gewonnen. Justizrat Claß aber ist ein ganz Schlimmer: der hat in zwei beschlagnahmten Briefen nach Doorn seiner treuen monarchischen Gesinnung Ausdruck gegeben und ist, man höre, im Besitze eines Postkartenbildes des Kaisers. Dann ist es allerdings höchste Zeit, daß ich ebenfalls verhaftet werde. Ich habe auch eins. Und auf die Rückseite hat der Kaiser fünf eigenhändige Zeilen geschrieben, in denen, man denke, von "dem" Tage die Rede ist. Wie meinen Sie ? Nein, nicht von dem Tage, an dem wir wieder daheim einen Kaiser haben, sondern von dem Tage, an dem wir im Rheinland endgültig die Franzosen los sind; die Karte stammt von 1923 aus der Zeit der Ruhrbesetzung. Was ist es aber nun mit dem berühmten bei dem Oberst a.D. von Luck "beschlagnahmten" Plan des Aufmarsches gegen Berlin ? Diesen Plan - besitzt die Polizei bereits seit Jahr und Tag! Er ist ihr von den jetzt Verfemten eingereicht worden; sie legen darin dar, wie sie der Polizei helfen könnten, wenn sie sich eines kommunistischen Aufstandes einmal nicht erwehren könnte. Der ganze Schwindel ist bewußte sozialdemokratische Parteimache zur Aufreizung der Massen. An der Agitation der roten Herrschaften in Preußen kann so noch einmal das ganze Reich zugrunde gehen.

Da ist es vielleicht ganz gut, daß den Roten am letzten Sonntag durch die öffentliche Kundgebung der Vaterländischen gezeigt worden ist, daß Schwarz-Weiß-Rot sich noch nicht ins Mauseloch verkriecht. Ich bin diesmal zum ersten Male in meinem Leben mitmarschiert. Ich halte nichts von Demonstrationen. Sehr viele von rechts denken wie ich; nur ein Bruchteil hat daher mitgemacht. Aber es war herzerhebend, die schäumende Wut zu sehen, mit der die Knallroten im Südosten Berlins unseren Zug begeiferten, weil sie so viele - Arbeiter darin entdeckten. Was da an Unflätigkeiten gebrüllt wurde, das geht auf keine Kuhhaut. Mit roten Gesichtern rannte namentlich die jüngere Generation der "Halbstarken" nebenher, meist mit einem hetzenden Jüngling stark ausländischen Gepräges im Hintergrunde. In der Solmsstraße quoll ein Haufe solcher Bengel, denen ja heute leider keine Dienstzeit mehr winkt, aus einem Haustor, und aus ihrer Mitte fiel ein Pistolenschuß. Da dauerte es aber auch keinen Herzschlag lang und aus dem Zuge sprangen fünf junge Leute vom Fridericus-Rex-Bund herzu. Zweie hieben, dreie deckten. Im Handumdrehen waren die Panikmacher im Haustor braun und blau geschlagen. Als die berittenen Polizisten mit geschwungenem Säbel auf den Bürgersteig ritten, schleppte sich schon der letzte der Kommunisten auf allen Vieren in den Hausflur. Übrigens hat die Polizei bei dem Abriegeln der Straßen, bei dem Zurückdrängen der durchbruchbereiten Roten, bei der Verhaftung der groben Störer einen derartigen Schneid entwickelt (o, o, die Gummiknüttel!), daß man nur sagen kann: die behäbigen alten Schutzleute aus Friedenszeiten reichen ihnen wirklich nicht das Wasser. Natürlich war es kein Heldenstück, unter der Hut dieser Pflichttreuen den vierstündigen Pflastermarsch zu absolvieren. Was aber rückhaltlos zu bewundern war, das waren einige tapfere - Frauen im Publikum. Standen da und winkten den schwarzweißroten Fahnen mit ihren Taschentüchern zu. Standen unerschüttert da, obwohl zehn, zwölf, zwanzig junge Rowdies sie umheulten und ihnen mit den Fäusten vor der Nase herumfuchtelten. Das ist wirklich Mut. Und man konnte ihn alle paar hundert Schritte beobachten.

Gegen diese feste Gesinnung aller Aufrechten im Reiche kommen Hölle und Teufel nicht an. Auch keine helfende Agitation der Demokraten, der ewigen Zutreiber für den Sozialismus und jegliche Vaterlandslosigkeit. Dieser Tage erbat das Auslandsamt der deutschen Studentenschaft für eine Anzahl fremder Gäste, darunter Holländer und Schweden, den Zutritt zur Besichtigung des Deutschen Reichstages. Der demokratische Abgeordnete Schücking stellte sich als Führer zur Verfügung, geleitete die Gäste auch an den Bildern der früheren Kanzler vorbei, und zwar mit folgenden Erklärungen, bei denen sich mehrere der ausländischen Studenten vor Verblüffung an den Kopf faßten:

Bismarck: "Das war der erste deutsche Reichskanzler." (Sonst sagte der wackere Demokrat hierzu kein Wort.)
Bethmann-Hollweg: "Er ist, als er 1917 sich als Friedensengel zeigte, von der Militärpartei gestürzt worden."
Bülow: "Das ist einer der Hauptschuldigen an Deutschlands Teilnahme an dem Weltverbrechen."

Ein politisch' Lied, pfui, ein garstig' Lied. Es ist nur gut, daß es nicht ausschließlich die Politik ist, die einem in Berlin begegnet. Gelegentlich kommt doch Vergnügliches aus dem Reiche. Da wird mir dieser Tage aus dem Leserkreise ein Brief zugeschickt. Von einer Dame natürlich. Ausnahmsweise nicht von einer älteren, die mich gewöhnlich fragen, wie man jung und schlank bleibt, worauf ich doch nur tröstend antworten kann: "Mit den Schlanken tanzt man, die Molligen liebt man!" Nein, es ist eine junge; noch dazu frisch geschieden. Meine Adresse hat sie (Gott sei Dank!) nicht gewußt, daher die Umleitung über den Verleger, wohl aber meinen Namen, mit dem sie mich im Briefe auch anredet. Aber was ist denn das ? Ich heiße doch gar nicht Erbsmeyer-Breitling! Ich habe die Dame angeblich im vorigen Sommer in Swinemünde kennen gelernt - da bin ich im vorigen Sommer gar nicht gewesen - und habe ihr dort gesagt, daß ich diese wöchentlichen Plauderbriefe, dieses Berliner Allerlei, schreibe. Na warte, Junge! Nun ist mir alles klar. Also irgend jemand macht stellvertretender Weise als mein Doppelgänger interessante Eroberungen. Es hat blutige Mühe gekostet, bis ich Herrn Erbsmeyer-Breitling ausfindig machte, denn er steht nicht im Telephonbuch, nicht im Adreßbuch. Endlich habe ich ihn heute, Gartenhaus, vier Treppen, gefaßt. Ich hätte Grüße von der Dame zu überbringen, die er im vorigen Sommer in Swinemünde kennen gelernt habe. Bei der Gelegenheit hätte ich erfahren, daß er Rumpelstilzchen sei, und Rumpelstilzchen hätte ich doch so gern einmal von Angesicht zu Angesicht gesehen, denn dessen Bücher seien mein Leib- und Magengericht.

Nach einer Viertelstunde schwitzte Herr Erbsmeyer. Nach einer halben Stunde fing er an zu lallen. Es erwies sich, daß ich um seine Familienverhältnisse, um seine Reisen, um seine früheren Bücher viel besser Bescheid wußte als er selbst. Schließlich bat ich ihn begeistert um ein Andenken. Ich holte den alten Band "Un det jloobste" hervor, da möchte er doch seinen Namen und eine Widmung eintragen.

Und er schrieb mit zitternden Fingern:

"Seinem freundlichen Leser mit besten Wünschen ganz ergebenst Erbsmeyer-Breitling, genannt Rumpelstilzchen."

Ich bin nicht aus der Rolle gefallen. Ich habe mich nicht zu erkennen gegeben. Ich werde auch weiterhin nicht unangenehm werden. Aber Herr Erbsmeyer-Breitling wird, glaube ich, niemals mehr meinen Doppelgänger spielen.
20. Mai 1926 (Donnerstag)



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© Karlheinz Everts